Bundessozialgericht Beschluss, 14. Dez. 2016 - B 13 R 204/16 B

bei uns veröffentlicht am14.12.2016

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. Mai 2016 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. In der Hauptsache streiten die Beteiligten über einen zeitlich bis zum 31.12.2014 befristeten Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung.

2

Der im Januar 1957 geborene Kläger hat den Beruf des Mechanikers erlernt und war nach langjähriger Tätigkeit als Betriebsrat zuletzt als Qualifizierungsberater beschäftigt. Seit März 2013 ist er arbeitslos gemeldet. Er hat seit Mai 2012 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50. Auf psychiatrischem Fachgebiet wurden die Gesundheitsstörungen mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet und als Schmerzsyndrom, Somatisationen, depressive Verstimmung, Vermeidung und Antriebsschwäche beschrieben.

3

Auf seinen Antrag vom 9.4.2013 wegen der Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung holte die Beklagte ua ein Gutachten des Psychiaters Dr. M. ein. Dieser diagnostizierte beim Kläger am 4.7.2013 eine somatoforme Schmerzstörung und eine überdauernde depressive Symptomatik. Dem Kläger seien auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch Tätigkeiten ohne erhöhte psychische Belastung von sechs Stunden und mehr möglich und zumutbar.

4

Gestützt ua auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab (Bescheid vom 10.7.2013, Widerspruchsbescheid vom 26.9.2013).

5

Im Klageverfahren hat das SG Würzburg ein Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. S vom 7.2.2014 eingeholt. Dieser hat als Gesundheitsstörungen ua eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung festgestellt. Beim Kläger komme nur noch ein Einsatz von weniger als sechs Stunden mit weiteren qualitativen Einschränkungen für eine Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts in Betracht. Die geminderte Erwerbsfähigkeit bestehe seit der gescheiterten stufenweisen Wiedereingliederung im Jahr 2012. Es sei nicht sicher, ob die geminderte Erwerbsfähigkeit vorübergehend oder auf Dauer bestehe. Insbesondere bestehe die Hoffnung, dass nach Abbau (Entzug) des opiathaltigen Schmerzmittels eine Verbesserung des Leistungsvermögens, der Ausdauerbelastbarkeit, der Konzentrationsfähigkeit, der Alltagsmobilität und der Sozialkontaktfähigkeit des Klägers erreicht werden könne. Die Behandlungsbedürftigkeit bestehe mindestens für ein weiteres Jahr. Eine stationäre Heilbehandlung in einer Fachklinik werde empfohlen.

6

Im Wesentlichen gestützt auf dieses Gutachten hat das SG mit Urteil vom 8.5.2014 die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger unter Zugrundelegung des Versicherungsfalls der teilweisen Erwerbsminderung am 9.4.2013 die "entsprechenden gesetzlichen Leistungen" ab 1.11.2013 bis einschließlich Dezember 2014 zu gewähren. Daraufhin hat die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 8.10.2014 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.11.2013 bis 31.12.2014 bewilligt. Den Weitergewährungsantrag des Klägers über Dezember 2014 hinaus hat sie abgelehnt (Bescheid vom 13.1.2015, Widerspruchsbescheid vom 3.3.2015). Hiergegen ist ein Klageverfahren beim SG Würzburg unter dem Az S 10 R 293/15 anhängig.

