Bundessozialgericht Beschluss, 21. März 2018 - B 13 R 254/15 B
Gericht
Tenor
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Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. Mai 2015 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Das LSG Berlin-Brandenburg hat mit Urteil vom 28.5.2015 einen Anspruch der Klägerin auf eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung sowie wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit verneint. Zwar sei die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, ihren erlernten und bis 31.12.2005 ausgeübten Beruf als Diätköchin weiter auszuüben. Jedoch könne sie ausgehend von einem Berufsschutz als Angelernte des oberen Bereichs auf die ungelernte Tätigkeit einer Telefonistin verwiesen werden, die ihr medizinisch und sozial zumutbar sei. Die konkrete tarifliche Eingruppierung durch den Arbeitgeber in die Facharbeiterlohngruppe 5 Fallgruppe 29 des Berliner Bezirkstarifvertrags Nr 2 zum Bundesmanteltarifvertrag-Ost (BTV Nr 2) - "Köche" - sei zu Unrecht erfolgt, weil ihre Ausbildung zur Diätköchin im Beitrittsgebiet nicht die tarifvertraglich notwendige Mindestdauer von zweieinhalb Jahren umfasst habe und keine Gleichstellung ihres Prüfzeugnisses mit einer in den alten Ländern der Bundesrepublik Deutschland abgelegten Abschlussprüfung nach Art 37 des Einigungsvertrags (EV) vorliege; dies sei für eine Gleichstellung mit einem Facharbeiter nach § 2 Abs 4 Unterabs 3 BTV Nr 2 erforderlich. Selbst wenn von einer ursprünglich zutreffenden tariflichen Einstufung als Facharbeiterin ausgegangen werden müsste, wäre zweifelhaft, ob die Klägerin noch Berufsschutz als Facharbeiterin geltend machen könne. Nach einer Anlage zur Beschreibung ihres Aufgabenkreises (BAK) vom 21.1.1997 sei anzunehmen, dass sie nur noch zu 50 % Facharbeitertätigkeiten zu verrichten gehabt habe.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil das LSG den Bescheid über die Feststellung der Gleichwertigkeit ihrer Prüfung als Diätköchin mit der Abschlussprüfung als Köchin nicht zur Kenntnis genommen habe.
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II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet.
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1. Die Klägerin hat zutreffend einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG)in Form eines Verstoßes des LSG gegen den aus § 62 SGG iVm Art 103 Abs 1 GG folgenden Anspruch auf rechtliches Gehör gerügt, auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann.
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Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat, auch wenn das Vorbringen in den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich berührt wird, weil das Gericht nach Art 103 Abs 1 GG nicht verpflichtet ist, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden. Art 103 Abs 1 GG ist nur verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen ergibt, dass ein Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist. Geht das Gericht allerdings auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Gründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen. Art 103 Abs 1 GG bietet zwar keinen Schutz dagegen, dass der Sachvortrag der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt bleibt. Die sich aus Art 103 Abs 1 GG ergebende Pflicht, die Ausführungen der Prozessparteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, schließt es jedoch aus, diese aus Gründen, die - anders als beispielsweise die Beschränkung der Nachprüfung auf Rechtsfragen im Rechtsmittelverfahren (vgl BVerfG Beschluss vom 21.4.1982 - 2 BvR 810/81 - BVerfGE 60, 305, 310 = Juris RdNr 15) - außerhalb des Prozessrechts liegen, unberücksichtigt zu lassen (vgl BVerfG Kammerbeschluss vom 25.3.2010 - 1 BvR 2446/09 - Juris RdNr 11 mwN; BSG Beschluss vom 1.8.2017 - B 13 R 214/16 B - Juris RdNr 18).
