Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Feb. 2012 - 5 StR 3/12

bei uns veröffentlicht am07.02.2012

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 3/12

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 7. Februar 2012
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. Februar 2012

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 5. April 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die Revision des Angeklagten führt – wie auch vom Generalbundesanwalt beantragt – zur Aufhebung des Urteils, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
2
1. Verfahrensgegenstand ist nach dem hierfür maßgeblichen Eröffnungsbeschluss vom 16. September 2010 die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklageschrift vom 29. Juli 2010. Diese umfasste 184 Sexualdelikte zum Nachteil der Tochter des Angeklagten im Zeitraum vom 11. April 1998 bis 1. August 2005 und ferner 19 im Tatzeitraum Oktober 1998 bis März 2002 angelastete Missbrauchshandlungen (gegenseitiger Oralverkehr ) zum Nachteil des am 27. Oktober 1990 geborenen Nebenklägers B. . Das Landgericht hat seiner Verurteilung je zwei Fälle des Oralverkehrs in einem Gartenzelt (Fall 1: Frühjahr 1999 bis 26. Juni 2001; Fall 5: 28. Juni 2001 bis 31. März 2002) und im Wohnzimmer des Angeklagten (Fall 2: Oktober 1998 bis 26. Juni 2001; Fall 4: 28. Juni 2001 bis 31. März 2002) sowie einen Zungenkuss in den Sommerschulferien 2001 (Fall 3: 28. Juni bis 8. August 2001) – sämtlich Taten zum Nachteil des Nebenklägers – zugrunde gelegt.
3
Den Freispruch hinsichtlich der sich auf die Tochter des Angeklagten beziehenden Vorwürfe hat das Landgericht mit dem nicht ausschließbaren Vorliegen von Falschbelastungsmotiven dieser Zeugin begründet (UA S. 69 ff.). Hinsichtlich der den Nebenkläger B. betreffenden Fälle hat das Landgericht ausgeführt: „Aufgrund einer Gesamtschau dieser Indizien hat sich die Kammer davon überzeugt, dass die den Angeklagten belastenden Aussagen des Zeugen B. auf realem Erleben beruhen und hinreichend zuverlässig sind, um darauf eine Verurteilung in den unter Heranziehung des Zweifelssatzes festgestellten Mindestfällen zu stützen. Da der Zeuge B. den von ihm gefilmten Oralverkehr nicht mit hinreichender Sicherheit dem Anklagezeitraum zuordnen konnte und sonstige Beweismittel nicht zur Verfügung standen, blieb diese Handlung dabei außer Betracht, § 264 Abs. 1 StPO“ (UA S. 40).
4
2. Hierin liegt – im Gegensatz zur Auffassung des Generalbundesanwalts – eine Begründung von Freispruchsfällen hinsichtlich des Nebenklägers B. . Diese beantwortet indes die naheliegende Frage nicht direkt, aus welchen Gründen das Landgericht notwendigerweise weitergehenden – jedenfalls früheren – Angaben des Nebenklägers nicht gefolgt ist. Dies führt in der Regel wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der erschöpfenden Beweiswürdigung zur Aufhebung der Verurteilung (vgl. BGH, Urteil vom 16. Februar 1993 – 5 StR 689/92, NJW 1993, 2451; BGH, Beschluss vom 22. April 1997 – 4 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13; BGH, Beschluss vom 21. April 1999 – 5 StR 634/98). Hiervon wird eine Ausnahme erwogen, falls dem Belastungszeugen lediglich eine zeitliche Einord- nung der übrigen Tatvorwürfe nicht gelungen ist (vgl. BGH, Urteil vom 8. Februar 2000 – 5 StR 461/99). Ob dies hier der Fall sein kann, bleibt unklar. Das Landgericht hat Taten in den Jahren 1998 und 1999 als möglich angenommen, obwohl hierfür sich widersprechende Angaben des Nebenklägers vorlagen (UA S. 5, 17, 21).