7

Im Berufungsverfahren hat das LSG ein Gutachten des Arztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und Diplom-Psychologen Dr. W. eingeholt. Dieser kommt in seinem Gutachten vom 2.9.2015 zu dem Ergebnis, dass beim Kläger im Zeitraum von August 2012 bis Februar 2015 auf Dauer eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig schwerer Episode ohne psychotische Symptome bei anhaltender somatoformer Störung vorgelegen habe. Im Vergleich zu den zuvor eingeholten Gutachten liege eine Verschlechterung des Leistungsvermögens bzw der dafür erforderlichen Ressourcen vor, was psychologisch im Sinne einer posttraumatischen Verbitterungsstörung zum Ausdruck komme und ein therapeutisch nur eingeschränkt zugängliches klinisches Bild umschreibe. Das in der Untersuchung vorgefundene Bild einer mittelgradigen depressiven Störung und einer chronisch somatoformen Schmerzstörung mit Hinweis auf eine organische Grundlage habe testpsychologisch gestützt werden können. Bezüglich des zeitlichen Umfangs, in dem der Kläger im Zeitraum von August 2012 bis Februar 2015 auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch täglich habe erwerbstätig sein können, sei in Übereinstimmung mit dem Gutachten von Dr. S. von drei bis unter sechs Stunden auszugehen. Eine höhere zeitliche Arbeitsbelastung sei kaum vorstellbar und aus damaliger Sicht die Wahrscheinlichkeit einer Besserung nicht als gegeben anzusehen. Die Leistungseinschätzung des Dr. M. lasse sich bei der Entwicklung des Krankheitsbildes im Zeitverlauf nicht mehr aufrechterhalten, und es deute sich bereits eine Chronifizierung an, die therapeutisch wohl kaum mehr umkehrbar sein dürfte. Zur Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit des Klägers würden derzeit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht empfohlen.

8

Mit Urteil vom 4.5.2016 hat das Bayerische LSG die SG-Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das SG habe zu Unrecht das Vorliegen eines Versicherungsfalls der teilweisen Erwerbsminderung als nachgewiesen angesehen. Zwar hätten sowohl der erstinstanzlich gehörte Sachverständige Dr. S. als auch der im Berufungsverfahren gehörte Sachverständige Dr. W. angenommen, dass durch die depressive Erkrankung in Verbindung mit den übrigen Gesundheitsstörungen die Leistungsfähigkeit des Klägers auch quantitativ eingeschränkt sei. Zugleich hätten sie aber weitere Behandlungsoptionen als gegeben erachtet, insbesondere sei jeweils eine nochmalige stationäre Rehabilitationsmaßnahme angesprochen worden. Das Leistungsvermögen des Klägers stelle sich wie folgt dar: Er könne nur noch leichte Arbeiten verrichten. Häufiges Heben, Tragen und Bewegen von Lasten größer als 5 bis 10 kg und häufiges Bücken, Klettern, Steigen, Knien oder Hocken sowie dauerhaftes Stehen seien dem Kläger nicht zumutbar. Ebenfalls seien Dauerbelastung der Schultern und Zwangshaltungen, Tätigkeiten mit Absturzgefahr sowie häufiges Überkopfarbeiten ausgeschlossen. Zu vermeiden seien Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung wie Akkord- und Fließbandarbeit, Wechsel- und Nachtschichtarbeit und die Arbeit an laufenden, dh nicht selbstbedienten Maschinen. Bei Arbeiten mit Publikumsverkehr sollten möglichst konfliktbehaftete Situationen und beim Arbeiten als Lehrer, Dozent oder Berater das häufige freie Sprechen vor größeren Gruppen vermieden werden.

9

Bei Beachtung dieser Arbeitsbedingungen sei eine Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf drei bis unter sechs Stunden nicht nachgewiesen. Weitere Ermittlungen seien für den abgeschlossenen Zeitraum in der Vergangenheit nicht möglich. Die von den Gutachtern Dr. S. und Dr. W. angenommene quantitative Leistungseinschränkung würde von diesen im Wesentlichen auf das Vorliegen einer psychischen Minderbelastbarkeit zurückgeführt. Dabei sei die sozialmedizinische Beurteilung des Dr. S. schon deshalb übersteigernd verzerrt, weil er eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung diagnostiziert habe, die anderweitig ärztlich nicht in dieser Form bestätigt worden sei und die auch mit den von Dr. S. selbst angegebenen Therapieoptionen kaum zur Harmonisierung gebracht werden könnte. Es spreche zwar durchaus viel dafür, dass beim Kläger im Zuge von Belastungssituationen psychische Störungen und psychovegetative Begleiterscheinungen in deutlichem Umfang zu beobachten gewesen seien und beim Wiederausgesetztsein gegenüber diesen Geschehnissen solche psychischen Überforderungen erneut aufträten. Dies sei aber dann nicht der Fall, wenn eine Arbeitstätigkeit außerhalb des erlebten Belastungsumfelds verrichtet werden soll.

