Bundesgerichtshof Beschluss, 22. Mai 2017 - 1 StR 163/17
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 22. Mai 2017 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
Gründe:
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- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer anderweitigen rechtskräftigen Freiheitsstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision, die in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg hat.
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- 1. Aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend aufgezeigten Gründen bleibt der Angriff der Revision auf den Schuldspruch erfolglos.
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- 2. Jedoch kann der Rechtsfolgenausspruch schon auf die Sachrüge hin keinen Bestand haben.
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- a) Das sachverständig beratene Landgericht hat keinen Hang im Sinne des § 64 StGB festgestellt und deswegen die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt. Hierfür hat es darauf abgestellt, dass die Sachverständige bei dem Angeklagten kein Abhängigkeitssyndrom zu diagnostizieren vermochte, da weder Entzugssymptome dokumentiert, noch Organschäden erkennbar seien. Da aber im Einklang mit den vom Angeklagten geschilderten Trinkgewohnheiten eine gewisse Toleranzentwicklung erkennbar sei, liege ein schädlicher Gebrauch von Alkohol vor. An einem Hang fehle es dennoch, da „die Zeit des problematischen – allein auf den Angaben des Ange- klagten beruhenden – Alkoholkonsums vergleichsweise kurz gewesen sei und eine klinische Vorgeschichte unabhängig von strafrechtlichen Bezügen fehle“. Die Einengung der Interessen des Angeklagten auf den Alkoholkonsum sei zudem noch nicht soweit ausgeprägt, dass von einer eingewurzelten intensiven Neigung gesprochen werden könne. Zwar sei die berufliche Leistungsfähigkeit des Angeklagten „möglicherweise beeinträchtigt“, sein soziales Umfeld sei aber durch den Alkoholkonsum jedenfalls nicht wesentlich beeinträchtigt gewesen, da er zu Hause keinen Alkohol getrunken habe. Auch gebe es keine Anzeichen einer Verwahrlosung oder eines Kontrollverlustes über den Konsum, er habe vielmehr immer wieder kurzzeitig auf Alkohol verzichten können.
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- b) Diese Ausführungen lassen – wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat – besorgen, dass das Landgericht rechtsfehlerhaft von einem zu engen Verständnis des Hanges im Sinne des § 64 StGB ausgegangen ist und enthalten keine hinreichende und widerspruchsfreie Abwägung aller maßgeblichen Umstände zur Beurteilung des Vorliegens eines Hanges. Hierfür ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln im Sinne des § 64 StGB ist jedenfalls dann gegeben , wenn der Betreffende auf Grund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juni 2016 – 1StR 219/16, NStZ-RR 2017, 7; Urteil vom 15. Mai 2014 – 3 StR 386/13, NStZ-RR 2014, 271).
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- Hieran gemessen begegnen die Ausführungen des Landgerichts durchgreifenden Bedenken. Denn es fehlt eine nachvollziehbare Auseinandersetzung mit dem Trinkverhalten des Angeklagten und der sich hieraus für ihn ergebenden Konsequenzen. Hierzu hätte über den – für sich genommen zudem unklaren und mit den Feststellungen in einem gewissen Spannungsverhältnis stehenden – Hinweis auf die vergleichsweise kurze Zeit des problematischen Konsums wegen folgender Umstände Anlass bestanden:
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- So steigerte der Angeklagte ausweislich der Feststellungen bereits knapp zwei Jahre vor der Tat seinen schon etliche Jahre andauernden regelmäßigen Alkoholkonsum weiter. Infolge seines Trinkverhaltens ließ er sich mehrfach krankschreiben und blieb unentschuldigt seinem Ausbildungsplatz fern, was zu einer Kündigung wegen unentschuldigter Fehlzeiten führte. Nach dieser Kündigung steigerte sich der Alkoholkonsum erneut. Ende September 2015, also etwa ein halbes Jahr vor der Tat, beging der deutlich alkoholisierte Angeklagte eine gefährliche Körperverletzung. Auch den folgenden Arbeitsplatz verlor er wenige Wochen vor der hiesigen Tat ebenfalls wegen unentschuldigter und verspätet angezeigter Fehlzeiten. Diese Fehlzeiten gingen darauf zurück, dass der Angeklagte wegen des nächtlichen Alkoholkonsums und dem damit einhergehenden Freizeitverhalten Schwierigkeiten mit dem Aufstehen hatte. Schließlich wies der Angeklagte etwa zwei Stunden nach der Tat eine Blutalkoholkonzentration von 2,12 Promille auf.