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Vorliegend hat das LSG den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es das Vorbringen der Klägerin aus deren Berufungsbegründung zur Feststellung der Gleichwertigkeit ihrer Ausbildung als Diätköchin mit der bundesdeutschen Abschlussprüfung als Köchin aufgrund von Art 37 Abs 1 EV durch - mit dem selben Schriftsatz eingereichten - Bescheid der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales vom 13.10.2011 nicht zur Kenntnis genommen hat. Dass dies der Fall gewesen ist und das LSG diesen Bescheid auch nicht in Erwägung gezogen hat, ergibt sich - worauf die Klägerin in der Beschwerdebegründung zutreffend hinweist - aus dessen Ausführungen zu einer fehlerhaften tariflichen Eingruppierung der Klägerin. Danach hat es die Eingruppierung der Klägerin als Facharbeiterin nach § 2 Abs 4 Unterabs 3 BTV Nr 2 abgelehnt, weil es (vermeintlich) an einer Gleichstellung nach Art 37 EV fehle. Zu dieser Aussage konnte das LSG nur gelangen, weil es den Bescheid vom 13.10.2011 übersehen oder aus anderen Gründen nicht zur Kenntnis genommen hatte. Dies ergibt sich auch daraus, dass das LSG bei der Prüfung des Berufsschutzes das weitere in die Gesamtwürdigung einzustellende Kriterium einer Ausbildungsdauer von grundsätzlich mehr als zwei Jahren verneint hat, ohne den Bescheid zu erwähnen. Denn eine im Einzelfall kürzere oder längere Ausbildungsdauer schließt den Facharbeiterstatus nicht aus (vgl BSG Urteil vom 21.6.2001 - B 13 RJ 45/00 R - Juris RdNr 32), insbesondere wenn - wie hier - ein gleichwertiger Befähigungsnachweis wie nach einer entsprechenden Ausbildungsdauer erworben worden ist.
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Auf dieser Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Denn ausgehend von der in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils zum Ausdruck kommenden Rechtsauffassung des LSG ist nicht auszuschließen, dass dieses die Klägerin im Rahmen der Gesamtschau aller Bewertungskriterien als Facharbeiterin eingestuft hätte, wenn es die Gleichstellungsentscheidung zur Kenntnis genommen hätte. In diesem Fall hätte die Klägerin - auch nach Auffassung des LSG - nicht auf die Tätigkeit einer Telefonistin verwiesen werden können. Eine ungelernte Tätigkeit ist zwar für eine obere Angelernte, grundsätzlich aber nicht für eine Facharbeiterin zumutbar (BSG Urteil vom 30.3.1977 - 5 RJ 98/76 - BSGE 43, 243, 246 = SozR 2200 § 1246 Nr 16 S 50 = Juris RdNr 23). Feststellungen zu einer tariflichen Gleichstellung von ungelernten Telefonisten mit sonstigen Ausbildungsberufen, die eine Verweisung ggf ermöglichen würden (vgl BSG Urteil vom 12.9.1991 - 5 RJ 34/90 - SozR 3-2200 § 1246 Nr 17, Juris RdNr 22 f; BSG Urteil vom 8.9.1993 - 5 RJ 34/93 - Juris RdNr 12), hat das LSG nicht getroffen.
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Dem Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass das LSG Zweifel äußert, ob sich die Klägerin selbst bei ursprünglich zutreffender tariflicher Eingruppierung ihrer Tätigkeit als Diätköchin in eine Tarifgruppe für Facharbeiter noch weiterhin hierauf stützen könne. Die Entscheidung stellt sich deshalb noch nicht im Ergebnis als richtig dar. Denn die Klägerin weist zutreffend darauf hin, dass das LSG hierzu keine ausreichenden Feststellungen getroffen hat. Tatsächlich hielt es das Berufungsgericht lediglich für "zweifelhaft, ob die Klägerin einen Facharbeiterschutz noch immer geltend machen könnte". Im Ergebnis hat das LSG dies also offengelassen. Dies verdeutlichen auch die in dieser Urteilspassage gewählten Formulierungen, nach der BAK der Klägerin sei "anzunehmen", dass diese nur zu 50 % Facharbeitertätigkeiten verrichtet habe, und es sei davon "auszugehen", dass bestimmte Tätigkeiten auch von angelernten Kräften verrichtet werden könnten. Insoweit fehlen aber hinreichende Feststellungen, inwieweit die zitierte Tätigkeitsbeschreibung des Arbeitgebers von derjenigen abweicht, die typischerweise dem Berufsbild der im Tarifvertrag genannten "Köche" entspricht. Zu diesbezüglicher weiterer Sachaufklärung besteht schon deshalb Anlass, weil der Arbeitgeber zunächst selbst von einem Umfang der Facharbeitertätigkeiten von 70 % ausging.
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2. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob auch die von der Klägerin erhobene Rüge eines Verstoßes des LSG gegen die Sachaufklärungspflicht aus § 103 SGG zulässig und begründet ist. Insoweit macht sie geltend, das LSG sei dem von ihr noch in der mündlichen Verhandlung wiederholten Antrag auf Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens ohne hinreichenden Grund nicht nachgekommen.
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3. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde im Falle des Vorliegens der - hier nach alledem gegebenen - Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen. Hiervon macht der Senat zur Vermeidung von Verfahrensverzögerungen Gebrauch.
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4. Die Kostenentscheidung bezüglich des Beschwerdeverfahrens bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
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(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.
Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.
Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.
(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.
(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.
(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.
(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.
(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.