5
3. Die Beweiswürdigung des Landgerichts beruht darüber hinaus auf rechtsfehlerhaften Erwägungen (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2006 – 3 StR 139/06, NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 144 nicht abge- druckt).
6
a) Das Landgericht hat hinsichtlich der Tatzeit März 2001 bis Ende März 2002 einer von der Zeugin W. – nicht aber vom Nebenkläger – bekundeten Rasur des Angeklagten in seinem Intimbereich – wahrgenommen bei vier bis fünfmaligem Geschlechtsverkehr im Monat mit dem Angeklagten (UA S. 9, 19) – die Beweisbedeutung abgesprochen. Die Annahme, es widerspreche der Lebenserfahrung, dass sich Zeugen nach mehreren Jahren an derartige Randdetails sowie deren zeitliche Einordnung noch lückenlos und absolut zuverlässig erinnern, ist indes sachlich unvertretbar. Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass sich Zeugen nicht an lange zurückliegende Geschehnisse erinnern (vgl. BGH, Beschluss vom 14. September 2004 – 4StR 309/04, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 23). Dies gilt umso mehr, als der erinnerte Umstand hier auch für weitere Intimpartnerinnen des Angeklagten von Bedeutung war. So hatten die Ehefrau des Angeklagten für einen Zeitraum davor (UA S. 8) und die Verlobte des Angeklagten ab 2005 (UA S. 9) ebenfalls bekundet, der Angeklagte habe seine Schambehaarung rasiert.
7
b) Das Landgericht hat ferner eine von anderen Zeugen geschilderte und als glaubhaft bewertete Abnormität des Penis des Angeklagten nicht in die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage des Nebenklägers einbezogen (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 1960 – 4 StR 31/60, BGHSt 14, 162, 164). Das Landgericht hat hierzu festgestellt, dass der Angeklagte in den Jahren 1993 bis 1997 mit S. (UA S. 30 f.) und danach mit dessen Bruder Se. (UA S. 33 ff.) Oralverkehr ausgeübt hatte. Diesen Zeugen war aufgefallen, dass der Penis des Angeklagten – wegen einer von einem Sachverständigen festgestellten Vorhautverengung und Verkürzung des Vorhautbändchens – dabei immer „etwas krumm“ oder „eher krumm“ gewesen ist.
8
c) Soweit das Landgericht einen Aussagewechsel des Nebenklägers (Zungenkuss anstatt Oralverkehr im Fall 3) durch eine von der Tochter des Angeklagten beeinflusste Erinnerungsbildung verursacht sieht (UA S. 27) – was im Übrigen schon wegen der vom Landgericht betonten Bedeutung des Oralverkehrs für die Aussagemotivation des Nebenklägers bedenklich erscheint –, hätten die sich aus diesem Umstand ableitbaren Qualitätsmängel in der Aussage des Nebenklägers für die Glaubhaftigkeit von dessen Aussage im Übrigen bedacht werden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2006 – 5 StR 236/06, StraFo 2006, 411; BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 170, 172).
9
4. Die Sache bedarf demnach neuer Aufklärung und Bewertung.
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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 244 Beweisaufnahme; Untersuchungsgrundsatz; Ablehnung von Beweisanträgen