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- Die Ausführungen zu „jedenfalls nicht wesentlich beeinträchtigt[en]“ Be- ziehungen zum sozialen Umfeld und zu seiner Fähigkeit zum kurzzeitigen Verzicht lassen vor diesem Hintergrund zudem besorgen, dass das Landgericht von einem zu engen Maßstab für die Annahme des Hanges ausgegangen ist. So kann dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum bereits die Gesundheit , Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betreffenden erheblich beeinträchtigt ist, zwar indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hanges zukommen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Oktober 2015 – 1 StR 415/15 und vom 1. April 2008 – 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198). Wenngleich solche Beeinträchtigungen in der Regel mit übermäßigem Rauschmittelkonsum einhergehen werden, schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Annahme eines Hanges aus (BGH, Beschluss vom 2. April 2015 – 3 StR 103/15; Urteil vom 15. Mai 2014 – 3 StR 386/13, NStZ-RR 2014, 271). Dies gilt umso mehr, als hier das Landgericht von einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit ausgegangen ist, diese trotz zweimaligen Arbeitsplatzverlustes aber nicht als gewichtig genug eingestuft hat. Ebenso wenig steht die Tatsache, dass ein Angeklagter kurzzeitig in der Lage war, seinen Rauschmittelkonsum zu verringern oder einzustellen, dem Vorliegen eines Hanges entgegen (BGH, Urteil vom 15. Mai 2014 – 3 StR 386/13, NStZ-RR 2014, 271 und Beschluss vom 20. Dezember 2011 – 3 StR 421/11, NStZ-RR 2012, 204; vgl. auch Fischer, StGB, 64. Aufl., § 64 Rn. 7a).
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- c) Da auch die übrigen Voraussetzungen zur Anordnung der Maßregel des § 64 StGB nicht fernliegen, konnte die Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt keinen Bestand haben. Dass nur der die Nichtanwendung des § 64 StGB ausdrücklich als rechtsfehlerhaft beanstandende Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert eine Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO).
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- d) Ausnahmsweise kann vorliegend nicht ausgeschlossen werden, dass der Rechtsfehler sich auf den Strafausspruch ausgewirkt hat. Der Generalbundesanwalt hat hierzu ausgeführt:
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- „Die rechtsfehlerhaften Ausführungen zum Hang berühren auch den Strafausspruch, da das Landgericht maßgeblich aufgrund der selbstverschuldeten Alkoholintoxikation von einer Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB abgesehen hat …“.
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- Dem kann sich der Senat letztlich nicht verschließen. Zwar wird in der Regel auszuschließen sein, dass das Tatgericht bei Anordnung der Unterbringung auf eine geringere Freiheitsstrafe erkannt hätte (vgl. hierzu BGH,Urteile vom 15. März 2016 – 1 StR 526/15 Rn. 28, StV 2017, 29 und vom 28. April 2014 – 1 StR 594/14 Rn. 23). Hier besteht aber eine vom Landgericht durch einen Verweis hergestellte Verknüpfung zwischen den vom Rechtsfehler behafteten Ausführungen zum Vorliegen eines Hanges und der Strafrahmenwahl. Denn das Landgericht hat trotz Vorliegens einer alkoholbedingten erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit von der Möglichkeit der Strafrahmenverschiebung keinen Gebrauch gemacht. Hierfür hat es – auf dem Boden der aktuellen Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteil vom 17. August 2004 – 5 StR 93/04, BGHSt 49, 239) – darauf abgestellt, dass es für den Angeklagten voraussehbar war, dass sich sein Risiko der Begehung von Gewaltstraftaten unter Alkoholkonsum erhöht und er sich „uneingeschränkt vorwerfbar“ betrun- ken hat. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Ausführungen zum Hang hat es ausgeschlossen, dass der Angeklagte „alkoholkrank war oder aufgrund eines unwiderstehlichen oder ihn weit beherrschenden Hangs trank“. Graf Jäger Bellay Cirener Radtke
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.
(1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
(2) Das angefochtene Urteil darf in Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden, wenn lediglich der Angeklagte, zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder sein gesetzlicher Vertreter Revision eingelegt hat. Wird die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben, hindert diese Vorschrift nicht, an Stelle der Unterbringung eine Strafe zu verhängen. Satz 1 steht auch nicht der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt entgegen.
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes:
- 1.
An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren. - 2.
Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze. - 3.
Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt sich im Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf zwei Jahre, im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei Jahren auf sechs Monate, im Falle eines Mindestmaßes von einem Jahr auf drei Monate, im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß.
(2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen.