Bundesgerichtshof Beschluss, 03. Mai 2006 - 4 ARs 3/06

bei uns veröffentlicht am03.05.2006

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 ARs 3/06
vom
3. Mai 2006
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
hier: Anfrage des 1. Strafsenats vom 12. Januar 2006 – 1 StR 466/05
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 3. Mai 2006 gemäß § 132
Abs. 3 GVG beschlossen:
Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, die der vom 1. Strafsenat beabsichtigten Entscheidung entgegensteht. Danach darf eine Protokollberichtigung, durch die einer zulässigen Verfahrensrüge zum Nachteil des Beschwerdeführers die Tatsachengrundlage entzogen würde, bei der Revisionsentscheidung nicht berücksichtigt werden.

Gründe:

I.

1
Der 1. Strafsenat (Beschluss vom 12. Januar 2006 - 1 StR 466/05 = JR 2006, 162 = NStZ-RR 2006, 112) beabsichtigt zu entscheiden: "Die Beweiskraft des Protokolls im Sinne von § 274 StPO ist für das Revisionsgericht auch dann beachtlich, wenn aufgrund einer Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des Angeklagten die maßgebliche Tatsachengrundlage entfällt."
2
Er hat daher bei den anderen Strafsenaten des Bundesgerichtshofs angefragt , ob an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird.
3
Der 1. Strafsenat möchte mit seiner Anfrage die ständige Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs aufgeben, nach der eine Protokollberichtigung , durch die einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge der Bo- den entzogen würde, bei der Revisionsentscheidung nicht berücksichtigt werden darf.
4
1. Nach dem in dem Anfragebeschluss mitgeteilten Sachverhalt wurde der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Er schlug während eines Streits in einem Oktoberfestzelt einem Gast mit einem Bierkrug zweimal auf den Hinterkopf und einmal in den Nackenbereich , wodurch der Geschädigte erheblich verletzt wurde. Die vom Angeklagten erhobene Sachrüge hält der 1. Strafsenat für unbegründet.
5
Zu der am 5. Juli 2005 beim Landgericht eingegangenen allein erhobenen Verfahrensbeanstandung des Angeklagten - der Anklagesatz sei nicht verlesen worden [Verstoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO] - teilt der anfragende Senat mit, dass die Sitzungsniederschrift "zunächst" keinen Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes enthalten habe. Unter dem 18. August 2005 hätten der Strafkammervorsitzende und die Urkundsbeamtin die Sitzungsniederschrift hinsichtlich des ersten Verhandlungstages dahin ergänzt, dass nach den Worten: "Der Vorsitzende stellte weiter fest, dass die Staatsanwaltschaft München I gegen den Angeklagten am 20.01.05 Anklage zum Schwurgericht des LG München I erhoben hat, die mit Eröffnungsbeschluss der Kammer vom 18.02.05 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen wurde", der Satz angefügt wurde: "Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den Anklagesatz". In der Revisionsgegenerklärung habe die Staatsanwaltschaft dienstliche Äußerungen von Verfahrensbeteiligten vorgelegt, nach denen der Anklagesatz "in Wirklichkeit" verlesen worden sei. Der Instanz-Verteidiger, der die Revision nicht selbst begründet habe, habe sich an die Verlesung der Anklage nicht konkret erinnern können.
6
Der 1. Strafsenat hält die Verfahrensrüge - auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - für begründet. Er ist jedoch der Ansicht, dass - entgegen der bisherigen Rechtsprechung - die formelle Beweiskraft des Protokolls auch hinsichtlich eines berichtigten Protokolls uneingeschränkt gelte, also auch dann, wenn einer zuvor vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrüge der Boden entzogen werde. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung hält er das Rechtsmittel des Angeklagten insgesamt für unbegründet.
7
2. Der beabsichtigten Entscheidung des anfragenden Senats steht die ständige Rechtsprechung des 4. Strafsenats entgegen (vgl. nurBGHSt 12, 270, 271 ff.; BGH NStZ 2002, 219; BGH, Urteil vom 21. Dezember 1966 - 4 StR 404/66). Allerdings gibt es insoweit nur wenige begründete Senatsentscheidungen , weil die Rechtsprechung des Senats zur nachträglichen Protokollberichtigung bekannt ist und daher Berichtigungen, die einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge den Boden entziehen würden, regelmäßig nicht vorgenommen werden.

II.

8
Der Senat hat bereits Bedenken, ob die aufgeworfene Rechtsfrage für die Entscheidung des anfragenden Senats erheblich, somit das Anfrageverfahren nach § 132 Abs. 3 GVG überhaupt zulässig ist (vgl. BGHSt 46, 321, 325):
9
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beruht das Urteil bei einem einfach gelagerten Sachverhalt nicht auf der unterbliebenen Verlesung des Anklagesatzes (vgl. nur BGH NStZ 1982, 431, 432; 518; 1984, 521; 1986, 39, 40; 374; 1991, 28; 1995, 200, 201; 2000, 214). Dass ein solcher Fall hier gegeben sein kann, liegt auf der Hand (zu einer fast identischen Fallgestaltung wie hier vgl. BGH [1. Strafsenat] NJW 1982, 1057). Da- nach wäre die Verfahrensrüge unbegründet, ohne dass es auf die zur Beantwortung gestellte Frage ankäme. Damit befasst sich der Anfragebeschluss nicht.
10
2. Zwar ist in der Anfrage ausgeführt, dass eine Ergänzung des Protokolls im Freibeweisverfahren nicht in Betracht komme, weil die erste (unberichtigte ) Sitzungsniederschrift "eindeutig" sei. Nachdem ausweislich des (unberichtigten ) Protokolls ausdrücklich vom Vorsitzenden festgestellt worden war, dass Anklage erhoben wurde, drängt sich auf, dass der Anklagesatz auch verlesen wurde. Dass dies bei der Verhandlung vor einem Schwurgericht nicht erfolgt sein soll, liegt so fern, dass es als ausgeschlossen angesehen werden kann (vgl. Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 169). Deshalb erscheint die (unberichtigte) Niederschrift offensichtlich lückenhaft und die Möglichkeit ihrer Ergänzung im Wege des Freibeweisverfahrens äußerst nahe liegend.
11
3. Aus dem mitgeteilten Sachverhalt erschließt sich nicht, ob das Urteil nach der Protokollberichtigung nochmals zugestellt wurde (§ 273 Abs. 4 StPO). Dies erscheint erforderlich, weil durch die vorgenommene Berichtigung der erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen worden war, das Protokoll nunmehr erst (endgültig) "fertig gestellt" wurde und dem Revisionsführer - der möglicherweise der Ansicht war, seine einzig erhobene Verfahrensrüge werde sicher erfolgreich sein - die Gelegenheit gegeben werden muss, ggf. andere (Verfahrens-)Rügen zu erheben (vgl. hierzu BGH NStZ 1984, 89; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 40; § 273 Rdn. 55 ff.). War das Urteil nicht erneut zugestellt worden, so ist die angesprochene Rechtsfrage (noch) nicht entscheidungserheblich.

III.