(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme. (2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
5 StR 461/99
URTEIL
vom 8. Februar 2000
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 8. Februar
2000, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Häger,
Richter Basdorf,
Richter Nack,
Richterin Dr. Gerhardt
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 29. Januar 1999 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels und die dadurch den Nebenklägerinnen entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und ihn im übrigen freigesprochen. Die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.
Der Angeklagte hatte ein Pferd in einem Reiterhof in Brandenburg eingestellt. Er baute ein von Sympathie geprägtes Vertrauensverhältnis zu den beiden Tatopfern auf, ortsansässigen Mädchen, die wegen ihres Interesses an Pferden gern bei der Stallarbeit halfen. In dieser Situation nahm der Angeklagte in den Jahren 1996 und 1997 in fünf Fällen auf dem Gelände des Reiterhofs und in seiner Berliner Wohnung sexuelle Handlungen an der sieben - bis achtjährigen Nebenklägerin S v or. Diese Handlungen umfaßten auch Scheidenvorhofverkehr und fellatio bis zum Schlucken des Ejakulats durch das Tatopfer. Mit der zur Tatzeit sechsjährigen C , einer Schwester von S , kam es im Jahr 1997 zum wechselseitigen Anfassen der Genitalien.

I.


Die Verfahrensrügen sind nicht in der durch § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Weise begründet worden und daher unzulässig.

II.


Auch die Sachrüge greift nicht durch. Der Erörterung bedarf nur folgendes :
1. Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft des die Taten bestreitenden Angeklagten rechtsfehlerfrei begründet.

a) Es hat hierzu eine hinreichende Würdigung der Aussagen der beiden geschädigten Mädchen S und C , ihrer großen Schwester D und ihrer Mutter sowie der Ehefrau des Angeklagten und der beiden Vernehmungsbeamtinnen vorgenommen und dabei auf anerkannte Kriterien der Glaubwürdigkeitsbeurteilung, insbesondere sprachliche Merkmale in den Aussagen der Geschädigten abgestellt und eine Suggestion durch Dritte ausgeschlossen.

b) Allein darin, daß die Strafkammer die Bekundungen der Schwester der beiden Tatopfer und der beiden Vernehmungsbeamtinnen nicht referiert, findet sich bei der dargestellten Beweislage kein durchgreifender sachlichrechtlicher Fehler.

c) Auch durfte das Landgericht die Konstanz der Angaben der beiden Geschädigten ergänzend berücksichtigen, ohne deren in früheren Verfahrensabschnitten gemachte Aussagen im einzelnen wiederzugeben.

d) Schließlich bedurfte der Teilfreispruch des Angeklagten (von den Vorwürfen Nr. 6 und 7 der Anklageschrift) keiner Erörterung unter dem Ge-
sichtspunkt etwaiger Auswirkung auf die Beweislage in den Fällen der Verurteilung ; denn die Begründung des Freispruchs berührt hier (anders als in vergleichbaren Fällen, zuletzt BGH, Beschluß vom 21. April 1999 – 5 StR 634/98 – m.N.) nicht die Zuverlässigkeit der Bekundungen des Tatopfers S zu den Fällen des Schuldspruchs: Das Landgericht hat sich in den Fällen des Freispruchs nur deshalb – und offenbar ohne Notwendigkeit – an der Feststellung der Taten gehindert gesehen, weil aufgrund der Angaben von S eine zeitliche Einordnung der Tat im Fall Nr. 6 nicht möglich war und weil im Fall Nr. 7 für einige der in Betracht kommenden Tattage ein Alibi des Angeklagten nicht ausgeschlossen werden konnte.
2. Das Landgericht hat sich, dem psychiatrisch-neurologischen Sachverständigen
L
folgend, von der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten überzeugt. Es hat in den Urteilsgründen das Gutachten des Sachverständigen in komprimierter Form wiedergegeben und in diesem Zusammenhang auch das schwere Schädel-Hirn-Trauma erörtert, das der Angeklagte durch einen Fahrradunfall im Jahre 1988 erlitten hat. Es hat – auch insoweit in vollem Umfang in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen – die Schädigung unter Diagnose – Nr. F 07.2 (ICD-10) eingeordnet, unter das Merkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB subsumiert , jedoch nach Gewichtung der Intensität ausgeschlossen, daß der Angeklagte durch diese Schädigung in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt worden sei. Dabei begründet es keinen durchgreifenden Rechtsfehler, daß das Landgericht nicht auch an dieser Stelle erörtert hat, daß der Angeklagte im Jahre 1996 durch das Amtsgericht Tiergarten in Berlin vom Vorwurf des „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung“ wegen festgestellter Schuldunfähigkeit freigesprochen worden ist; denn dieser Freispruch beruhte auf einer festgestellten Blutalkoholkonzentration von 2,37 ‰ zur Tatzeit sowie dem Hirnschaden (UA S. 5), während der Angeklagte vor den hiesigen Taten keinen Alkohol getrunken hatte (UA S. 23).
Harms Häger Basdorf Nack Gerhardt

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn

1.
eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist,
2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist,
3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist,
4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist,
5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder
6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.

