Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 02. Juli 2019 - L 15 VJ 4/16
vorgehend
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 4. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 04.10.2016 sowie den Bescheid vom 26.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.09.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 16.02.2009 zurückzunehmen und bei der Klägerin die Gesundheitsstörungen Taubheit und Gleichgewichtsstörungen als Impfschaden anzuerkennen und ihr ab 01.01.2005 Versorgung in Form einer Beschädigtenrente zu gewähren.
die Berufung zurückzuweisen.
Gründe
ra.de-Urteilsbesprechung zu Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 02. Juli 2019 - L 15 VJ 4/16
Urteilsbesprechung schreiben0 Urteilsbesprechungen zu Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 02. Juli 2019 - L 15 VJ 4/16
Referenzen - Gesetze
Referenzen - Urteile
Urteil einreichenBayerisches Landessozialgericht Urteil, 02. Juli 2019 - L 15 VJ 4/16 zitiert oder wird zitiert von 12 Urteil(en).
Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.
(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes
- 1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder - 2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.
(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.
(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.
(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.
(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.
(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.
(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.
(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
- 1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, - 1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde, - 2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, - 3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder - 4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte
- 1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte, - 2.
von einem Arzt geimpft worden ist und - 3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.
(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer
- 1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945, - 2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung, - 3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder - 4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.
(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.
(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.
(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.
(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.
(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
Tenor
-
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit sie die Gewährung von Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend der Klägerin betrifft.
-
Die zweitinstanzlich erhobene Klage betreffend Folgen körperlicher Misshandlung wird abgewiesen.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
- 2
-
Die 1949 geborene Klägerin lebte bis 1962 bei ihrer Mutter und deren zweiten Ehemann H. Stiefvater). Der Vater der Klägerin hatte sich kurz nach der Geburt der Klägerin von deren Mutter getrennt. Gegen den Stiefvater wurde offenbar aufgrund des Verdachts, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben, ein Ermittlungsverfahren durchgeführt. Nach dem Tod des Stiefvaters im März 1962 wurde die Klägerin vom Jugendamt aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen und ihrem Vater, der wieder geheiratet hatte, zugeführt.
- 3
-
Im Mai 1967 erstattete die Klägerin gegen ihren Vater eine Strafanzeige. Dieser habe sie im vergangenen halben Jahr immer wieder unzüchtig berührt. Der Vater wurde offenbar verhaftet und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Klägerin zunächst dem Jugendamt der Stadt K. und ab August 1967 der Evangelischen Jugendhilfe des Amtes für Diakonie K. übertragen. Bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres arbeitete die Klägerin in der Heimküche eines Altersheims, wo sie anscheinend auch wohnte. Nach dem späteren Erwerb des Hauptschulabschlusses und verschiedenen Erwerbstätigkeiten heiratete die Klägerin im Jahre 1976 und gebar zwischen 1977 und 1981 drei Kinder.
- 4
-
Anlässlich einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der P.-Klinik B. im Jahr 2000 wurde bei der Klägerin neben einer mittelgradigen depressiven Episode erstmals eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Im Anschluss an diese Maßnahme nahm die Klägerin eine ambulante Psychotherapie bei der psychologischen Psychotherapeutin S. auf. Diese äußerte den Verdacht einer dissoziativen Identitätsstörung die im Jahr 2002 durch die Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. bestätigt wurde.
- 5
-
Im Mai 2005 beantragte die Klägerin beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Gewaltopferentschädigung, weil sie in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und von ihrem Vater sexuell belästigt worden sei. Zur Begründung legte sie das Ergebnis ihrer Recherchen sowie Unterlagen vor, die sie unter Mitwirkung ihrer Therapeutin zusammengetragen hatte. Von dort wurde die Angelegenheit im Juni 2005 wegen des angegebenen Tatorts in K. zuständigkeitshalber an das Versorgungsamt M. abgegeben. Dieses Amt holte einen Befundbericht der Psychotherapeutin S. sowie Berichte der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. ein. Zudem befragte das Amt schriftlich Frau C., die in der Zeit von 1969 bis 1972 als Sozialarbeiterin im Amt für Diakonie tätig und kurze Zeit mit der Pflegschaft der Klägerin befasst war. Ferner zog es die von der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe K. eV archivierte Akte der Klägerin über die Pflegschaft der Klägerin sowie die Schwerbehindertenakte des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie bei, das mit Bescheid vom 30.8.2005 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 wegen einer psychischen Behinderung ab Mai 2005 festgestellt hatte.
- 6
-
Mit Bescheid vom 3.1.2006 des Versorgungsamts M. in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 17.7.2006 wurde der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 OEG geworden sei. Weder der sexuelle Missbrauch durch den Stiefvater noch die sexuelle Belästigung durch den leiblichen Vater seien nachgewiesen. Selbst unter Heranziehung der Beweiserleichterung des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sei ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin nicht anzunehmen.
- 7
-
Das von der Klägerin daraufhin angerufene Sozialgericht Lüneburg (SG) hat von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. F. ein im Juli 2007 erstattetes nervenärztliches Gutachten mit einem unter Mithilfe des psychologischen Psychotherapeuten Dr. B. erstellten testpsychologischen Zusatzgutachten eingeholt. Der Sachverständige diagnostizierte eine dissoziative Identitätsstörung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH. Er vertrat die Auffassung, dass aufgrund des eindeutigen Vorliegens einer dissoziativen Identitätsstörung nach herrschender wissenschaftlicher Lehre ein frühkindlicher sexueller Missbrauch als Ursache für die Störung anzunehmen sei.
- 8
-
Mit Urteil vom 8.11.2007 hat das SG die noch gegen das Land Nordrhein-Westfalen gerichtete Klage abgewiesen, weil nicht im Sinne des notwendigen Vollbeweises feststellbar sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Auch unter Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG sei nicht anzunehmen, dass ein derartiger Angriff auf die Klägerin in ihrer Kindheit stattgefunden habe, weil von einer Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin nicht ausgegangen werden könne. Schließlich sei der vom Sachverständigen gezogene Rückschluss von der vorliegenden Erkrankung auf deren Ursache nicht zulässig.
- 9
-
Das von der Klägerin mit der Berufung angerufene Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat weitere medizinische Unterlagen eingeholt, ua den Rehabilitations-Entlassungsbericht der P.-Klinik B. vom 26.7.2000 sowie das für die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover in einem Rentenverfahren erstellte Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. T. vom 18.1.2005. Außerdem hat sich das LSG von der Dipl. Psychologin D. ein Glaubhaftigkeitsgutachten vom 19.4.2011 über die Klägerin erstatten lassen. Danach ist die Aussage der Klägerin bezüglich des dargelegten Missbrauchs durch den Stiefvater (1961 bis 1962) und den Vater (1963 bis 1967) nicht glaubhaft. Zwar liege keine bewusste Falschaussage vor, es bestünden aber Hinweise, dass die Angaben der Klägerin sich erst unter suggestiven Bedingungen entwickelt hätten.
- 10
-
Mit Urteil vom 16.9.2011 hat das LSG die zuletzt gegen den beklagten Landschaftsverband gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Seine Entscheidung hat es auf folgende Erwägungen gestützt:
Das Gericht sehe sich nicht in der Lage, einen sexuellen Missbrauch der Klägerin durch deren Stiefvater und/oder eine sexuelle Belästigung durch deren leiblichen Vater und damit einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG anzunehmen. Der von der Klägerin behauptete sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung sei zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Unmittelbare Tatzeugen seien nicht vorhanden. Stiefvater, Mutter und Vater der Klägerin seien bereits verstorben. Urkunden, wie etwa staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten etc, seien nicht mehr vorhanden. Andere Beweismittel, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten, seien nicht ersichtlich. Der sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung könne auch nicht aus der medizinischen Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung gefolgert werden.
Schließlich lasse sich ein sexueller Missbrauch bzw eine sexuelle Belästigung auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 KOVVfG annehmen. Zwar komme die Beweiserleichterung (Glaubhaftmachung) zugunsten der Klägerin zur Anwendung, weil es weder Zeugen noch sonstige zum Beweis geeignete Unterlagen zu den von der Klägerin behaupteten Taten gebe. Die entsprechenden Behauptungen der Klägerin seien jedoch nicht glaubhaft. Dies ergebe sich zum einen aus dem eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. und zum anderen auch aus eigenen Erwägungen des Senats zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin. Ein Anspruch auf Opferentschädigung ergebe sich aus im Wesentlichen gleichen Überlegungen auch nicht aus der Behauptung der Klägerin, von ihrem Vater einmal krankenhausreif geschlagen worden zu sein.
- 11
-
Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der Anspruch der Klägerin "wahrscheinlich" auch an den Voraussetzungen des § 10a OEG scheitern würde. Für Taten in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 könnten die Opfer nur dann Entschädigung nach dem OEG erhalten, wenn sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt seien, also ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 50 vorliege. Nach dem Schwerbehindertenrecht sei indes nur ein GdB von 30 anerkannt. Dem Gutachten des Dr. F. sei nicht zu folgen, weil er keinerlei Begründung dafür gegeben habe, dass die "MdE 50" betrage. Im Ergebnis könne dies jedoch dahinstehen.
- 12
-
Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Soweit das LSG davon ausgehe, dass keine Beweismittel mehr vorhanden seien, sei § 103 SGG verletzt. Sie, die Klägerin, habe dem LSG gegenüber die Vernehmung ihrer Halbschwester als Zeitzeugin angeboten. Soweit das LSG sage, dass aus der Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung nicht auf deren Ursache rückgeschlossen werden könne, stehe dies im Widerspruch zu der Aussage des erstinstanzlich eingeholten ärztlichen Gutachtens. Zudem sei nach der Entscheidung des BSG vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92 - ein derartiger Rückschluss durchaus ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft die geltend gemachte Belastung allgemein für geeignet halte, bestimmte Krankheiten hervorzurufen. Nach dem Gutachten des Dr. F. sei nach heute herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung ein entsprechender Rückschluss hier möglich.
- 13
-
Im Hinblick auf das zweitinstanzlich eingeholte aussagepsychologische Gutachten sei bisher ungeklärt, ob ein derartiges Gutachten überhaupt "die Entscheidung des Gerichts ersetzen darf". Bezüglich der vom LSG als eigene Erwägungen bezeichneten Gründe zur fehlenden Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen (fehlende Aussagekonstanz) habe das LSG nicht beachtet, dass sie an einer dissoziativen Identitätsstörung leide.
- 14
-
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 sowie des Sozialgerichts Lüneburg vom 8. November 2007 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2006 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter sowie einer schweren körperlichen Misshandlung Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
- 15
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
- 16
-
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
- 17
-
Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
- 18
-
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
- 19
-
Die Revision der Klägerin ist zulässig.
- 20
-
Sie ist vom BSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf zahlreiche schädigende Vorgänge stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9 V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in zwei Gruppen zusammenzufassen, nämlich einen über Jahre andauernden sexuellen Missbrauch und eine körperliche Misshandlung.
- 21
-
Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs rügt die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG, weil das Gericht ihre Halbschwester nicht als Zeitzeugin vernommen habe. Als weitere Verletzung der Sachaufklärungspflicht betrachtet die Klägerin die Einholung und Verwertung eines aussagepsychologischen Gutachtens durch das LSG, und zwar auch in Bezug auf die behauptete einmalige schwere körperliche Misshandlung durch ihren Vater. Als Verletzung der Sachaufklärungspflicht und Überschreitung der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung rügt die Klägerin, dass das LSG entgegen dem erstinstanzlich eingeholten psychiatrischen Gutachten nicht davon ausgegangen sei, dass aus der Art ihrer jetzigen Erkrankung auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend rückgeschlossen werden könne. Die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung habe das LSG auch im Rahmen von ihm so bezeichneter eigener Erwägungen überschritten. Insgesamt rügt die Klägerin zusätzlich eine Verletzung des materiellen Beweisrechts, weil sich das LSG bei Anwendung des § 15 KOVVfG nicht an die danach geltenden Grundsätze der Glaubhaftmachung gehalten habe.
- 22
-
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter betrifft. Hinsichtlich geltend gemachter Folgen einer schweren körperlichen Misshandlung durch den Vater führt die Revision insoweit zu einer Änderung des Urteils des LSG, als die darauf bezogene zweitinstanzlich erhobene Klage abgewiesen wird.
- 23
-
Stillschweigend aber zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Berufungsverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat.
- 24
-
Obwohl auch der Revisionsantrag der Klägerin auf die Bewilligung einer "Opferentschädigung" gerichtet ist, legt der Senat den erhobenen Anspruch im wohlverstandenen Interesse der Klägerin dahin aus, dass diese die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt (vgl § 123 SGG). Der wörtlich gestellte Leistungsantrag wäre nämlich unzulässig. Zwar kann im sozialgerichtlichen Verfahren die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG auf jede nach dem materiellen Recht vorgesehene Leistung gerichtet werden. Die beanspruchte Leistung muss indes genau bezeichnet werden (BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 5). Der Begriff Opferentschädigung betrifft aber keine bestimmte Leistung, sondern umfasst alle nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl § 1 Abs 1 OEG iVm § 9 BVG). Selbst wenn nach den Umständen des Falles als "Opferentschädigung" nur Geldleistungen in Betracht kämen, kann nach der Rechtsprechung des Senats ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 SGG sein(Urteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - USK 99140 S 816 f; Urteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).
- 25
-
Soweit das LSG erstmals über einen Anspruch der Klägerin nach dem OEG/BVG wegen der Folgen einer einmaligen schweren körperlichen Misshandlung durch ihren Vater entschieden hat, handelt es sich um eine Entscheidung über eine erst im Laufe des Berufungsverfahrens erhobene Klage. Diese Klage ist schon deshalb unzulässig, weil über den Anspruch insoweit noch keine Verwaltungsentscheidung vorliegt. Das LSG hat sich mit diesem Streitpunkt nicht gesondert befasst. Insoweit ist das Urteil des LSG klarstellend dahin abzuändern, dass diese Klage abgewiesen wird.
- 26
-
Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:
Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
- 27
-
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
- 28
-
Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).
- 29
-
In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das BSG bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).
- 30
-
Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.
- 31
-
Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).
- 32
-
Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).
- 33
-
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
- 34
-
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).
- 35
-
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
- 36
-
Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).
- 37
-
Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Entgegen der bisherigen Diktion auch des LSG ist nicht zwischen einem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und einer sexuellen Belästigung durch den Vater zu unterscheiden, sondern einheitlich von einem sexuellen Missbrauch zu sprechen. Denn strafrechtlich wird so nicht differenziert. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Personen unter vierzehn Jahren) setzt § 176 StGB "sexuelle Handlungen" voraus. Ebenso stellt § 177 StGB betreffend andere Personen "sexuelle Handlungen" unter Strafe. Als solche werden alle Einwirkungen auf ein Kind oder eine über vierzehn Jahre alte Person verstanden, die mit sexuell bezogenem Körperkontakt einhergehen (s nur Fischer, StGB, 59. Aufl 2012, § 177 RdNr 49), sodass darunter auch die bisher als sexuelle Belästigung bezeichneten Handlungen des Vaters der Klägerin fallen. Die von der Klägerin ihrem Stiefvater und ihrem Vater zur Last gelegten schädigenden Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.
- 38
-
Den behaupteten sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und später durch den Vater der Klägerin hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.
- 39
-
Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).
- 40
-
Diesen Kriterien hat das LSG zwar Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG angenommen hat. Der Anwendung dieser Vorschrift steht hier auch nicht der Umstand entgegen, dass das LSG verpflichtet war, die von der Klägerin benannte Zeugin R. zu vernehmen, denn diese ist nicht als Tatzeugin, sondern als Zeitzeugin benannt worden. Die Verpflichtung zu ihrer Vernehmung folgt indes aus § 103 SGG, denn ausgehend von seiner materiellen Rechtsansicht zur Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG hätte sich das LSG zu deren Vernehmung gedrängt fühlen müssen. Die Angaben der Zeugin R. sind nämlich von erheblicher Relevanz im Rahmen der Prüfung einer Glaubhaftmachung des sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Stiefvater H. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG über ein Ermittlungsverfahren gegen H. wegen eines sexuellen Missbrauchs seiner eigenen Tochter könnte es sich bei der Zeugin um die Tochter des H. handeln, die möglicherweise selbst von diesem sexuell missbraucht worden ist. Ihren Angaben kann somit auch hinsichtlich des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch H. erhebliche Bedeutung zukommen.
- 41
-
Obwohl das LSG den § 15 S 1 KOVVfG herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.
- 42
-
Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.
- 43
-
Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sog Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9
= Juris RdNr 22) . Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9= Juris RdNr 20, 23) .
- 44
-
Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.
- 45
-
Aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 (- L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25) ergeben sich keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25 aE). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.
- 46
-
Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht: Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):
Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.
- 47
-
Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).
- 48
-
Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).
- 49
-
Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.
- 50
-
Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.
- 51
-
Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).
- 52
-
Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.
- 53
-
Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).
- 54
-
Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.
- 55
-
Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.
- 56
-
Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/ Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.
- 57
-
Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.
- 58
-
Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom LSG zu den Fragen eingeholt worden:
- 59
-
Ist die Aussage der Klägerin bezüglich der dargelegten schädigenden Ereignisse (Missbrauch durch den Stiefvater H. 1961 - 1962; Missbrauch durch den Vater 1963 - 1967) glaubhaft? Wenn ja, auf welchen aussagepsychologischen Kriterien beruht die Glaubhaftigkeit zu den unmittelbaren schädigenden Ereignissen? Wenn nein, nach welchen aussagepsychologischen Kriterien ist die Glaubhaftigkeit für die unmittelbaren schädigenden Ereignisse nicht erreicht oder auszuweisen?
- 60
-
Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen D. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in dem Abschnitt 3 ("Methodik der Begutachtung und Hypothesenbildung") festgestellt, dass es sich bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung um einen Hypothesen geleiteten Prüfprozess handele ("Wahrheits-Hypothese" und "Unwahr-Hypothese"). Dabei hat die Sachverständige auf Veröffentlichungen von Volbert (Beurteilung von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung - Forensisch-psychologische Praxis 2004 und Volbert/Steller, Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, 2004) hingewiesen (S 15 f des Gutachtens).
- 61
-
Da das Berufungsurteil mithin bei der Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.
- 62
-
Auf dieser nicht tragfähigen Tatsachenwürdigung beruht die Entscheidung des LSG. Das gilt auch in Anbetracht des Umstandes, dass das LSG seine Auffassung von der fehlenden "Glaubhaftigkeit" der Behauptungen der Klägerin zusätzlich auf eigene Erwägungen gestützt hat. Denn diese Erwägungen tragen die Entscheidung des LSG nicht allein. Vielmehr hat das LSG diese Ausführungen nur ergänzend gemacht ("nicht nur auf das Glaubhaftigkeitsgutachten, sondern auch auf eigene Erwägungen"), sodass das Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. nach der Diktion des LSG für dessen Tatsachenwürdigung maßgebend ist.
- 63
-
Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).
- 64
-
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Tenor
-
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 29. Januar 2015 wird zurückgewiesen.