12
In der Sache selbst teilt der Senat nicht die Auffassung des anfragenden 1. Strafsenats.
13
1. Bisher war in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - seit BGHSt 2, 125 - als Verfahrensgrundsatz im strafprozessualen Revisionsrecht anerkannt, dass einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge durch eine nachträgliche Protokollberichtigung die Grundlage nicht entzogen werden darf.
14
Hierfür sprechen im Wesentlichen folgende Gründe:
15
a) Die Regelungen der Strafprozessordnung über den Ablauf eines rechtstaatlichen, fairen Verfahrens sind streng formal. § 274 StPO, der vorschreibt , dass die Beachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden kann, beinhaltet als Grundlage für das Revisionsverfahren eine Beweisregel, die der formalen Zweckmäßigkeit Vorrang vor der absoluten Wahrheit einräumt. Das hat der Gesetzgeber bewusst so gewollt (vgl. BGHSt 2, 125, 128). Die Beweiskraft des ordnungsgemäß erstellten Protokolls zu den Förmlichkeiten der Hauptverhandlung kann nur durch den Nachweis der Fälschung erschüttert werden (§ 274 Satz 2 StPO).
16
b) Mit dem Eingang seiner Revisionsrechtfertigungsschrift erhält der Beschwerdeführer das prozessuale Recht auf den in dem ordnungsgemäß erstellten Protokoll niedergelegten unveränderlichen Bestand der Grundlagen seiner Rügen für die Revisionsinstanz.
17
c) Die verlässliche und zweifelsfreie Rekonstruktion einer möglicherweise lange Zeit zurückliegenden Hauptverhandlung ist im Nachhinein kaum möglich, sodass die Gefahr fehlerhafter Berichtigungen besteht. Die Berichtigung nach erfolgter Verfahrensrüge hat schon deswegen einen geringeren Beweiswert als das ursprüngliche - zeitnah zur Hauptverhandlung - erstellte Protokoll, weil sich beide Urkundspersonen (der Vorsitzende und der Urkundsbeamte) bei Erstellung des "ersten" Protokolls schon einmal - übereinstimmend - geirrt haben müssten. Nach der gesetzlichen Regelung in § 274 StPO soll zudem schon dem Anschein von Manipulationen der Boden entzogen werden.
18
d) Die Verlässlichkeit des Protokolls würde erheblich darunter leiden, wenn den Urkundspersonen die Möglichkeit eingeräumt würde, revisionsbegründende Fehler im Protokoll durch spätere Berichtigungen wieder beheben zu können.
19
2. Die Bedenken des 1. Strafsenats gegen den seit Jahrzehnten gültigen, nahezu unbestrittenen und nunmehr in Frage gestellten Verfahrensgrundsatz vermögen insgesamt nicht zu überzeugen:
20
a) 1. Argument: Da auch die Revisionsgerichte der Wahrheit verpflichtet seien und das Gebot der Beschleunigung des Verfahrens Verfahrensverzögerungen verhindern müsse, sei es nicht mehr akzeptabel, Urteile aufgrund eines fiktiven Sachverhalts wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben, der nach dem Inhalt des - berichtigten - Protokolls tatsächlich nicht vorliege.
21
Das Argument ist zirkulär; denn es gilt zunächst zu fragen, was denn die Wahrheit ist: der Verfahrensgang wie im Ursprungsprotokoll festgehalten oder der in der Berichtigung niedergelegte Gang der Hauptverhandlung. Nach § 274 StPO gilt die formelle Wahrheit des einmal ordnungsgemäß erstellten Protokolls; ein Gegenbeweis - etwa "aus der Erinnerung" von Verfahrensbeteiligten - ist nicht zulässig. § 274 StPO ist Teil des strafprozessualen Revisionsrechts, dem weitgehend der Grundsatz der formellen, nicht aber der der materiellen Wahrheit zugrunde liegt. Die Formstrenge des Revisionsrechts gibt dem Revi- sionsgericht nur ein eingeschränktes Prüfungsrecht; auch materiell-rechtlich richtige Urteile können - etwa bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrunds (§ 338 StPO) - der Aufhebung unterliegen. Auf der anderen Seite muss auch ein offensichtlicher Verfahrensverstoß vom Revisionsgericht unberücksichtigt bleiben, wenn er nicht rechtzeitig bzw. nicht in der vorgeschriebenen Form gerügt ist. Der Beschleunigungsgrundsatz, auf den der anfragende Senat so maßgeblich abhebt, findet dort seine Grenze, wo das insgesamt ausgewogene - gerade auch dem Schutz des Angeklagten dienende - Rechtsmittelrecht der Rechtskraft der Entscheidung entgegensteht (vgl. BGH StV 2006, 237, 238 f.; 241 f.).
22
b) 2. Argument: Ein Misstrauen in die Redlichkeit der Urkundspersonen sei nicht gerechtfertigt.
23
Es geht nicht um Zweifel an der Redlichkeit, sondern um solche an der Erinnerungsfähigkeit der Urkundspersonen. Schon in den Gesetzesmotiven (Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 3. Bd. 1. Abt., 2. Aufl. [1885] S. 257 f.; vgl. auch RGSt 43, 1, 4 f.) ist dazu ausgeführt: ... Formverletzungen, welche in der Hauptverhandlung vorfallen konnten, .... (können) in der Regel ... nachträglich nicht mit Zuverlässigkeit … festgestellt werden ... Die Gerichtsmitglieder werden selten in der Lage sein, über Vorgänge, welche ihrer Aufmerksamkeit in der Hauptverhandlung entgangen sind, nachträglich ein bestimmtes Zeugniß abzugeben; ihre Aussagen würden daher nur dazu dienen, unberechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit des Sitzungsprotokolls zu erwecken. ...
24
Hinzu kommt, dass bis zum Eingang der Revisionsbegründung - unter Berücksichtigung der Verfahrensdauer, der Dauer bis zur Erstellung des Protokolls und des Urteils, der Zustellung des Urteils und der Revisionsbegründungsfrist - regelmäßig ein langer Zeitraum vergangen ist und die Erinnerung der Urkundspersonen durch anderweitig verhandelte Verfahren "überlagert" sein kann. Da es um die grundsätzliche Frage geht, ob Protokollberichtigungen zu Lasten des Beschwerdeführers möglich sind, ist es ohne Relevanz, ob in Einzelfällen Mitschriften über den Verfahrensablauf (etwa auch durch den Verteidiger ) existieren.
25
Darüber hinaus ist - was zu Recht gegen die Zulässigkeit der nachträglichen Protokollberichtigung vorgebracht wird (Jahn/Widmaier aaO S. 167) - zu bedenken, dass der Vorsitzende nach Eingang der Verfahrensrüge in eine "parteiliche Position" gerät. Er wird - psychologisch verständlich -, wenn er die rechtliche Möglichkeit dazu hat, "sein" Urteil aufgrund "plötzlicher Erinnerung", dass es doch anders war, als im Protokoll festgestellt, möglicherweise gegen den Revisionsangriff verteidigen und der Protokollführer wird sich kaum der “neuen Einsicht“ des Vorsitzenden widersetzen. Dass diese Erinnerung an den konkreten Verfahrensablauf, insbesondere bei verfahrensrechtlichen “Routineabläufen“ , wie etwa der Verlesung des Anklagesatzes, der Erteilung von Belehrungen oder der Gewährung des letzten Wortes, - auch unbewusst (RGSt 43, 1,
3) - objektiv falsch sein kann, liegt auf der Hand.
26
c) 3. Argument: Der Grundsatz, wonach einer erhobene Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung nicht die Grundlage zum Nachteil des Angeklagten entzogen werden dürfe, beruhe auf Rechtsprechung und könne daher auch durch die Rechtsprechung geändert werden.
27
Dieses Argument ist schon im Ansatz fragwürdig, weil dem genannten Verfahrensgrundsatz möglicherweise ein gewohnheitsrechtlicher Charakter zukommt (vgl. BVerfGE 15, 226, 232; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Bd. 1, 11. Aufl. § 25 Rdn. 12 ff.) und allenfalls der Gesetzgeber dazu aufgerufen wäre, Änderungen vorzunehmen (vgl. BGHSt 11, 241, 247; BGH, Beschluss vom 30. Mai 2001 – 1 StR 99/01). Im Zivilprozessrecht - in dem eine § 274 StPO vergleichbare Bestimmung existiert (§ 165 ZPO) - wurde im Jahre 1974 durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom 20. Dezember 1974 [ProtVereinfG] (BGBl I 3651) mit § 164 ZPO eine Vorschrift in die ZPO eingefügt, nach der - unter Anhörung der Beteiligten (vgl. dazu BRDrucks. 551/74 S. 63 f.; BTDrucks. 7/2769 S. 10 f.) - Protokollberichtigungen vorgenommen werden dürfen. Anders als für das Verwaltungsgerichtsverfahren, das Finanzgerichtsverfahren und das Verfahren vor den Sozialgerichten (Art. 3 Nr. 1, Art. 4 Nr. 1, Art. 5 Nr. 2 des ProtVereinfG: jeweils Verweisung auf die §§ 159 bis 165 ZPO) hat der Gesetzgeber für den Strafprozess diese Vorschrift nicht für anwendbar erklärt. Das spricht dafür, dass er die ihm bekannte ständige Rechtsprechung zur Protokollberichtigung in Strafverfahren nicht in Frage stellen wollte.
28
Selbst wenn man von einer gewohnheitsrechtlichen Geltung der Protokollberichtigungsgrundsätze im Strafverfahren nicht ausgeht, ist Folgendes zu bedenken:
29
Die Kontinuität der Rechtsprechung, das auf ihr beruhende Vertrauen der Rechtsunterworfenen und der Rechtsanwender, die Sache werde nach denselben Maßstäben entschieden, die bisher galten, ist ein eigener Wert. Dieser allgemeine Grundsatz wurzelt in dem Gedanken der Rechtssicherheit, die wesentliches Element der rechtstaatlichen Praxis ist. Die Änderung einer ständigen Rechtsprechung setzt daher voraus, dass schwerwiegende Gründe dafür sprechen müssen (vgl. BVerfGE 19, 38, 47; BGH [1.Strafsenat] StV 2000, 670, 674). Für die vorgelegte Fragestellung fehlt es nach Auffassung des Senats an solchen Gründen von Gewicht, die Anlass geben könnten, die gefestigte Rechtsprechung zu ändern. Schwerwiegende Mängel der bisherigen Verfahrensweise sind nicht ersichtlich und werden auch in dem Anfragebeschluss nicht aufgezeigt. Soweit Unzuträglichkeiten aufgetreten sind, wurden diese durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - etwa durch die Möglichkeit zur Ergänzung der Sitzungsniederschrift im Wege des Freibeweises bei offensichtlichen Mängeln, der Unklarheit, Lückenhaftigkeit oder Widersprüchlichkeit des Protokolls (vgl. etwa BGH StV 2004, 297, 298 [angebliche Nichtverlesung des Anklagesatzes]) - zufrieden stellend gelöst.
30
d) 4. Argument: Es sei nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, den Tatrichter zu maßregeln.
31
Es geht nicht darum den Tatrichter zu maßregeln, sondern darum, ihm durch die Unzulässigkeit der Protokollberichtigung nach Eingang der Verfahrensrüge bewusst zu machen, dass im Strafprozess Regeln mit Absolutheitscharakter – hier: die Erstellung des Protokolls - mit besonderer Sorgfalt zu beachten sind (vgl. etwa zur Unabänderlichkeit der Urteilsgründe: § 275 Abs. 1 Satz 3 StPO).

