Bundesverfassungsgericht Nichtannahmebeschluss, 28. Juni 2016 - 1 BvR 1615/10
Gericht
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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1. Nach der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerden der früheren Beschwerdeführerinnen zu 1) und zu 2) mit Teilbeschluss vom 22. März 2015 und der Erledigung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der früheren Beschwerdeführerin zu 1) ist hier über die Rechtssatzverfassungsbeschwerden der verbleibenden Beschwerdeführer zu entscheiden. Sie wenden sich als Prüfärzte im Verfahren um klinische Prüfungen von Medizinprodukten am Menschen gegen Vorschriften des Medizinproduktegesetzes (MPG; in der Fassung vom 7. August 2002 - BGBl I S. 3146 -, zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes zur Änderung medizinproduktrechtlicher Vorschriften vom 29. Juli 2009 - BGBl I S. 2326 -), mit denen auch unionsrechtliche Vorgaben umgesetzt werden (vgl. RL 2007/47/EG vom 5. September 2007). An die Stelle der vormals erforderlichen Anzeige einer klinischen Prüfung eines Medizinproduktes am Menschen tritt danach eine staatliche Genehmigung aufgrund einer zustimmenden ethischen Bewertung von Forschungsvorhaben durch eine landesrechtlich bestimmte Ethikkommission. Die Prüfungsmaßstäbe für die Ethikkommissionen finden sich in § 5 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 bis 16 der Verordnung über klinische Prüfungen von Medizinprodukten vom 10. Mai 2010 (MPKPV; BGBl I S. 555; zuletzt geändert durch Art. 3 der Verordnung vom 25. Juli 2014, BGBl I S. 1227). Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung der in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantierten Wissenschaftsfreiheit.
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2. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an (vgl. § 93a Abs. 2 BVerfGG).
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a) Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss der Rechtsweg vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde erschöpft sein. Dies dient insbesondere dazu, in einem Gerichtsverfahren eine Klärung von Tatsachen und einfachrechtlichen Fragen herbeizuführen, auf die das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung der verfassungsrechtlichen Fragen angewiesen ist (vgl. BVerfGE 114, 258 <280> m.w.N.). Eine Verfassungsbeschwerde ist nur ausnahmsweise auch ohne Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs zulässig, wenn die Anrufung der Fachgerichte unzumutbar ist, weil sie offensichtlich sinn- und aussichtslos wäre (vgl. BVerfGE 123, 148 <172 f.> m.w.N.).
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Das ist hier nicht der Fall. Die Beschwerdeführer haben die zuständigen Gerichte mit Blick auf die Genehmigung eines eigenen Forschungsvorhabens nicht angerufen. Dies ist auch nicht ausnahmsweise entbehrlich. Zwar werfen die Beschwerdeführer durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf. Die Freiheit der Forschung umfasst insbesondere die Freiheit zur Wahl der Fragestellung, der Grundsätze der Methodik, der Bewertung der Forschungsergebnisse und deren Verbreitung (vgl. BVerfGE 35, 79 <113 f.>; stRspr). Diese kann durch eine Genehmigungspflicht beeinträchtigt werden. Allerdings ist nicht nur konkret darzulegen, worin genau eine solche Beeinträchtigung liegen soll. Es ist fachrechtlich auch zu klären, wie weit die mit den in Rede stehenden Vorschriften normierte Genehmigungspflicht reicht und inwieweit verfassungsrechtlichen Anforderungen auch durch die gesetzliche Ausgestaltung eines Verfahrens in der Anwendung und Auslegung des einschlägigen Fachrechts Rechnung getragen werden kann. Mangels Anrufung der Gerichte ist fachgerichtlich auch nicht geklärt, nach welchen Kriterien die zuständigen Ethikkommissionen entscheiden und wie dabei insbesondere die von den Beschwerdeführern angeführte ärztliche Qualifikation und Kompetenz der Prüfärzte im Genehmigungsverfahren in Rechnung gestellt wird. Insoweit besteht gerade mit Blick auf die von den Beschwerdeführern aufgeworfene Frage des Umgangs mit der "ärztlichen Vertretbarkeit" fachrechtlicher Klärungsbedarf. Auch muss das Verhältnis zwischen der Entscheidung der Ethikkommission und der Genehmigung durch eine Bundesbehörde zunächst fachrechtlich bestimmt werden. Dies gilt auch für die Bedeutung des Unionsrechts in einem solchen Fall.