-
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
- 2
-
Die 1949 geborene Klägerin wuchs im heutigen Land Sachsen auf. Im März 1991 und im Jahr 1992 berichtete sie gegenüber Ärzten von Misshandlungen im Stasigewahrsam. Im Oktober 1997 erstattete die Klägerin Strafanzeige wegen sexueller Nötigung in der Zeit vom 9.1989 durch ihren damaligen Vorgesetzten. Die zuständige Staatsanwaltschaft Dresden stellte das Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs 2 Strafprozessordnung ein, die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb erfolglos.
- 3
-
Im Juni 1999 beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt B. eine Versorgung nach dem OEG wegen "Folter, Misshandlung und Vergewaltigung" im K.-Gefängnis in K. während eines Aufenthaltes in der Zeit vom 9.1989 durch ihren damaligen Vorgesetzten und andere unbekannte Täter. An Schädigungsfolgen seien ua psychosomatische Folgen und Zahnverlust eingetreten. Das Versorgungsamt B. lehnte Ansprüche nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) ab; das zuständige Versorgungsamt C. lehnte sodann den OEG-Antrag der Klägerin ab (Bescheid vom 22.4.2003; Widerspruchsbescheid vom 12.1.2004).
- 4
-
Im anschließenden Klageverfahren hat das SG ua eine Begutachtung der Klägerin durch die Psychiaterin und Neurologin Dr. S. veranlasst. Die Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die Erlebnisse, welche die Klägerin in der Haft habe erleben müssen, so schwerwiegend gewesen seien, dass sie bei den vorliegenden Vorbelastungen (angegebener sexueller Missbrauch in der Kindheit durch einen Großonkel) die andauernde Persönlichkeitsveränderung der Klägerin mit verursacht oder sogar allein ausgelöst hätten (Gutachten vom 12.12.2007). Das SG hat ferner Beweis erhoben durch Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens (sog Glaubhaftigkeitsgutachten)der psychologischen Psychotherapeutin Dipl.-Psych. Sch. Diese erklärte, dass die behauptete Aussage der Klägerin mit Hilfe der aussagepsychologischen Methodik nicht verifiziert werden könne. Es zeigten sich Mängel im Hinblick auf die Konstanz der Aussage der Klägerin und Hinweise auf fremd- und autosuggestive Einflüsse. Weder die Täuschungs- noch die Suggestionshypothese könne zurückgewiesen werden (Gutachten vom 12.5.2010). Auf Antrag der Klägerin hat das SG schließlich eine Begutachtung der Klägerin durch den Psychiater und Neurologen Dr. St. veranlasst. Dieser erklärte im Wesentlichen, dass eine suggestive Beeinflussung der Erinnerungen der Klägerin nicht ausgeschlossen werden könne, sondern angesichts der Persönlichkeit der Klägerin und der Befragungsumstände als sehr wahrscheinlich anzunehmen sei. Die Klägerin könne die Angaben über die Stasihaft und die dort erlittenen Vergewaltigungen und Misshandlungen - wie auch die Angaben zum sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit - in dieser Form auch ohne einen Erlebnisbezug berichten (Gutachten vom 31.12.2012).
- 5
-
Das SG hat die seit 1.8.2008 gegen den beklagten Sozialverband als Funktionsnachfolger gerichtete Klage abgewiesen, weil es der Klägerin nicht gelungen sei, glaubhaft zu machen, dass sie Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG geworden sei. Aus den Gutachten der Sachverständigen Sch. und Dr. St. ergebe sich, dass die Angaben der Klägerin nicht geeignet seien, eine Glaubhaftmachung iS des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) zu begründen(Urteil vom 19.4.2013).
- 6
-
Im Berufungsverfahren hat das LSG zwei aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. G. vom 14.8.2014 und 14.10.2014 aus den Verfahren vor dem LSG zu den Az L 10 VE 34/13 ZVW und L 10 VE 28/11 in den Rechtsstreit eingeführt und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die von der Klägerin behauptete Folter sowie der sexuelle Missbrauch im K.-Gefängnis in K. seien nicht nachgewiesen, unmittelbare Tatzeugen nicht vorhanden. Das Vorliegen der Taten lasse sich auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung der Glaubhaftmachung annehmen. Die Angaben der Klägerin könnten nicht positiv durch aussagepsychologische Begutachtung verifiziert werden. Anlass zur Einholung eines weiteren Glaubhaftigkeitsgutachtens, welches unter Abfassung entsprechender Beweisfragen dem besonderen Beweismaßstab der Glaubhaftmachung Rechnung tragen solle, bestehe nicht. Denn das LSG habe in den Rechtsstreiten L 10 VE 34/13 ZVW und L 10 VE 28/11 Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. G. unter besonderer Berücksichtigung von § 15 KOVVfG eingeholt und in den vorliegenden Rechtsstreit eingeführt. Danach könne die vom BSG in seiner Rechtsprechung vom 17.4.2013 erhobene Forderung der besonderen Berücksichtigung des § 15 KOVVfG von aussagepsychologischen Gutachten nicht eingelöst werden(Urteil vom 29.1.2015).
- 7
-
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das LSG habe seine Entscheidung unter Bezugnahme auf zwei Gutachten getroffen, die den Anforderungen, welche das BSG bisher an sog Glaubhaftigkeitsgutachten in OEG-Verfahren gestellt habe, nicht entsprächen. Unter Vorlage einer ergänzenden schriftlichen Stellungnahme, Benennung eines weiteren Zeugen und Vorlage einer Urkunde rügt die Klägerin darüber hinaus, das LSG habe den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt und sie nicht zu vermeintlichen Widersprüchen (schriftlich) angehört. Es habe sie trotz fehlender finanzieller Mittel auch nicht persönlich zur mündlichen Verhandlung geladen.
- 8
-
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 29. Januar 2015 und das Urteil des SG Hildesheim vom 19. April 2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 22. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2004 aufzuheben und
den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG zu gewähren.
- 9
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
- 10
-
Er verweist auf die Ausführungen des LSG, die er für zutreffend hält.
Entscheidungsgründe
- 11
-
Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG).
- 12
-
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 22.4.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.1.2004 und der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente nach den Vorschriften des OEG iVm dem BVG. Diesen verfolgt die Klägerin zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4, § 56 SGG; vgl BSG Urteil vom 18.11.2015 - B 9 V 1/14 R - BSGE
, SozR 4, Juris RdNr 12; BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20) , gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils iS des § 130 Abs 1 SGG.
- 13
-
Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Klägerin ihre ursprüngliche kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage vor dem LSG auf eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage umgestellt hat. Hierin liegt mangels einer Änderung des Klagegrundes eine nach § 99 Abs 3 SGG uneingeschränkt zulässige Antragsänderung(vgl BSG Urteil vom 7.6.1979 - 12 RK 13/78 - BSGE 48, 195, 196 = SozR 2200 § 394 Nr 1 S 1 zum Übergang von der Leistungs- zur Feststellungsklage; BSG Urteil vom 12.8.2010 - B 3 KR 9/09 R - SozR 4-2500 § 125 Nr 6 zum Übergang von der Feststellungs- zur Leistungsklage).
- 14
-
Der beklagte Kommunalverband ist passiv legitimiert. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Klageverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes im Sinne einer Funktionsnachfolge stattgefunden hat. Denn durch das Sächsische Verwaltungsneuordnungsgesetz (SächsVwNG) vom 29.1.2008 (SächsGVBl Nr 3/2008, S 137 ff) und das Gesetz zur Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes und weiterer sozialer Entschädigungsgesetze (SächsDGBVG) vom selben Tag ging die Zuständigkeit für die Gewährung der Leistungen nach dem OEG iVm dem BVG seit dem 1.8.2008 auf den Kommunalen Sozialverband S. über. Diese Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Opferentschädigung verstößt nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG (vgl - zur ähnlichen Übertragung im Rahmen einer Funktionsnachfolge auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW - BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 23 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 23, jeweils unter Hinweis auf Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21 und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 99 RdNr 6a mwN). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann.
- 15
-
2. Die Revision der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg. Das LSG hat auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen, weil die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Beschädigtenrente nicht erfüllt (3.). Die tatsächlichen Feststellungen des LSG sind für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG), denn sie halten einer revisionsrichterlichen Überprüfung stand. Die von der Klägerin gerügte Beweiswürdigung (4.) und Sachaufklärung (5.) sind - soweit revisionsrichterlich überprüfbar - nicht zu beanstanden, auch soweit die Klägerin im Revisionsverfahren ergänzend zu ihrem beruflichen Werdegang vorträgt, einen weiteren Zeugen benennt und zu Beweiszwecken eine Urkunde vorlegt.
- 16
-
3. Die Klägerin hat nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG.
- 17
-
a. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch aus einer auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vor dem 3.10.1990 begangenen rechtswidrigen Tat ist § 1 iVm § 10a OEG. Nach § 1 Abs 1 S 1 OEG erhält Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat(zu den allgemeinen Tatbestandsmerkmalen s auch BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN).
- 18
-
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind und im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
- 19
-
Seit dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland gilt das OEG auch in den neuen Bundesländern. Bei Gewalttaten, die im Gebiet der ehemaligen DDR vor dem 3.10.1990 begangen worden sind, richtet sich der Anspruch auf Versorgung nach der Härtefallregelung des § 10a OEG. Danach erhalten auch Personen, die in dem in Art 3 des Vertrages zwischen der BRD und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) genannten Gebiet (den sog neuen Bundesländern) ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zum Zeitpunkt der Schädigung hatten, Versorgung nach Maßgabe des § 10a Abs 1 S 1 OEG, wenn die Schädigung in der Zeit vom 7.10.1949 bis zum 2.10.1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist (§ 10 S 2 OEG).
- 20
-
b. Nach den Feststellungen des LSG liegen jedoch die Voraussetzungen für eine Versorgung nach dem OEG nicht vor, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 1 Abs 1 S 1 OEG nicht erfüllt sind.
- 21
-
Gemäß § 1 Abs 1 S 1 OEG(idF vom 11.5.1976, BGBl I 1181) erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Die erlittene Schädigung muss keine physische Beeinträchtigung sein. Vielmehr sind auch psychische Gesundheitsschäden geeignet, einen Anspruch nach dem OEG zu begründen, jedoch müssen sie auf einen "tätlichen Angriff" zurückzuführen sein. Insoweit ist entscheidend, ob der Primärschaden und eventuelle Folgeschäden gerade die zurechenbare Folge einer körperlichen Gewaltanwendung gegen eine Person sind (BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - BSGE 118, 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr 21).
- 22
-
Die Klage ist unbegründet, weil ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nicht nachgewiesen ist.
- 23
-
c. Der Senat hat für den Begriff "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich auf eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung abgestellt (BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - aaO; Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 14 mwN). Dabei ist zwar einerseits die Rechtsfeindlichkeit entscheidend, die vor allem als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz verstanden wird; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit mit Rücksicht auf den das OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 27 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 28, jeweils unter Hinweis auf BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Andererseits genügt es nicht, dass die Tat gegen eine Norm des Strafgesetzes verstößt, denn die Verletzungshandlung im OEG ist nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt (vgl BT-Drucks 7/2506 S 10). Die Auslegung des Begriffs des "tätlichen Angriffs" orientiert sich jedoch an der im Strafrecht zu den §§ 113, 121 StGB gewonnenen Bedeutung(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - aaO, RdNr 32 mwN). Wesentlich ist die grundlegende gesetzgeberische Entscheidung, dass durch die Verwendung des Begriffs des tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG der allgemeine Gewaltbegriff im strafrechtlichen Sinn begrenzt und grundsätzlich eine Kraftentfaltung gegen eine Person erforderlich sein soll(vgl BT-Drucks 7/2506 S 10).
- 24
-
Die von der Klägerin behaupteten Ereignisse im K.-Gefängnis in K. in der Zeit vom 9.1989 wären zwar grundsätzlich geeignet einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG darzustellen. Diese sind jedoch zur Überzeugung des LSG nicht glaubhaft.
- 25
-
d. Der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG besteht aus drei Merkmalen (vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff - sog schädigender Vorgang -, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang (Kausalität) miteinander verbunden sind. Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt die Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs 1 S 1 OEG iVm § 1 Abs 3 BVG). Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind der Entscheidung hinsichtlich des schädigenden Vorgangs die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind und wenn die Angaben des Antragstellers nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
- 26
-
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 3b mwN). Das bedeutet, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 33 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 34 ; BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21 ). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4; BSG Urteil vom 5.5.2009 - B 13 R 55/08 R - BSGE 103, 99, 104).
- 27
-
Eine Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 34 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 35; aA Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 3c).
- 28
-
Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 35 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 36 ), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 35 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 36 ), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss eine den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG ; vgl BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 35 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 36; BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).
- 29
-
e. Die von der Klägerin behaupteten körperlichen Misshandlungen im K.-Gefängnis sind nicht nachgewiesen im Sinne einer Glaubhaftmachung. Das LSG ist auf Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen zu dem Ergebnis gekommen, dass unmittelbare Tatzeugen für die von der Klägerin behaupteten Ereignisse im K.-Gefängnis in der Zeit vom 9.1989 nicht vorhanden sind. Der von der Klägerin in erster Linie beschuldigte Vorgesetzte hat die Vorwürfe bestritten. Weitere Täter hat die Klägerin nicht namentlich benannt und konnten auch nicht ermittelt werden. Auch sind keine sonstigen Beweismittel (zB Urkundsbeweise, Zeugen) vorhanden, die das Vorbringen der Klägerin entweder stützen oder widerlegen könnten.
- 30
-
Auf Grundlage dieser Feststellungen durfte das LSG zu Recht die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG für anwendbar halten. Denn die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46; zuletzt BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 41 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 39 ). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO ) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6; BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 41 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 39 ).
- 31
-
Hiervon ausgehend hat das LSG jedoch die Angaben der Klägerin über einen körperlichen und sexuellen Missbrauch im K.-Gefängnis im September 1989 als nicht glaubhaft erachtet.
- 32
-
4. Diese Beurteilung hält einer revisionsrichterlichen Überprüfung stand. Die von der Klägerin gerügte Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) und Sachaufklärung (§§ 103, 106 SGG) durch das LSG sind nicht zu beanstanden.
- 33
-
Das Tatsachengericht entscheidet gemäß § 128 Abs 1 S 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; es ist in seiner Beweiswürdigung frei und lediglich an die Regeln der Logik und der Erfahrung gebunden. Das dem Gericht insofern eingeräumte Ermessen kann das Revisionsgericht nur begrenzt überprüfen. Die Grenzen der freien Beweiswürdigung sind erst überschritten, wenn das Tatsachengericht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstößt, aber auch, wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt (stRspr; vgl etwa schon BSG Beschluss vom 8.7.1958 - 8 RV 1345/57 - SozR Nr 34 zu § 128 SGG; BSG Beschluss vom 15.8.1960 - 4 RJ 291/59 - SozR Nr 56 zu § 128 SGG; zuletzt auch BSG Urteil vom 18.11.2015 - B 9 V 1/14 R - BSGE
, SozR 4-3800 § 1 Nr 22; BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 1/14 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 21 mwN).
- 34
-
Diese Grenzen hat das LSG eingehalten, es hat sich eingehend mit dem Sachverhalt, den Verfahrens- und den beigezogenen Akten, den Ergebnissen der vom SG eingeholten Sachverständigengutachten und den von ihm in den Rechtsstreit eingeführten Sachverständigengutachten aus anderen OEG-Verfahren auseinandergesetzt. Es hat das Gesamtergebnis des Verfahrens ausreichend und umfassend berücksichtigt und sich frei von Denkfehlern davon überzeugt, dass die Klägerin nicht nachweislich Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG geworden ist. Dabei hat es die von ihm angewandte Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG rechtlich zutreffend erkannt. Die Einwände der Klägerin gegen die Verwertung der vom SG eingeholten Sachverständigengutachten greifen nicht durch.
- 35
-
a. Die Einholung und Berücksichtigung aussagepsychologischer Gutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht zulässig nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 44 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 42 ).
- 36
-
Auch spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass ein Berufungsgericht nicht selbst ein aussagepsychologisches Gutachten über den Kläger bzw die Klägerin einholt, sondern für seine Entscheidung Glaubhaftigkeitsgutachten verwertet, welche die Vorinstanz - wie hier geschehen (§ 106 Abs 3 Nr 5 und § 109 Abs 1 S 1 SGG) - im Klageverfahren eingeholt hat. Liegen bereits Gutachten von ärztlichen Sachverständigen desselben Fachgebiets als Beweismittel vor, bedarf es unter Berücksichtigung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG)grundsätzlich keiner weiteren Sachaufklärung in dieser Richtung. Anders verhält es sich, wenn die vorliegenden Gutachten schwere Mängel aufweisen, in sich widersprüchlich sind, von unzutreffenden Voraussetzungen ausgehen oder Zweifel an der Sachkunde oder Sachlichkeit des Sachverständigen erwecken (vgl etwa BSG Beschluss vom 24.3.2005 - B 2 U 368/04 B - Juris RdNr 5 ; BSG Beschluss vom 16.2.2012 - B 9 V 17/11 B - Juris RdNr 13 ) oder wenn wesentliche Veränderungen in dem bereits begutachteten Lebenssachverhalt eingetreten sind (zB Verschlimmerung von gesundheitlichen Leiden, vgl BSG Beschluss vom 24.4.2014 - B 13 R 325/13 B - Juris).
- 37
-
Für derartige Mängel oder Veränderungen liegen betreffend die Gutachten der Sachverständigen Sch. und Dr. St. keinerlei Anhaltspunkte vor. Insbesondere geht die Rüge der Klägerin, dass die Gutachten nicht verwertbar seien, weil das SG die Sachverständigen nicht auf den geltenden Beweismaßstab (§ 15 S 1 KOVVfG) hingewiesen und ihnen keine Angaben zur relativen Wahrscheinlichkeit eines Erlebnisbezuges abverlangt hat, ins Leere.
- 38
-
b. Allerdings hat der Senat einen Hinweis auf den nach § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab gegenüber dem Sachverständigen in seinen Entscheidungen vom 17.4.2013 (B 9 V 1/12 R, B 9 V 3/12 R, s unten) für notwendig erachtet.
- 39
-
Aus dem Umstand, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, hat der Senat gefolgert, dass ein Gericht den Sachverständigen eines aussagepsychologischen Gutachtens auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären hat, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten könne. Im Rahmen der Beweisfragen müsse darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden könnten. Der Senat ist insoweit davon ausgegangen, dass es erforderlich ist, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergebe ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 57 ff und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 55 ff).
- 40
-
c. An diesem Erfordernis der Berücksichtigung des Beweismaßstabes nach § 15 S 1 KOVVfG bei der Erstellung eines aussagepsychologischen Gutachtens hält der Senat nach nochmaliger Überprüfung nicht mehr fest. In Verfahren über eine Gewaltopferentschädigung bedarf es keines besonderen Hinweises an den Sachverständigen auf den Beweismaßstab der Glaubhaftmachung.