IV.

32
Schlussbemerkung:
33
Der Senat kann nicht erkennen, dass für eine Änderung der Rechtsprechung zur rügevernichtenden Protokollberichtigung gewichtige Gründe sprechen könnten. Soweit in dem Anfragebeschluss als Argument noch vorgebracht wird, mit der Möglichkeit der Protokollberichtigung würde der Erfolgsaussicht unwahrer Verfahrensrügen "neue Grenzen gesetzt", ist zu besorgen, dass an die Stelle unwahrer Verfahrensrügen "unwahre Protokollberichtigungen" treten könnten (vgl. BGHSt 12, 270, 272; Jahn/Widmaier aaO S. 167). Sollte daher trotz der Bedenken des Senats erwogen werden, rügevernichtende Protokollberichtigungen zuzulassen, so sollten diese jedenfalls nur dann als zulässig angesehen werden, wenn zuvor alle Verfahrensbeteiligten (der Angeklagte mögli- cherweise über seinen Verteidiger) angehört wurden und keiner von ihnen - etwa durch eine dienstliche Erklärung oder anwaltliche Versicherung - eine im Vergleich zu dem zu berichtigenden Protokoll substantiiert andere Erinnerung an den Verfahrensablauf geltend macht. Tepperwien Maatz Kuckein Ernemann Sost-Scheible

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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Januar 2006 beschlossen
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Der Senat beabsichtigt zu entscheiden:
Die Beweiskraft des Protokolls im Sinne von § 274 StPO ist für
das Revisionsgericht auch dann beachtlich, wenn aufgrund einer
Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten
zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des Angeklagten
die maßgebliche Tatsachengrundlage entfällt.
Der Senat fragt bei den anderen Strafsenaten an, ob an entgegenstehender
Rechtsprechung festgehalten wird.

Gründe:


I.

1
Landgericht Das München I hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen des Landgerichts schlug der Angeklagte während eines Streits über die Abgrenzung reservierter Sitzbereiche in einem Oktoberfestzelt dem Geschädigten Z. mit einem 1,3 Kilogramm schweren gläsernen Bierkrug zweimal wuchtig auf den Hinterkopf und einmal in den Bereich des Nackens. Der Geschädigte wurde erheblich verletzt. Die Schläge wa- ren darüber hinaus geeignet, das Leben des Geschädigten in Gefahr zu bringen.
2
Revision Die rügt die Verletzung materiellen Rechts und erhebt eine Formalrüge.
3
Der Senat möchte die Revision des Angeklagten verwerfen, sieht sich daran jedoch - was die Verfahrensrüge anbelangt - durch die Rechtsprechung der anderen Senate gehindert.

II.