(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.

(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.

(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.

5 StR 236/06

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 12. Juli 2006
in der Strafsache
gegen
wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Juli 2006

beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 20. Februar 2006 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben
a) mit den zugehörigen Feststellungen, soweit der Angeklagte im Fall 1. der Urteilsgründe verurteilt worden ist,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln – jeweils in nicht geringer Menge – in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat hinsichtlich der Verurteilung im ersten Fall Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Das Landgericht hat sich aufgrund der Aussage der zur Tatzeit 18 Jahre alten Zeugin L. davon überzeugt, dass diese im Auftrag des Angeklagten aus der Dominikanischen Republik am 15. Oktober 2004 etwa 480 g in ca. 60 Packungen verschlucktes hochwertiges Kokain nach Hamburg und am 14. November 2004 auf die gleiche Art weitere 650 g nach Düsseldorf transportierte. Eine Durchsuchung der Wohnung der Freundin des Angeklagten in Hamburg, in der auch die Zeugin L. gemeldet war, förderte den Angeklagten belastende Indizien, dessen Reisepass, Buchungsunterlagen für eine Reise von Hamburg in die Dominikanische Republik mit einem Rückflug am 7. November 2004 und zwei den Auftraggeber verschleiernde Überweisungsträger zu Tage. Danach wurden der am 30. Oktober 2004 in Puerto Plata befindlichen Zeugin 470 € überwiesen. Die Zeugin hat in einer Vernehmung durch Zollbeamte am 2. Dezember 2004 den hier ausgeurteilten ersten Drogentransport und in der Hauptverhandlung eine weitere im April 2004 durchgeführte Einfuhr eingeräumt, ohne dass dafür Verdachtsmomente bestanden hätten. Sie zeigte in Hamburg Zollbeamten eine Wohnung, in der sie ihren ehemaligen Freund, einen portugiesischen Drogenhändler, besucht hatte. Das Amtsgericht Düsseldorf hat die Zeugin wegen der Tat vom November 2004 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
3
2. Die Revision bleibt erfolglos, soweit sie sich gegen die Verurteilung wegen der am 14. November 2004 erfolgten Einfuhr richtet. Die Verfahrensrüge, das Landgericht habe gegen § 244 Abs. 6 StPO verstoßen, weil ein Antrag der Verteidigung, den „zur Zeit im Justizvollzug in Portugal“ befindlichen, namentlich benannten ehemaligen Freund der Belastungszeugin zu Reisen in die Dominikanische Republik zu hören, scheitert bereits an § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Im Revisionsvorbringen wird die Angabe eines konkret bezeichneten Beweismittels in dem Antrag nicht belegt (vgl. BGHSt 40, 3, 5; BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 40), weil der Aufenthaltsort des Zeugen nicht mitgeteilt wird (vgl. BGH StV 1998, 4). Als Aufklärungsrüge müsste die Beanstandung unter demselben Gesichtspunkt unvollständigen Rügevorbringens scheitern (vgl. BGHR aaO m.w.N). Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält darüber hinaus sachlichrechtlicher Prüfung ohne weiteres stand. Die Aussage der Belastungszeugin wird insoweit durch objektive, den schweigenden Angeklagten belastende Indizien gestützt.
4
3. Indes ist das Rechtsmittel erfolgreich, soweit es sich mit der Sachrüge gegen die Verurteilung wegen der Einfuhr am 15. Oktober 2004 richtet. Zwar entfalten objektive Belastungsindizien in der Regel über den sie betreffenden Einzelfall hinaus eine den Angeklagten belastende Wirkung auch für einen angelasteten Parallelfall (vgl. BGH wistra 2002, 260, 262; 430, 431). Solches reicht vorliegend aufgrund der Besonderheiten der Beweislage aber nicht aus, um zusammen mit der Aussage der Belastungszeugin eine tragfähige Tatsachengrundlage für eine Verurteilung zu bilden (vgl. BGH StV 2002, 235), weil das Landgericht zahlreiche Qualitätsmängel der Aussage der Belastungszeugin mit unzutreffenden Erwägungen relativiert hat (vgl. Sander StV 2000, 45, 47).