10

Soweit vom Kläger auf die Durchführung erfolgloser stationärer Rehabilitationsmaßnahmen in der Vergangenheit verwiesen werde, sei zu berücksichtigen, dass diese Maßnahmen kurz vor der Rentenantragstellung durchgeführt worden seien und - noch - keine ausreichende Distanz zu den äußeren Faktoren für die Belastungsreaktionen aufgewiesen hätten. Stationäre Rehabilitationen, die im nächsten Schritt nicht mehr die Rückkehr an den - hier besonders problembelasteten - Arbeitsplatz anstrebten, sondern auf ein deutlich weiteres Einsatzfeld ausgerichtet seien, seien aber in ihren Erfolgschancen nicht mehr durch die früheren Maßnahmen mit anderer Zielrichtung, die wenig erfolgreich gewesen seien, prädisponiert.

11

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Verfahrensmängel geltend. Als verfahrensfehlerhaft rügt er, das LSG habe eigene medizinische Erwägungen angestellt, ohne seine diesbezügliche Sachkunde darzulegen. Es habe ausgeführt, dass bei der Durchführung vergangener Rehabilitationsmaßnahmen noch keine ausreichende Distanz zu den Einflussfaktoren der Belastungsreaktion bestanden habe. Eine solche Distanz werde vom LSG für das von ihm festgestellte vollschichtige Leistungsvermögen als medizinisch relevant unterstellt, ohne dass auf sachkundige Ausführungen eines Gutachters Bezug genommen werde.

12

II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG beruht auf einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Es ist daher aufzuheben und die Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG zurückzuverweisen.

13

Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua dann begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das angefochtene Urteil des LSG unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergangen ist.

14

Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung des Gerichts überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG Beschluss vom 15.9.2011 - B 2 U 157/11 B - Juris RdNr 8 mwN). Wenn ein Gericht - wie hier - eigene Sachkunde bei der Urteilsfindung berücksichtigen will, muss es den Beteiligten die Grundlagen für seine Sachkunde offenbaren. Das Gericht muss darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und was diese beinhaltet, damit die Beteiligten dazu Stellung nehmen und ihre Prozessführung hierauf einrichten können (vgl BSG Beschluss vom 15.9.2011 aaO).

15

Das LSG hat eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es seine von den Gutachten des Dr. S. vom 7.2.2014 und des Dr. W. vom 2.9.2015 abweichende Beurteilung des quantitativen Leistungsvermögens des Klägers auf eigene Sachkunde gestützt hat, ohne vor der Entscheidung die Beteiligten auf das Bestehen dieser eigenen sozialmedizinischen Sachkunde hingewiesen und ihnen erläutert zu haben, welche Schlussfolgerungen es daraus ziehen wolle. Das Berufungsgericht hat im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass eine Reduzierung der psychischen und körperlichen Belastbarkeit des Klägers - über die beschriebenen qualitativen Einschränkungen der Arbeitsbedingungen hinaus - dann nicht bestehe, wenn eine Arbeitstätigkeit "außerhalb des erlebten Belastungsumfeldes" verrichtet werde. Für seine Feststellung zum quantitativen Leistungsvermögen des Klägers hat es eine "Distanz zu den äußeren Einflussfaktoren der Belastungsreaktion" als sozialmedizinisch relevant unterstellt, ohne aber auf sachkundige Ausführungen eines medizinischen Sachverständigen oder sonstige qualifizierte sozialmedizinische Erkenntnisquellen Bezug zu nehmen. Nähere Ausführungen hierzu wären aber schon deshalb geboten gewesen, weil der im Berufungsverfahren gehörte Sachverständige Dr. W. in seinem Gutachten ausgeführt hat, dass im hier relevanten Zeitraum eine "therapeutisch wohl kaum mehr umkehrbare" Chronifizierung sich andeute, eine höhere zeitliche Arbeitsbelastung des Klägers als von drei bis unter sechs Stunden "kaum vorstellbar" und die Wahrscheinlichkeit einer Besserung "nicht als gegeben" anzusehen sei.

