Bundesgerichtshof Urteil, 06. Nov. 2008 - 4 StR 375/08

bei uns veröffentlicht am06.11.2008

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 375/08
vom
6. November 2008
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 6. November
2008, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Prof. Dr. Kuckein,
Richterin am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanović,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Mutzbauer
als beisitzende Richter,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin
als Verteidigerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 5. März 2008 werden verworfen.
2. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit der Sachrüge, dass der Angeklagte nicht wegen versuchten Mordes bzw. Totschlags und wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wurde. Der Angeklagte rügt die Verletzung formellen sowie materiellen Rechts und macht unter anderem geltend, dass ein minder schwerer Fall der gefährlichen Körperverletzung vorliege. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
2
1. Nach den vom Schwurgericht getroffenen Feststellungen stach der Angeklagte am 14. August 2007 vor dem Asylbewerberheim in F. mit einem 25 bis 30 cm langen Messer wuchtig in Richtung des Herzens des Nebenklägers. Da dieser „reflexartig" zum Schutz noch den rechten Arm hochrei- ßen konnte, durchstach das Messer den Unterarm und drang wenige Millimeter tief in die Brustkorbvorderseite des Nebenklägers ein. Der Geschädigte ging so verletzt in das Büro der stellvertretenden Heimleiterin, die die dann stark blutende Wunde am Unterarm versorgte.
3
Durch den Stich in den Unterarm wurden die Nerven für den Daumen und Zeigefinger der rechten Hand des Nebenklägers durchtrennt; diese beiden Finger fühlt er „wie eingeschlafen“ und kann die rechte Hand nur noch eingeschränkt benutzen.
4
2. Die Revision des Angeklagten ist aus den vom Generalbundesanwalt in der Antragsschrift vom 6. August 2008 dargelegten Gründen erfolglos. Eine zulässige Verfahrensrüge wurde von ihm nicht erhoben. Mit neuem Tatsachenvorbringen kann der Rechtsmittelführer in der Revision ebenso wenig gehört werden wie mit einer eigenen Beweiswürdigung.
5
3. Auch das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.
6
a) Zur Frage des strafbefreienden Rücktritts vom Tötungsversuch hat das Schwurgericht unter anderem ausgeführt, dass für den Angeklagten erkennbar gewesen sei, dass der Stich in bzw. durch den Arm gegangen sei und der Geschädigte zunächst nicht sehr stark geblutet habe; deshalb habe der Angeklagte aus seiner Sicht noch nicht alles für die Tötung des Nebenklägers Erforderliche getan. Da er weiter im Besitz des Messers gewesen sei und der Geschädigte , als er zum Büro der stellvertretenden Heimleiterin ging, „für einen Angriff noch zur Verfügung“ gestanden habe, liege ein freiwilliger Rücktritt vom unbeendeten Versuch vor.
7
Diese Ausführungen weisen keinen Rechtsfehler auf. Insbesondere durfte das Schwurgericht aus dem rechtsfehlerfrei festgestellten äußeren Geschehensablauf darauf schließen, dass der Angeklagte nach seiner letzten Ausführungshandlung davon ausging, noch nicht alles für den Erfolgseintritt Erforderliche getan zu haben, obwohl dies noch möglich gewesen wäre.
8
b) Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen hat das Schwurgericht den Angeklagten zu Recht nicht wegen schwerer Körperverletzung verurteilt.
9
Für die Beurteilung, ob ein wichtiges Glied im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht mehr gebraucht werden kann, ist im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung zu ermitteln, ob als Folge der vorsätzlichen Körperverletzung so viele Funktionen ausgefallen sind, dass das Körperglied weitgehend unbrauchbar geworden ist und von daher die wesentlichen faktischen Wirkungen denjenigen eines physischen Verlustes entsprechen (BGHSt 51, 252, 257 m.w.N.).
10
Dies hat das Schwurgericht nicht festgestellt. Dass Daumen und Zeigefinger vom Nebenkläger „wie eingeschlafen“ gefühlt werden und er diese Finger nur noch eingeschränkt benutzen kann, belegt nicht deren weitgehende Unbrauchbarkeit (vgl. zur „Taubheit zweier Finger“ auch BGH, Beschluss vom 8. Juli 2008 – 3 StR 167/08).
Tepperwien Maatz Kuckein
Solin-Stojanović Mutzbauer