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b) Es kann insoweit offen bleiben, inwieweit die Verfassungsbeschwerden den Anforderungen an die Substantiierung der vorgebrachten Rügen genügen. So stellt sich durchaus die Frage, inwieweit die Beschwerdeführer selbst in ihrem Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG betroffen sind, da sie als Prüfärzte zwar im Rahmen klinischer Prüfungen tätig werden, selbst aber den Antrag auf Genehmigung nicht stellen müssen, denn dies obliegt dem Sponsor der Studie. Desgleichen bedarf es substantiierter Darlegungen dazu, inwieweit Prüfärzte in ihrem Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit verletzt sein können, wenn eine Genehmigung nicht an Fragestellung, Methode oder Inhalte von Forschung anknüpft, sondern an die Zulassung von Gegenständen der Forschung als Medizinprodukten für den Markt.
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3. Von einer weiteren Begründung sieht die Kammer nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG ab.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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(1) Die zuständige Ethik-Kommission bestätigt dem Sponsor und den beteiligten Ethik-Kommissionen innerhalb von zehn Tagen den Eingang des ordnungsgemäßen Antrags unter Angabe des Eingangsdatums. Wenn Unterlagen zum Antrag ohne Begründung hierfür fehlen oder der Antrag aus sonstigen Gründen nicht ordnungsgemäß ist, fordert die zuständige Ethik-Kommission den Sponsor auf, die von ihr benannten Formmängel zu beheben. Die Mitteilung enthält den Hinweis, dass der Lauf der Frist nach § 22 Absatz 4 Satz 1 des Medizinproduktegesetzes erst nach Eingang des ordnungsgemäßen Antrags beginnt.
(2) Die zuständige Ethik-Kommission führt das Bewertungsverfahren durch. Multizentrische klinische Prüfungen oder Leistungsbewertungsprüfungen, die im Geltungsbereich des Medizinproduktegesetzes von mehr als einer Prüfstelle durchgeführt werden, bewertet die zuständige Ethik-Kommission im Benehmen mit den beteiligten Ethik-Kommissionen. Die beteiligten Ethik-Kommissionen prüfen die Qualifikation der Prüfer und die Geeignetheit der Prüfstellen in ihrem Zuständigkeitsbereich. Die Stellungnahmen müssen der zuständigen Ethik-Kommission innerhalb von 30 Tagen nach Eingang des ordnungsgemäßen Antrags vorliegen. Darüber hinausgehende Anmerkungen einer beteiligten Ethik-Kommission müssen von der zuständigen Ethik-Kommission dokumentiert werden und können in deren abschließende Bewertung aufgenommen werden.
(3) Während der Prüfung des Antrags auf zustimmende Bewertung kann die zuständige Ethik-Kommission einmalig zusätzliche Informationen vom Sponsor anfordern. Der Ablauf der Frist nach § 22 Absatz 4 Satz 1 des Medizinproduktegesetzes ist von der Anforderung bis zum Eingang der zusätzlichen Informationen gehemmt.
(4) Die zuständige Ethik-Kommission überprüft, ob die ethischen und rechtlichen Anforderungen an eine klinische Prüfung oder Leistungsbewertungsprüfung eingehalten werden und ob die Qualität der Prüfung dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht. Sie vergewissert sich, ob der Schutz der Probanden gewährleistet ist. Dabei prüft sie insbesondere
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die Relevanz der klinischen Prüfung oder Leistungsbewertungsprüfung und ob ihre Planung geeignet ist, die Fragestellung zu beantworten, - 2.
ob der zu erwartende Nutzen die voraussichtlichen Risiken überwiegt und ob diese Risiken für die Probanden vertretbar sind, - 3.
