Bundesgerichtshof Urteil, 19. Juli 2018 - 4 StR 603/17
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 19. Juli 2018, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Sost-Scheible,
Richterin am Bundesgerichtshof Roggenbuck, Richter am Bundesgerichtshof Cierniak, Bender, Dr. Feilcke als beisitzende Richter,
Staatsanwältin – in der Verhandlung –, Staatsanwalt – bei der Verkündung – als Vertreter des Generalbundesanwalts,
Rechtsanwalt – in der Verhandlung – als Verteidiger des Angeklagten A. A. ,
Rechtsanwalt – in der Verhandlung – als Verteidiger des Angeklagten Ah. A. ,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
- 1
- Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils der versuchten „gemeinschaftlichen“ Sachbeschädigung schuldig gesprochen und gegen den Ange- klagten A. A. eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15 Euro sowie gegen den Angeklagten Ah. A. einen Dauerarrest von zwei Wochen verhängt. Darüber hinaus hat es eine Entscheidung über die Entschädigung der Angeklagten für erlittene Untersuchungshaft getroffen. Gegen das Urteil richten sich die zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten, jeweils mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründeten Revisionen der Staatsanwaltschaft, mit welchen die Beschwerdeführerin in erster Linie eine Verurteilung der Angeklagten jeweils wegen mittäterschaftlich begangener besonders schwerer Brandstiftung erstrebt.
- 2
- Die vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel sind begründet. Die den Angeklagten Ah. A. betreffende Revision hat auch zu Gunsten des Angeklagten Erfolg, soweit eine Entscheidung über das Absehen von der Vollstreckung des Dauerarrests unterblieben ist.
I.
- 3
- Nach den Feststellungen waren die Angeklagten und der Mitverurteilte, die als algerische Asylbewerber in einer Flüchtlingsunterkunft in H. untergebracht waren, mit ihrer Unterbringung unzufrieden, weil sich in der Einrichtung ansonsten nur Asylbewerber aus anderen Ländern, insbesondere aus Albanien und dem Kosovo, aufhielten. Da sie in eine andere Flüchtlingseinrichtung verlegt werden wollten, suchten die Angeklagten und der Mitverurteilte am Vortag der Tat gemeinsam mit weiteren Personen die Verwaltung der Einrichtung auf. In dem Gespräch mit dem Leiter der Einrichtung traten die Angeklagten sehr bestimmend und fordernd auf und verlangten in aggressivem Tonfall ihre Verlegung. Nach der Unterredung, in deren Verlauf der Leiter zwar zugesagt hatte, sich um eine Verlegung kümmern zu wollen, zugleich aber darauf verwiesen hatte, dass mit einer schnellen Verlegung nicht zu rechnen sei, äußerte eine Person aus der Gruppe – nach der als glaubhaft bewerteten Aussage des Zeugen F. einer der Algerier –, dass es ein „Gemetzel“ geben werde, wenn es nicht zu einer schnellen Verlegung komme. Vor dem Bürogebäude wurde von beiden Angeklagten im Rahmen eines Gesprächs zum Ausdruck gebracht, dass etwas passieren müsse, um die begehrte Verlegung zu erzwingen.
- 4
- Am Tattag hatten sich die Angeklagten und der Mitverurteilte spätestens bis 14.30 Uhr darüber verständigt, Inventargegenstände in einem Zimmer des Gebäudes 58, das zu diesem Zeitpunkt nicht belegt war, im Einvernehmen mit der Leitung der Einrichtung aber vom Zeugen R. genutzt werden durfte, zu beschädigen und zu zerstören, um so ihre Verlegung zu erzwingen. Dass sie dabei den gemeinsamen Tatplan gefasst hatten, Inventargegenstände dieses Zimmers oder gar das Zimmer selbst anzuzünden, konnte nicht festgestellt werden. In Ausführung des zuvor gefassten Tatentschlusses begaben sich die Angeklagten und der Mitverurteilte in das betreffende Zimmer, in dem sich der Zeuge R. aufhielt. Einer der Angeklagten fragte den Zeugen in ironischem Tonfall: „Willst du Transfer?“. Ohne weiter auf den Zeugen zu achten, gingen die beiden Angeklagten sodann zu einem an der Wand des Zimmers abgestellten Etagenbett, in welchem sich keine Matratze befand, und wirkten auf unterschiedliche Weise auf das Bett ein, um es zu zerstören. Eine hierdurch entstandene Beschädigung hat das Landgericht nicht feststellen können.
- 5
- Währenddessen saß der Mitverurteilte teilnahmslos an dem Tisch, an dem auch der Zeuge verweilte. Jedenfalls jetzt entschloss sich der Mitverurteilte , die Matratze eines anderen im Raum befindlichen Etagenbettes anzuzünden. Er nahm von einer auf dem Tisch liegenden Rolle mit Papiertüchern einige Tücher an sich, legte diese auf die untere Matratze eines Etagenbetts und zündete sie mit einem mitgebrachten Feuerzeug an, worauf auch die Matratze Feuer fing. Nunmehr wurden die Angeklagten auf das Verhalten des Mitverurteilten aufmerksam. Ob und mit welcher Reaktion sie sein Verhalten kommentierten , ließ sich nicht klären. Nachdem die Matratze Feuer gefangen hatte, verließen die beiden Angeklagten, der Mitverurteilte und auch der Zeuge das Zimmer und das Gebäude.