16

Damit liegt der von dem Kläger gerügte Verfahrensfehler vor. Die Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen, weil - wie der Kläger noch hinreichend vorgetragen hat - nicht auszuschließen ist, dass das LSG im hier streitgegenständlichen Zeitraum auf die von ihm dann vorgebrachten Einwendungen im Hinblick auf das von den Sachverständigen Dr. S. und Dr. W. festgestellte untervollschichtige Leistungsvermögen des Klägers zu einer anderen Entscheidung bzw zu weiterer Beweiserhebung hätte kommen können.

17

Da die Beschwerde bereits aus den dargelegten Gründen erfolgreich ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Rechtssache auch - die vom Kläger zusätzlich geltend gemachte - grundsätzliche Bedeutung hat.

18

Das BSG kann in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 160a Abs 5 SGG die angefochtene Entscheidung auch dann wegen eines Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückverweisen, wenn die Beschwerde zusätzlich auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützt wird. Denn selbst bei Annahme einer grundsätzlichen Bedeutung und Zulassung der Revision wäre voraussichtlich mit einer Zurückverweisung zu rechnen (vgl BSG Beschluss vom 30.4.2003 - B 11 AL 203/02 B - Juris RdNr 10; Senatsbeschlüsse vom 20.10.2010 - B 13 R 511/09 B - Juris RdNr 22 und vom 9.12.2010 - B 13 R 170/10 B - Juris RdNr 21, jeweils mwN). Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.

19

Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

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Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

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(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder

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Tenor Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 30. Januar 2018 aufgehoben.

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(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

Tenor

Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 5. Mai 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung des Ereignisses vom 26.2.2003 als Arbeitsunfall hat.

2

Die 1982 geborene Klägerin war als Altenpflegerin beschäftigt. Am 26.2.2003 knickte sie mit dem linken Kniegelenk weg und verlor das Gleichgewicht, als eine Patientin, die sie zum Bett begleitete und festhielt, wegrutschte und die Klägerin mitriss. Der am selben Tag aufgesuchte Durchgangsarzt Dr. S. hielt als Diagnose eine rezidivierende habituelle Patellaluxation (wiederkehrende anlagebedingte Kniescheibenverrenkung) links fest. Ein echtes Unfallereignis habe nicht vorgelegen. Bereits vor zehn Jahren sei es links zu einer Patellaluxation gekommen. Die Beklagte ließ sodann ein Gutachten von Dr. P. erstellen, der in seinem Gutachten vom 17.3.2004 zu dem Ergebnis kam, eine traumatische Verursachung liege nicht vor. Die Kniescheibenverrenkung müsse als habituell angesehen werden.

3

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24.5.2004 die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27.5.2005). Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 13.3.2007 abgewiesen.

4

Das LSG hat ein Gutachten des Facharztes Dr. S. eingeholt, der in seinem Gutachten vom 18.6.2009 zu dem Ergebnis kam, bei der Klägerin habe eine Disposition zur Kniescheibenverrenkung vorgelegen, der überragende Bedeutung für die am 26.2.2003 erfolgte Verrenkung zukomme. Der Berichterstatter am LSG hat dieses Gutachten den Beteiligten am 23.6.2009 mit dem Hinweis übersandt: "Nach den Darlegungen des Sachverständigen dürfte das Begehren der Klägerin keine Aussicht auf Erfolg (mehr) versprechen".

5

Das LSG hat sodann, ohne dass weitere richterliche Hinweise gegeben wurden, nach mündlicher Verhandlung vom 5.5.2011 den Gerichtsbescheid und die Bescheide der Beklagten aufgehoben und festgestellt, dass der Unfall vom 26.2.2003 ein Arbeitsunfall ist.

6

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG vom 5.5.2011 beruht auf einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Es ist daher aufzuheben und die Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG zurückzuverweisen.

7

Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua dann begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das angefochtene Urteil des LSG unter Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) sowie seines in Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip (vgl Art 20 Abs 3 GG) sowie Art 6 Abs 1 Satz 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) begründeten Anspruchs auf ein faires Verfahren ergangen ist.