- 41
-
Aussagepsychologische Gutachten können im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens nach dem OEG - gleich wie in anderen Rechtsstreitigkeiten, in denen es wesentlich auf die Aussage eines Beteiligten oder Zeugen ankommt - von Bedeutung sein. Denn Gegenstand eines solchen Gutachtens ist die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Diese Frage stellt sich nicht nur in strafgerichtlichen Verfahren. Eine solche Beurteilung zählt an sich zu den ureigenen Aufgaben eines Tatrichters; sie gehört seit jeher zum Wesen richterlicher Rechtsfindung (BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 16.12.2002 - 2 BvR 2099/01 - Juris RdNr 13). Daher kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 45 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 43, mit Verweis auf BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22 ). Der Richter selbst hat bei der Beweiswürdigung Erfahrungsregeln zu beachten, die ua aus aussagepsychologischen Untersuchungen gewonnen wurden (BVerfG Stattgebender Kammerbeschluss vom 30.4.2003 - 2 BvR 2045/02 - NJW 2003, 2444 - Juris RdNr 37). Allerdings kann die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 45 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 43, mit Verweis auf BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6 ; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 22).
- 42
-
Damit ein aussagepsychologisches Gutachten im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens nach dem OEG verwertet werden kann, muss es sachgerecht erstellt sein. Dies zu gewährleisten, ist in erster Linie Aufgabe des Tatrichters, beispielsweise durch die Wahl eines geeigneten Sachverständigen, durch die Formulierung der Beweisfragen und durch die Prüfung des erstellten Gutachtens. Soweit der Senat in seinen Entscheidungen vom 17.4.2013 (B 9 V 1/12 R, B 9 V 3/12 R) aber noch angenommen hat, dass es im Rahmen der Beweisanordnung eines gerichtlichen Hinweises an den Sachverständigen auf den Beweismaßstab des § 15 S 1 KOVVfG und der Klärung bedürfe, ob der Sachverständige sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten könne, wird diese Auffassung nicht aufrechterhalten.
- 43
-
Dies ist im Wesentlichen auf die Möglichkeiten und Grenzen einer aussagepsychologischen Begutachtung zurückzuführen. Die zugrunde liegenden Tatsachen können vom Senat als generelle Tatsachen (vgl hierzu zB BSGE 112, 257 - SozR 4-2500 § 137 Nr 2 RdNr 4 mwN; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 163 RdNr 20, 21) anhand der Darstellungen der Sachverständigen Prof. Dr. G. in den vom LSG in den Rechtsstreit eingeführten Gutachten selbst bewertet werden. Deren Expertise auf dem Gebiet der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist allgemein anerkannt und wird auch von den Beteiligten nicht in Frage gestellt. Die Glaubhaftigkeitsbegutachtung kann danach keine Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben ( Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49 ; vgl auch BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 46 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 44). Die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist eine Methode zur Substantiierung des Erlebnisgehaltes einer Aussage. Im positiven Fall können aussagepsychologische Gutachten Zweifel an der Erlebnisbasis und Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage zurückweisen. Dies geschieht durch die Bildung von Alternativhypothesen, dh Konkurrenzannahmen zur Erlebnishypothese, und deren Zurückweisung als unsubstantiiert. Aufgabe des aussagepsychologischen Sachverständigen ist es, auf den Einzelfall bezogene Alternativhypothesen zur Erlebnishypothese darzustellen und durch deren Prüfung erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt, zu treffen. Dadurch vermittelt er dem Gericht auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 46 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 44 mit Verweis auf Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f).
- 44
-
Im Gegensatz dazu obliegt die anschließende umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen dem Gericht (so schon BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 46 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 44). Die Feststellung, ob die Aussage eines Gewaltopfers bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten relativ am wahrscheinlichsten ist, obliegt allein der richterlichen Beweiswürdigung. Insofern unterscheiden sich aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsgutachten nicht von Sachverständigengutachten in anderen, zB medizinischen, Gebieten. Dort, wo dem Gericht eigene Sachkunde fehlt, zB bei der Feststellung einzelner Gesundheitsstörungen, zieht es ärztliches Fachwissen heran. Anschließend ist es grundsätzlich Aufgabe des Tatsachengerichts, ausgehend von einem bestimmten Rechtsstandpunkt eine Beweiswürdigung anhand der feststehenden, zB medizinischen, Tatsachen vorzunehmen (stRspr, vgl BSG Urteil vom 29.1.1956 - 2 RU 121/56 - BSGE 4, 147, 149 f; BSG Urteil vom 9.10.1987 - 9a RVs 5/86 - BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26, S 83 f; BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10; zuletzt BSG Beschluss vom 21.3.2016 - B 9 SB 81/15 B - Juris RdNr 6, RegNr 32076 - BSG-Intern).
- 45
-
Aus diesen Gründen bedarf es keines Hinweises des Gerichts an den aussagepsychologischen Sachverständigen auf den Beweismaßstab des § 15 S 1 KOVVfG. Aussagepsychologische Gutachten sind von ihrer Logik her nicht darauf ausgerichtet, die differentielle Wahrscheinlichkeit von alternativen Hypothesen zu prüfen (G., Gutachten idS L 10 VE 28/11, S 25 = Prozessakte S 948). Von einem aussagepsychologischen Sachverständigen dennoch eine derartige Prüfung zu verlangen, hieße, diesen in seiner Sachkompetenz zu überfordern. Vielmehr darf dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprechen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhen ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 47 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 45 mit Verweis auf LSG NRW Urteil vom 28.11.2007 - L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25 aE). Die Würdigung der eingeholten Sachverständigengutachten - hier der auf den Einzelfall bezogenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Aussagetüchtigkeit der begutachteten Person sowie der Qualität und der Zuverlässigkeit ihrer Aussage - ist hingegen ureigene tatrichterliche Aufgabe (zu medizinischen Tatsachen vgl BSG Beschluss vom 11.3.2016 - B 9 V 3/16 B - Juris RdNr 6, RegNr 32065 - BSG-Intern). Selbst wenn ein Sachverständiger Vorschläge zur rechtlichen Bewertung der von ihm sachkundig festgestellten Tatsachen macht, sind die Gerichte an diese nicht gebunden(zu medizinischen Tatsachen vgl BSG Beschluss vom 21.3.2016 - B 9 SB 81/15 B - Juris RdNr 6, RegNr 32076 - BSG-Intern). Daher ist auch eine entsprechende Fragestellung im Rahmen der Beweisanordnung nicht erforderlich.
- 46
-
Zwar ist es möglich, dass sich im Rahmen der Glaubhaftigkeitsbegutachtung eine oder mehrere Konkurrenzannahmen zur Erlebnishypothese nicht zurückweisen lassen und (mindestens) ebenso wahrscheinlich sind wie ein Erlebnisbezug der Aussage. Weil aber aussagepsychologische Sachverständige keine relative Wahrscheinlichkeit der Aussagen feststellen (können), muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines Glaubhaftigkeitsgutachtens (dh Zweifel am Erlebnisbezug der Aussage können nicht ausgeschlossen werden) nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können. Diesen Unterschied im Rahmen der Beweiswürdigung zu beachten, ist richterliche Aufgabe.
- 47
-
Vor diesem Hintergrund ist es unschädlich, dass das SG die Sachverständigen S. und Dr. St. nicht auf den § 15 S 1 KOVVfG hingewiesen und das LSG kein weiteres aussagepsychologisches Gutachten über die Klägerin eingeholt hat. Dies gilt auch in Ansehung der sinngemäßen Rüge der Klägerin, dass die vom SG beauftragten Sachverständigen keine Angaben dazu gemacht haben, ob ihre Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können, obwohl dies "einem Psychologen aufgrund seiner Qualifikation und seiner Erfahrung möglich sein" müsse. Entgegen dem Revisionsvorbringen ist insoweit - wie oben ausgeführt - zu unterscheiden zwischen der Begutachtung zum Zwecke der Beweiserhebung einerseits und der richterlichen Beweiswürdigung andererseits.
- 48
-
d. Schließlich hat das LSG auch den von § 15 S 1 KOVVfG eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung nicht verkannt. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG zwar auch auf die aussagepsychologischen Gutachten der Sachverständigen Sch. und Dr. St. gestützt. Beiden Gutachten kam der bzw die jeweilige Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Nullhypothese des fehlenden Erlebnisbezuges nicht zurückgewiesen werden konnte, dh dass die Klägerin die Angaben in Bezug auf den vorgetragenen sexuellen Missbrauch im K.-Gefängnis auch ohne einen Erlebnisbezug berichten könne. Jedoch hat das LSG das Ergebnis der aussagepsychologischen Gutachten in seiner Entscheidung nicht unkritisch übernommen und seine eigene Beurteilung der Aussagen der Klägerin im Rahmen der aussagepsychologischen Begutachtungen in der Zusammenschau mit dem übrigen Akteninhalt zum Kern seiner Entscheidung gemacht. Das LSG hat seine Überzeugung, dass die Behauptung der Klägerin, sie sei im September 1989 im K.-Gefängnis sexuell missbraucht und gefoltert worden, nicht glaubhaft sei, auf "seine eigene Überzeugung" gestützt, die es sich "aus den gesamten vorliegenden Unterlagen gebildet hat sowie ergänzend auf die Ausführungen der Sachverständigen Dipl.-Psych. Sch. in ihrem Gutachten vom 12. Mai 2010 und Dr. St. vom 31.12.2012" (s S 18 f des Urteils). Folglich hat das LSG seine Auffassung von der fehlenden Glaubhaftigkeit der Behauptungen der Klägerin nicht allein auf Grundlage der Ergebnisse der beiden aussagepsychologischen Gutachten über die Klägerin gebildet, sondern hat eine freie und umfassende Beweiswürdigung vorgenommen.
- 49
-
5. Soweit die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§§ 103, 106 SGG) des LSG darin sieht, dass dieses sie zur Widersprüchlichkeit ihrer Angaben weder schriftlich angehört noch zur mündlichen Verhandlung persönlich geladen habe, dringt sie damit nicht durch. Eine Verletzung der §§ 103, 106 SGG liegt nur vor, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, obwohl es sich ausgehend von seiner Rechtsauffassung zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen(stRspr vgl zB BSG Urteil vom 10.6.1975 - 9 RV 124/74 - BSGE 40, 49 = SozR 3100 § 30 Nr 7). Daran fehlt es hier. Das LSG durfte insbesondere die Feststellungen aus dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren zum beruflichen Werdegang der Klägerin übernehmen (vgl BSG Urteil vom 22.6.1988 - 9/9a RVg 3/87 - BSGE 63, 270, 273 = SozR 1500 § 128 SGG Nr 34, S 31 ). Selbst wenn diese Wiedergabe ungenau oder in Teilen unzutreffend sein sollte, hat die Klägerin nicht hinreichend dargelegt, inwiefern die Entscheidung des LSG darauf - revisionsrechtlich relevant - beruhen sollte. Das Vorbringen der Klägerin im Zusammenhang mit ihrem beruflichen Werdegang stellt allenfalls ein von den tatsächlichen Feststellungen des LSG abweichendes tatsächliches Vorbringen dar, nicht aber eine durchgreifende Verfahrensrüge. Abweichenden Sachvortrag in der Revisionsinstanz kann der Senat nicht berücksichtigen (BSG Urteil vom 25.4.2002 - B 11 AL 89/01 R - BSGE 89, 250, 252 = SozR 3-4100 § 119 Nr 24; Urteil vom 11.3.1970 - 3 RK 25/67 - BSGE 31, 63, 65 = SozR Nr 17 zu § 3 AVG). Nichts anderes gilt hinsichtlich der dem LSG im Übrigen zahlreich vorliegenden aktenkundigen Aussagen der Klägerin aus den Jahren seit 1997 gegenüber verschiedenen Ärzten, Behörden und Gerichten, die sowohl voneinander als auch von den Inhalten der aktenkundigen Urkunden abweichen. Soweit die Klägerin einen weiteren Zeugen benennt und zu Beweiszwecken eine Urkunde vorlegt, musste der Senat dies auch nicht ausnahmsweise berücksichtigen, etwa zur Vermeidung eines Wiederaufnahmeverfahrens (vgl BSGE 18, 186 = SozR Nr 6 zu § 179 SGG).
- 50
-
Soweit die Klägerin sinngemäß eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör darin sehen sollte, dass das LSG sie zur Widersprüchlichkeit ihrer Angaben weder schriftlich angehört noch zur mündlichen Verhandlung persönlich geladen habe, so dringt sie auch hiermit nicht durch. Der in §§ 62, 128 Abs 2 SGG konkretisierte Anspruch auf rechtliches Gehör(Art 101 Abs 1 GG) soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht haben äußern können (vgl BSG Urteil vom 23.5.1996 - 13 RJ 75/95 - SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BVerfG Beschluss vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfG Beschluss vom 19.7.1967 - 2 BvR 639/66 - BVerfGE 22, 267, 274; BVerfG Urteil vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205, 216 f). In diesem Rahmen besteht jedoch keine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage ( BSG Urteil vom 16.3.2016 - B 9 V 6/15 R - vorgesehen für SozR 4). Auch besteht weder eine Pflicht des Gerichts, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage im Rahmen der mündlichen Verhandlung bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen, noch dies bereits vor der mündlichen Verhandlung im Rahmen eines richterlichen Hinweises zu tun. Denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen ( BSG Urteil vom 16.3.2016, aaO). Angesichts der bereits lange vorliegenden Gutachten wie auch des Inhalts des Widerspruchsbescheides und des Urteils des SG musste die Klägerin damit rechnen, dass das LSG ihre Aussagen als widersprüchlich bewerten und ihren Anspruch verneinen würde.
(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
- 1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, - 1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde, - 2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, - 3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder - 4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte
- 1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte, - 2.
von einem Arzt geimpft worden ist und - 3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.
(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer
- 1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945, - 2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung, - 3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder - 4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.
(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.
(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.
Im Sinne dieses Gesetzes ist
- 1.
Krankheitserreger ein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann, - 2.
Infektion die Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus, - 3.
übertragbare Krankheit eine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit, - 3a.
bedrohliche übertragbare Krankheit eine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann, - 4.
Kranker eine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist, - 5.
Krankheitsverdächtiger eine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen, - 6.
Ausscheider eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein, - 7.
Ansteckungsverdächtiger eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein, - 8.
nosokomiale Infektion eine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand, - 9.
Schutzimpfung die Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen, - 10.
andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe die Gabe von Antikörpern (passive Immunprophylaxe) oder die Gabe von Medikamenten (Chemoprophylaxe) zum Schutz vor Weiterverbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten, - 11.
Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde, - 12.
Gesundheitsschädling ein Tier, durch das Krankheitserreger auf Menschen übertragen werden können, - 13.
Sentinel-Erhebung eine epidemiologische Methode zur stichprobenartigen Erfassung der Verbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten und der Immunität gegen bestimmte übertragbare Krankheiten in ausgewählten Bevölkerungsgruppen, - 14.
Gesundheitsamt die nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bestimmte und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde, - 15.
Einrichtung oder Unternehmen eine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person, in deren unmittelbarem Verantwortungsbereich natürliche Personen behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden, - 15a.
Leitung der Einrichtung - a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich einer Einrichtung durch diese mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind, - b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder - c)
sofern die Einrichtung von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
- 15b.
Leitung des Unternehmens - a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich eines Unternehmens durch dieses mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind, - b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder - c)
sofern das Unternehmen von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
- 16.
personenbezogene Angabe Name und Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift der Hauptwohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und, falls abweichend, Anschrift des derzeitigen Aufenthaltsortes der betroffenen Person sowie, soweit vorliegend, Telefonnummer und E-Mail-Adresse, - 17.
Risikogebiet ein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für das vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen übertragbaren Krankheit festgestellt wurde; die Einstufung als Risikogebiet erfolgt erst mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung der Feststellung durch das Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse https://www.rki.de/risikogebiete.
Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
- 1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, - 1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde, - 2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, - 3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder - 4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte
- 1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte, - 2.
von einem Arzt geimpft worden ist und - 3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.
(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer
- 1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945, - 2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung, - 3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder - 4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.
(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.
(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.
Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
Im Sinne dieses Gesetzes ist
- 1.
Krankheitserreger ein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann, - 2.
Infektion die Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus, - 3.
übertragbare Krankheit eine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit, - 3a.
bedrohliche übertragbare Krankheit eine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann, - 4.
Kranker eine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist, - 5.
Krankheitsverdächtiger eine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen, - 6.
Ausscheider eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein, - 7.
Ansteckungsverdächtiger eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein, - 8.
nosokomiale Infektion eine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand, - 9.
Schutzimpfung die Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen, - 10.
andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe die Gabe von Antikörpern (passive Immunprophylaxe) oder die Gabe von Medikamenten (Chemoprophylaxe) zum Schutz vor Weiterverbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten, - 11.
Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde, - 12.
Gesundheitsschädling ein Tier, durch das Krankheitserreger auf Menschen übertragen werden können, - 13.
Sentinel-Erhebung eine epidemiologische Methode zur stichprobenartigen Erfassung der Verbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten und der Immunität gegen bestimmte übertragbare Krankheiten in ausgewählten Bevölkerungsgruppen, - 14.
Gesundheitsamt die nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bestimmte und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde, - 15.
Einrichtung oder Unternehmen eine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person, in deren unmittelbarem Verantwortungsbereich natürliche Personen behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden, - 15a.
Leitung der Einrichtung - a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich einer Einrichtung durch diese mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind, - b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder - c)
sofern die Einrichtung von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
- 15b.
Leitung des Unternehmens - a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich eines Unternehmens durch dieses mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind, - b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder - c)
sofern das Unternehmen von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
- 16.
personenbezogene Angabe Name und Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift der Hauptwohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und, falls abweichend, Anschrift des derzeitigen Aufenthaltsortes der betroffenen Person sowie, soweit vorliegend, Telefonnummer und E-Mail-Adresse, - 17.
Risikogebiet ein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für das vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen übertragbaren Krankheit festgestellt wurde; die Einstufung als Risikogebiet erfolgt erst mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung der Feststellung durch das Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse https://www.rki.de/risikogebiete.
Tenor
-
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.
-
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
- 1
-
Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.
- 2
-
Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.
- 3
-
Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.
- 4
-
Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.
- 5
-
Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.
- 6
-
Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.
- 7
-
Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.
- 8
-
Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.
- 9
-
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.
- 10
-
Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).
- 11
-
Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.
- 12
-
Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.
- 13
-
Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.
- 14
-
In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.
- 15
-
Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.
- 16
-
In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.
- 17
-
Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.
- 18
-
Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.
- 19
-
Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.
- 20
-
Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.
- 21
-
Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).
- 22
-
Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.
- 23
-
Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.
- 24
-
Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.
- 25
-
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.
- 26
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
- 27
-
Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.
- 28
-
Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.
Entscheidungsgründe
- 29
-
1. Die Revision des Klägers ist zulässig.
- 30
-
a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.
- 31
-
Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.
- 32
-
b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.
- 33
-
2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.
- 34
-
a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen
von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).
- 35
-
b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:
Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3. gesetzlich vorgeschrieben war oder
4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.
Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.
- 36
-
aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).
- 37
-
Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).
- 38
-
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.
- 39
-
bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales
) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.
- 40
-
Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):
Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.
- 41
-
Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS
, Einleitung zur VersMedV, S 5) , sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.
- 42
-
cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
- 43
-
Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.
- 44
-
c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.
- 45
-
aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25
) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.
- 46
-
Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".
- 47
-
Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.
- 48
-
bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.
- 49
-
aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:
So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.
- 50
-
Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.
- 51
-
In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).
- 52
-
Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.
- 53
-
Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:
Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.
- 54
-
Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:
Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.
- 55
-
Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:
Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.
- 56
-
Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:
Geringe Lokalreaktion,
- 57
-
enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:
Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.
