Bundessozialgericht Beschluss, 15. Sept. 2011 - B 2 U 157/11 B
Gericht
Tenor
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Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 5. Mai 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung des Ereignisses vom 26.2.2003 als Arbeitsunfall hat.
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Die 1982 geborene Klägerin war als Altenpflegerin beschäftigt. Am 26.2.2003 knickte sie mit dem linken Kniegelenk weg und verlor das Gleichgewicht, als eine Patientin, die sie zum Bett begleitete und festhielt, wegrutschte und die Klägerin mitriss. Der am selben Tag aufgesuchte Durchgangsarzt Dr. S. hielt als Diagnose eine rezidivierende habituelle Patellaluxation (wiederkehrende anlagebedingte Kniescheibenverrenkung) links fest. Ein echtes Unfallereignis habe nicht vorgelegen. Bereits vor zehn Jahren sei es links zu einer Patellaluxation gekommen. Die Beklagte ließ sodann ein Gutachten von Dr. P. erstellen, der in seinem Gutachten vom 17.3.2004 zu dem Ergebnis kam, eine traumatische Verursachung liege nicht vor. Die Kniescheibenverrenkung müsse als habituell angesehen werden.
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Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24.5.2004 die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27.5.2005). Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 13.3.2007 abgewiesen.
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Das LSG hat ein Gutachten des Facharztes Dr. S. eingeholt, der in seinem Gutachten vom 18.6.2009 zu dem Ergebnis kam, bei der Klägerin habe eine Disposition zur Kniescheibenverrenkung vorgelegen, der überragende Bedeutung für die am 26.2.2003 erfolgte Verrenkung zukomme. Der Berichterstatter am LSG hat dieses Gutachten den Beteiligten am 23.6.2009 mit dem Hinweis übersandt: "Nach den Darlegungen des Sachverständigen dürfte das Begehren der Klägerin keine Aussicht auf Erfolg (mehr) versprechen".
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Das LSG hat sodann, ohne dass weitere richterliche Hinweise gegeben wurden, nach mündlicher Verhandlung vom 5.5.2011 den Gerichtsbescheid und die Bescheide der Beklagten aufgehoben und festgestellt, dass der Unfall vom 26.2.2003 ein Arbeitsunfall ist.
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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG vom 5.5.2011 beruht auf einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Es ist daher aufzuheben und die Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG zurückzuverweisen.
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Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua dann begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das angefochtene Urteil des LSG unter Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) sowie seines in Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip (vgl Art 20 Abs 3 GG) sowie Art 6 Abs 1 Satz 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) begründeten Anspruchs auf ein faires Verfahren ergangen ist.
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Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung des Gerichts überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl hierzu zuletzt Urteil des Senats vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - Juris RdNr 24 ff; BSG vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190). Wenn ein Gericht - wie hier - eigene Sachkunde bei der Urteilsfindung berücksichtigen will, muss es den Beteiligten die Grundlagen für seine Sachkunde offenbaren. Das Gericht muss darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und was diese beinhaltet, damit die Beteiligten dazu Stellung nehmen und ihre Prozessführung hierauf einrichten können (zur Gehörsverletzung bei Unterlassung dieses Hinweises: BSG vom 5.3.2002 - B 2 U 27/01 R - Juris RdNr 20 f mit weiteren Hinweisen).
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Das LSG hat eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es nicht den eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten von Dr. P. und Dr. S. gefolgt ist, sondern seine Beurteilung allein auf eine von ihm selbst unter Auswertung der unfallmedizinischen Literatur entwickelte Beurteilung, also auf eigene Sachkunde gestützt hat. Vor der Entscheidung hat es die Beteiligten nicht auf das Bestehen dieser eigenen medizinischen Sachkunde hingewiesen und ihnen nicht erläutert, was diese beinhaltet. Damit liegt der von der Beklagten gerügte Verfahrensfehler vor. Die Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen, weil - wie die Beklagte auch noch hinreichend vorgetragen hat - nicht auszuschließen ist, dass das LSG auf die von ihr dann vorgebrachten Einwendungen zu einer anderen Entscheidung bzw weiteren Beweiserhebung hätte kommen müssen.
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Im Übrigen ist hier zu berücksichtigen, dass auch der umfassende Anspruch der Beklagten auf ein faires Verfahren verletzt ist (vgl hierzu insbesondere Beschluss des Senats vom 2.4.2009 - B 2 U 281/08 B - UV-Recht Aktuell 2009, 709). Zwar ergibt sich weder aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren noch aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs eine allgemeine Hinweispflicht des Gerichts zur Sach- und Rechtslage oder eine Pflicht des Gerichts zu einem Rechtsgespräch oder zu einem Hinweis auf eine Rechtsauffassung (vgl insbesondere BVerfGE 66, 116, 147; BVerfGE 74, 1, 5; BVerfGE 86, 133, 145). Hat das Gericht sich jedoch hinsichtlich bestimmter Sach- und Rechtsfragen geäußert, so kann es nicht ohne vorherige Information der Beteiligten über eine mögliche andere Auffassung seinerseits in dieser Frage auf eine abweichende Beurteilung dieser Frage seine Entscheidung gründen, weil dies gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstoßen und eine Überraschungsentscheidung darstellen würde (vgl hierzu BSG vom 2.4.2009, aaO). So liegen die Verhältnisse auch hier. Der Berichterstatter am LSG hat durch seinen Hinweis im Zusammenhang mit der Übersendung des Gutachtens des Dr. S. am 23.6.2009 die Rechtsauffassung vertreten, dass das Begehren der Klägerin keine Aussicht auf Erfolg versprechen dürfte. Insofern wäre der Senat am LSG gehalten gewesen, die Beteiligten vorher darauf hinzuweisen, wenn er - auch unter Berücksichtigung dieses übersandten Gutachtens - zwischenzeitlich zu einer anderen Einschätzung der Sach- und Rechtslage gelangt.
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Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.
(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.
(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.
(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.
(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.
(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.
Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.