8

Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung des Gerichts überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl hierzu zuletzt Urteil des Senats vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - Juris RdNr 24 ff; BSG vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190). Wenn ein Gericht - wie hier - eigene Sachkunde bei der Urteilsfindung berücksichtigen will, muss es den Beteiligten die Grundlagen für seine Sachkunde offenbaren. Das Gericht muss darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und was diese beinhaltet, damit die Beteiligten dazu Stellung nehmen und ihre Prozessführung hierauf einrichten können (zur Gehörsverletzung bei Unterlassung dieses Hinweises: BSG vom 5.3.2002 - B 2 U 27/01 R - Juris RdNr 20 f mit weiteren Hinweisen).

9

Das LSG hat eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es nicht den eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten von Dr. P. und Dr. S. gefolgt ist, sondern seine Beurteilung allein auf eine von ihm selbst unter Auswertung der unfallmedizinischen Literatur entwickelte Beurteilung, also auf eigene Sachkunde gestützt hat. Vor der Entscheidung hat es die Beteiligten nicht auf das Bestehen dieser eigenen medizinischen Sachkunde hingewiesen und ihnen nicht erläutert, was diese beinhaltet. Damit liegt der von der Beklagten gerügte Verfahrensfehler vor. Die Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen, weil - wie die Beklagte auch noch hinreichend vorgetragen hat - nicht auszuschließen ist, dass das LSG auf die von ihr dann vorgebrachten Einwendungen zu einer anderen Entscheidung bzw weiteren Beweiserhebung hätte kommen müssen.

10

Im Übrigen ist hier zu berücksichtigen, dass auch der umfassende Anspruch der Beklagten auf ein faires Verfahren verletzt ist (vgl hierzu insbesondere Beschluss des Senats vom 2.4.2009 - B 2 U 281/08 B - UV-Recht Aktuell 2009, 709). Zwar ergibt sich weder aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren noch aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs eine allgemeine Hinweispflicht des Gerichts zur Sach- und Rechtslage oder eine Pflicht des Gerichts zu einem Rechtsgespräch oder zu einem Hinweis auf eine Rechtsauffassung (vgl insbesondere BVerfGE 66, 116, 147; BVerfGE 74, 1, 5; BVerfGE 86, 133, 145). Hat das Gericht sich jedoch hinsichtlich bestimmter Sach- und Rechtsfragen geäußert, so kann es nicht ohne vorherige Information der Beteiligten über eine mögliche andere Auffassung seinerseits in dieser Frage auf eine abweichende Beurteilung dieser Frage seine Entscheidung gründen, weil dies gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstoßen und eine Überraschungsentscheidung darstellen würde (vgl hierzu BSG vom 2.4.2009, aaO). So liegen die Verhältnisse auch hier. Der Berichterstatter am LSG hat durch seinen Hinweis im Zusammenhang mit der Übersendung des Gutachtens des Dr. S. am 23.6.2009 die Rechtsauffassung vertreten, dass das Begehren der Klägerin keine Aussicht auf Erfolg versprechen dürfte. Insofern wäre der Senat am LSG gehalten gewesen, die Beteiligten vorher darauf hinzuweisen, wenn er - auch unter Berücksichtigung dieses übersandten Gutachtens - zwischenzeitlich zu einer anderen Einschätzung der Sach- und Rechtslage gelangt.

11

Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Oktober 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger begehrt eine höhere Altersrente unter Berücksichtigung von Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten im Wege eines Überprüfungsverfahrens.

2

Der im Jahre 1936 geborene Kläger ist der leibliche Vater von 12 Kindern. Sechs der im Zeitraum von 1965 bis 1980 geborenen Kinder stammen aus erster Ehe mit der Ehefrau B. R Aus der zweiten Ehe mit K. R. gingen im Zeitraum von 1982 bis 1993 sechs weitere Kinder hervor. Die Ehen wurden im Jahre 1980 und 1997 geschieden. Nur für drei der in zweiter Ehe geborenen Kinder wurde die elterliche Sorge auf den Kläger übertragen.

3

Seit 1.4.2002 bezieht der Kläger Altersrente (anfänglicher monatlicher Zahlbetrag 40,56 Euro). Auf seinen Überprüfungsantrag von Juni 2008 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Rentenbescheids vom 25.4.2002 ab, weil Kindererziehungs- bzw Berücksichtigungszeiten für alle 12 Kinder bei den geschiedenen Ehefrauen des Klägers berücksichtigt worden waren (Bescheid vom 18.9.2008). Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 4.12.2008, Gerichtsbescheid des SG Stuttgart vom 29.4.2009).