- 58
-
In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):
Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.
Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.
In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.
Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.
- 59
-
bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:
Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.
- 60
-
Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.
- 61
-
Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.
- 62
-
Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.
- 63
-
d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.
- 64
-
aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.
- 65
-
bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.
- 66
-
Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.
- 67
-
aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.
- 68
-
Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.
- 69
-
Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.
- 70
-
bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.
- 71
-
ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.
- 72
-
e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
- 73
-
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
- 1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, - 1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde, - 2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, - 3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder - 4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte
- 1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte, - 2.
von einem Arzt geimpft worden ist und - 3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.
(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer
- 1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945, - 2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung, - 3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder - 4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.
(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.
(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.
Tenor
-
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2. Juli 2013 aufgehoben.
-
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über die medizinischen und versorgungsrechtlichen Folgen einer Strahlentherapie.
- 2
-
Der 1946 geborene Kläger war von 1966 bis Ende April 1997 Soldat der Bundeswehr. 1988 wurde bei ihm ein bösartiger Hodentumor diagnostiziert und im Rahmen der freien Heilfürsorge ärztlich behandelt. Nach einer operativen Semikastratio im Bundeswehrzentralkrankenhaus K erfolgte während des dortigen stationären Aufenthalts eine Kobaltnachbestrahlung, die (in 20 Einzelbestrahlungen zu je 2 Gy) im Städtischen Krankenhaus K in K
durchgeführt wurde. In der Folgezeit traten beim Kläger Rückenbeschwerden auf, die vom truppenärztlichen Dienst behandelt wurden. Als ursächlich wurden degenerative Veränderungen angesehen, ggf psychosomatisch verstärkt. Röntgenologisch wurde später eine Strahlenfibrose nachgewiesen. Ferner litt der Kläger nach dem operativen Eingriff linksseitig unter chronischen Leistenschmerzen.
- 3
-
Den Antrag des Klägers auf Anerkennung des Hodentumors und der nach dessen Behandlung aufgetretenen Gesundheitsstörungen als Folge einer Wehrdienstbeschädigung (WDB) lehnte die beigeladene Bundesrepublik Deutschland zunächst ab. Nach einem gerichtlichen Teilanerkenntnis stellte sie mit Ausführungsbescheid vom 10.1.2001 einen chronischen Leistenschmerz links (ilioinguinales Syndrom) nach linksseitiger Hodenresektion als WDB-Folge fest. Diese Entscheidung wurde von dem beklagten Freistaat übernommen, der seit der Beendigung des Wehrdienstverhältnisses für die Versorgung des Klägers zuständig ist (Bescheid vom 8.6.2001).
- 4
-
Anfang 2005 wurde beim Kläger ein Harnblasentumor diagnostiziert und sowohl operativ als auch chemotherapeutisch behandelt. Wegen einer später aufgetretenen Bauchspeicheldrüsenerkrankung wurde zudem im Oktober 2005 eine Duodenopankreatektomie (sog Whipple-Operation) durchgeführt. Seit diesem Eingriff ist der Kläger nach seinen Angaben frei von Rückenschmerzen.
- 5
-
Etwa ein Jahr später wandte sich der Kläger an die Beigeladene mit der Bitte um Überprüfung der ablehnenden Verwaltungsentscheidung bezüglich der Ursache seiner damaligen Rückenbeschwerden sowie um Prüfung, ob der Blasentumor Folge der 1988 erfolgten Strahlentherapie sei. Der für eine Neufeststellung hinzugetretener WDB-Folgen zuständige Beklagte lehnte dies ab. Die 1988 durchgeführte Strahlentherapie sei nicht geeignet gewesen, einen Harnblasentumor hervorzurufen (Bescheid vom 19.12.2006). Daneben lehnte der Beklagte (ebenso wie zuvor bereits die Beigeladene) eine Rücknahme des letzten bestandskräftigen Feststellungsbescheids über WDB-Folgen ab. Für die Annahme des Klägers, seine langjährigen heftigen Rückenschmerzen seien truppenärztlich falsch behandelt worden, gebe es keinen Beleg. Die seinerzeit geklagten Beschwerden passten nicht zu einer Schmerzausstrahlung, wie sie durch eine Bauchspeicheldrüsenerkrankung zu erwarten sei (Bescheid vom 4.9.2008).
- 6
-
Die vom Kläger gegen beide Bescheide erhobenen Widersprüche und seine Klage blieben ohne Erfolg. Zwischen der Bestrahlung und den späteren Gesundheitsstörungen des Klägers bestehe kein ursächlicher Zusammenhang. Es fehle auch an einer fehlerhaften truppenärztlichen Behandlung der aufgetretenen Beschwerden (Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 27.1.2009, Gerichtsbescheid des SG Augsburg vom 27.5.2010).
- 7
-
Das LSG hat diese Kausalitätsfragen offengelassen und die Berufung des Klägers aus Rechtsgründen zurückgewiesen. Die Anerkennung einer weiteren WDB-Folge scheitere bereits am Fehlen eines den Versorgungsschutz begründenden Tatbestands. Die vom Kläger als Ursache angesehene Strahlentherapie sei weder eine Wehrdienstverrichtung oder ein in Zusammenhang mit dem Wehrdienst stehender Unfall noch sei sie durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse geprägt gewesen. Ob es später zu einer fehlerhaften truppenärztlichen Behandlung der klägerischen Rückenbeschwerden gekommen sei, könne demgegenüber dahinstehen, weil eine solche Falschbehandlung spätestens im April 1997 geendet habe und daher zumindest nicht mehr für die Aufrechterhaltung der Schmerzen in den Jahren 2002 bis 2005 verantwortlich gewesen sein könne. Wegen der Begrenzung der rückwirkenden Erbringung von Sozialleistungen auf vier Jahre vor der Antragstellung sei aber bei der Überprüfungsentscheidung nur dieser Zeitraum zu berücksichtigen (Urteil vom 2.7.2013).
- 8
-
Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Versorgungsbegehren weiter. Er ist der Ansicht, zu den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen zähle auch die ärztliche Behandlung eines Soldaten im Rahmen der unentgeltlichen Heilfürsorge, weil diese mit einem Ausschluss der freien Arztwahl einhergehe. Daher seien die unerwünschten Auswirkungen einer solchen Therapie als Folge einer WDB anzuerkennen.
- 9
-
Der Kläger beantragt,
1.
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2.7.2013 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 27.5.2010 aufzuheben,
2.
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheids vom 19.12.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 zu verpflichten, in Abänderung seines Bescheids vom 8.6.2001 als weitere Folgen einer Wehrdienstbeschädigung des Klägers einen Harnblasentumor (ab Januar 2005), eine Erkrankung der Bauchspeicheldrüse (ab Oktober 2005) und Verwachsungen des Dünndarms (ab Oktober 2005) festzustellen,
3.
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheids vom 4.9.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 zu verpflichten, unter teilweiser Rücknahme seines Bescheids vom 8.6.2001 als weitere Folgen einer Wehrdienstbeschädigung des Klägers mit Wirkung ab 1.1.2002 Rückenschmerzen (bis Oktober 2005) und eine Strahlenfibrose festzustellen,
4.
den Beklagten unter Aufhebung seiner Bescheide vom 19.12.2006 und vom 4.9.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 zu verurteilen, dem Kläger auch wegen der genannten weiteren Folgen einer Wehrdienstbeschädigung Versorgung nach dem SVG zu gewähren.
- 10
-
Der Beklagte und die Beigeladene haben sich zur Revision nicht eingelassen.
Entscheidungsgründe
- 11
-
Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache dorthin begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Die bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG, an die der Senat gebunden ist (§ 163 SGG), lassen eine abschließende Entscheidung des Verfahrens nicht zu. Auf ihrer Grundlage lässt sich nicht beurteilen, ob dem Kläger ein Anspruch auf Anerkennung einer weiteren WDB-Folge und auf Gewährung einer Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) zusteht. Davon sind beide Verwaltungsakte des Beklagten vom 19.12.2006 und 4.9.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 betroffen, die der Kläger angefochten hat.
- 12
-
1. Im Ergebnis zu Recht ist das LSG allerdings von der formellen Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Bescheide ausgegangen; insbesondere ist die Zuständigkeit des Beklagten für deren Erlass zu bejahen. Zwar hat das LSG verkannt, dass für die Aufhebung eines unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts nicht stets die Behörde zuständig ist, die ihn erlassen hat. Maßgebend ist gemäß § 44 Abs 3 SGB X - ggf iVm § 48 Abs 4 SGB X - vielmehr die aktuelle Zuständigkeit für eine Entscheidung in der Sache nach dem geltenden Leistungsrecht. Diese beruht hier auf den besonderen verwaltungsverfahrensrechtlichen Regelungen der §§ 44 ff SGB X, die dazu führen, dass eine rückwirkende Erbringung von Sozialleistungen für die Zeit bis zum Ausscheiden des Klägers aus der Bundeswehr (Ende April 1997) von vornherein nicht in Betracht kommt. Denn sein 2006 gestellter Überprüfungsantrag ermöglicht gemäß § 44 Abs 4 SGB X eine nachträgliche Versorgung erst für die Zeit seit dem 1.1.2002. Der Senat hat bereits entschieden, dass es für die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen der Bundeswehrverwaltung und den für die Ausführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden nach § 88 SVG darauf ankommt, ob es um die Feststellung von Folgen einer WDB geht, die bereits während des Wehrdienstes vorgelegen haben oder die erst nach dessen Ende aufgetreten sind(zuletzt Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VS 2/09 R - SozR 4-3200 § 88 Nr 4). An dieser Rechtsprechung ist für die bis zum 31.12.2014 geltende Rechtslage festzuhalten. Ihre Begründung liegt in der untrennbaren Verbindung der beiden auf der Grundlage des § 85 SVG zu erlassenden Verwaltungsakte iS des § 31 SGB X: zum einen über die Feststellung von Gesundheitsstörungen als Folgen einer WDB, zum anderen über die Gewährung einer Leistung (Ausgleich) wegen der Folgen der WDB(BSG, aaO RdNr 36 mwN). Beide nach § 85 SVG ergehenden Verwaltungsakte beziehen sich ausschließlich auf die Zeit des Wehrdienstverhältnisses(BSG, aaO RdNr 37 mwN). Da im vorliegenden Fall für diesen Zeitraum nach dem oben Gesagten keine Leistungen mehr zu erbringen sind, besteht auch keine Zuständigkeit der Beigeladenen zur Feststellung weiterer Folgen einer WDB (mehr).
- 13
-
2. Materielle Rechtsgrundlage für die vom Kläger geltend gemachten Versorgungsansprüche ist daher hier § 80 S 1 SVG. Danach erhält ein Soldat, der eine WDB erlitten hat, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der WDB auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Den Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, dass der Kläger über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren Soldat der Bundeswehr war, dass sein Wehrdienstverhältnis mit Ablauf des Monats April 1997 geendet und er einen Versorgungsantrag gestellt hat.
- 14
-
Der Begriff der WDB bezeichnet eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist (§ 81 Abs 1 SVG). Hintergrund dessen ist, dass ein schädigender Vorgang in diesen drei Fällen in einem derart engen inneren Zusammenhang zum Wehrdienst steht, dass die Zuerkennung eines Versorgungsanspruchs gerechtfertigt erscheint (vgl Lilienfeld in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 81 RdNr 7). Versorgungsrechtlich relevante gesundheitliche Folgen einer solchen WDB sind bleibende Gesundheitsstörungen, die mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Primärschädigung zurückzuführen sind (§ 81 Abs 6 SVG). Durch diese gesetzlichen Bestimmungen ist nach einhelliger Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum für die Anerkennung von Schädigungsfolgen eine dreigliedrige Kausalkette vorgegeben: Ein mit dem Wehrdienst zusammenhängender schädigender Vorgang muss zu einer primären Schädigung geführt haben, die wiederum die geltend gemachten Schädigungsfolgen bedingt haben muss. Dabei müssen sich die drei Glieder selbst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lassen, während für den ursächlichen Zusammenhang eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreicht (siehe zum Ganzen BSG Urteile vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 16 und vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - SozR 3-3200 § 81 Nr 16 = Juris RdNr 14 ff mwN).
- 15
-
a) Mit seinem Bescheid vom 19.12.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 hat der Beklagte den Eintritt einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse seit Erlass seines Bescheids vom 8.6.2001 gemäß § 48 SGB X verneint. Gemäß § 48 Abs 1 S 1, 2 Nr 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist; handelt es sich um eine Änderung zugunsten des Betroffenen, soll die Neufeststellung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an erfolgen. Das wäre ua der Fall, wenn bei dem Kläger zwischenzeitlich eine neue WDB-Folge aufgetreten wäre.
- 16
-
Ausdrücklich hat der Beklagte die Anerkennung des 2005 diagnostizierten Harnblasentumors als Folge einer WDB abgelehnt. Die Frage, ob dieser - wie vom Kläger angenommen - auf die 1988 durchgeführte Strahlentherapie zurückzuführen ist, kann der Senat nicht beantworten. Ebenso wie hinsichtlich der im Oktober 2005 operativ behandelten Bauchspeicheldrüsenerkrankung und der dabei festgestellten Dünndarmverwachsungen fehlt es an den dazu nötigen Feststellungen des LSG zu deren Ursachen.
- 17
-
Entgegen der Ansicht des LSG lässt sich jedoch nicht schon das Vorliegen eines den Versorgungsschutz begründenden Tatbestands als Ausgangspunkt der Kausalkette verneinen. Vielmehr ist die vom Kläger angenommene Ursache seiner Gesundheitsstörungen, die 1988 durchgeführte Strahlentherapie, unter äußeren Umständen erfolgt, die zu den dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnissen zählen.
- 18
-
aa) Zu Recht hat das LSG allerdings eine sachliche Prüfung des Tatbestands einer WDB vorgenommen. Zwischen den Beteiligten steht nicht etwa schon aufgrund der Bestandskraft des Bescheids des Beklagten vom 8.6.2001 gemäß § 77 SGG bindend fest, dass die 1988 erfolgte linksseitige Hodenresektion (mit Kobaltnachbestrahlung) eine WDB darstellt, so dass deren nachteilige gesundheitliche Auswirkungen ohne weiteres Folgen einer WDB wären. Derart weit reicht die Bindungswirkung des genannten Verwaltungsakts nicht, weil sich dessen Verfügungssatz auf die Feststellung vorliegender Folgen einer WDB beschränkt. Selbst wenn in der Bezeichnung solcher bleibender Gesundheitsstörungen auf eine Ursache Bezug genommen wird - wie hier hinsichtlich des chronischen Leistenschmerzes - dient dies nur der näheren Beschreibung der anerkannten Schädigungsfolge. Eine rechtsverbindliche Feststellung dieser Ursache ist damit ebenso wenig verbunden wie deren rechtliche Bewertung als WDB mit Bindungswirkung für eventuell später auftretende andere Gesundheitsnachteile (eingehend dazu schon das Senatsurteil vom 14.3.1972 - 9 RV 388/71 - SozR Nr 84 zu § 1 BVG = Juris RdNr 29 ff).
- 19
-
bb) Alle Beteiligten gehen zutreffend davon aus, dass in Ansehung der 1988 durchgeführten Strahlentherapie die Voraussetzungen der 3. Variante des § 81 Abs 1 SVG erfüllt sind. Die einem Soldaten in Erfüllung seines Anspruchs auf unentgeltliche Heilfürsorge zugewandte ärztliche Behandlung gehört zu den dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnissen. Mit diesem Tatbestandsmerkmal sind schon nach seinem Wortlaut alle Umstände bezeichnet, die die Lebensumstände eines Soldaten von denen der Zivilbevölkerung unterscheiden. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zu den §§ 80 bis 84 und 88 des SVG(SVGVwV, veröffentlicht im BAnz 1981 Nr 151 S 6) spricht treffend von "den besonderen, von den Verhältnissen des zivilen Lebens abweichenden und diesen in der Regel fremden Verhältnissen des Wehrdienstes" (unter 81.1.2). Die Senatsrechtsprechung stellt auf Umstände ab, "die der Eigenart des Dienstes entsprechen und im Allgemeinen eng mit dem Dienst verbunden sind" (siehe nur Urteile vom 5.7.2007 - B 9/9a VS 3/06 R - BSGE 99, 1, 7 = SozR 4-3200 § 81 Nr 3 = Juris RdNr 27 und vom 28.5.1997 - 9 RV 28/95 - BSGE 80, 236, 238 = SozR 3-3200 § 81 Nr 14 = Juris RdNr 16). Der Tatbestand des § 81 Abs 1 SVG erfasst damit alle Einflüsse des Wehrdienstes, die aus der besonderen Rechtsnatur dieses Verhältnisses und insbesondere der damit verbundenen Beschränkung der persönlichen Freiheit des Soldaten herrühren. Letztere erlangt etwa bei der Kasernierung nach § 18 Soldatengesetz (SG) oder bei der Pflicht zur Kameradschaft gemäß § 12 SG praktische Bedeutung.
- 20
-
Nach jahrzehntelanger ständiger Rechtsprechung des Senats gehören insbesondere auch die Besonderheiten der truppenärztlichen Behandlung zu den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen iS des § 81 Abs 1 SVG. Ein deutlicher Unterschied zum Zivilleben besteht hier insoweit, als der Soldat dabei keine freie Arztwahl hat (zuletzt BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9a V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3 = Juris RdNr 24; ferner etwa BSG Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 19 unter Hinweis auf BSGE 57, 171 = SozR 3200 § 81 Nr 20; BSG SozR 3-3200 § 81 Nr 17; ähnlich zuvor bereits das Reichsversorgungsgericht in stRspr seit RVGE 2, 38). Stattdessen bedient sich der Staat eigenen medizinischen Personals und eigener Behandlungseinrichtungen. Sinn und Zweck des Versorgungsschutzes bei truppenärztlicher Behandlung ist es demzufolge, die Risiken abzudecken, die der Soldat bei freier Arztwahl hätte vermeiden können (vgl BSG Urteile vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 22 und vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 26/89 - USK 9149 = Juris RdNr 18). Auf diese Weise erhält dieser einen Ausgleich dafür, dass er im Regelfall darauf angewiesen ist, die freie Heilfürsorge gemäß § 30 Abs 1 SG iVm § 69 Abs 2 Bundesbesoldungsgesetz (BBesG) in Anspruch zu nehmen. Zudem dient die truppenärztliche Behandlung aber auch zur Einhaltung der gesteigerten soldatischen Pflicht zur Erhaltung oder Wiederherstellung seiner Gesundheit (§ 17 Abs 4 SG). In diesem Rahmen ist das Behandlungsverhältnis auch nach wie vor von dem wehrdiensteigentümlichen Über-/Unterordnungsverhältnis durch Befehl und Gehorsam geprägt (BSG Urteil vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 26/89 - USK 9149 = Juris RdNr 18). Der Truppenarzt ist Dienstvorgesetzter gegenüber den von ihm behandelten Soldaten. Demgegenüber ist ein ziviler Arzt zu jedem Zeitpunkt an die Vorgaben seines Patienten gebunden. Angesichts dieser rechtlichen Rahmenbedingungen ist es für die Beurteilung der Wehrdiensteigentümlichkeit - entgegen der Auffassung des LSG - ohne Belang, ob der Soldat sich der truppenärztlichen Behandlung "nur widerstrebend" unterzogen hat oder nicht. Dies mag allenfalls ein im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung verwertbares Indiz für einen abweichenden hypothetischen Geschehensablauf im zivilen Leben des Betroffenen sein (in diesem Sinne schon BSG Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 25).