4
1. Die Revision rügt mit ihrer am 5. Juli 2005 beim Landgericht eingegangenen Revisionsbegründung die Nichtverlesung des Anklagesatzes - Verstoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO.
5
Die fertig gestellte Sitzungsniederschrift enthielt zunächst keinen Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes. Unter dem 18. August 2005 ergänzten der Strafkammervorsitzende und die Urkundsbeamtin die Sitzungsniederschrift hinsichtlich des ersten Verhandlungstages in einer eigenen Niederschrift dahingehend , dass nach den Worten „Der Vorsitzende stellte weiter fest, dass die Staatsanwaltschaft München I gegen den Angeklagten am 20.01.05 Anklage zum Schwurgericht des LG München I erhoben hat, die mit Eröffnungsbeschluss der Kammer vom 18.02.05 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen wurde,“ der Satz angefügt wurde: „Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den Anklagesatz“.
6
Auch in der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft wird unter Vorlage entsprechender dienstlicher Äußerungen von Verfahrensbeteiligten vorgetragen, dass der Anklagesatz in Wirklichkeit verlesen wurde. Er löste, wie sich der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft erinnerte, Unmutsäußerungen im Publikum aus, da die Anklage auf den Vorwurf des versuchten Totschlags gerichtet war. Selbst der Verteidiger in der Hauptverhandlung, der die Revision nicht selbst begründet hat, stellte in seiner Stellungnahme die Verlesung nicht in Abrede, wenn er schreibt: „An den entsprechenden Verfahrensabschnitt kann ich mich nicht konkret erinnern; die Verlesung der Anklageschrift stellt einen Routinevorgang dar. Allerdings vermute ich, dass ich mich hieran erinnern könnte, wenn die Anklageschrift nicht verlesen worden wäre, weil dies einen ungewöhnlichen Verfahrensablauf darstellen würde. Auch diese Überlegung führt aber nicht zu einer konkreten Erinnerung. Aufgrund dieses Rückschlusses erscheint es mir aber durchaus möglich, dass die Erinnerung der Urkundsperson zutreffend ist.“ Die Urkundsbeamtin verwies auf einen bei der Fertigung der Protokollreinschrift übersehenen Übertragungsfehler aus der teilweise stenografischen Aufzeichnung während der Hauptverhandlung, in der der Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes noch enthalten war. Das entsprechende Blatt der vorläufigen Aufzeichnungen hatte die Protokollführerin ihrer dienstlichen Erklärung beigefügt.
7
2. Nach der bisherigen, ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (seit BGHSt 2, 125 [126], zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. unten) muss die Protokollberichtigung unberücksichtigt bleiben, da sie der Revisionsbegründung des Angeklagten zu dessen Nachteil die Tatsachengrundlage entzieht.
8
Ebenso wenig können nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs übereinstimmende Erklärungen der Urkundspersonen den Inhalt des Protokolls in Einzelpunkten zum Nachteil des Angeklagten in Frage stellen (BGHSt 8, 283; 10, 342 [343]; 13, 53 [59]; 22, 278 [280]; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 3, 6, 8, 11, 29; BGH NStZ 1983, 375; 1986, 39 [40]; 1992, 4; 1993, 94; 2000, 214; 2003, 218; 2005, 281 [282]; BGH StV 1986, 287 [288]; 2002, 183, 530; 2004, 297; BGH, Beschluss vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01 -; Beschluss vom 11. August 2004 - 3 StR 202/04 -). Sie dürfen nicht einmal zur Auslegung bestimmter Formulierungen im Protokoll herangezogen werden (BGHSt 13 [59]). Ob - und in welchen Fallkonstellationen - distanzierende Erklärungen der - oder einer der - Urkundspersonen dem Protokoll generell die formelle Beweiskraft entziehen und damit grundsätzlich den Weg zum Freibeweisverfahren eröffnen (BGHSt 4, 364 [365]; BGH NStZ 1988, 85; Engelhardt in Karlsruher Kommentar zur StPO 5. Aufl. § 274 Rdn. 6) oder nicht (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 3; BGH NStZ 2005, 281 [282]), kann hier dahinstehen (vgl. BGHR StPO Beweiskraft 13; offen gelassen in BGH NStZ 2002, 270 [272]; so weit sie zugunsten des Angeklagten wirken vgl. BGHR StPO § 274 Beweiskraft 8, 13, 28; BGH NStZ 1988, 85; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 274 Rdn. 49 m.w.N.).
9
Die Voraussetzungen für eine Ergänzung des Protokolls im Freibeweisverfahren liegen auch sonst nicht vor. Die - noch nicht ergänzte - Sitzungsniederschrift ist eindeutig, sie leidet - für sich betrachtet - nicht an offensichtlichen Mängeln, ist weder unklar, erkennbar lückenhaft oder widersprüchlich (zum Wegfall der Beweiskraft bei entsprechenden Mängeln vgl. RGSt 63, 408 [410]; BGHSt 16, 306 [308]; 17, 220 [221]; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 12, 16, 24, 25, 27; BGH NJW 1976, 977; NStZ 2000, 49; NStZ-RR 2000, 293; StV 1999, 639; 2004, 297; JR 1961, 508; Gollwitzer in Löwe /Rosenberg StPO 25. Aufl. § 274 Rdn. 23 ff.).
10
Gemäß der - negativen - Beweiskraft (§ 274 StPO) des Protokolls in seiner ursprünglichen, unvollständigen Fassung stünde im vorliegenden Fall der Rechtsverstoß somit fest.
11
Der Senat vermag in einem Fall wie dem vorliegenden auch nicht auszuschließen , dass das Urteil auf dem Rechtsverstoß, der Nichtverlesung des Anklagesatzes beruht (zur Bedeutung der Verlesung des Anklagesatzes vgl. G. Schäfer, Gedanken zur Beweiskraft des tatrichterlichen Protokolls unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, Seite 707 [724]).
12
3. Der Senat ist allerdings der Ansicht, dass - entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - die formelle Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 StPO auch hinsichtlich eines berichtigten Protokolls uneingeschränkt gilt, also auch dann, wenn einer zuvor vom Angeklagten erhobenen Rüge der Boden entzogen wird.

III.