4

Das LSG Baden-Württemberg hat die Berufung des Klägers am 22.10.2009 ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten könnten dem Kläger nicht zugeordnet werden, weil er seine Kinder weder allein noch überwiegend erzogen habe. Dies ergebe sich aus seinem Vorbringen und aus den urkundlichen Feststellungen im ersten Scheidungsverfahren. Lasse sich der überwiegende Erziehungsanteil eines Elternteils nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad feststellen (non liquet) oder würden - wie hier - in etwa gleichwertige Erziehungsbeiträge behauptet, werde die Kindererziehungszeit gemäß § 56 Abs 2 Satz 8 SGB VI der Mutter zugeordnet. Diese Gesetzeslage sei auch verfassungskonform.

5

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde (Begründung vom 26.5.2010) rügt der Kläger Verfahrensfehler und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

6

Das LSG habe gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) verstoßen, weil es den Beweisantrag, die geschiedenen Ehefrauen als Zeugen über den Anteil des Klägers an der Kindererziehung zu vernehmen, übergangen habe. Das LSG habe ferner über die Berufung nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen. Zu diesem Zeitpunkt habe kein wirksames Einverständnis des Klägers (§ 124 Abs 2 SGG) mehr vorgelegen. Dadurch sei sein Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt worden (Art 103 Abs 1 GG, § 128 Abs 2, § 124 Abs 1 und 2, § 62 SGG).

7

           

Im Übrigen hält der Kläger folgende Rechtsfrage für grundsätzlich bedeutsam iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG:

"Verstoßen die Bestimmungen der §§ 56 Abs. 2, 57, 249 Abs. 1, 300 SGB VI in ihrer derzeitigen Fassung und Auslegung durch die Fachgerichtsbarkeit gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und 4, Art. 14 Abs. 1 GG und sind deshalb unwirksam, weil die darin geregelte rentenrechtliche Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der konkreten Ausgestaltung des Gesetzes Eltern von Kindern bei ihrer Altersversorgung im Vergleich zu Kinderlosen benachteiligt?"

8

II. Auf die Beschwerde des Klägers war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

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1. Der Kläger hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und auch im Ergebnis zutreffend die Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) gerügt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

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Der Verfahrensmangel liegt vor.

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Der Kläger rügt zu Recht, dass das LSG seinem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Das LSG durfte über die Berufung des Klägers nicht entscheiden, ohne den Beweisantrag des Klägers im Berufungsschriftsatz vom 20.5.2009: "Der Kläger beantragt mündlich zu verhandeln und die geschiedenen Ehefrauen B. und K. R. zu laden oder sie ersatzweise schriftlich zu der bestrittenen Erziehungszeit zu befragen" (Bl 6 letzter Abs LSG-Akte) zu berücksichtigen. Hierbei handelt es sich um einen formgerechten Beweisantrag, der den gesetzlichen Anforderungen entspricht (vgl § 118 Abs 1 SGG iVm §§ 373 ff ZPO). Der ausdrücklichen Benennung eines Beweisthemas (von "Tatsachen, über welche die Vernehmung der Zeugen stattfinden soll") bedurfte es nicht, hatte doch der Kläger die entsprechenden Tatsachenbehauptungen im genannten Schriftsatz hinreichend verdeutlicht (Versorgung von Haushalt und der ersten drei Kinder in der Ehe mit B. R., überwiegende Versorgung der ersten drei Kinder in der Ehe mit K. R.). Aus dem weiteren Gang des Verfahrens ergibt sich nicht, dass der Kläger an diesem schriftsätzlich gestellten Antrag nicht mehr festhalten wollte. Im Gegenteil, mit Schriftsatz vom 30.6.2009 hat er auf die Schwierigkeit hingewiesen, als nicht anwaltlich vertretener Kläger ordnungsgemäße Anträge zu formulieren (Bl 26 LSG-Akte). Die späteren Schriftsätze, mit denen der Kläger jeweils seine "Texte Absichten und Anträge noch einmal neu oder besser, ergänzend formuliert" hat (vom 30.6.2009 und vom 23.7.2009), halten jeweils am materiellen Begehren fest und folgerichtig damit auch an der beantragten Beweiserhebung.