- 21
-
Die Umstände des vorliegenden Falls und die Argumente des LSG geben dem Senat keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung, die auch in der Literatur durchweg Zustimmung gefunden hat (siehe nur Gelhausen, Soziales Entschädigungsrecht, 2. Aufl 1998, RdNr 597; Lilienfeld aaO § 81 RdNr 42 ff; Sailer in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, S 1079 f), abzuweichen. Die freie Heilfürsorge und der damit verbundene Ausschluss der freien Arztwahl gehören zu den markantesten Unterschieden, die den Soldaten von der Zivilbevölkerung unterscheiden. Hinzu kommt, dass dieser Umstand nicht nur die Dienstausübung betrifft, sondern einen der privatesten Lebensbereiche, die Aufrechterhaltung der Gesundheit.
- 22
-
Soweit das LSG seine gegenteilige Ansicht auf eine Parallele zu den Beschränkungen in der Arztwahl stützt, denen in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherte ausgesetzt sind, vermag dies den Senat nicht zu überzeugen. Zwar weist das LSG zu Recht darauf hin, dass Sachleistungen der Krankenkassen nur bei zugelassenen Leistungserbringern in Anspruch genommen werden können. Damit ist jedoch keine auch nur annähernd vergleichbare Einschränkung verbunden, wie sie der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung nach § 69 Abs 2 BBesG immanent ist.
- 23
-
Das LSG kann sich auch nicht auf die von ihm angeführte Entscheidung des 4b-Senats des BSG vom 24.3.1987 (Az 4b RV 13/86 - SozR 3200 § 81 Nr 27) stützen. Dort ist der Sachverhalt einer mit Einwilligung des Soldaten erfolgten Behandlung durch zivile Ärzte in einem zivilen Krankenhaus nicht als Fall einer truppenärztlichen Behandlung angesehen worden. Aus diesem Grund hat der 4b-Senat seinerzeit ausdrücklich von einer Stellungnahme zu der insoweit einschlägigen Rechtsprechung des Senats abgesehen. Dadurch handelt es sich um einen Sonderfall, der nicht der hier gegebenen Konstellation entspricht. Wollte man diesen Unterschied im Tatsächlichen nicht als tragend ansehen, wäre der Differenzierung des 4b-Senats die Grundlage entzogen und dessen (unter dieser Prämisse in einem Grenzbereich von der Rechtsprechung des Senats abweichende) Auffassung aufzugeben.
- 24
-
Demgegenüber vermengt der argumentative Lösungsansatz des LSG die objektive Tatbestandsvoraussetzung des Vorliegens wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse mit der haftungsbegründenden Kausalität. Dem Verständnis des erstgenannten Rechtsbegriffs wird im Berufungsurteil gewissermaßen eine abstrakt-generelle Kausalitätsprüfung unterlegt: Der Ausschluss der freien Arztwahl wird vom LSG als unzureichend für die Bejahung wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse angesehen, weil er nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht mit einem erhöhten Risiko gesundheitlicher Schädigungen einhergehe. Darauf kommt es allerdings rechtlich nicht an (ebenso bereits BSG Urteile vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 26/89 - USK 9149 = Juris RdNr 17 und vom 13.7.1988 - 9/9a RV 4/86 - SozR 3200 § 81 Nr 31 = Juris RdNr 17). Haftungsgrund der 3. Variante des § 81 Abs 1 SVG ist nicht die Schaffung besonderer Gefahren, die dem zivilen Leben fremd sind. Vielmehr gewährt der Staat - in Anerkennung eines besonderen Aufopferungsanspruchs - Versorgung, wenn eine Schädigung in einem engen inneren Zusammenhang zum Wehrdienst steht. Die Frage, ob eine truppenärztliche Behandlung zu den Eigentümlichkeiten des Wehrdienstes gehört, ist - rechtlich ebenso wie praktisch - von der Frage zu trennen, welche Folgen im Einzelfall ggf auf diese Besonderheit zurückzuführen sind.
- 25
-
Diese Abgrenzung ist auch keineswegs "lediglich akademischer Art", wie das LSG meint. Vielmehr hängt davon nach dem oben dargelegten Aufbau des Tatbestands von § 81 Abs 1 SVG das erforderliche Beweismaß ab. Während für Tatsachen, die für die Bejahung wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse relevant sind, der Vollbeweis erforderlich ist, genügt (auch) für die haftungsbegründende Kausalität die Wahrscheinlichkeit (BSG Urteile vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 16 und vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - SozR 3-3200 § 81 Nr 16 = Juris RdNr 14 ff mwN). Die Frage nach den Auswirkungen einer truppenärztlichen Behandlung im Einzelfall ist in der Senatsrechtsprechung aber stets als entscheidend angesehen worden (explizit etwa BSG Urteile vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 20 und vom 28.6.1968 - 9 RV 604/65 - BSGE 28, 145, 146 = SozR Nr 31 zu § 30 BVG = Juris RdNr 15). Indem das LSG dem Kläger die ihm durch § 81 SVG eröffnete Möglichkeit verwehrt, einen schädigenden Kausalverlauf (nur) wahrscheinlich machen zu müssen(zu den Anforderungen noch unter cc), verletzt das Berufungsurteil Bundesrecht.
- 26
-
Der Kläger befand sich zur Behandlung seines Hodentumors durchgehend in truppenärztlicher Behandlung. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die während des stationären Aufenthalts des Klägers im Bundeswehrzentralkrankenhaus K erfolgte Strahlenbehandlung nach den Feststellungen des LSG von zivilen Ärzten im Städtischen Krankenhaus K
durchgeführt worden ist (siehe zu einer solchen Konstellation schon BSG Urteil vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 26/89 - USK 9149 = Juris RdNr 18). Denn auch dieser Teil der Therapie erfolgte im Rahmen der dem Kläger von seinem Dienstherrn zugewandten freien Heilfürsorge. Die Überweisung erfolgte durch die behandelnden Militärärzte, ohne dass der Kläger - in Ausübung einer freien Arztwahl - darauf hätte Einfluss nehmen können. Die Gesamtbehandlung stand unter der medizinischen Verantwortung der Ärzte des Bundeswehrzentralkrankenhauses K, in dem der Kläger fortdauernd stationär behandelt wurde. Diese waren auch tatsächlich in der Lage, durch Weisungen Einfluss auf die streitgegenständliche Strahlentherapie zu nehmen.
- 27
-
Ebenso wenig steht dem Versorgungsschutz aufgrund der truppenärztlichen Behandlung entgegen, dass der seinerzeit therapierte Hodentumor des Klägers nach den Feststellungen des LSG eine schicksalhafte Erkrankung darstellte, die in keinem Zusammenhang mit dem Wehrdienst stand. Die Ursache eines Leidens spielt für die Inanspruchnahme der freien Heilfürsorge durch einen Soldaten keine Rolle. Deren nach dem oben Gesagten zu den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen zählende Besonderheiten betreffen jede Heilbehandlung durch Militärärzte. Wirken sie sich gesundheitsschädigend aus, wird dadurch ein Versorgungsanspruch begründet (siehe nur BSG Urteil vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 22/89 - BSGE 68, 128, 129 = SozR 3-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 11).
- 28
-
cc) Da das LSG - nach seiner Rechtsauffassung folgerichtig - weder festgestellt hat, ob es beim Kläger zu einer weiteren WDB iS des § 81 Abs 1 SVG gekommen ist, also einer (primären) gesundheitlichen Schädigung, die durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist, noch darüber befunden hat, ob seit Erlass des Bescheids vom 8.6.2001 durch den Beklagten (weitere) Gesundheitsstörungen iS des § 81 Abs 6 SVG aufgetreten sind, für die eine WDB oder darauf beruhende Schädigungsfolgen mit (hinreichender) Wahrscheinlichkeit ursächlich im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung gewesen ist, ist eine Zurückverweisung unumgänglich. Wahrscheinlich ist ein solcher Ursachenzusammenhang, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt jedoch nicht.
- 29
-
Daher ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die durchgeführte Behandlung an sich überhaupt mit Wahrscheinlichkeit conditio sine qua non für die eingetretene Gesundheitsschädigung ist, oder ob sich letztere wahrscheinlich auch ohne sie eingestellt hätte. Dabei handelt es sich um eine rein tatsächliche Frage, die aus der nachträglichen Sicht (ex post) nach dem jeweils neuesten anerkannten Stand des Fach- und Erfahrungswissens über Kausalbeziehungen (ggf unter Einholung von Sachverständigengutachten) beantwortet werden muss (dazu zuletzt BSG Urteil vom 26.6.2014 - B 2 U 4/13 R - Juris RdNr 25 mwN).
- 30
-
Sodann ist die reine Rechtsfrage nach der "Wesentlichkeit" der versorgungsrechtlich geschützten Ursache zu beantworten. Maßgebend für diese Zurechnung ist der Schutzzweck der Norm, hier also die Entschädigung eines Zustands, der "durch" die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist. Daher sind versorgungsrechtlich nicht alle (wahrscheinlichen) Folgen der beim Kläger erfolgten Strahlentherapie zu berücksichtigen, sondern nur solche Primärschäden und darauf beruhende spätere Gesundheitsstörungen, die gerade auf den Besonderheiten der truppenärztlichen Behandlung (also insbesondere der Behandlung durch Militärärzte in eigenen Einrichtungen im Rahmen eines Über-/Unterordnungsverhältnisses unter Ausschluss der freien Arztwahl) beruhen. Andernfalls käme es zu einer ungerechtfertigten Besserstellung von Soldaten, die im Rahmen der freien Heilfürsorge behandelt werden, gegenüber allen anderen Patienten, weil erstere auch einen Haftungsschuldner für unvermeidbare Nebenwirkungen einer unumgänglichen Therapie hätten. Die wehrdiensteigentümlichen Besonderheiten der truppenärztlichen Versorgung sind demnach keine wesentliche (Mit-)Ursache einer gesundheitlichen Schädigung eines Soldaten, die auch bei freier Arztwahl in jedem anderen Krankenhaus eingetreten wäre. Typische Fälle einer wesentlichen Schädigung sind demgegenüber Behandlungsfehler oder eine unzureichende Aufklärung über alle Behandlungsrisiken (siehe zum Ganzen BSG Urteile vom 12.4.2000 - B 9 VS 2/99 R - SozR 3-1750 § 411 Nr 1 = Juris RdNr 17 und vom 4.10.1984 - 9a/9 KLV 1/81 - BSGE 57, 171, 178 = SozR 3200 § 81 Nr 20 = Juris RdNr 20 ff). Der Senat hat jedoch auch schon einen Anspruch auf Versorgung zuerkannt, wenn die eingetretene Schädigung nicht auf einem schuldhaften Kunstfehler beruhte, der einen zivilen Schadensersatzanspruch begründen würde, sondern eine sachgerechte Behandlungsmethode lege artis durchgeführt wurde (Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 25). Um dem Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit gerecht zu werden, reicht es dann aber nicht aus, wenn nur nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei freier Arztwahl die konkrete Schädigung in dieser Form nicht eingetreten wäre (so aber noch BSG Urteil vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 26/89 - USK 9149 = Juris RdNr 18). Vielmehr ist zu fordern, dass ein anderer Arzt (mit anderer Behandlungsmethode) wahrscheinlich einen besseren Heilerfolg erzielt hätte. Denn erst aus dem Vergleich des tatsächlichen und des hypothetischen Behandlungsergebnisses lässt sich ersehen, welche Folgen tatsächlich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Besonderheiten der truppenärztlichen Behandlung zurückzuführen sind (vgl BSG Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 22). Nur diese Risiken, die sich bei freier Arztwahl hätten vermeiden lassen, soll der Versorgungsschutz abdecken. Zur Beantwortung dieser Zurechnungsfrage wird das LSG alle maßgebenden Umstände des Einzelfalls festzustellen haben.
- 31
-
b) Mit seinem Bescheid vom 4.9.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 hat der Beklagte eine Rücknahme seines Bescheids vom 8.6.2001 gemäß § 44 Abs 1 SGB X abgelehnt. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Das wäre ua der Fall, wenn bei dem Kläger bereits zum Zeitpunkt der bestandskräftig gewordenen Verwaltungsentscheidung des Beklagten vom 8.6.2001 eine weitere WDB-Folge festzustellen gewesen wäre.
- 32
-
Ausdrücklich hat der Beklagte die Anerkennung der 2001 bereits seit Jahren aufgetretenen und behandelten Rückenschmerzen abgelehnt. Die Frage, ob diese - wie vom Kläger angenommen - auf die 1988 durchgeführte Strahlentherapie zurückzuführen sind, kann der Senat nicht beantworten. Ebenso wie hinsichtlich der bereits während der aktiven Dienstzeit des Klägers röntgenologisch nachgewiesenen Strahlenfibrose fehlt es an den dazu nötigen Feststellungen des LSG zu deren Ursachen.
- 33
-
Allerdings ist gegen die Einschätzung des LSG, die (bloße) Aufrechterhaltung der Rückenschmerzen im Sinne der Senatsrechtsprechung zur Verursachung eines mangelnden Heilerfolgs durch fehlerhafte truppenärztliche Behandlung (Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1)könne im vorliegenden Fall nicht (mehr) berücksichtigt werden, revisionsrechtlich nichts einzuwenden. Nach dem oben unter 1. Gesagten zutreffend ist das LSG insoweit davon ausgegangen, dass der für das Überprüfungsverfahren gemäß § 44 SGB X relevante Zeitraum erst am 1.1.2002 beginnt. Das LSG ist aufgrund der zeitlichen Abläufe zu der Überzeugung gelangt, dass die Ende April 1997 beendete truppenärztliche Behandlung des Klägers in dieser Zeit nicht mehr im Sinne einer rechtlich wesentlichen (Mit-)Ursache nachgewirkt hat. Dagegen hat der Kläger keine durchgreifenden Verfahrensrügen erhoben.
- 34
-
Dagegen leidet die Ablehnung der Herbeiführung einer WDB durch dem Wehrdienst eigentümliche Verhältnisse durch das LSG bezüglich der bereits während der Dienstzeit des Klägers aufgetretenen Leiden (Rückenschmerzen, Strahlenfibrose) an demselben Rechtsfehler wie seine Entscheidung über die später aufgetretenen möglichen WDB-Folgen, die nach § 48 SGB X zu berücksichtigen wären. Insoweit kann auf das oben unter a) Gesagte verwiesen werden. Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch hier prüfen müssen, ob die Besonderheiten der truppenärztlichen Behandlung als wehrdiensteigentümliche Verhältnisse mit Wahrscheinlichkeit zur Entstehung der genannten Beeinträchtigungen geführt haben. Zu diesem Ursachenzusammenhang wird das LSG noch weitere tatsächliche Feststellungen zu treffen und ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
Tenor
-
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.
-
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
- 1
-
Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.
- 2
-
Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.
- 3
-
Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.
- 4
-
Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.
- 5
-
Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.
- 6
-
Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.
- 7
-
Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.
- 8
-
Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.
- 9
-
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.
- 10
-
Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).
- 11
-
Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.
- 12
-
Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.
- 13
-
Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.
- 14
-
In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.
- 15
-
Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.
- 16
-
In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.
- 17
-
Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.
- 18
-
Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.
- 19
-
Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.
- 20
-
Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.
- 21
-
Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).
- 22
-
Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.
- 23
-
Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.
- 24
-
Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.
- 25
-
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.
- 26
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
- 27
-
Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.
- 28
-
Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.
Entscheidungsgründe
- 29
-
1. Die Revision des Klägers ist zulässig.
- 30
-
a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.
- 31
-
Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.
- 32
-
b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.
- 33
-
2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.
- 34
-
a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen
von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).
- 35
-
b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:
Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3. gesetzlich vorgeschrieben war oder
4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.
Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.
- 36
-
aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).
- 37
-
Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).
- 38
-
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.
- 39
-
bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales
) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.
- 40
-
Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):
Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.
- 41
-
Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS
, Einleitung zur VersMedV, S 5) , sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.
- 42
-
cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
- 43
-
Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.
- 44
-
c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.
- 45
-
aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25
) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.
- 46
-
Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".
- 47
-
Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.
- 48
-
bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.
- 49
-
aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:
So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.
- 50
-
Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.
- 51
-
In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).
- 52
-
Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.
- 53
-
Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:
Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.
- 54
-
Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:
Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.
- 55
-
Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:
Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.
- 56
-
Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:
Geringe Lokalreaktion,
- 57
-
enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:
Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.
- 58
-
In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):
Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.
Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.
In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.
Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.
- 59
-
bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:
Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.
- 60
-
Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.
- 61
-
Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.
- 62
-
Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.
- 63
-
d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.
- 64
-
aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.
- 65
-
bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.
- 66
-
Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.
- 67
-
aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.
- 68
-
Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.
- 69
-
Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.
- 70
-
bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.
- 71
-
ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.
- 72
-
e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
- 73
-
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 15. Juni 2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
17 Tage nach der zweiten Impfung, am 21.05.1995, stellte sich bei der Klägerin ein tonischer Adversivkrampf während des Stillens ein. Im Rahmen des anschließenden Krankenhausaufenthalts im Klinikum B-Stadt wurde bei der entwicklungs-neurologischen Untersuchung ein grenzwertiger Befund mit Zeichen einer Entwicklungsretardierung um 1-2 Monate festgestellt und der Verdacht auf ein fokales Anfallsleiden geäußert. Eine Meldung der Erkrankung als Verdachtsfall einer unerwünschten Arzneimittelwirkung erfolgte nicht.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 15.06.2011 sowie den Bescheid des Beklagten vom 08.05.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin ein Hirnkrampfleiden mit Entwicklungsretardierung als Impfschaden infolge der Impfungen vom 20.03.1995 und 04.05.1995 im Sinne des IfSG anzuerkennen und Versorgung zu gewähren,
hilfsweise den Sachverständigen Dr. H. wegen der Frage des Primärschadens erneut zu befragen und Herrn Dr. P. P. in Zusammenarbeit mit Herrn Dr. A. B. gutachtlich gemäß § 109 SGG zu hören.
Weitere Anträge hat die Klägerin nicht gestellt.
die Berufung zurückzuweisen.
