Bundessozialgericht Beschluss, 01. März 2018 - B 8 SO 52/17 B
Gericht
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. Mai 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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Der 1940 geborene Kläger bezieht neben seiner Rente (zuletzt 1225,45 Euro) ergänzend Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem SGB XII. Bei der Bedarfsberechnung berücksichtigte der Beklagte ua einen Beitrag zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung des Klägers in Höhe des sog Basistarifs (monatlich 363,18 Euro). Nachdem die private Krankenversicherung dem Beklagten mitgeteilt hatte, dass der Kläger schon seit Jahren keine Beiträge mehr zahle, änderte der Beklagte den Bescheid über die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen ab 1.1.2016 ab und verfügte die Zahlung eines monatlichen Betrags von 192,13 Euro an die private Krankenversicherung (Bescheid vom 16.12.2015; Widerspruchsbescheid vom 6.1.2016).
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Mit seiner am 1.2.2016 vor dem Sozialgericht (SG) Darmstadt erhobenen Klage hat sich der Kläger gegen diese Bescheide gewandt und zudem beantragt, den Beklagten zu verurteilen, ihm "sofort und nach dem Gesetz aus meiner von den Beklagten verschuldeten Notlage zu helfen". Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 5.10.2016 ist als Antrag des Klägers protokolliert worden, "den Beklagten zu verurteilen, ihm sofort aus der vom Beklagten verschuldeten Notlage zu helfen". Das SG hat die Klage als unzulässig mit der Begründung abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 7.10.2016), es fehle an einem Rechtsschutzbedürfnis für die Klage; denn der Kläger habe die Gewährung einer einmaligen Beihilfe zur Behebung einer finanziellen Notlage bislang in dieser Form nicht beim Beklagten beantragt. Die Berufung hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) mit der Begründung zurückgewiesen, das SG habe die Klage zutreffend mit der Begründung abgewiesen, sie sei wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig. Denn der Kläger verfolge auch mit seiner Klage im Verfahren S 28 SO 116/16, die am 30.6.2016 erhoben worden sei, das gleiche Begehren. Der erstmalig im Erörterungstermin am 5.10.2016 gestellte Leistungsantrag sei damit wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig (Urteil vom 17.5.2017).
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Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG und macht Verfahrensfehler geltend. Das SG wie das LSG hätten den Streitgegenstand verkannt und gegen seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dadurch verstoßen, dass sie seinen Antrag, gerichtet auf die Anfechtung der Bescheide, ignoriert hätten. Er habe nie diesen Antrag zurücknehmen wollen; es verbiete sich auch eine Umdeutung seines Klagebegehrens, denn der ihm vom SG in den Mund gelegte Antrag sei nicht in seinem Interesse gewesen. Zudem sei zu Unrecht ein Prozessurteil anstelle eines Urteils in der Sache erlassen worden. Denn anders als es das LSG meine, sei das vorliegende Verfahren mit dem Antrag, ihm aus seiner Notlage zu helfen, zeitlich vor dem Verfahren S 28 SO 116/16 anhängig gemacht worden, so dass diesem Verfahren Vorrang einzuräumen gewesen sei.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.
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Der gerügte Verfahrensfehler (Verletzung von § 123 SGG) liegt vor. Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und vor allem bei nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 S 2 SGG; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 123 RdNr 3; Schmidt aaO, § 112 RdNr 8). Im Übrigen ist das Gewollte, also das mit der Klage bzw der Berufung verfolgte Prozessziel, bei nicht eindeutigen Anträgen im Wege der Auslegung festzustellen (vgl etwa BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 180; BSG Urteil vom 8.12.2010 - B 6 KA 38/09 R). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (vgl nur BSG Urteil vom 25.6.2002 - B 11 AL 23/02 R - juris RdNr 21; BSG Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2). Im Zweifel ist davon auszugehen, dass nach Maßgabe des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (vgl etwa BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 16). Der Grundsatz, dass im Zweifel von einem umfassenden Rechtsschutzbegehren ausgegangen werden muss, ist Ausfluss des verfassungsrechtlichen Auftrags der Gerichte zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die Auslegung von Anträgen richtet sich danach, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen; im Zweifel ist davon auszugehen, dass der Kläger alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (BSGE 74, 77, 79 = SozR 3-4100 § 104 Nr 11 S 47; BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 3 RdNr 22; BSG SozR 4-1500 § 92 Nr 2 RdNr 16).
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Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben konnte das SG bei verständiger Würdigung das Begehren des nicht anwaltlich vertretenen Klägers nicht so verstehen, dass dieser die Anfechtungsklage gegen die ihn belastenden Bescheide zurücknehmen und nur noch ein Klagebegehren verfolgen wollte, dem es nach Ansicht des SG bereits an der Zulässigkeit fehlt. Der Kläger hat mit seiner Klage neben den Leistungen zur "Behebung einer Notlage" (Leistungsantrag) erkennbar weiterhin die Auszahlung der Leistungen zur Deckung der Kosten für die private Krankenversicherung auf sein Konto angestrebt (Anfechtungsantrag). Ein irgendwie geartetes Interesse des Klägers, den Anfechtungsantrag nicht, dafür aber einen unzulässigen Leistungsantrag weiter zu verfolgen, bestand nicht. Es verstößt gegen das Gebot des fairen Verfahrens (Art 19 Abs 4 Grundgesetz
) und gegen § 106 Abs 1 Satz 1 SGG, wenn ein Gericht bei einem nicht anwaltlich vertretenen Kläger darauf hinwirkt, dass ausschließlich ein nach der Rechtsansicht des Gerichts unzulässiges und damit erkennbar nicht sachdienliches Klagebegehren weiter verfolgt wird. Das umfassende Rechtsschutzbegehren des Klägers hätte nur dann durch den vom SG vorgeschlagenen Antrag beschränkt werden dürfen, wenn der Wille des nicht vertretenen Klägers zur Begrenzung des Streitgegenstands bzw der teilweisen Klagerücknahme klar und eindeutig zum Ausdruck gekommen wäre. Hieran fehlt es. Insbesondere dem Protokoll des Erörterungstermins vom 5.10.2016 ist nichts zu entnehmen, was einen derartigen Schluss zuließe. Der Berufungsschriftsatz des Klägers, der das Verhalten des SG als "unsozial" bezeichnet, weil aus den Akten und seinen Anträgen eindeutig hervorgehe, was er erstrebe, was aber vom Gericht nicht gewürdigt worden sei, macht vielmehr das Gegenteil deutlich.
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Dieser Verfahrensfehler hat sich vor dem LSG fortgesetzt. Das LSG hätte zur Korrektur des Verfahrensfehlers (dazu BSG Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 134/14 B - juris RdNr 11) in der mündlichen Verhandlung das wahre Klagebegehren des Klägers - das sich allerdings schon in seinem Berufungsschriftsatz deutlich manifestiert hat - ermitteln und ihm die Möglichkeit einräumen müssen, seinen Antrag nunmehr richtigzustellen, bzw ggf die Sache wegen des Verfahrensfehlers an das SG zurückverweisen müssen.
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Angesichts dessen kann eine Entscheidung über die vom Kläger außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben. Der Senat macht von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, weil für eine abschließende Entscheidung in der Sache Tatsachenfeststellungen notwendig sind.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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Annotations
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.
Das Gericht entscheidet über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.
(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.
(2) Der Vorsitzende hat bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen.
(3) Zu diesem Zweck kann er insbesondere
- 1.
um Mitteilung von Urkunden sowie um Übermittlung elektronischer Dokumente ersuchen, - 2.
Krankenpapiere, Aufzeichnungen, Krankengeschichten, Sektions- und Untersuchungsbefunde sowie Röntgenbilder beiziehen, - 3.
Auskünfte jeder Art einholen, - 4.
Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen oder, auch eidlich, durch den ersuchten Richter vernehmen lassen, - 5.
die Einnahme des Augenscheins sowie die Begutachtung durch Sachverständige anordnen und ausführen, - 6.
andere beiladen, - 7.
einen Termin anberaumen, das persönliche Erscheinen der Beteiligten hierzu anordnen und den Sachverhalt mit diesen erörtern.
(4) Für die Beweisaufnahme gelten die §§ 116, 118 und 119 entsprechend.
(1) Der Vorsitzende eröffnet und leitet die mündliche Verhandlung. Sie beginnt nach Aufruf der Sache mit der Darstellung des Sachverhalts.
(2) Sodann erhalten die Beteiligten das Wort. Der Vorsitzende hat das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten zu erörtern und dahin zu wirken, daß sie sich über erhebliche Tatsachen vollständig erklären sowie angemessene und sachdienliche Anträge stellen.
(3) Die Anträge können ergänzt, berichtigt oder im Rahmen des § 99 geändert werden.
(4) Der Vorsitzende hat jedem Beisitzer auf Verlangen zu gestatten, sachdienliche Fragen zu stellen. Wird eine Frage von einem Beteiligten beanstandet, so entscheidet das Gericht endgültig.
Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.
(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.
(2) Der Vorsitzende hat bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen.
(3) Zu diesem Zweck kann er insbesondere
- 1.
um Mitteilung von Urkunden sowie um Übermittlung elektronischer Dokumente ersuchen, - 2.
Krankenpapiere, Aufzeichnungen, Krankengeschichten, Sektions- und Untersuchungsbefunde sowie Röntgenbilder beiziehen, - 3.
Auskünfte jeder Art einholen, - 4.
Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen oder, auch eidlich, durch den ersuchten Richter vernehmen lassen, - 5.
die Einnahme des Augenscheins sowie die Begutachtung durch Sachverständige anordnen und ausführen, - 6.
andere beiladen, - 7.
einen Termin anberaumen, das persönliche Erscheinen der Beteiligten hierzu anordnen und den Sachverhalt mit diesen erörtern.
(4) Für die Beweisaufnahme gelten die §§ 116, 118 und 119 entsprechend.
(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.
(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.
(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.
(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.
(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.