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(1) Hat die Körperverletzung zur Folge, daß die verletzte Person 1. das Sehvermögen auf einem Auge oder beiden Augen, das Gehör, das Sprechvermögen oder die Fortpflanzungsfähigkeit verliert,2. ein wichtiges Glied des Körpers verliert oder dauernd nic

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Bundesgerichtshof Beschluss, 08. Juli 2008 - 3 StR 167/08

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 3 StR 167/08 vom 8. Juli 2008 in der Strafsache gegen wegen versuchten Totschlags u. a. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 8. Juli 2008 gemäß
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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 4 StR 509/13 vom 15. Januar 2014 in der Strafsache gegen wegen erpresserischen Menschenraubes u.a. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 15. Jan

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Nachschlagewerk: ja BGHSt : ja Veröffentlichung : ja StGB § 226 Abs. 1 Nr. 2 Für die Dauerhaftigkeit des Verlustes der Gebrauchsfähigkeit eines Körperglieds kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob das Opfer eine ihm mögliche medizinische Behand

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(1) Hat die Körperverletzung zur Folge, daß die verletzte Person

1.
das Sehvermögen auf einem Auge oder beiden Augen, das Gehör, das Sprechvermögen oder die Fortpflanzungsfähigkeit verliert,
2.
ein wichtiges Glied des Körpers verliert oder dauernd nicht mehr gebrauchen kann oder
3.
in erheblicher Weise dauernd entstellt wird oder in Siechtum, Lähmung oder geistige Krankheit oder Behinderung verfällt,
so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

(2) Verursacht der Täter eine der in Absatz 1 bezeichneten Folgen absichtlich oder wissentlich, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.