Gründe
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 6. Dezember 2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
- Impfung am 06.06.2005: „Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Einstichstelle war heiß und geschwollen. Anmerkung des Arztes: ist normal.“
- Impfung am 21.07.2005: „Gelenkschmerzen, Schlappheit, Kopfschmerzen. Arzt: keine Reaktion.“
Die bei der Klägerin vorliegende chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie stelle einen Impfschaden dar. Die Klägerin möchte noch einmal ausführen, dass bereits nach der ersten Impfung ihr Arm geschwollen gewesen sei und sie Ermüdungserscheinungen gehabt habe. Nach der zweiten Impfung seien Grippeerscheinungen aufgetreten und neben der Müdigkeit auch vermehrt Kopfschmerzen. Eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustands sei schließlich im November erfolgt, hier habe die Klägerin über Gangunsicherheiten geklagt. Die Klägerin habe diese Symptome jedoch im Zusammenhang mit den Grippeerscheinungen gesehen. Einen Arzt habe sie somit erst Anfang 2006 aufgesucht. Da die Diagnose nicht von Anfang an eindeutig gestellt habe werden können, habe dies einige Zeit in Anspruch genommen, bis die Diagnose einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie festgestanden habe. Dass aufgrund der zeitlichen Verzögerung die Erkrankung nicht mehr als Folge der Impfung anerkannt werden solle, könne die Klägerin unter keinen Umständen nachvollziehen. Entsprechend den öffentlich zugänglichen Informationen über die Erkrankung entwickle sich diese schleichend, was dazu führe, dass eine Diagnose nur erschwert möglich sei. Dies sei auch bei der Klägerin der Fall gewesen. Durch den schleichenden Prozess sei auch die zeitliche Diskrepanz zu erklären; nach Angaben des Klinikums der Universität M-Stadt erreiche die Erkrankung das Maximum acht Wochen oder später nach Symptombeginn. Die zeitliche Verzögerung dürfe nicht dazu führen, dass ein Kausalzusammenhang verneint werde.
Anschließend hat das SG ärztliche Unterlagen eingeholt. Einem Gutachten des Neurologen Dr. W. für die deutsche Rentenversicherung vom 25.08.2010 ist zu entnehmen, dass die Klägerin im Rahmen der Eigenanamnese dort berichtet habe, dass sie „Ende 2005, November/Dezember,“ beim Spazierengehen mit den Hunden und beim Treppensteigen ein Schwächegefühl in den Beinen bemerkt habe. Im Februar 2006 sei sie zufälligerweise wegen Gliederschmerzen beim Orthopäden gewesen, der dann die Einweisung in eine neurologische Klinik veranlasst habe.
Im Auftrag des SG hat der Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie Prof. Dr. J. am 01.12.2015 ein Gutachten erstellt. Er ist darin zu der Einschätzung gekommen, dass die bei der Klägerin vorliegenden Impfreaktionen nach den Impfungen am 06.06.2005 (lokale Reaktion an der Impfstelle - Schwellung und Rötung -, die bei der zweiten Impfung bereits wieder abgeklungen gewesen sei) und 27.07.2005 (keine Angaben des impfenden Arztes über eventuelle Nebenwirkungen; die Klägerin habe Grippeerscheinungen und vermehrte Müdigkeit und Kopfschmerz angegeben) Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff seien. Es handle sich um übliche Reaktionen, die zweifellos durch die Impfungen bedingt seien. Impfkomplikationen lägen daher nicht vor. Im Übrigen sprächen sowohl die gegenwärtigen Kenntnisse über die Pathogenese einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie als auch der zeitliche Verlauf bzw. der große zeitliche Abstand zwischen Impfung und dem ersten Auftreten von Symptomen gegen einen kausalen Zusammenhang.
Nach dem ersten Impftermin am 06.06.2005 sei es zu einer Schwellung der Injektionsstelle und Gelenkschmerzen, Mattigkeit und Kopfschmerzen gekommen. Wie lange diese Beschwerden genau angehalten hätten, bleibe unklar. Nach der Beschreibung der Klägerin könne auch gefolgert werden, dass es nicht zum völligen Verschwinden dieser Symptomatik gekommen sei. Ein ähnliches Bild habe sich nach der zweiten FSME-Impfung am 21.07.2005 ergeben. Wieder seien Beschwerden an der Impfstelle, Müdigkeit und Gelenkschmerzen aufgetreten. Nach den Schilderungen der Klägerin seien diese Gelenkbeschwerden in ein Kribbeln übergegangen. Im September 2005 habe ein reduzierter Gesundheitszustand mit abnormer Müdigkeit vorgelegen. Über akute Beschwerden nach der IPV/Diphtherie-Impfung am 29.09.2005 sei nicht berichtet worden, vermutlich sei der Gesundheitszustand aber zum Zeitpunkt dieser Impfung noch reduziert gewesen. Ab November 2005 sei es zu motorischen Störungen beim Laufen gekommen. In der Folge sei dann im Januar/Februar 2006 die Diagnose einer entzündlichen Erkrankung des peripheren Nervensystems gestellt worden.
Bei den lokalen Reaktionen an der Injektionsstelle und den zeitgleich auftretenden systemischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen und Mattigkeit handle es sich um bekannte und häufige Impfreaktionen. Die Grenze zur Impfkomplikation werde bei der Klägerin durch die lange Dauer dieser Beschwerden, den Übergang der Gelenkschmerzen in Missempfindungen, die lang anhaltende abnorme Mattigkeit und schließlich mit der Diagnosestellung der chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie überschritten. Die chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie sei eine bekannte und schwerwiegende Impfkomplikation und könne im Fall der Klägerin durch die zwei FSME-Impfungen, die Revaxis-Impfung und die Diphtherie-Impfung bzw. die Kombination aller dieser Impfungen ausgelöst worden sein.
- Bei dem FSME-Impfstoff handle es sich um einen sogenannten inaktivierten adjuvantierten Impfstoff. Um eine gute Immunreaktion zu erzeugen, seien die Virusbestandteile an 1 mg Aluminiumhydroxid als Immunverstärker (Adjuvans) adsorbiert. In der Fachinformation zum Impfstoff werde darauf hingewiesen, dass in (sehr) seltenen Fällen Nervenentzündungen bzw. entzündliche Reaktionen des Gehirns auftreten könnten.
- Der Impfstoff Revaxis sei ein inaktivierter Kombinationsimpfstoff gegen Tetanus, der Aluminiumhydroxid als Adjuvans in einer Menge von 0,35 mg enthalte. In klinischen Studien sei am häufigsten über lokale Nebenwirkungen an der Injektionsstelle berichtet worden. Diese würden in der Regel innerhalb von 48 Stunden nach der Impfung auftreten und ein bis zwei Tage anhalten. In der Fachinformation werde darauf hingewiesen, dass als sehr seltene Nebenwirkung Erkrankungen des Nervensystems, u.a. das Guillain-Barre-Syndrom, auftreten könnten.
- Der Diphtherie-Impfstoff (Impfung am 29.09.2005) enthalte ebenfalls Aluminiumhydroxid als Adjuvans und zusätzlich Thiomersal. Die Fachinformation von 2006 weise u.a. in Einzelfällen auf Erkrankungen des zentralen oder peripheren Nervensystems (u.a.. Guillain-Barre-Syndrom) und Entzündungen des peripheren Nervensystems als unerwünschte Nebenwirkungen hin. In der Fachinformation zum Diphtherie-Impfstoff werde auf unerwünschte Wirkungen des Nervensystems hingewiesen, u.a. auf vorübergehende leichte Parästhesien.
Von entscheidender Bedeutung sei die Frage nach dem ersten Auftreten von Symptomen der Erkrankung. Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der ersten Impfung mit dem FSME-Impfstoff und Revaxis sei im Bereich der FSME-Impfstelle eine Schwellung aufgetreten und es sei zu einer Impfreaktion mit Kopfschmerzen und Gelenkschmerzen gekommen. Die Klägerin habe die folgende Zeit als eine beschrieben, in der sich ihr Gesundheitszustand schleichend verschlechtert habe. Die Gelenkschmerzen seien in Kribbeln und Taubheitsgefühl übergegangen, ohne dass sich der Zeitpunkt des Beginns exakt festlegen lasse. Nach der zweiten FSME-Impfung am 21.07.2005 sei es wieder zu Gelenkschmerzen, Schlappheit und Kopfschmerzen gekommen. Am 29.09.2005 seien dann mit dem IPV-Impfstoff und dem Diphtherie-Impfstoff die letzten Impfungen verabreicht worden. Ab November 2005 sei in mehreren ärztlichen Berichten erstmals die muskuläre Schwäche beim Spazierengehen beschrieben worden. Somit liege ein dokumentierter Beginn der Erkrankung wenige Wochen nach der Diphtherie-Impfung vor. Die Beschreibung der Erkrankung durch die Klägerin lege einen früheren Beginn mit schleichendem Verlauf und ohne diesbezügliche ärztliche Konsultation nahe. Eine chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie sei eine Erkrankung, bis zu deren Diagnosestellung oft mehrere Monate vergehen würden. Im September 2005 habe nach dem Bericht von Herrn B. eine Episode mit unklaren Gliederschmerzen und unnatürlicher Erschöpfung vorgelegen. Für demyelinisierende Erkrankungen des peripheren und zentralen Nervensystems durch eine autoimmune Attacke werde für einen Zusammenhang mit einer verabreichten Impfung derzeit ein plausibles Zeitintervall von bis zu 42 Tagen angesehen. Da man die genauen immunologischen Abläufe nicht kenne, orientiere man sich an empirischen Daten. Shoenfeld et alt. seien sogar der Ansicht, dass für Autoimmunerkrankungen nach Impfungen auch Intervalle von mehreren Monaten nicht unplausibel seien. Die unerwünschte Reaktion einer immunologisch vermittelten Entzündung des peripheren Nervensystems im Sinne einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie nach der FSME-Impfung, der Diphtherie-Monoimpfung und der Kombinationsimpfung mit Revaxis sei als bekannt zu betrachten. Besonderes Potenzial bezüglich der Auslösung autoimmuner Komplikationen komme im Fall der Klägerin sicherlich der verwendeten Diphtherie-Impfung zu, die mit dem Konservierungsmittel Thiomersal eine zusätzliche Komponente mit autoimmunem Auslösepotenzial beinhalte. Alternative Ursachen im Sinn von nachgewiesenen Infektionen oder anderen immunmodulationen Ereignissen seien in den Akten nicht dokumentiert. Das Kriterium des gesicherten Zusammenhangs im WHO-Algorithmus verlange einen positiven Expositionsversuch, der in Anbetracht der Schwere der Erkrankung bei der Klägerin nicht vertretbar sei. Somit seien im Fall der Klägerin die Kriterien erfüllt, die von der WHO für die Feststellung eines wahrscheinlichen Zusammenhangs gefordert würden, welche seien:
-
1.plausibles zeitliches Intervall,
-
2.plausible Hypothese zur Pathophysiologie und Bekanntheit der Reaktion und
-
3.keine anderen möglichen Auslöser einer Autoimmunreaktion im plausiblen Zeitintervall.
- Herr B. habe im versorgungsärztlichen Gutachten nur die FSME-Impfung diskutiert, nicht aber die weiteren verabreichten Impfungen. Aktuelle Forschung zu Impfungen und Autoimmunerkrankungen werde nicht vorgestellt. Die Stellungnahme sei daher nicht geeignet, eine korrekte Bewertung der Abläufe im Fall der Kläger zu ermöglichen.
- Der sozialgerichtliche Gutachter Prof. Dr. J. habe in seinem Gutachten Arbeiten nicht erwähnt, die schwere unerwünschte neurologische Wirkungen der FSME-Impfung belegen würden. Große Vorsicht sei bei der Interpretation der von Prof. Dr. J. zitierten Studien der Hersteller geboten, da diese Studien nur veröffentlicht würden, wenn sich die Hersteller hiervon einen Vorteil versprächen. Prof. Dr. J. behaupte, die Arbeiten von Shoenfeld et alt. zur Autoimmunität und Adjuvantien in Impfstoffen würden lediglich eine Hypothese darstellen, die bis heute nicht wirklich bewiesen worden sei. Allerdings unternehme der Gutachter auch nicht den Versuch, diese Hypothese kritisch zu prüfen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Aufgrund der dargelegten Schwächen sei das Gutachten von Prof. Dr. J. ungeeignet, den Fall korrekt zu bewerten.
Im Urteil des SG fehle der Hinweis auf die Impfung vom 29.09.2005. Die Aussage im Tatbestand des Urteils, die Klägerin habe bei der Untersuchung durch die Orthopädin Dr. S. am 20.02.2006 angegeben, seit 2 bis 3 Wochen Parästhesien in den Händen zu haben, sei so nicht richtig. Sie habe bereits beim Hausarzt Dr. R. am 21.07.2005 derartige Beschwerden (linke Hand) vorgebracht. Wenn der Klägerin bei der Untersuchung durch den Gutachter im Verwaltungsverfahren zur Last gelegt werde, dass ihre Angaben im Widerspruch zu denen im Rahmen der Untersuchung bei der ersten Behandlung im Krankenhaus H.W. stünden, sei dies falsch. Die Aussage, dass Ersterscheinungen erst im Jahr 2006 aufgetreten seien, sei bereits durch die vorher gemachten Untersuchungen und Arzttermine widerlegt. Eine chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie entwickle sich langsam und erreiche ihr Maximum definitionsgemäß acht Wochen oder später nach Symptombeginn. U.a. komme es zu symmetrischen Lähmungen und Sensibilitätsstörungen. Wenn der Hausarzt für den 21.07.2005 berichtet habe, dass die Impfreaktion wieder abgeklungen gewesen sei, sei demgegenüber darauf hinzuweisen, dass bereits am 21.07.2005 die auftretende Parese dokumentiert sei. Dr. H. habe aus den Unterlagen ablesen können, dass die Beschwerden eindeutig ab dem 21.07.2005 beschrieben und dokumentiert seien. Die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. K. sei unrichtig. Beispielsweise ergebe sich aus Studien, dass Aluminium in Impfstoffen das Autismus-Risiko erhöhe. Impfungen würden zudem das Risiko für Autoimmunerkrankungen erhöhen, was auch darin seine Bestätigung finde, dass impfbedingte Autoimmunerkrankungen nunmehr unter der Bezeichnung „ASIA“ zusammengefasst würden. Unerwünschte Nebenwirkung der FSME-Impfung sei u.a. das Guillain-Barre-Syndrom, dessen chronische Verlaufsform die chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie sei. Sofern im Urteil des SG davon ausgegangen worden sei, dass Unstimmigkeiten in den Ausführungen der Klägerin hinsichtlich einer Impfkomplikation gegeben seien, entspreche dies nicht der Wahrheit. Tatsächlich hätten die Paresen in der linken Hand begonnen und sich im Laufe der Zeit bis zum 29.09.2005 auf beide Hände ausgebreitet. Es werde angeregt, im Rahmen der Ermittlungen von Amts wegen ein weiteres Gutachten einzuholen.
unter Aufhebung des Urteils vom 06.12.2016 sowie des Bescheids vom 16.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.05.2014 den Beklagten zu verurteilen, die chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie als Impfschädigung anzuerkennen und ab 01.05.2013 Versorgung nach einem GdS von 80 zu gewähren.
die Berufung zurückzuweisen.
Gründe
-
1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
-
2.auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
-
3.gesetzlich vorgeschrieben war oder
-
4.auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.
"Der Betroffene muss zweitens eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben (auch wenn diese vielleicht nicht eindeutig zu identifizieren und zeitlich zu fixieren sein mag); dabei muss es im haftungsbegründenden Tatbestand unabdingbar zu einer gesundheitlichen Schädigung (= Primärschädigung) gekommen sein, rein wirtschaftliche Nachteile genügen insoweit nicht. Zum haftungsbegründenden Tatbestand gehört auch, dass die Primärschädigung im Sinn von § 2 Nr. 11 IfSG über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgeht."
und weiter
„Es wäre allerdings realitätsfremd, in jedem impfschadensrechtlichen Fall zu verlangen, es müsse eine deutlich wahrnehmbare und fixierbare Primärschädigung festgestellt werden. Allgemein dient die Dreigliedrigkeit dazu, bestimmte Geschehnisabläufe bereits auf einer Vorstufe der Prüfung “auszusondern„und das Fehlen kausaler Zusammenhänge leichter erkennen zu können. Je mehr sich die Kausalitätsprüfung in gedankliche Zwischenschritte “zerlegen„lässt, desto objektivierbarer kann der Geschehnisablauf rechtlich aufgearbeitet werden (vgl. Kunze, Kausalität in der gesetzlichen Unfallversicherung, VSSR 2005, S. 299 <302>). Diese Differenzierung ist aber dann nicht möglich, wenn die Schädigung, also der (erste) Eingriff in das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, nicht deutlich zu Tage tritt, sondern wie hier im Verborgenen erfolgt (a.A. wohl Meßling in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 60 IfSG, Rn. 62). Zweifellos ist in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung schwieriger, weil sich der Verursachungspfad nicht klar abzeichnet. Dennoch darf nicht per se wegen der Nichterkennbarkeit einer Primärschädigung am Rechtsgut der körperlichen Gesundheit die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs negiert werden. Vielmehr muss der Zusammenhang zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen “Etappe„beurteilt werden (vgl. LSG Bayern, Breithaupt 2012, S. 51 <56>).“, kann der Senat dem nicht folgen. Denn damit verzichtet der 15. Senat auf das Erfordernis des Vollbeweises beim Primärschaden. Wenn der 15. Senat die Anforderungen an den Nachweis des Vollbeweises in der vorgenannten Entscheidung durch den Hinweis
„Sehr wichtige “Mosaiksteine„sind dabei die mehr oder weniger zeitnah zur Impfung beim Kläger beobachtete Symptomatik, das allgemein auftretende Bild eines Impfschadens mit einer Beteiligung eines peripheren Nerven, die Ätiologie des beim Kläger vorhandenen Krankheitsbilds, die Pathogenese in Bezug auf mögliche Alternativursachen.“
relativiert und letztlich in Frage stellt, steht dies nicht in Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben und der klaren obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung. Ob der 15. Senat dieser Entscheidung auch heute noch folgen würde, steht im Übrigen in Frage (vgl. Urteil des 15. Senats vom 11.07.2017, L 15 VJ 6/14, in dem die Frage ausdrücklich offen gelassen worden ist, inwiefern der Primärschaden nachgewiesen sein muss).
"Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr. 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm. 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind."
„Die den Versicherungsschutz in der jeweiligen Versicherung begründende “Verrichtung„, die (möglicherweise dadurch verursachte) “Einwirkung„und der (möglicherweise dadurch verursachte) “Erstschaden„müssen (vom Richter im Überzeugungsgrad des Vollbeweises) festgestellt sein.“
„Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.“
- Der im erstinstanzlichen Verfahren gehörte Gutachter Prof. Dr. J. hat ausführlich und überzeugend und unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstands erläutert, dass das bei der Klägerin vorliegende Krankheitsgeschehen unabhängig von den Impfungen ist. Sowohl die aktuellen Kenntnisse über die Pathogenese der chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie als auch das Wissen über Verträglichkeit und mögliche Komplikationen nach den durchgeführten Impfungen und schließlich der große zeitliche Abstand zwischen Impfung und dem ersten Auftreten von Symptomen eines Guillain-Barre-Syndroms bzw. einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie sprechen ganz klar gegen einen kausalen Zusammenhang zwischen den Impfungen und der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung. Diese Ausführungen des Sachverständigen kann sich der Senat vorbehaltslos zu eigen machen.