13
Die Strafprozessordnung besagt weder in den §§ 271 bis 274 StPO noch an anderer Stelle, etwas zur Zulässigkeit der Protokollberichtigung (im Gegensatz zu § 164 ZPO) oder zur - relativen - Unbeachtlichkeit der Beweiskraft einer Protokollberichtigung für das Revisionsgericht.
14
a) Die Zulässigkeit der - unbefristeten - Protokollberichtigung wurde im Grundsatz vom Reichsgericht (noch offen gelassen in RGSt 2, 76 [77]) alsbald anerkannt: „Denn im allgemeinen wird es als eine Berufspflicht des Urkundsbeamten anzusehen sein, Fehler der Beurkundung, von denen er sich nachträglich überzeugt hat, behufs der Verhütung von Rechtsverletzungen zur Anzeige zu bringen. Der Berücksichtigung einer solchen Anzeige, welche ein Audienzprotokoll betrifft, steht die Vorschrift in § 274 StPO, welche gegen den die Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls nur den Nachweis der Fälschung zulässt, nach Ansicht des Senats nicht entgegen. Denn diese Vorschrift schließt gegenüber den Bekundungen des Audienzprotokolls nur den Gegenbeweis aus; eine Berichtigung oder Ergänzung des Audienzprotokolls durch übereinstimmende Erklärung des Vorsitzenden und des Gerichtsschreibers enthält jedoch einen Widerruf der früheren Beurkundung und entzieht derselben, soweit der Widerruf reicht, die Beweiskraft, sodass es eines Gegenbeweises nicht mehr bedarf“ (RGSt 19, 367 [370]; entspr RGSt 57, 394 [396]). „Dass ein Protokoll von den Urkundspersonen berichtigt (ergänzt) werden kann, ist unbestritten. Es muss sogar als Pflicht der Urkundsbeamten bezeichnet werden, erkannte Fehler der Beurkundung richtig zu stellen, um mögliche Rechtsnachteile Dritter zu verhüten“ (OGHSt 1, 277 [278]). Davon geht auch der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung aus (seit BGHSt 1, 259 und BGHSt 2, 125; 10, 145).
15
b) Der Grundsatz, dass eine Protokollberichtigung einer zugunsten des Angeklagten erhobenen Verfahrensrüge nicht den Boden entziehen darf („Rügeverkümmerung“ ), findet sich - aufbauend auf der Rechtsprechung der preußischen Obergerichte (vgl. RGSt 43, 1 [10]) - schon zu Beginn der Reichsgerichtsrechtsprechung (RGSt 2, 76 [77]) und bleibt ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts bis zum Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 11. Juli 1936 (RGSt 70, 241). Auch wenn diese Entscheidung sachliche Abwägungen enthält, darf sie nach Auffassung des Senats allerdings im Hinblick auf andere, im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Gedankengut stehende Formulierungen keine weitere Beachtung mehr finden. Grundlegend war der Beschluss der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts vom 13. Oktober 1909 (RGSt 43, 1). Dieser Rechtsprechung (vgl. auch RGSt 56, 29; 59, 429 [431]) folgten dann nach dem Krieg verschiedene Obergerichte (vgl. - Oberster Gerichtshof für die Britische Zone - OGHSt 1, 277 [279] m.w.N.) und schließlich der Bundesgerichtshof (vgl. BGHSt 2, 125; 10, 342 [343]; 12, 270 [271]; 22, 278 [280]; 34, 11 [12]; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 11, 13; BGH NStZ 1984, 521; 1995, 200 [201]; StV 2002, 183; JZ 1952, 281). Der Grundsatz, wonach eine Protokollberichtigung einer Verfahrensrüge des Angeklagten nicht die Grundlage entziehen darf, wurde früher auch übertragen auf Änderungen in einem noch nicht fertig gestellten - unterschriebenen - Protokoll, die nach Eingang der Revisionsbegründung am Protokollentwurf vorgenommen wurden (BGHSt 10, 145 [147 f.]; 12, 270 [271 f.]). Nach Einführung des § 273 Abs. 4 StPO (Urteilszustellung erst nach Protokollfertigstellung) durch das StPÄG 1984 ist das nicht mehr tragfähig (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 26).
16
In diesen Fällen, in denen die Protokollberichtigung für das Revisionsgericht nicht beachtlich ist, führt das dazu, dass Sachverhalte, die aufgrund der formellen Rechtskraft des - unberichtigten - Protokolls als unwiderlegbar vermutet werden, der wahren Rechtslage nicht zu entsprechen brauchen (RGSt 43, 1 [6]; BGHSt 26, 281 [283]; 36, 354 [358]). Abzustellen ist in diesen Fällen somit auf einen fiktiven Sachverhalt.
17
Anfänglich stellte sich noch die Frage, ob das Verbot, einer zugunsten des Angeklagten erhobenen Rüge die Grundlage zu entziehen, dann doch - insoweit - schon eine Protokollberichtigung verbietet. So zu Beginn noch das Reichsgericht (RGSt 2, 76; 19, 323 [324]). Später wird nicht mehr klar unterschieden , verwischt sich die Terminologie, auch in den grundlegenden Ent- scheidungen RGSt 43, 1 und BGHSt 2, 125 (vgl. auch RGSt 59, 429 [431]). Dort wird zwar in den Leitsätzen auf die Nichtberücksichtigung einer Berichtigung abgestellt, während in den Begründungen dann von der Unzulässigkeit bereits der Protokollberichtigung die Rede ist (RGSt 43, 1 [6]; BGHSt 2, 125 [127 f.]). Heute ist anerkannt, dass das Protokoll auch in diesen Fällen - sofern die Urkundspersonen übereinstimmend einen Fehler erkannt haben - zu berichtigen ist (vgl. BGHSt 10, 342 [343]; 12, 270 [271 f.]; 34, 11; BGHR StPO 274, Beweiskraft 8, 13; BGH JZ 1952, 281; BGH NStZ 1992, 49; so auch schon OGHSt 1, 278). Denn der Sitzungsniederschrift kann über das Revisionsverfahren hinaus Bedeutung zukommen (etwa in einem Strafverfahren zur Frage, ob eine Vereidigung stattgefunden hat oder nicht), wenn auch nicht mit der formellen Beweiskraft des § 274 StPO.
18
Eine Protokollberichtigung ist immer zu berücksichtigen, wenn sie zugunsten des Angeklagten wirkt (BGHSt 1, 259 [261 f.]) oder wenn sie - bei einem einheitlichen Vorgang - teilweise zugunsten, teilweise zu Ungunsten einer Rüge vorgenommen worden ist (RGSt 56, 29; BGH aaO). Zeitliche Grenzen für die Protokollberichtigung gibt es nicht.
19
c) Folgende Argumente werden für die Rechtsprechung, wonach eine Protokollberichtigung einer Rüge nicht den Boden zum Nachteil des Angeklagten entziehen darf, vorgetragen: - Mit dem Eingang der Revisionsbegründungsschrift erwerbe der Beschwerdeführer ein prozessuales Recht auf Beibehaltung der Grundlage seiner Rüge für die Revisionsinstanz, zumal er selbst praktisch keine Möglichkeit habe, die Berichtigung des Protokolls zu erzwingen (BGHSt 2, 125 [126]; RGSt 43, 1 [9]; 59, 429 [431]). Da der Beschwerdeführer zur Begründung seiner Verfahrensrüge nur das Protokoll in der vorliegenden Form verwerten dürfe, müsse ihm das Recht zustehen, sich nachträglichen Änderungen zu seinen Lasten zu widersetzen (OGHSt 1, 277 [280]), müsse er gegen eine nachträgliche Beseitigung des Mangels durch Protokollberichtigung gesichert sein (BGHSt 2, 125 [127]). - Der Gesetzgeber habe mit § 274 StPO eine Norm geschaffen, die der Zweckmäßigkeit den Vorrang vor der absoluten Wahrheit einräume (BGHSt 2, 125 [128]; 26, 281 [283]; Tepperwien in Festschrift für Meyer-Goßner S. 595 [603 f.]). Der Gesetzgeber habe die mögliche Ausnutzung einer prozessrechtlich zulässigen Befugnis zu wahrheitswidrigen Zwecken gesehen und in Kauf genommen (RGSt 43, 1 [6]; OGHSt 1, 277 [282]). Die Neugestaltung des § 274 StPO sei eine Sache des Gesetzgebers (BGH, Beschluss vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01; OGHSt 1, 277 [280]). - Mit zunehmender Zeit lasse das Erinnerungsvermögen (der Urkundspersonen ) nach. Die Gefahr fehlerhafter Berichtigungen sei nicht auszuschließen (RGSt 43, 1 [5]; OGHSt 1, 277 [281]; BGHSt 2, 125 [128]). - Bei uneingeschränkter Berücksichtigung nachträglicher Änderungen bestehe die Gefahr, dass die Sitzungsniederschrift nicht mehr mit äußerster Sorgfalt abgefasst wird.
20
d) Die Rechtsprechung, wonach eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge des Angeklagten nicht zu seinen Ungunsten die Grundlage entziehen darf, fand auch Kritik.
21
Anders als das Reichsgericht judizierte schon das Reichsmilitärgericht (RMG 9, 35 - Urteil vom 24. Juni 1905 -; entsprechend RMG 15, 282). Der Auffassung des Reichsmilitärgerichts wollte sich der II. Strafsenat des Reichsgerichts anschließen. Dies führte zu der oben genannten Entscheidung der Vereinigten Senate vom 13. Oktober 1909 (RGSt 43, 1), die allerdings die bisherige Rechtsprechung des Reichsgerichts festschrieb. Ernst Beling kritisierte dies heftig und äußerte seinerzeit die Hoffnung, im „wissenschaftlichen Kampf zwischen Reichsgericht und Reichsmilitärgericht“ werde es im Laufe der Zeit gelingen , die Auffassung des Reichsgerichts zu ändern (vgl. Beling, Rechtsprechung des Reichsmilitärgerichts vom 6. Oktober 1902 bis 19. April 1912, in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 38, 1917, Seite 612 [632 ff.]).
22
Auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs finden sich Vorbehalte :
23
Ob eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge die Grundlage entziehen darf, wird vom Senat offen gelassen in BGH NJW 1982, 1057, sowie vom 5. Strafsenat in BGHR StPO § 274 Beweiskraft 22 (Berichtigung des Namens einer Dolmetscherin bei offensichtlicher Namensverwechslung ist zulässig; vgl. auch BGH NStZ-RR 1997, 73). Kritisch der 2. Strafsenat in BGHSt 36, 354 [358]: „Sachverhalte, die auf Grund der formellen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift unwiderlegbar zu vermuten sind, brauchen der wahren Sachlage nicht zu entsprechen (vgl. RGSt 43, 1 [6]; BGHSt 26, 281 [283]). Das ist eine bedenkliche Konsequenz der Vorschrift des § 274 StPO, von der Eb. Schmidt (Lehrkomm. StPO II § 188 Erl. 13) sagt, sie sei ‚ziemlich außergewöhnlich ’. … Die Regelung, die § 274 trifft, beruht allein auf pragmatischen Erwägungen... . Diese Erwägungen widerstreiten dem grundsätzlich auch für das Revisionsgericht geltenden Gebot, die wahre Sachlage zu erforschen, wenn prozessual erhebliche Tatsachen (von Amts wegen oder weil sie Gegenstand einer Verfahrensrüge sind) der Klärung bedürfen“.
24
Zuletzt sprachen sich definitiv - in obiter dicta - für eine Änderung der Rechsprechung zur Berücksichtigung einer Protokollberichtigung trotz Rügeverlust der 2. Strafsenat (BGH NStZ 2005, 281 [282] - nach Zweifeln in BGH NStZ 2002, 270 [272] und BGH NJW 2001, 3794 [3796]) - und der 1. Strafsenat (Beschluss vom 13. Oktober 2005 - 1 StR 386/05 -) aus.
25
In der Literatur äußerte sich zuletzt kritisch G. Schäfer, Gedanken zur Beweiskraft des tatrichterlichen Protokolls unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, Seite 707 [717 f.]. (So auch Detter , Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten , StraFo 2004, 329. Demgegenüber - für die bisherige Rechtsprechung - Tepperwien in Festschrift für Meyer-Goßner, Die unwahre Verfahrensrüge - unzeitgemäßer Sieg der Form? S. 595, 603 f.).