- 6
- Bevor die von Mitbewohnern alarmierte Feuerwehr den Brand löschen konnte, war das drei Wohnräume umfassende Gebäude 58 der Flüchtlingsunterkunft vollständig ausgebrannt. Das Feuer hatte insbesondere auf alle Außenwände und das Dach übergegriffen und große Teile des Dachs und der Außenwände zerstört. Aufgrund des Brandereignisses wurden 14 Personen nicht unerheblich an ihrer Gesundheit beschädigt. Nach der vom Landgericht als uneingeschränkt glaubhaft bewerteten Aussage des Zeugen R. wurde der Zeuge, nachdem er am selben Tag im Anschluss an seine ärztliche Behandlung im Krankenhaus in die Flüchtlingseinrichtung zurückgekehrt war, vom Angeklagten A. A. angesprochen und aufgefordert, nichts von dem vorangegangenen Vorfall zu sagen, damit keiner erfahre, was „sie“ ge- macht hätten.
- 7
- Die Jugendkammer hat eine mittäterschaftliche Beteiligung der Angeklagten an der von dem Mitverurteilten ins Werk gesetzten Brandlegung mangels eines feststellbaren gemeinsamen Tatplans verneint.
II.
- 8
- Die zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten Revisionen der Staatsanwaltschaft sind begründet. Die Beschwerdeführerin beanstandet zu Recht, dass das Landgericht seine tatrichterliche Überzeugung, einen auf die Brandlegung bezogenen gemeinsamen Tatplan nicht feststellen zu können, im Rahmen der Erwägungen zur Beweiswürdigung nicht tragfähig begründet hat.
- 9
- 1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 1966 – 1 StR 305/66, BGHSt 21, 149, 151). Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Insbesondere sind die Beweise erschöpfend zu würdigen. Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 – 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20; Urteile vom 12. Februar 2015 – 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148; vom 14. September 2017 – 4 StR 45/17, StV 2018, 199; vom 26. April 2018 – 4 StR 364/17 Rn. 5; Franke in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 337 Rn. 117 ff. mwN).
- 10
- 2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Urteilsgründe enthalten keinerlei Ausführungen zu den Beweiserwägungen, die für das Landgericht bei seiner Überzeugungsbildung zur subjektiven Tatseite maßgeblich gewesen sind. Warum die Jugendkammer einerseits davon ausgegangen ist, dass die Angeklagten und der Mitverurteilte den gemeinsamen Entschluss fassten, Inventargegenstände in dem Zimmer der Unterkunft zu beschädigen und zu zerstören, um ihre Verlegung zu erzwingen, und sich andererseits außerstande gesehen hat, einen auf die spätere Brandlegung bezogenen gemeinsamen Tatplan festzustellen, wird in den Urteilsausführungen nicht näher begründet. Eine in tatrichterlicher Verantwortung vorgenommene Auseinandersetzung mit den sich aus dem Urteil selbst ergebenden Beweisanzeichen , die für einen auch auf die Brandlegung bezogenen gemeinsamen Tatentschluss sprechen könnten – gemeinsames Erscheinen am Ort der Brandlegung , identische Interessenlage, Art des Auftretens der Angeklagten am Vortag, Inhalt der festgestellten Äußerungen vor und nach dem Brand –, lässt sich den Urteilsgründen auch nicht ansatzweise entnehmen. Bei der Würdigung dieser Beweisanzeichen hätte sich das Landgericht, worauf die Beschwerdeführerin zu Recht verweist, zudem mit der Frage befassen müssen, ob die Angeklagten nach den für sie erkennbaren Umständen davon ausgehen konnten, allein durch die Zerstörung des Inventars eines nicht belegten Zimmers der Flüchtlingseinrichtung ihre zeitnahe Verlegung zu erreichen.
- 11
- 3. Der Anklagevorwurf der mittäterschaftlichen Beteiligung an der durch den Mitverurteilten vorgenommenen Brandlegung bedarf daher einer neuen tatrichterlichen Verhandlung und Entscheidung.
- 12
- Sollte der neue Tatrichter wiederum zur Verneinung einer Beteiligung der Angeklagten an der Brandstiftung als Mittäter oder Gehilfen gelangen, wird eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323c StGB in der zur Tatzeit geltenden Fassung zu prüfen sein (vgl. BGH, Urteil vom 23. März 1993 – 1 StR 21/93, BGHSt 39, 164; Beschluss vom 21. Oktober 2008 – 4 StR 440/08, NStZ 2009, 286).
III.
- 13
- Die nach § 301 StPO gebotene Prüfung des angefochtenen Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten A. A. ergeben.