- Aber auch nach den Feststellungen im Gutachten des von der Klägerin gemäß § 109 SGG benannten Sachverständigen Dr. H., das nicht nur den bereits aufgezeigten Bedenken begegnet, sondern auch unter massiven Mängel leidet - beispielsweise legt er nicht den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu Impfzusatzstoffen zugrunde (vgl. ausführlich Urteil des Senats vom 18.05.2017, L 20 VJ 5/11 - m.w.N.) und führt seine Beurteilung nicht nach den Maßgaben des deutschen Impfschadensrechts durch, weil er diese Vorgaben für falsch hält -, müsste der für die Anerkennung eines Impfschadens erforderliche kausale Zusammenhang verneint werden. Zum einen legt Dr. H. selbst zu Grunde, dass sich nach den impfschadensrechtlichen Anforderungen im deutschen Recht, wie sie ihm auch im Gutachtensauftrag aufgezeigt worden sind, ein Zusammenhang im vorliegenden Fall nicht herstellen lässt. Er weicht daher auf Kriterien der WHO aus, die aber nach deutschem Impfschadensrecht unmaßgeblich sind. Zudem - auch dies zeigt er auf - dürfte auch bei Zugrundelegung der WHO-Anforderungen ein kausaler Zusammenhang nicht bejaht werden, weil der nach den WHO-Kriterien erforderliche erfolgreiche Expositionsversuch nicht durchgeführt worden ist. Dass aus Rücksicht auf die Gesundheit der Klägerin von einem derartigen Expositionsversuch im Rahmen der Begutachtung durch Dr. H. abgesehen worden ist, ist für den Senat zwar verständlich. Gleichwohl kann der Senat nicht nachvollziehen, warum Dr. H. wiederum von den von ihm selbst als maßgeblich bezeichneten WHO-Kriterien abweicht und trotz nicht vollständiger Erfüllung der von ihm selbst als erforderlich aufgezeigten Voraussetzungen einen Kausalzusammenhang bejaht. Schließlich weist Dr. H. selbst darauf hin, dass von einem plausiblen Zeitintervall für den Beginn einer demyelinisierenden Erkrankung des peripheren und zentralen Nervensystems nach einer Impfung nur dann auszugehen sei, wenn dieses nicht mehr als 42 Tage betrage. Dieses Zeitintervall war nach den Impfungen am 06.06.2005 und 21.07.2005 auch dann weit überschritten, wenn von den - nicht belegten - verhältnismäßig zeitnah zu den Impfungen gemachten Angaben der Klägerin ausgegangen würde, dass sie im November 2005 erste Gefühlsstörungen an Füßen und Händen gehabt hätte.
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 8. Juni 2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1. Zu der Frage, ob es beim Kläger im Vollbeweis zu einer Dissektion gekommen sei:
Seiner Einschätzung nach sei es nicht zu einer Dissektion gekommen, die nach den Kriterien des Vollbeweises als gesichert angesehen werden könne. Im Vollbeweis gesichert sei beim Kläger ein Hirninfarkt sowie ein sich aus der Diagnostik der Neurologischen Klinik A-Stadt ergebender Verschluss der distalen intrakraniellen Arteria carotis links; die CT-Angiographie am 10.11.2009 habe eine „hochgradig stenosierende, wohl embolische Kontrastmittelaussparung in der linken A. carotis interna im distalen zervikalen Abschnitt und dem Canalis caroticus“ gezeigt. Befunde, die die positiven Kriterien einer Dissektion (Nachweis eines Wandhämatoms, trichterförmige Lumeneinengung, klinische Korrelate wie lokale Schmerzen oder ein Horner-Syndrom) erfüllen würden, lägen nicht vor. Auch könnten die im weiteren Verlauf erhobenen Befunde die Diagnose einer Dissektion nicht bestätigen. Eine im Rahmen der Reha-Behandlung im Klinikum S. durchgeführte Dopplersonographie am 25.02.2010 habe eine unauffällige Gefäßwandmorphologie und unauffällige Strömungsprofile gezeigt. Auch aus der Literatur ergebe sich ein differenziertes Bild. Bei einer - vom Gutachter näher genannten - Untersuchung an 249 Patienten mit einer Dissektion der carotis hätten 124 einen kompletten Verschluss gezeigt, von denen sich nach einer Nachbeobachtungszeit von bis zwölf Monaten gerade etwa 45% komplett zurückgebildet hätten, während in 55% noch leichte bis schwere Stenosen nachweisbar gewesen seien. Die Rekanalisation habe in einem Zeitraum von sechs Monaten stattgefunden, in 50% der Fälle sei sie allerdings nach drei Monaten erkennbar gewesen. Hieraus ergebe sich, dass eine Dissektion zwar möglich sei, nicht jedoch in solcher Weise als gesichert angesehen werden könne, dass z.B. eine kardiale Embolie nicht auch in gleicher Weise vorstellbar sei.
2. Zu der Frage, ob über die allgemeine Ursache des Entstehungsgrundes einer Dissektion in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit bestehe:
Der Großteil der Dissektionen trete spontan bzw. sporadisch auf und eine Ursache sei nicht klar erkennbar, d.h. die Frage einer wissenschaftlichen Ungewissheit sei zu bejahen.
3. Zu der Frage, ob es wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung gebe, die -theoretisch - die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs zwischen einer Dissektion und der hier erfolgten Impfung mit Pandemrix vertrete:
Ein epidemiologisch erhöhtes Risiko einer Dissektion nach einer Impfung mit Pandemrix sei nicht belegt, was u.a. mit methodischen Problemen zusammenhängen könne. Begebe man sich auf das Feld theoretischer Überlegungen, so sei es mittlerweile als gesichert anzusehen, dass es nach Impfung mit Pandemrix zu einer erhöhten Inzidenz der Erkrankung Narkolepsie gekommen sei. Ursache sei ein Untergang von Zellen im Gehirn, die ein bestimmtes wachheitsförderndes Hormon bilden würden. Es sei bekannt, dass diese Zelldegeneration immunologisch, d.h. entzündlich bedingt sei. An derartigen immunologischen Prozessen seien Zytokine beteiligt, die letztlich auch die positive Wirkung einer Impfung, nämlich die Ausschaltung von immunpathologischen Agentien bedingen würden. Eine Entgleisung einer solchen immunologische Reaktion bzw. ein erhöhtes Auftreten von Zytokinen könne z.B. Einfluss auf die kardiale Funktion nehmen bzw. am Auftreten von kardialen und auch Gefäßerkrankungen beteiligt seien. Somit ergeben sich durchaus theoretisch gut begründbare mögliche pathophysiologische Zusammenhänge zwischen dem Schlaganfall und der Impfung beim Kläger.
Der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten hat zu dieser ergänzenden Stellungnahme am 27.12.2017 u.a. darauf hingewiesen, dass eine Gefäßdissektion der Arteria carotis als Primärschaden nicht belegt sei. Auch sei vom Sachverständigen bestätigt worden, dass sich in der wissenschaftlichen Literatur keine Arbeiten finden würden, die Hinweise auf ein erhöhtes Risiko einer Gefäßdissektion nach einer Impfung zeigen würden. Der Vergleich mit der Krankheit Narkolepsie könne in der Diskussion des vorliegenden Falls keinen Beitrag leisten. Es handle sich um ein vollständig anderes Krankheitsbild mit einem anderen Pathomechanismus. Hinweise darauf, dass eine Gefäßdissektion in relevantem Zusammenhang mit Autoimmunprozessen stehe, seien aktuell nicht bekannt. Aus einem rein zeitlichen Zusammenhang und der bloßen theoretischen Möglichkeit, dass eine durch eine Impfung induzierte Ausschüttung von Zytokinen einen Einfluss auf die Herz-Gefäß- oder Kreislauffunktion haben könnte, ergebe sich keine Grundlage für die Anerkennung der Gesundheitsstörung als Impfschaden.
Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schreiben vom 26.01.2018 ihre Ansicht geäußert, dass mehr für als gegen eine Kausalität der Impfung für den Schlaganfall spreche. Der Gutachter habe gut begründbare pathophysiologische Zusammenhänge zwischen Schlaganfall und Impfung bestätigt und auch der zeitliche Zusammenhang sei gegeben. Zudem habe der Gutachter ausgeführt, dass nach den aktuellen Informationen kein Alternativauslöser beim Kläger in Betracht komme. Weiter haben sie auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 21.06.2017 hingewiesen, welches sich mit einem französischen Fall eines Impfschadens im Bereich der Produkthaftung befasst habe. Auch in dem dort entschiedenen Fall habe es eine zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung des Impfstoffes und dem Auftreten der Erkrankung gegeben, aufgrund derer es das Gericht als ausreichend angesehen habe, dass nur gewisse Umstände auf den Impfstoff als Schadensursache hingedeutet hätten.
den Gerichtsbescheid vom 08.06.2015 aufzuheben und unter Aufhebung des Bescheids vom 23.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2013 den Hirninfarkt des Klägers mit den daraus resultierenden gesundheitlichen Einschränkungen als Impfschaden infolge der Impfung vom 03.11.2009 anzuerkennen und ihm Versorgung zu leisten.
die Berufung zurückzuweisen.
Gründe
-
1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
-
2.auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
-
3.gesetzlich vorgeschrieben war oder
-
4.auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.
„Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis „nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen“ nicht ausreichen.“
„Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.“
1. Feststellungen
2. Kein Primärschaden
„Verdachtsdiagnosen im Sinne dieser Kodierrichtlinie sind Diagnosen, die am Ende eines stationären Aufenthaltes weder sicher bestätigt noch sicher ausgeschlossen sind. Verdachtsdiagnosen werden unterschiedlich kodiert, abhängig davon, ob der Patient nach Hause entlassen oder in ein anderes Krankenhaus verlegt wurde
… Wenn eine Behandlung eingeleitet wurde und die Untersuchungsergebnisse nicht eindeutig waren, ist die Verdachtsdiagnose zu kodieren.“
2.3. Keine Wahlfeststellung
3. Auch bei Annahme einer Dissektion keine Kausalität zwischen Impfung und Primärschaden
3.1. Kein Zusammenhang im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit
3.2. Kein Zusammenhang im Sinne der Kannversorgung
„Impfstoffe sind, wie alle anderen wirksamen Arzneimittel auch, nicht völlig frei von Nebenwirkungen. Die Anforderungen an die Sicherheit von Impfstoffen sind höher als etwa an Arzneimittel zur Behandlung schwer erkrankter Personen. Denn es sind in der Regel gesunde Kinder, Jugendliche und Erwachsene, welche geimpft werden. In äußerst seltenen Fällen können Impfstoffe zu Gesundheitsstörungen und Erkrankungen führen. Ein zeitlicher Zusammenhang von Impfung und einer Erkrankung begründet einen Verdacht, ist aber noch kein Beweis dafür, dass eine Impfung die Krankheit verursacht hat.
Für Verdachtsfälle von Impfreaktionen, die über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehen, besteht nach Infektionsschutzgesetz eine Verpflichtung für den impfenden Arzt, dies an das zuständige Gesundheitsamt zu melden. Von dort erhält das P.-E.-Institut die Daten in anonymisierter Form. Die Experten des Referats Arzneimittelsicherheit prüfen jede Meldung und beurteilen aufgrund der gemeldeten und ggf. recherchierten Informationen, ob ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung als gesichert, wahrscheinlich, möglich, unwahrscheinlich oder auch wegen fehlender Daten nicht zu beurteilen ist. Ziel dieser Bewertungen ist es, mögliche Risikosignale bei einem Impfstoff frühzeitig zu erkennen um Maßnahmen zur Risikominimierung ergreifen zu können. Sehr seltene, aber vielleicht schwerwiegende Nebenwirkungen können auch in großen klinischen Prüfungen nicht entdeckt werden, sondern erst dann, wenn sehr viele Menschen den betreffenden Impfstoff erhalten haben. Daher ist die Beobachtung, Meldung und Bewertung von Verdachtsfällen auf Impfkomplikationen äußerst wichtig.“
(https://www...de/DE/arzneimittel/impfstoff-impfstoffe-fuer-den-menschen/informationen-zu-impfstoffen-impfungen-impfen.html - Stand 11.07.2018)
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 14.02.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
- ein Arztbrief der Sozialstiftung B-Stadt vom 24.04.2014, wonach die Klägerin dort stationär vom 16.04.2014 bis zum 24.04.2014 wegen einer Querschnittsmyelitis BWK 7, Differenzialdiagnose Gliom mit sensiblem Querschnitt rechtsbetont ab Dermatom TH 12 und Vitaminmangel behandelt worden sei. Die Klägerin sei wegen eines seit ca. 14 Tagen bestehenden Pelzigkeitsgefühls unterhalb des Bauchnabels eingewiesen worden. Das Pelzigkeitsgefühl sei nach Angaben der Klägerin langsam progredient, habe an den Füßen begonnen und steige nun auf. Bei einer Lumbalpunktion habe sich - so der Bericht des Krankenhauses - kein Hinweis auf eine akut-entzündliche ZNS-Erkrankung bei unauffälligen Liquorstatus ergeben. Eine MRT der HWS/BWS habe eine Läsion auf Höhe des BWK 7 von ca. 3 cm Länge gezeigt. Bei einer Kortisonstoßtherapie sei die Querschnittssymptomatik kaum rückläufig gewesen. Wegen des Nichtansprechens auf Kortison und nur einem isolierten Herd im MRT sei nicht von einer akuten oder chronischen-entzündlichen ZNS-Erkrankung, sondern eher von einer tumorösen Raumforderung auszugehen, am ehesten einem Gliom.
- ein Arztbrief des Universitätsklinikums E-Stadt vom 14.05.2014 über einen stationären Aufenthalt vom 28.04.2014 bis zum 14.05.2014. Als Diagnosen wurden dort genannt der Verdacht auf Querschnittsmyelitis BWK 7, Differenzialdiagnose Gliom mit sensiblem Querschnitt sowie ein Vitamin B12-Mangel, bezüglich dessen eine Substitution begonnen und eine Fortsetzung empfohlen worden sei. Bei der Aufnahme habe die Klägerin angegeben, seit 4 bis 6 Wochen an zunehmenden Gefühlsstörungen beider Beine zu leiden, welche sich in den letzten drei Wochen deutlich verschlechtert hätten. Eine Erregerdiagnostik sei - so der Bericht - unauffällig gewesen, so dass gegenwärtig nicht von einer paraeinfektiösen Genese auszugehen sei. Eine Analyse des Liquors sei ebenfalls unauffällig gewesen. Auffällig sei ein Vitamin B12-Mangel gewesen, so dass die intramuskuläre Substitution begonnen worden sei. Klinisch habe sich eine leichtgradige Besserung der Sensibilitätsstörungen gezeigt.
- ein Arztbrief der neuroimmunologischen Ambulanz des Universitätsklinikums E-Stadt vom 14.07.2014, in der sich die Klägerin am 18.06.2014 vorgestellt hatte: Die Klägerin habe berichtet, dass sie, nachdem am 30.01.2014 eine Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis durchgeführt worden sei, im Verlauf der nächsten 2 bis 3 Wochen erstmalig Sensibilitätsstörungen im Bereich der Fußsohle bemerkt habe. Im weiteren Verlauf seien diese Sensibilitätsstörungen teilweise zum Rippenbogen aufgestiegen. Zusätzlich sei sie dann im Februar nicht mehr in der Lage gewesen, sicher zu gehen. In der Kernspintomographie habe sich - so der Bericht - auf Höhe des BWK 7 eine Signalalteration nachweisen lassen, die zum einen gut zu einer Myelitis gepasst habe. Differenzialdiagnostisch sei allerdings auch das Vorliegen eines Glioms diskutiert worden. In Zusammenschau der Befunde sei nunmehr von einer entzündlichen Genese der Myelonläsion auszugehen. Es sei zu diskutieren, ob es sich nicht um eine monophasisch verlaufende Myelitis handle. Auffällig sei, dass die ersten Symptome nach Durchführung einer Impfung im Januar aufgetreten seien, so dass eine kausale Assoziation nicht ausgeschlossen werden könne.
- Der impfende Arzt Dr. T. berichtete dem Beklagten auf Nachfrage, dass er die Klägerin nur am 30.01.2014 geimpft und seither keine weiteren Behandlungen durchgeführt habe.
- Auf Nachfrage stellte das Landratsamt B-Stadt dem Beklagten eine Kopie des vom impfenden Arzt Dr. T. erstellten Berichts über den Verdacht auf Impfkomplikation vom 08.08.2014 an das Paul-Ehrlich-Institut, in dem ein Krankheitsbeginn am 12.02.2014 angegeben wurde sowie die Antwort des Paul-Ehrlich-Instituts vom 29.09.2014, in der darauf hingewiesen wurde, dass es allgemein anerkannt sei, dass eine Myelitis transversa in einem Zeitraum von 5 bis 21 Tagen nach einem immunologischen Ereignis (Infektion oder möglicherweise auch Impfung) auftreten könne, zur Verfügung.
- Der Allgemeinarzt B. berichtete dem Beklagten am 12.11.2014, dass die Klägerin erstmalig am 08.04.2014 wegen Taubheitsgefühls der unteren Extremität, betont am rechten Bein, bei ihm vorstellig gewesen sei.
- Im Entlassungsbericht über eine neurologische stationäre Rehabilitation der Klägerin vom 25.09.2014 bis zum 29.10.2014 wurde darauf hingewiesen, dass die Klägerin im Rahmen der Anamnese angegeben habe, dass das Querschnittssyndrom im Februar 2014 begonnen habe, ab Mitte April deutlich progredient und in den letzten Wochen wieder regredient gewesen sei. Zum Zeitpunkt der Abschlussuntersuchung habe sich weiterhin eine Hypästhesie und Hypalgesie sowie ein eingeschränktes Temperaturempfinden des rechten Beins bis oberhalb des Kniegelenks gezeigt. Die Klägerin sei als voll arbeitsfähig für eine vollschichtige Tätigkeit als Bürokauffrau entlassen worden.
- Im Bericht zur MRT der HWS/BWS vom 18.06.2014 wird über eine Myelonläsion auf Höhe BWK 7 mit deutlich regredienter Schrankenstörung berichtet. Der Befund sei im zeitlichen Verhalten am ehesten als (post-)entzündlich zu werten.
- In der wissenschaftlichen Literatur gebe es keinen Beweis dafür, dass eine Impfung, insbesondere die gegen Tetanus, Diphtherie und Pertussis, eine Querschnittsmyelitis auslösen könne, auch wenn eine solche Möglichkeit durchaus angesprochen werde.
- Wissenschaftlich sei es durchaus vertretbar, anzunehmen, dass Impfungen prinzipiell in der Lage seien, Autoimmunerkrankungen auszulösen. Auch die bei der Klägerin diagnostizierte Querschnittsmyelitis dürfte autoimmunologisch bedingt gewesen sein, wofür vor allem das prompte Ansprechen auf die Plasmapheresetherapie spreche, bei der für den Erkrankungsprozess möglicherweise verantwortliche Autoantikörper entfernt würden. Auf diese Weise könnte eine Querschnittsmyelitis in einigen wenigen Fällen durch eine Impfung verursacht werden. Da Querschnittsmyelitiden insgesamt aber sehr selten seien, wäre es denkbar, dass ein solcher Zusammenhang bisher einfach nur nicht gefunden worden sei.