IV.

26
Der Senat ist unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung (BGH NStZ 1984, 521 - 1 StR 344/84; BGHSt 34, 11 [12] [- 1 StR 643/85 - nicht tragend ]; BGH NStZ 1995, 200 [201] [1 StR 641/94 - nicht tragend]) der Auffassung , dass die formelle Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 StPO uneingeschränkt gilt, auch dann, wenn eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge zum Nachteil des Angeklagten die Tatsachengrundlage entzieht.
27
Dem steht - soweit ersichtlich - jedenfalls folgende Rechtsprechung der anderen Senate entgegen:
28
2. Strafsenat: BGHSt 10, 145 [147] (2 StR 34/57)
29
3. Strafsenat: BGHSt 2, 125 (3 StR 575/51); BGH JZ 1952 (3 StR 106/51); BGH Beschluss vom 9. Januar 1985 - 3 StR 514/85; BGH NStE Nr. 7 zu § 344 StPO (3 StR 63/88); BGH StV 2002, 183 (3 StR 175/01); BGH 1, 259 (3 StR 106/51 - nicht tragend); BGHR StPO § 274 Beweiskraft 11 (3 StR 338/91 - nicht tragend), 13 (3 StR 63/92 - nicht tragend)
30
4. Strafsenat: BGHSt 12, 270 (4 StR 408/58 - nicht tragend) BGH NStZ 2002, 218 (4 StR 249/01 - wohl inzident - nicht tragend -
31
5. Strafsenat: BGHSt 10, 342 [343] (5 StR 197/57); BGH NStZ 1993, 51 [52] (5 StR 126/92) - wohl inzident - nicht tragend -; (Beschluss vom 3. Dezember 2003 - 5 StR 462/03 - inzident - nicht tragend - [insoweit nicht abgedruckt in NStZ 2004, 451])
32
Ausgangspunkt für die Anfrage des Senats ist Folgendes:
33
Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet. Dies hält der Senat für entscheidend.
34
Dieses Argument erhält dadurch zusätzliches Gewicht, dass das Bundesverfassungsgericht in letzter Zeit mehrfach „unmissverständlich“ darauf hingewiesen hat, die durch eine Revisionsentscheidung bedingte zusätzliche Verfahrensdauer sei bei der Berechnung der Überlänge eines Verfahrens zwar nicht stets, aber immer dann zu berücksichtigen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat (BVerfG NJW 2003, 2897 [2898]; BVerfGK 2, 239 [251] und zuletzt BVerfG, Kammerbeschluss vom 5. Dezember 2005 - 2 BvR 1984/05 - Absatz Nr. 65). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht für den Fall der Aufhebung eines Urteils wegen eines der Justiz anzulastenden Verfah- rensfehlers von einer Einbeziehung des infolge der Durchführung des Revisionsverfahrens verstrichenen Zeitraums aus (vgl. EGMR NJW 2002, 2856 [2857 Abs. 41]).
35
Vor diesem Hintergrund der Wahrheitspflicht verstärkt durch das Verbot der - u.U. im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK unangemessenen (abzustellen ist auf das Gesamtverfahren) - Verfahrensverzögerung und des Gebots der Beschleunigung des Verfahrens insbesondere in Haftsachen ist es nicht mehr akzeptabel, Urteile aufgrund eines fiktiven Sachverhalts wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben, der nach dem Inhalt des - berichtigten - Protokolls tatsächlich nicht vorliegt.
36
Demgegenüber sind die für die bisherige, letztlich von einem - nach Meinung des Senats nicht gerechtfertigten - Misstrauen in die Redlichkeit der Urkundspersonen getragenen Rechtsprechung vorgebrachten Gründe nicht genügend tragfähig. - Die Annahme, durch den Eingang der Revisionsbegründung werde ein besonderes prozessuales Recht auf Nichtberücksichtigung einer Protokollberichtigung begründet, findet im Gesetz keine Stütze. „Ein prozessuales Recht der Prozessbeteiligten, dass etwas nicht Geschehenes beurkundet oder etwas Geschehenes nicht beurkundet wird, gibt es nicht“ (so schon RMG 9, 35 [42]). Der Revisionsführer kann zwar die Berichtigung eines Protokolls nicht erzwingen. Er kann eine Änderung aber anregen. Deckt sich dies mit der Erinnerung der Urkundspersonen, wobei diese zur Unterstützung der Erinnerung auch auf Aufzeichnungen anderer zurückgreifen dürfen, wird dies zur Protokollberichtigung führen, auch zugunsten des Angeklagten zur Untermauerung einer sonst aussichtslosen Verfahrensrüge (vgl. BGH StV 1988, 45).
- Der Grundsatz, wonach einer erhobenen Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung nicht die Grundlage zum Nachteil des Angeklagten entzogen werden darf, beruht auf Rechtsprechung und kann durch Rechtsprechung geändert werden, eines Gesetzes bedarf es nicht. Dem vor einer Neuausrichtung einer Rechtsprechung in Betracht zu ziehende Wert der Beständigkeit der Rechtsordnung kommt hier geringeres Gewicht zu, da sich an der Pflicht der Instanzgerichte, dem tatsächlichen Ablauf entsprechende Protokolle zu fertigen, nichts ändert. - Berichtigung setzt bei beiden Urkundspersonen sichere Erinnerung voraus. Ist diese nicht vorhanden, dann kann das Protokoll nicht (mehr) berichtigt werden. Ein Argument gegen die Berücksichtigung einer Berichtigung durch das Revisionsgericht ist die Erfahrung nachlassender Erinnerung nicht. Häufig kann eine Urkundsperson auch auf andere Unterlagen als Erinnerungsstütze zurückgreifen, wie im vorliegenden Fall auf die unmittelbar während der Verhandlung getätigten Aufzeichnungen, die Grundlage der Sitzungsniederschrift waren. Schließlich stammt der Hinweis auf die nachlassende Erinnerungskraft aus einer Zeit, als es die Vorschrift über die Urteilsabsetzungsfristen (§ 275 Abs. 1 StPO) noch nicht gab. - Die Ausweitung der Rechtsprechung zum Wegfall der formellen Beweiskraft wegen erkennbarer Mängel, wie Lücken und Widersprüchen hatte keine Auswirkungen auf die Sorgfalt bei der Protokollerstellung. Die Qualität der Sitzungsniederschriften schwankt von Gericht zu Gericht, mit der Rechtsprechung zum Umfang der Beweiskraft nach § 274 StPO hat das nichts zu tun. Einer Urteilsaufhebung, um die Tatgerichte zum Einhalten der Vorschriften zu veranlassen (vgl. Meyer-Goßner DRiZ 1997, 471
[474]), bedarf es nicht. Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, den Tatrichter zu maßregeln (vgl. BGH StV 2004, 1396).
37