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Dem steht nicht die Rechtsprechung des BSG entgegen, wonach ein Beweisantrag bis zuletzt aufrechterhalten sein muss, sei es, dass der Antrag in der mündlichen Verhandlung gestellt bzw in Bezug genommen worden ist, das Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung mit einem entsprechenden Vorbehalt versehen wurde oder das LSG den Beweisantrag in seinem Urteil wiedergegeben hat. Diese Rechtsprechung geht von einem rechtskundig bzw anwaltlich vertretenen Beteiligten aus (stRspr - vgl BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 3 S 4 f; SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5; SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11).

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Das LSG hätte sich - ausgehend von seiner Rechtsansicht - gedrängt sehen müssen, dem Beweisantrag des Klägers aus dem Berufungsschriftsatz vom 20.5.2009 nachzugehen.

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Einer der Ausnahmefälle, der es erlaubt hätte, auf die Vernehmung der vom Kläger benannten Zeugen zu verzichten, ist nicht gegeben. Solche Ausnahmefälle sind dann anzunehmen, wenn es auf die unter Beweis gestellten Tatsachen nicht ankommt, diese bereits erwiesen sind oder das Beweismittel ungeeignet oder unerreichbar ist (vgl Senatsurteil vom 23.8.2001 - B 13 RJ 59/00 R - SozR 3-2200 § 1248 Nr 17 S 72 f; BSG vom 16.5.2007 - B 11b AS 37/06 B - Juris RdNr 10; BSG vom 28.5.2008 - B 12 KR 2/07 B - Juris RdNr 11). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

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Auf die vom Kläger beantragte Zeugenvernehmung zum Umfang bzw zur Höhe seines tatsächlichen Anteils an der Kindererziehung kommt es schon deshalb entscheidungserheblich an, weil demjenigen die Kindererziehungszeiten zuzuordnen sind, der das Kind überwiegend erzogen hat, wenn mehrere Elternteile das Kind erzogen haben und eine anderslautende Erklärung der Eltern nicht vorliegt (§ 56 Abs 2 Satz 9 und Satz 3 SGB VI).

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Entgegen der Auffassung des LSG war eine Beweisaufnahme nicht deshalb entbehrlich, weil "Aus dem gesamten Vorbringen des Klägers folgt, dass er selbst nur von einem hälftigen Erziehungsanteil ausgeht; dies findet seine Bestätigung in seinem Begehren, nur die hälftige Erziehungszeit angerechnet haben zu wollen". Nach Ansicht des LSG sei dann die Erziehungszeit der Mutter nach der Auffangregel von § 56 Abs 2 Satz 8 SGB VI zuzuordnen(S 14 Entscheidungsgründe LSG). Dieser Vortrag lässt sich allerdings nicht dem Schriftsatz des Klägers vom 30.6.2009 entnehmen, weil er dort gerade den Beweisantrag, "die Zuordnung der streitbaren Erziehungszeit zu den Müttern … zu prüfen", wiederholt (Bl 33, letzter Abs LSG-Akte) und ausdrücklich vorgetragen hat, in beiden Ehen jeweils die ersten drei Kinder allein oder überwiegend versorgt zu haben.