die Vertretbarkeit der Risiken der durch die klinische Prüfung oder Leistungsbewertungsprüfung bedingten zusätzlichen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, - 4.
die Qualifikation der Prüfer sowie die Qualifikationsanforderungen an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die die zu prüfenden Produkte anwenden, - 5.
die Nachweise über Kenntnisse des Prüfers im Zusammenhang mit bestehenden Normen und Prinzipien zu klinischen Prüfungen oder Leistungsbewertungsprüfungen, - 6.
bei klinischen Prüfungen den Prüfplan oder bei Leistungsbewertungsprüfungen den Evaluierungsplan, - 7.
das Handbuch des klinischen Prüfers auf Vollständigkeit und Verständlichkeit, - 8.
die Geeignetheit der Prüfeinrichtungen, - 9.
die Eignung des Verfahrens zur Auswahl der Probanden, - 10.
ob die Probandeninformationen, insbesondere über den Ablauf der klinischen Prüfung oder Leistungsbewertungsprüfung, den zu erwartenden Nutzen, die existierenden und möglichen Risiken des zu prüfenden Medizinproduktes, die mit der Prüfung verbundenen absehbaren Belastungen, die gegebenenfalls vorhandenen Alternativen, die Rechte der Probanden sowie die Verfahren zur Geltendmachung dieser Rechte allgemein verständlich und vollständig sind, - 11.
ob das Einbeziehen von Schwangeren, Stillenden, Minderjährigen oder nicht einwilligungsfähigen Personen gerechtfertigt ist, - 12.
wie die Einwilligung bei Personen eingeholt wird, die nicht in der Lage sind, selbst einzuwilligen, - 13.
ob die notwendige Nachsorge der Probanden gewährleistet ist, - 14.
wie Schäden, die die Probanden im Rahmen der klinischen Prüfung oder Leistungsbewertungsprüfung erleiden, ersetzt werden und ob für den Fall, dass bei der Durchführung der klinischen Prüfung ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder beeinträchtigt wird, eine Versicherung besteht, die auch Leistungen gewährt, wenn kein anderer für den Schaden haftet, - 15.
wie Prüfer und Probanden entschädigt werden sollen sowie - 16.
die vom Sponsor vorgesehenen Kriterien für das Unterbrechen und den Abbruch der klinischen Prüfung oder Leistungsbewertungsprüfung.
(5) Die zuständige Ethik-Kommission teilt dem Sponsor ihre Bewertung in Schriftform mit und übermittelt diese zeitgleich der zuständigen Bundesoberbehörde im Wege der Datenübertragung über das zentrale Erfassungssystem des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte.
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
(1) Die Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung.
(2) Sie ist zur Entscheidung anzunehmen,
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soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, - b)
wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist; dies kann auch der Fall sein, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht.
(1) Jedermann kann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, Artikel 33, 38, 101, 103 und 104 des Grundgesetzes enthaltenen Rechte verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben.
(2) Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden. Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde.
(3) Das Recht, eine Verfassungsbeschwerde an das Landesverfassungsgericht nach dem Recht der Landesverfassung zu erheben, bleibt unberührt.
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
(1) Die Entscheidung nach § 93b und § 93c ergeht ohne mündliche Verhandlung. Sie ist unanfechtbar. Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde bedarf keiner Begründung.
(2) Solange und soweit der Senat nicht über die Annahme der Verfassungsbeschwerde entschieden hat, kann die Kammer alle das Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffenden Entscheidungen erlassen. Eine einstweilige Anordnung, mit der die Anwendung eines Gesetzes ganz oder teilweise ausgesetzt wird, kann nur der Senat treffen; § 32 Abs. 7 bleibt unberührt. Der Senat entscheidet auch in den Fällen des § 32 Abs. 3.
(3) Die Entscheidungen der Kammer ergehen durch einstimmigen Beschluß. Die Annahme durch den Senat ist beschlossen, wenn mindestens drei Richter ihr zustimmen.