Die Berücksichtigung jeder Protokollberichtigung durch das Revisionsgericht könnte auch der Ausweitung der Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls (vgl. etwa BGHR StPO § 274 Beweiskraft 25, 27; BGH NStZ 2002, 270, mit kritischer Anmerkung Fezer, 272, kritische Anmerkung Köberer in StV 2002, 527; BGH, Beschluss vom 11. August 2004 - 3 StR 202/04; weitere Entscheidungen vgl. BGH-Nack unter dem Registerstichwort: § 274 StPO Freibeweis ) begegnen, eine Ausweitung zu der in der Literatur vorgebracht wird, die Senate suchten in Grenzfällen geradezu nach Möglichkeiten der Durchbrechung der formellen Beweiskraft des Protokolls (vgl. Detter, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo, 2004, 329 [330]; Park, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten , StraFo 2004, 335, [338, 340]). Dementsprechend bedürfte es weniger Beweiserhebungen über den Ablauf des Verfahrens, der Rekonstruktion der Hauptverhandlung. Denn allein distanzierende dienstliche Erklärungen der Urkundspersonen - ohne Protokollberichtigung - führen nicht zum Wegfall der Beweiskraft, wenn dadurch einer vom Beschwerdeführer erhobenen Verfahrensrüge der Boden entzogen wird (BGHSt 8, 283; 10, 342 [343]; 13, 53 [59]; 22, 278 [280]; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 3, 6, 8, 11, 29; BGH NStZ 1983, 375; 1986, 39 [40]; 1992, 4; 1993, 94; 2000, 214; 2003, 218; 2005, 281 [282]; BGH StV 1986, 287 [288]; 2002, 183, 530; 2004, 297; BGH, Beschluss vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01 -; Beschluss vom 11. August 2004 - 3 StR 202/04 -), während im umgekehrten Fall zugunsten des Angeklagten die Beweiskraft des Protokolls entfällt (BGHSt 4, 364, 365; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 1; BGH NStZ 1988, 85).
38
Ebenso wären mit der Berücksichtung der - umfassenden - Protokollberichtigung durch das Revisionsgericht der Erfolgsaussicht bewusst unwahrer Verfahrensrügen neue Grenzen gesetzt (zum Diskussionsstand hierzu vgl. Tepperwien, Die unwahre Verfahrensrüge - unzeitgemäßer Sieg in der Form? in Festschrift für Meyer-Goßner, 595 ff.; Detter StraFo 2004, 329 [334]; Park StraFo 2004, 335 [337]. Die prozessuale Wirksamkeit auch einer bewusst unwahren Verfahrensrüge wurde von der Rechtsprechung trotz erkennbaren Unbehagens und geäußerter Zweifel (vgl. BGHR StPO § 274 Beweiskraft 21, 22, 24) letztlich nie verneint (vgl. RGSt 43, 1; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 21, 22, 27; BGH NStZ 2002, 270 [272]; BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2003 - 5 StR 462/03 - , insoweit nicht abgedruckt in StV 2004, 297). Allerdings galt das Erheben einer - bewusst - unwahren Verfahrensrüge (die Protokollrüge genügt ja nicht) - unabhängig von ihrer prozessualen Wirksamkeit - früher als standeswidrig (vgl. Dahs, Die unwahre Verfahrensrüge, AnwBl. 1950/51, 90 ff.; „Der Rechtsanwalt hat hier wie überall nur dem Recht und der Wahrheit zu dienen. Es ist ihm nie erlaubt, zur Wahrheit in Widerspruch zu treten. Die wahrheitswidrige Verfahrensrüge ist eine standesrechtliche Verfehlung“ [S. 90]. „Der Zweck [Aufhebung eines Fehlurteils] heiligt auch hier nicht die Mittel“ [S. 91]. „… der Anwalt, der die hier wiedergegebenen Grundsätze nicht anerkennt, muss mit der Einleitung eines ehrengerichtlichen Verfahrens seitens des Generalstaatsanwalts rechnen“ [S. 92]), während es heute fast schon als anwaltlicher Kunstfehler gelten könnte, sich eines Fehlers im Protokoll jedenfalls nicht in der Weise zu bedienen , dass ein anderer Verteidiger die Revision begründet (vgl. hierzu m.w.N.: G. Schäfer, Gedanken zur Beweiskraft des tatrichterlichen Protokolls unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, Seite 707 [727]; zur Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge kommt nunmehr ge- stützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch das Handbuch des Strafverteidigers von Dahs, von der 1. Auflage 1969, Rdn. 754, bis zur neuesten 7. Aufl. [ab 4. Auflage Dahs jun.] 2005, Rdn. 918: „… braucht der Verteidiger sich nicht zu scheuen, von dem durch das Protokoll ‚geschaffenen’ unverrückbaren Tatbestand als ‚Wahrheit’ auszugehen.“ Nur einen scheinbaren Ausweg bietet die Beauftragung eines neuen Verteidigers für die Revisionsbegründung, der „dann vielleicht im Zustand der ‚Unberührtheit’ gehalten werden kann“ (Dahs aaO Rdn. 920), denn dieser hat sich grundsätzlich beim Instanzverteidiger über den Verfahrensablauf kundig zu machen [vgl. BGH, Beschluss vom 23. November 2004 - 1 StR 379/04 -; Verfassungsbeschwerde dagegen nicht zur Entscheidung angenommen mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. September 2005 - 2 BvR 93/05 - unter Hinweis auf den Grundsatz der Einheitlichkeit eines über mehrere Instanzen geführten Verfahrens). Auch diese Entwicklung spricht dafür, die Zurückhaltung bei der umfassenden Berücksichtigung der formellen Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 StPO aufzugeben, auch wenn mit der Berichtigung der Sitzungsniederschrift einer bereits zugunsten des Angeklagten erhobenen Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird. Dies ist im Gegensatz zur Unzulässigkeit einer unwahren Verfahrensrüge der einzige zweifelsfrei mit der formellen Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 StPO zu vereinbarende Weg, um einer derartigen Rüge den Erfolg zu verwehren (vgl. G. Schäfer aaO 727).

V.


39
Der Senat fragt deshalb bei den anderen Senaten an, ob entgegenstehende Rechtsprechung aufgegeben wird. Nack Schluckebier Kolz Hebenstreit Graf

Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

(1) Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache. Der Vorsitzende stellt fest, ob der Angeklagte und der Verteidiger anwesend und die Beweismittel herbeigeschafft, insbesondere die geladenen Zeugen und Sachverständigen erschienen sind.

(2) Die Zeugen verlassen den Sitzungssaal. Der Vorsitzende vernimmt den Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse.

(3) Darauf verliest der Staatsanwalt den Anklagesatz. Dabei legt er in den Fällen des § 207 Abs. 3 die neue Anklageschrift zugrunde. In den Fällen des § 207 Abs. 2 Nr. 3 trägt der Staatsanwalt den Anklagesatz mit der dem Eröffnungsbeschluß zugrunde liegenden rechtlichen Würdigung vor; außerdem kann er seine abweichende Rechtsauffassung äußern. In den Fällen des § 207 Abs. 2 Nr. 4 berücksichtigt er die Änderungen, die das Gericht bei der Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung beschlossen hat.