5
Die Belastungszeugin konnte in der Hauptverhandlung nicht präzisieren, wann sie mit ihrem früheren Freund, mit dem sie ihrer Einschätzung nach 2004 über drei Monate eine intime Beziehung unterhalten hatte, in die Dominikanische Republik gereist war. Während ihrer Vernehmung durch Zollbeamte am 2. Dezember 2004 hat die Zeugin angegeben, der Angeklagte habe sie (erst) vor etwa zwei Monaten zum Kokainschmuggel überredet. Die Angaben der Zeugin zu dem vom Angeklagten versprochenen Kurierlohn schwankten in ihren Aussagen vom 15. und 16. November 2004, 5. Januar 2005 und in der Hauptverhandlung zwischen 10.000, 3.000, 4.000 und etwa 3.000 €. Ferner hat die Zeugin in der Hauptverhandlung widersprüchliche Angaben zu den Männern gemacht, die ihr am 15. Oktober und 14. November 2004 in Puerto Plata das Rauschgift übergeben hatten. Nach ihrer ersten Aussage habe es sich jeweils um die gleichen – unbekannten – Personen gehandelt, danach hat sie erklärt, im Oktober sei dies der Bruder des Angeklagten gewesen.
6
Das Landgericht würdigt diese Qualitätsmängel in der Aussage der Zeugin als Ungereimtheiten, die auf ungenaue Gedächtnisleistungen zurück zu führen seien, weil die Zeugin, wie ihr früherer Verteidiger bekundet habe, nicht in der Lage sei, komplexe Sachverhalte wiederzugeben. Indes reicht diese Erwägung, wie es die Revision auch vorträgt, nicht aus, die festgestellten Fragwürdigkeiten in der gebotenen Gesamtschau (vgl. BGH StV 1997, 513, 514; BGH, Beschluss vom 16. Februar 2005 – 5 StR 490/04) plausibel zu erläutern. Die Qualitätsmängel betreffen mit dem Zeitpunkt der Anwerbung durch den Angeklagten, der erzielten Höhe des Kurierlohns und vor dem Hintergrund des medikamentös unterstützten, von den Rauschgiftlieferanten demonstrierten, für die Zeugin sogar eine Lebensgefahr begründenden Verschluckens der Rauschgiftpäckchen wesentliche Tatumstände. Diese und auch die zeitliche Einordnung von vier Fernreisen innerhalb eines Jahres betreffen gerade keine komplexen, sondern einfache Sachverhalte, weshalb eine weitergehende kritische Prüfung geboten gewesen wäre, warum die unsicheren und widersprüchlichen Angaben der ersichtlich normal begabten, noch jungen Zeugin ihre Aussagen zur Täterschaft des Angeklagten nicht erfassen konnten. Dies gilt umso mehr, als die Zeugin auch über ihren ehemaligen Freund in eine gewisse Nähe zum Drogenmarkt in der Dominikanischen Republik gelangt sein könnte. Die Sache bedarf demnach neuer Aufklärung und Bewertung.
7
4. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall 1 führt wegen des Wegfalls der Einsatzstrafe zur Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe. Die im Fall 2 ausgeurteilte Freiheitsstrafe von drei Jahren kann bestehen bleiben. Der neue Tatrichter wird naheliegend die von der Mutter der Belastungszeugin geäußerte Verwicklung des Freundes ihrer Tochter in Drogengeschäfte des Angeklagten (Revisionsbegründung S. 11) zu prüfen und gegebenenfalls zu bewerten haben. Sollten sich in der Aussage der Belastungszeugin die bisher festgestellten Qualitätsmängel wiederholen, wird es eine ins einzelne gehende Darstellung und Bewertung der die Mängel begründenden Umstände und einer Betrachtung der Entwicklung der verschiedenen Aussagen in einer lückenlosen Gesamtwürdigung bedürfen (vgl. BGH NJW 2003, 2250 m.w.N.; BGH StV 2005, 253, 254).
Basdorf Häger Gerhardt Brause Schaal