(3) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 2 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 167/08
vom
8. Juli 2008
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u. a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 8. Juli 2008 gemäß § 349 Abs. 4
StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 10. Januar 2008 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
2
I. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift ausgeführt: "1. Die Revision hat mit der Sachrüge Erfolg, weil sich die Beweiswürdigung zur Frage des Rücktritts vom Versuch des Totschlags als rechtsfehlerhaft erweist.
Das Landgericht hat den Rücktritt vom Versuch des Totschlags mit der Begründung verneint, der Versuch sei fehlgeschlagen, weil der Angeklagte davon ausgegangen sei, seine Munition vollständig verschossen zu haben. Diese Annahme hat es allein auf die Angaben des Angeklagten gestützt, wonach die Tatwaffe nur mit vier Patronen geladen gewesen sei (UA S. 8). Die Beweiswürdigung hierzu ist lückenhaft. Zum einen lässt das Schwurgericht außer acht, dass sich ausweislich der Feststellungen nach Abgabe der vier Schüsse noch drei weitere Patronen in der Waffe befunden haben (UA S. 8). Darüber hinaus ergeben sich aus der Formulierung, der Angeklagte habe auch auf einen Vorhalt, dass in der Waffe noch weitere Munition gefunden worden sei, 'geradezu störrisch darauf beharrt', dass die Tatwaffe mit nur vier Patronen geladen gewesen sei (UA S. 8), zumindest Vorbehalte des Landgerichts gegen diese Einlassung des Angeklagten. Eine nähere Auseinandersetzung mit der Richtigkeit seiner Angaben war auch deshalb erforderlich, weil sich die vaskuläre Demenz des Angeklagten nach der Bewertung des Sachverständigen im Zeitraum bis zur Hauptverhandlung noch verstärkt hatte (UA S. 15). Die Notwendigkeit weiterer Erörterungen ergibt sich zudem daraus, dass das Landgericht im Übrigen der Einlassung des Angeklagten nicht gefolgt ist und namentlich die Behauptung, er habe stets eine Waffe bei sich getragen, als unrichtig erachtet hat (UA S. 9, 10).
2. Es kommt nach allem nicht darauf an, dass die auf die Verletzung des § 261 StPO gestützte und zulässig erhobene (BGHSt 29, 18, 21; BGH NStZ 1987, 18; BGH StV 1993, 459; BGH StV 1993, 115; BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 6; Meyer-Goßner StPO 50. Auflage
§ 261 Rdn. 38a m.w.N.) Verfahrensrüge ebenfalls begründet wäre. Namentlich vor dem Hintergrund der vorstehend genannten Gesichtspunkte war es - wie die Revision zu recht rügt - erforderlich, sich mit den Vernehmungen des Angeklagten vom 12.07. und 13.07.2007 näher auseinanderzusetzen. In keiner dieser Vernehmungen hat der Angeklagte angegeben, er sei der Meinung gewesen, keine Munition mehr in der Waffe gehabt zu haben. Zudem hat er erklärt, die Tatwaffe habe mit acht Schuss Munition geladen werden können. …."
3
Dem schließt sich der Senat an. Ergänzend weist er auf Folgendes hin:
4
Die Einlassung des Angeklagten zu seiner Vorstellung über den Ladezustand der Pistole ist auch in sich widersprüchlich. Einerseits beharrte er darauf, die Waffe sei nur mit vier Schuss geladen gewesen. Andererseits gab er an, er wisse nicht, weshalb er - nach der festgestellten Abgabe von vier Schüssen - nicht weiter geschossen habe. Da der Geschädigte trotz seiner schweren Verletzungen in der Lage war, den Tatort zu verlassen, die Türe der Scheune zu verriegeln, zu seinem Pkw zu gehen und Rettungskräfte zu alarmieren, scheidet die Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts von einem unbeendeten Versuch des Tötungsdelikts nicht von vorneherein aus.
5
II. Gegen die Begründung, mit der das Landgericht die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen einer schweren Körperverletzung bejaht hat, bestehen ebenfalls durchgreifende rechtliche Bedenken. Mit der Feststellung, der Geschädigte leide noch heute und voraussichtlich dauerhaft unter einer Taubheit zweier Finger und könne deshalb seinen Beruf als Tischler nicht mehr ausüben, ist die Tatbestandsalternative des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB (ein wichtiges Glied des Körpers … dauernd nicht mehr gebrauchen kann) nicht belegt, zumal die betroffenen Finger nicht benannt sind (vgl. BGHSt 51, 252). Außerdem ist nicht nachvollziehbar, dass die Verletzung des "nervus medianus" des linken Armes zu einer Taubheit zweier Finger der rechten Hand geführt haben soll. Auch eine dauernde Entstellung in erheblicher Weise im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist der pauschalen Feststellung, das Gesicht des Tatopfers sei dauerhaft deutlich deformiert, nicht zweifelsfrei zu entnehmen; denn für diese Tatbestandsalternative ist erforderlich, dass die Gesamterscheinung des Verletzten in einem Maße verunstaltet ist, bei dem die Beeinträchtigung in ihrem Gewicht den übrigen in § 226 StGB genannten Folgen in etwa nahe kommt (BGHR StGB § 226 Abs. 1 Entstellung 1). In diesem Zusammenhang weist der Senat auf die Möglichkeit hin, die mitunter nicht einfache textliche Schilderung einer solchen verunstaltenden Wirkung durch eine nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO zulässige Bezugnahme auf Lichtbilder zu veranschaulichen.
6
III. Die Gefährlichkeitsprognose im Rahmen des § 63 StGB setzt die Feststellung voraus, dass ohne die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus weitere erhebliche rechtswidrige Taten nicht nur möglicherweise, sondern wahrscheinlich begangen würden (vgl. Fischer, StGB 55. Aufl. § 63 Rdn. 15 m. w. N.).
Becker Miebach Pfister von Lienen Sost-Scheible