(4) Der Vorsitzende teilt mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Diese Pflicht gilt auch im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung, soweit sich Änderungen gegenüber der Mitteilung zu Beginn der Hauptverhandlung ergeben haben.

(5) Sodann wird der Angeklagte darauf hingewiesen, daß es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Ist der Angeklagte zur Äußerung bereit, so wird er nach Maßgabe des § 136 Abs. 2 zur Sache vernommen. Auf Antrag erhält der Verteidiger in besonders umfangreichen erstinstanzlichen Verfahren vor dem Land- oder Oberlandesgericht, in denen die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird, Gelegenheit, vor der Vernehmung des Angeklagten für diesen eine Erklärung zur Anklage abzugeben, die den Schlussvortrag nicht vorwegnehmen darf. Der Vorsitzende kann dem Verteidiger aufgeben, die weitere Erklärung schriftlich einzureichen, wenn ansonsten der Verfahrensablauf erheblich verzögert würde; § 249 Absatz 2 Satz 1 gilt entsprechend. Vorstrafen des Angeklagten sollen nur insoweit festgestellt werden, als sie für die Entscheidung von Bedeutung sind. Wann sie festgestellt werden, bestimmt der Vorsitzende.

(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.

(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.

(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.

(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.

(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.

(1) Das Protokoll muß den Gang und die Ergebnisse der Hauptverhandlung im wesentlichen wiedergeben und die Beachtung aller wesentlichen Förmlichkeiten ersichtlich machen, auch die Bezeichnung der verlesenen Urkunden oder derjenigen, von deren Verlesung nach § 249 Abs. 2 abgesehen worden ist, sowie die im Laufe der Verhandlung gestellten Anträge, die ergangenen Entscheidungen und die Urteilsformel enthalten. In das Protokoll muss auch der wesentliche Ablauf und Inhalt einer Erörterung nach § 257b aufgenommen werden.

(1a) Das Protokoll muss auch den wesentlichen Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung nach § 257c wiedergeben. Gleiches gilt für die Beachtung der in § 243 Absatz 4, § 257c Absatz 4 Satz 4 und Absatz 5 vorgeschriebenen Mitteilungen und Belehrungen. Hat eine Verständigung nicht stattgefunden, ist auch dies im Protokoll zu vermerken.

(2) Aus der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht sind außerdem die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen; dies gilt nicht, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel verzichten oder innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt wird. Der Vorsitzende kann anordnen, dass anstelle der Aufnahme der wesentlichen Vernehmungsergebnisse in das Protokoll einzelne Vernehmungen im Zusammenhang als Tonaufzeichnung zur Akte genommen werden. § 58a Abs. 2 Satz 1 und 3 bis 6 gilt entsprechend.

(3) Kommt es auf die Feststellung eines Vorgangs in der Hauptverhandlung oder des Wortlauts einer Aussage oder einer Äußerung an, so hat der Vorsitzende von Amts wegen oder auf Antrag einer an der Verhandlung beteiligten Person die vollständige Protokollierung und Verlesung anzuordnen. Lehnt der Vorsitzende die Anordnung ab, so entscheidet auf Antrag einer an der Verhandlung beteiligten Person das Gericht. In dem Protokoll ist zu vermerken, daß die Verlesung geschehen und die Genehmigung erfolgt ist oder welche Einwendungen erhoben worden sind.

(4) Bevor das Protokoll fertiggestellt ist, darf das Urteil nicht zugestellt werden.

Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 99/01
vom
30. Mai 2001
in der Strafsache
gegen
wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 30. Mai 2001 beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten Ö. wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 19. September 2000 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben, soweit es ihn betrifft. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten dieses Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


Die Revision des Angeklagten Ö. hat mit der Rüge der Verletzung des § 258 Abs. 2, 3 StPO Erfolg.
Ausweislich der Sitzungsniederschrift hat das Landgericht nach den Schlußvorträgen der Staatsanwaltschaft und der Verteidiger dem Angeklagten nicht das letzte Wort erteilt. Auf die dienstlichen Ä ußerungen des Vorsitzenden , der Protokollführerin, der Beisitzerin und die Erklärung des Verteidigers des Mitangeklagten, wonach dem Angeklagten das letzte Wort erteilt worden ist, kommt es nicht an. Die Erteilung des letzten Wortes ist ein Verfahrensvorgang , der als wesentliche Förmlichkeit nach § 274 Abs. 1 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (vgl. BGHSt 22, 278, 280). Daß damit dem
Revisionsgericht zugemutet wird, ersichtlich unzutreffende Tatsachen rechtlich zu bewerten und ein sonst nicht zu beanstandendes Urteil aufheben zu müssen , vermag nicht zu befriedigen; der in § 274 StPO festgeschriebene Grundsatz der absoluten Beweiskraft des Protokolls könnte aber nur durch eine Gesetzesänderung aufgegeben werden (G. Schäfer in FS 50 Jahre BGH S. 707, 727 f.).
Auf diesem damit erwiesenen Verfahrensfehler kann das Urteil beruhen. Der Angeklagte hat sich zwar in der Hauptverhandlung nicht eingelassen, es ist aber nicht auszuschließen, daß er sich nach Erteilung des letzten Wortes noch geäußert hätte (vgl. BGHR StPO § 258 Abs. 3 Letztes Wort 1 und Wiedereintritt 1, 6).
Schäfer Nack Schluckebier
Kolz Schaal

Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen seinen diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

(1) Unrichtigkeiten des Protokolls können jederzeit berichtigt werden.

(2) Vor der Berichtigung sind die Parteien und, soweit es die in § 160 Abs. 3 Nr. 4 genannten Feststellungen betrifft, auch die anderen Beteiligten zu hören.

(3) Die Berichtigung wird auf dem Protokoll vermerkt; dabei kann auf eine mit dem Protokoll zu verbindende Anlage verwiesen werden. Der Vermerk ist von dem Richter, der das Protokoll unterschrieben hat, oder von dem allein tätig gewesenen Richter, selbst wenn dieser an der Unterschrift verhindert war, und von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, soweit er zur Protokollführung zugezogen war, zu unterschreiben.

(4) Erfolgt der Berichtigungsvermerk in der Form des § 130b, ist er in einem gesonderten elektronischen Dokument festzuhalten. Das Dokument ist mit dem Protokoll untrennbar zu verbinden.

(1) Ist das Urteil mit den Gründen nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen worden, so ist es unverzüglich zu den Akten zu bringen. Dies muß spätestens fünf Wochen nach der Verkündung geschehen; diese Frist verlängert sich, wenn die Hauptverhandlung länger als drei Tage gedauert hat, um zwei Wochen, und wenn die Hauptverhandlung länger als zehn Tage gedauert hat, für jeden begonnenen Abschnitt von zehn Hauptverhandlungstagen um weitere zwei Wochen. Nach Ablauf der Frist dürfen die Urteilsgründe nicht mehr geändert werden. Die Frist darf nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert worden ist. Der Zeitpunkt, zu dem das Urteil zu den Akten gebracht ist, und der Zeitpunkt einer Änderung der Gründe müssen aktenkundig sein.

(2) Das Urteil ist von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterschreiben. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies unter der Angabe des Verhinderungsgrundes von dem Vorsitzenden und bei dessen Verhinderung von dem ältesten beisitzenden Richter unter dem Urteil vermerkt. Der Unterschrift der Schöffen bedarf es nicht.

(3) Die Bezeichnung des Tages der Sitzung sowie die Namen der Richter, der Schöffen, des Beamten der Staatsanwaltschaft, des Verteidigers und des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, die an der Sitzung teilgenommen haben, sind in das Urteil aufzunehmen.

(4) (weggefallen)