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Wenn die bei der Erziehung zusammenwirkenden Eltern eine Erklärung über die Zuordnung der Kindererziehungszeit - wie hier - gemäß § 56 Abs 2 Satz 3 SGB VI nicht abgegeben haben, bleibt es bei dem Grundsatz des § 56 Abs 2 Satz 9 SGB VI, wonach die Kindererziehungszeit demjenigen zuzuordnen ist, der das Kind - nach objektiven Gesichtspunkten betrachtet - überwiegend erzogen hat. Das Maß der jeweiligen Zuwendung der Elternteile zu ihrem Kind ist vom Versicherungsträger bzw vom Gericht zu ermitteln. Nur dann, wenn sich dabei überwiegende Erziehungsanteile eines Elternteils nicht im erforderlichen Beweisgrad feststellen lassen (non liquet), sondern die Erziehungsbeiträge nach objektiven Maßstäben in etwa gleichgewichtig sind, wird die Kindererziehungszeit nach der Auffangregel des § 56 Abs 2 Satz 8 SGB VI der Mutter zugeordnet(BSG SozR 3-2600 § 56 Nr 10 S 47; BSGE 68, 171, 176 ff = SozR 3-2200 § 1227a Nr 7 S 17; vgl auch Senatsurteil vom 17.4.2008 - SozR 4-2600 § 56 Nr 5 RdNr 11). Die Grundregel des § 56 Abs 2 Satz 9 SGB VI gilt nach § 300 Abs 1 SGB VI auch für Sachverhalte und Ansprüche, die - wie hier - bereits vor dem Inkrafttreten der Norm (1.1.1992) vorlagen. Sie wurde durch die Übergangsvorschrift des § 249 SGB VI ergänzt (vgl Senatsurteil vom 17.4.2008 - SozR 4-2600 § 56 Nr 5 RdNr 12 mwN).

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Soweit das LSG anstelle dessen davon ausgeht, dass der Kläger - entgegen seiner Behauptung - die in den Jahren 1965, 1966 und 1969 geborenen Kinder in den ersten Lebensjahren weder überwiegend noch allein erzogen habe, weil der Betreuungsanteil des Vaters in den ersten Monaten nach der Geburt eines Kindes im Vergleich zur Mutter gewöhnlich niedriger sei und der Kläger aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit schon nicht in der Lage gewesen sein dürfte, Kinder dieser Altersstufe zu versorgen (S 6 Entscheidungsgründe LSG), handelt es sich um eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung.

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Das LSG wird daher die beantragte Zeugenvernehmung nachholen müssen. Die angefochtene Entscheidung kann auch auf diesem Verfahrensmangel beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass das LSG nach Vernehmung der geschiedenen Ehefrauen zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

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Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Zur Vermeidung von weiteren Verfahrensverzögerungen macht der Senat von der ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.

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2. Der Senat kann daher offenlassen, ob der formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG)gerügte Verfahrensmangel der Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 128 Abs 2, § 124 Abs 1 und 2, § 62 SGG) vorliegt. Es könnte zweifelhaft sein, ob im Entscheidungszeitpunkt ein wirksames Einverständnis gemäß § 124 Abs 2 SGG noch vorlag, oder ob sich in diesem Zeitpunkt die Prozesslage wesentlich geändert hatte, mit der Folge, dass dem Verzicht auf mündliche Verhandlung die Grundlage entzogen worden war(vgl BSG SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 7; SozR 3-1500 § 124 Nr 4 S 8 mwN). Hierfür könnte sprechen, dass sich der Kläger im Zeitpunkt der Entscheidung des LSG offensichtlich in einem Irrtum befand, als er nach Eingang der vom LSG eingeholten Probeberechnung der Beklagten (in Form eines "Rentenbescheids" vom 14.7.2009, der ua eine laufende Altersrente von monatlich 247,88 Euro auswies) schriftsätzlich ein "Anerkenntnisurteil" beantragt hat, weil er die Probeberechnung - objektiv unzutreffend - für ein Teilanerkenntnis der Beklagten hielt. Das LSG hat jedenfalls dieses Missverständnis bei dem nicht anwaltlich vertretenen Kläger vor Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung nicht ausgeräumt. Es hat sogar noch beim Kläger angefragt, ob er nunmehr beantrage, die Beklagte zur Zahlung einer monatlichen Altersrente (in Höhe von 1800 Euro) zu verurteilen und ab wann die Altersrente beansprucht werde (Bl 65 RS LSG-Akte).

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3. Da die Beschwerde bereits aus den dargelegten Gründen erfolgreich ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Rechtssache auch - wie zusätzlich geltend gemacht - grundsätzliche Bedeutung hat; denn selbst bei Annahme einer grundsätzlichen Bedeutung und Zulassung der Revision wäre voraussichtlich mit einer Zurückverweisung zu rechnen (vgl BSG vom 30.4.2003 - B 11 AL 203/02 B - Juris RdNr 10 mwN).

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4. Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.