- 14
- Dagegen hat die den Angeklagten Ah. A. betreffende Revision auch zu Gunsten dieses Angeklagten Erfolg, soweit die Strafkammer eine Entscheidung über das Absehen von der Vollstreckung des verhängten Dauerarrests nach § 52 JGG in Verbindung mit § 109 Abs. 2 Satz 1 JGG ver- absäumt hat. Nach dieser Vorschrift kann der Richter, wenn auf Jugendarrest erkannt wird und dessen Zweck durch Untersuchungshaft oder eine andere wegen der Tat erlittene Freiheitsentziehung ganz oder teilweise erreicht ist, im Urteil aussprechen, dass oder inwieweit der Jugendarrest nicht vollstreckt wird. Soweit der erzieherische Zweck des Jugendarrests durch die Freiheitsentziehung bereits eingetreten ist, bedarf es keiner Vollstreckung mehr (vgl. HansOLG Hamburg, JR 1983, 170, 171). Da angesichts der Dauer des von der vorläufigen Festnahme am 5. Januar 2017 bis zur Entlassung aus der Untersuchungshaft am 4. Juli 2017 erlittenen Freiheitsentzugs von nahezu sechs Monaten eine Zweckerreichung im Sinne des § 52 JGG jedenfalls nicht fernliegt , wäre die Jugendkammer aus Gründen sachlichen Rechts gehalten gewesen , die Möglichkeit eines Absehens von der Vollstreckung des verhängten Dauerarrests in den schriftlichen Urteilsgründen zu erörtern (vgl. Schatz in Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 7. Aufl., § 52 Rn. 18; Schady in Ostendorf, JGG, 10. Aufl., § 52 Rn. 12; Blessing/Weik in Meier/Rössner/Trüg/Wulf, JGG, 2. Aufl., § 52 Rn. 8; vgl. auch BGH, Urteil vom 9. Dezember 1952 – 1 StR 518/52, BGHSt 3, 327, 330 zu § 60 StGB aF).
Bender Feilcke
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Strafgesetzbuch - StGB | § 323c Unterlassene Hilfeleistung; Behinderung von hilfeleistenden Personen
(1) Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer in diesen Situationen eine Person behindert, die einem Dritten Hilfe leistet oder leisten will.
Jedes von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel hat die Wirkung, daß die angefochtene Entscheidung auch zugunsten des Beschuldigten abgeändert oder aufgehoben werden kann.
Wird auf Jugendarrest erkannt und ist dessen Zweck durch Untersuchungshaft oder eine andere wegen der Tat erlittene Freiheitsentziehung ganz oder teilweise erreicht, so kann der Richter im Urteil aussprechen, daß oder wieweit der Jugendarrest nicht vollstreckt wird.
(1) Von den Vorschriften über das Jugendstrafverfahren (§§ 43 bis 81a) sind im Verfahren gegen einen Heranwachsenden die §§ 43, 46a, 47a, 50 Absatz 3 und 4, die §§ 51a, 68 Nummer 1, 4 und 5, die §§ 68a, 68b, 70 Absatz 2 und 3, die §§ 70a, 70b Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2, die §§ 70c, 72a bis 73 und 81a entsprechend anzuwenden. Die Bestimmungen des § 70a sind nur insoweit anzuwenden, als sich die Unterrichtung auf Vorschriften bezieht, die nach dem für die Heranwachsenden geltenden Recht nicht ausgeschlossen sind. Die Jugendgerichtshilfe und in geeigneten Fällen auch die Schule werden von der Einleitung und dem Ausgang des Verfahrens unterrichtet. Sie benachrichtigen den Staatsanwalt, wenn ihnen bekannt wird, daß gegen den Beschuldigten noch ein anderes Strafverfahren anhängig ist. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse des Heranwachsenden geboten ist.
(2) Wendet der Richter Jugendstrafrecht an (§ 105), so gelten auch die §§ 45, 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 3, Abs. 2, 3, §§ 52, 52a, 54 Abs. 1, §§ 55 bis 66, 74 und 79 Abs. 1 entsprechend. § 66 ist auch dann anzuwenden, wenn die einheitliche Festsetzung von Maßnahmen oder Jugendstrafe nach § 105 Abs. 2 unterblieben ist. § 55 Abs. 1 und 2 ist nicht anzuwenden, wenn die Entscheidung im beschleunigten Verfahren des allgemeinen Verfahrensrechts ergangen ist. § 74 ist im Rahmen einer Entscheidung über die Auslagen des Antragstellers nach § 472a der Strafprozessordnung nicht anzuwenden.
(3) In einem Verfahren gegen einen Heranwachsenden findet § 407 Abs. 2 Satz 2 der Strafprozeßordnung keine Anwendung.
Wird auf Jugendarrest erkannt und ist dessen Zweck durch Untersuchungshaft oder eine andere wegen der Tat erlittene Freiheitsentziehung ganz oder teilweise erreicht, so kann der Richter im Urteil aussprechen, daß oder wieweit der Jugendarrest nicht vollstreckt wird.
Das Gericht sieht von Strafe ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, daß die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre. Dies gilt nicht, wenn der Täter für die Tat eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verwirkt hat.