- Für den Fall, dass bei der Klägerin eine impfbedingte Querschnittsmyelitis angenommen werde, müssten bestimmte Bedingungen erfüllt sein. So müsse die Erkrankung in einem bestimmten zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung stehen, der in der Regel mit Tagen bis wenigen Wochen angenommen werde. Die ersten dokumentierten klinischen Erscheinungen würden sich bei der Klägerin aber erst Mitte April 2014, also fast 11 Wochen nach der Impfung finden. Die Klägerin habe während des ersten Klinikaufenthalts angegeben, seit ca. 14 Tagen stärkere und zunehmende Beschwerden zu haben, was für einen Beginn der ausgeprägten Symptomatik Ende März 2014 spreche. In der Uniklinik E-Stadt habe sie am 28.04.2014 berichtet, seit 4 bis 6 Wochen Beschwerden zu haben. Demnach hätten die Beschwerden 6 bis 8 Wochen nach der Impfung bekommen. In beiden Fällen würde dieser späte Beginn der Beschwerden eher gegen einen Kausalzusammenhang der Erkrankung mit der Impfung sprechen. Wenn die Klägerin später ausführe, dass die Sensibilitätsstörungen bereits Anfang Februar aufgetreten seien, also wenige Tage nach der Impfung - die erst spät eingetretene Erinnerung könnte dafür sprechen, dass die anfänglichen Beschwerden bis zur akuten Verschlechterung Ende März verhältnismäßig blande gewesen seien -, würden diese Angaben eventuell Einiges über den Verlauf der Erkrankung aussagen, die offensichtlich über etliche Wochen relativ mild verlaufen sei, um sich dann plötzlich, gegen Ende März, rapide zu verschlechtern. Dies wiederum passe aber nicht zum typischen Verlauf einer idiopathischen Querschnittsmyelitis, bei der die Schwere der Symptomatik in der Regel kontinuierlich in einem Zeitraum von 4 bis 21 Tagen zunehme und in mehr als 80% der Fälle die klinischen Erscheinungen ihren Höhepunkt sogar innerhalb von zehn Tagen erreichen würden. Hier liege es nun nahe, den diagnostizierten Vitamin B12-Mangel als Mitursache der Erkrankung in Erwägung zu ziehen. Die in der Frühphase der Erkrankung von der Klägerin geschilderte Symptomatik entspreche ziemlich genau den neurologischen Symptomen eines Vitamin B12-Mangels, wie sie z.B. in einem Übersichtsartikel zum Vitamin B12-Mangel von Kisters (2015) genannt würden: „Parästhesien (Kribbeln bzw. Ameisenlaufen in Armen und Beinen), Sensibilitätsstörungen (z.B. pelziges Taubheitsgefühl), Gangunsicherheit (Gehen wie auf Watte), erhöhte Sturzneigung“. Es sei also nicht auszuschließen, dass zwei verschiedene Faktoren an der Entstehung der Erkrankung der Klägerin beteiligt gewesen seien, nämlich der Vitamin B12-Mangel, der die initiale Symptomatik erklären könne, und ein deutlich später einsetzender Autoimmunprozess. Damit ergebe sich als mögliche Erklärung der Erkrankung der Klägerin eine sich (zufällig) wenige Tage nach der Impfung manifestierende neurologische Symptomatik auf der Basis eines nachgewiesenen Vitamin B12-Mangels sowie eine erst 6 bis 8 Wochen nach der Impfung auftretende idiopathische monophasische Querschnittsmyelitis, die aufgrund der späten Beginns ätiologisch höchstwahrscheinlich in keinem Zusammenhang mit der vorausgegangenen Impfung stehe. Nehme man andererseits an, dass die Querschnittsmyelitis bereits unmittelbar nach der Impfung bekommen habe, liege ein sehr untypischer Verlauf der Erkrankung vor, deren Höhepunkt statt nach 4 bis 21 Tagen erst nach elf Wochen erreicht sei.
- Die aufgezeigten Überlegungen sprächen eher dagegen, dass die Impfung verantwortlich für die Erkrankung der Klägerin sei. Berücksichtige man noch, dass es keinen eindeutig bewiesenen Fall einer impfinduzierten Querschnittsmyelitis gebe und auch aus epidemiologischer Sicht kein Hinweis auf eine erhöhte Inzidenz von Querschnittsmyelitiden nach Impfungen existiere, müsse man zu dem Schluss kommen, dass im vorliegenden Fall ein Kausalzusammenhang der bei der Klägerin am 30.01.2014 durchgeführten Impfung und der bei ihr aufgetretenen Querschnittsmyelitis prinzipiell zwar möglich, aber wenig wahrscheinlich sei.
- Abschließend hat der Sachverständige nochmals auf das in derartigen Fällen immer wieder auftretende Dilemma hingewiesen, dass bei seltenen Erkrankungen aufgrund der noch selteneren impfbedingten Erkrankungen die Spontaninzidenz der Erkrankung u.U. höher als die Inzidenz der durch eine Impfung verursachten Erkrankung sei und sich daraus ergebe, dass ein Impfschaden immer weniger wahrscheinlich sein werde als eine spontan auftretende Erkrankung, damit aber auch der tatsächlich Betroffene leer ausgehen würde.
- ein ärztliches Attest des Allgemeinarztes B. vom 10.10.2016, wonach sich die Klägerin erstmals am 08.04.2014 „wegen neurologischer Ausfälle an der unteren Extremität“ in seiner Sprechstunde vorgestellt habe; die Beschwerden hätten „seit einigen Wochen mit zunehmender Tendenz“ bestanden. Vorher seien solche Symptome oder auch andere Erschöpfungszustände nicht aufgetreten. Bei der Bestimmung des Vitamin B12-Wertes am 08.04.2014 habe sich ein geringfügig erniedrigter Wert gezeigt, der aus seiner Sicht nicht mit den Beschwerden in Verbindung gebracht werden könne.
- einen Befundschein vom 30.04.2014 über eine serologische Untersuchung und Begutachtung, wonach die Serologie für eine zurückliegende FSME-Virus-Infektion oder einen Zustand nach FSME-Impfung spreche. Die Liquorserologie sei unauffällig.
1. plausibles zeitliches Intervall
2. Bekanntheit der unerwünschten Reaktion aus Literatur und Spontanerfassung
3. plausible Hypothese zur Pathophysiologie (für Autoimmunerkrankungen nach adjuvantierten Impfungen)
4. keine anderen plausiblen Ursachen.
- Am 30.01.2014 sei die Klägerin geimpft worden. Mit dem Beginn der neurologischen Symptomatik wenige Tage später und der Diagnosestellung eine Myelitis transversa im April 2014 sei der zeitliche Zusammenhang plausibel für eine Impfkomplikation.
- Als alternative Ursache der anfänglich ab Februar 2014 aufgetretenen Sensibilitätsstörungen werde auch ein erniedrigter Vitamin B12-Spiegel diskutiert, der nebenbefundlich in der Universitätsklinik in E-Stadt aufgefallen sei. Ein eklatanter Vitamin B12-Mangel habe aber bei der Klägerin aufgrund der damals festgestellten Werte nicht vorgelegen. Somit erscheine es sehr unwahrscheinlich, dass die Frühphase der Erkrankung der Klägerin durch einen Vitamin B12-Mangel verursacht worden sei.
- Prof. Dr. J. habe die übliche Kritik an den Arbeiten von Shoenfeld mit dem üblichen Hinweis begründet, dass es sich hierbei um nicht bewiesene Hypothesen handle. Hierzu sei anzumerken, dass die Ursache von Autoimmunerkrankungen bislang nicht bekannt seien und es sich somit insgesamt bei allen Betrachtungen zu Ursachen dieser Erkrankungen um Hypothesen handle. Prof. Dr. J. benenne dann auch das Problem, einen eindeutigen Beweis für das Vorliegen einer durch eine Impfung verursachten Autoimmunerkrankung zu erbringen. Dazu wären sehr große, teure und unabhängige Studien erforderlich, die bisher nicht durchgeführt würden. Manchmal würden aber auch kleinere Projekte genügen, um solche Zusammenhänge nachzuweisen, wie bei Pandemrix und Narkolepsie. Wenn Prof. Dr. J. die zeitnah zu der Impfung aufgetretenen Symptome als durch einen Vitamin B12-Mangel verursacht halte, sei dies bei den gemessenen Laborparametern nicht zutreffend. Die bei der Klägerin bestimmten Werte lägen im unteren Normbereich. Deutlich wahrscheinlicher sei ein langsamer Erkrankungsbeginn der Myelitis im Februar 2014. Auch der Vorgutachter habe darauf hingewiesen, dass die Begutachtung derartiger Impfschadensverdachtsfälle aufgrund der Seltenheit sehr schwer sei.
- In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 10.08.2017 habe Dr. K. auf eine Veröffentlichung von Baxter hingewiesen. Diese Untersuchung sei wegen deutlicher Mängel in der Methodik zu Recht als unbrauchbar und einseitig kritisiert worden, wie sich aus einer Veröffentlichung von Shoenfeld ergebe. Die Untersuchung von Baxter stamme aus einer Firma, die große Datenbestände von krankenversicherten US-Amerikanern meist im Auftrag der pharmazeutischen Industrie zu epidemiologischen Untersuchungen nutze. Auch gebe der Hauptautor Baxter Interessenkonflikte durch Zuwendungen eines Arzneimittelherstellers an.
- Bei der Klägerin liege ein Residualschaden nach Ablauf einer immunvermittelten entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems, einer sogenannten Myelitis transversa vor.
- Die unerwünschte Wirkung der Impfung habe mit Sensibilitätsstörungen einige Tage nach der angeschuldigten Impfung in den Füßen begonnen. Von diesem Zeitpunkt an sei die Störung progredient verlaufen.
- Bei der abgelaufenen Myelitis transversa handele es sich um eine schwerwiegende, über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehende Komplikation der Boostrix(r)-Impfung.
- Es bestehe ein wahrscheinlicher kausaler Zusammenhang zwischen der Impfung und der Myelitis. Die nebenbefundlich festgestellten niedrigen Werte für Vitamin B12 und Holo-Transcobalamin seien aufgrund der immer noch bestehenden Höhe der gemessenen Werte sehr wahrscheinlich nicht Auslöser der Beschwerden. Weitere mögliche alternative Ursachen seien nicht feststellbar.
- Die abgelaufenen Myelitis transversa sei als Impfkomplikation und das noch bestehende Krankheitsbild als Residualschaden dieser Erkrankung zu betrachten.
- Der Grad der Schädigungsfolgen sei ab Antragstellung mit 50 zu bemessen.
- In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 06.06.2018 hat der Neurologe Dr. K. Folgendes erläutert: Die Diskussion um die von der Arbeitsgruppe um Shoenfeld postulierten pathophysiologischen Modelle im Hinblick auf die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen als Folge einer Aluminiumexposition durch Impfstoffe sei bereits im Gutachten des Prof. Dr. J. ausführlich dargestellt worden; die von Shoenfeld vertretenen Hypothesen im Hinblick auf die Gefahren von Aluminium in Impfstoffen seien hoch umstritten und nicht belegt. Bereits Prof. Dr. J. habe darauf hingewiesen, dass es sich hier nicht um die allgemein akzeptierte wissenschaftliche Meinung handele, sondern um eine Einzelmeinung dieser Arbeitsgruppe. Das Gutachten des Dr. C. erbringe insofern keine neuen Gesichtspunkte. Der zeitliche Verlauf der bei der Klägerin zu Tage getretenen neurologischen Symptomatik sei bereits ausführlich dargestellt worden, auch die Problematik der diesbezüglich unterschiedlichen Angaben. Dass zudem auch ein klinisch manifester Vitamin B12-Mangel eine Rolle spiele, würden neben den versorgungsärztlichen Stellungnahmen und dem Gutachten des Prof. Dr. J. auch der Behandlungsbericht der neurologischen Universitätsklinik E-Stadt zeigen, wo ein Vitamin B12-Mangel als Behandlungsdiagnose angegeben und auch eine entsprechende Therapie durchgeführt worden sei. Der von Dr. C. angesprochene potentielle Interessenkonflikt der in der letzten versorgungsärztlichen Stellungnahme zitierten Studie (von Baxter) sei von den Autoren im Anhang der Arbeit dahingehend angegeben worden, dass die Autoren von verschiedenen Pharmafirmen Forschungsgelder für Studien erhalten hätten, die unabhängig von dem in der Arbeit behandelten Thema gewesen seien. Diese Tatsache sei nicht geeignet, die Methodik oder die Aussagen der Veröffentlichung infrage zu stellen. Auch sei nicht erkennbar, dass im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion Zweifel an der Methodik oder den Ergebnissen der Arbeit geäußert worden seien. Sofern Dr. C. eine Arbeit von Shaw zitiert habe, beschäftige sich diese mit einem anderen Impfstoff und liefere keine weiteren Informationen zur Sachaufklärung. Neue Gesichtspunkte hätten sich nicht ergeben.
- In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 21.06.2018 hat Dr. K. zum Schriftsatz der Bevollmächtigten vom 07.06.2018 darauf hingewiesen, dass auf der Webseite des Paul-Ehrlich-Instituts die aktuellsten Informationen zur Sicherheitsbewertung von Aluminium in Impfstoffen mit Stand 2016 zu finden seien, wobei sich seither keine publikationswürdigen Erkenntnisse ergeben hätten. Der Stellenwert der Veröffentlichungen der Arbeitsgruppe um Shoenfeld sei bereits umfassend gewürdigt werden worden; es handle sich hier um eine wissenschaftliche Einzelmeinung.
Prof. J. zur Erläuterung seines Gutachtens mündlich anzuhören und das Gutachten des Dr. C. dem Mikrobiologen und Universitätsprofessor Dr. J. zur Stellungnahme hierzu zuzuleiten.
das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 14.02.2017 sowie den Bescheid vom 24.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2015 aufzuheben und bei der Klägerin ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt, mindestens ab Antragstellung anzuerkennen und zu versorgen: Residualschaden nach Ablauf einer immunvermittelten entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems auf der Basis eines Grades der Schädigung von 50%.
die Berufung zurückzuweisen.
Gründe
1. Streitgegenstand
2. Voraussetzungen für die Anerkennung eines Impfschadens - allgemein
-
1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
-
2.auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
-
3.gesetzlich vorgeschrieben war oder
-
4.auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.
„Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis „nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen“ nicht ausreichen.“
„Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.“
- Impfung am 30.01.2014 gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis,
- Myelitis transversa als Primärschaden/Impfkomplikation und
- Residualzustand nach Ablauf einer Myelitis transversa als Impfschaden.
- Ausgehend von den Erstangaben der Klägerin, wie sie diese in der Klinik Sozialstiftung B-Stadt im Rahmen ihres Aufenthalts vom 16.04.2014 bis zum 24.04.2014 bzw. bei ihrem anschließenden Aufenthalt in der Universitätsklinik E-Stadt vom 28.04.2014 bis zum 14.05.2014 gemacht hat, ist von einem Beginn der Erkrankung Anfang April 2014 bzw. frühestens Mitte März 2014 auszugehen, also mindestens sechs Wochen nach der streitgegenständlichen Impfung.
- Werden jedoch die Angaben der Klägerin, wie sie sie später, insbesondere nach der bescheidmäßigen Ablehnung der Anerkennung eines Impfschadens, gemacht hat, zu Grunde gelegt, ist von einem Symptombeginn bereits Anfang Februar auszugehen, also zeitnah nach der Impfung.
3.1.1. Zu Grunde zu legender Krankheitsverlauf
3.1.2. Rechtliche Bewertung
- nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. J., die insofern auch nicht von dem gemäß § 109 SGG benannten Sachverständigen Dr. C. angezweifelt, sondern vielmehr sogar bestätigt werden, keinerlei epidemiologische Daten dazu vorliegen, die einen Zusammenhang zwischen der streitgegenständlichen Impfung und einer Myelitis transversa bestätigen könnten. Daraus ergibt sich, dass nach den bisher vorliegenden Daten keine Erhöhung des Risikos, an einer Myelitis transversa zu erkranken, durch eine Impfung gegeben ist, so dass das - theoretisch nicht auszuschließende - Risiko einer impfbedingten Entstehung dieser Erkrankung nicht abgrenzbar ist von dem allgemeinen bestehenden Risiko einer solchen Erkrankung.
- die von der Bevollmächtigten der Klägerin sowie dem gemäß § 109 SGG benannten Sachverständigen Dr. C. postulierte Annahme eines Zusammenhangs zwischen dem Adjuvans Aluminiumhydroxid und einer dadurch verursachten Myelitis als Autoimmunerkrankung eine bloße Hypothese der Arbeitsgruppe um Shoenfeld darstellt, die sich aber nach den überzeugenden Hinweisen des Prof. Dr. J. und auch des versorgungsärztlichen Dienstes des Beklagten, insbesondere in Person des Dr. K., noch nicht zu einer anerkannten medizinischen Lehrmeinung verdichtet hat, wie dies für eine Anerkennung im Rahmen der Kannversorgung erforderlich wäre, sondern eine wissenschaftliche nicht anerkannte Einzel- und Außenseitermeinung darstellt.
- der Sachverständige Prof. Dr. J. nach überzeugender Auswertung der den neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand - dies ist der der Beurteilung zugrunde zu legende medizinwissenschaftliche Stand (vgl. BSG, Urteil vom 7.4.2011, B 9 VJ 1/10 R, und Beschluss vom 18.06.2018, B 9 V 1/18 B) - wiedergebenden Veröffentlichungen darauf hingewiesen hat, dass eine Verursachung der Myelitis durch das Adjuvans Aluminiumhydroxid in der Wissenschaft als bloße Hypothese oder Möglichkeit diskutiert werde, ohne dass sich insofern ein verdichteter Kenntnisstand gebildet hat, was für eine Herstellung des Zusammenhangs im Sinne der Kannversorgung (vgl. BSG, Urteil vom 26.11.1968, 9 RV 610/66, und vom 10.11.1993, 9/9a RV 41/92) und erst recht im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit nicht ausreichend ist.
- die Verursachung von Impfkomplikationen an sich, also nicht nur bei der streitgegenständlichen Impfung, und daraus resultierend eines Impfschadens durch Adjuvantien in Impfstoffen, insbesondere durch Aluminiumhydroxid, wissenschaftlich und empirisch nicht belegt ist (vgl. Weisser u.a., Sicherheitsbewertung von Aluminium in Impfstoffen, in: Bulletin zur Arzneimittelsicherheit, Informationen aus BfArM und PEI, Ausgabe 3, September 2015, S. 6 ff.; ähnlich: Reaktionen und Nebenwirkungen nach Impfungen, Erläuterungen und Definitionen in Ergänzung zum österreichischen Impfplan, Bundesministerium für Gesundheit, 12/2013, S. 5, i.V.m. der im Internet (http://goo.gl/EUMpV7) abrufbaren Tabelle, dort S. 5 zur adjuvantierten Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis).
- nach Baxter u.a. in ihrer Veröffentlichung vom Jahr 2016 (vgl. ders., Acute Demyelinating Events Following Vaccines: A Case-Centered Analysis, in: Clinical Infectious Diseases, 2016, S. 1456 ff.), der eine Auswertung von fast 64 Mio. Impfdosen zugrunde liegt, bei denen in einem von Baxter als plausibel angenommenen Zeitfenster der Entwicklung einer Myelitis transversa nach einer Impfung von 5 bis 28 Tagen nur sieben Fälle einer derartigen Erkrankung erfasst worden seien, was belege, dass im Vergleich zur Kontrollgruppe kein erhöhtes Risiko für die Entwicklung dieser Gesundheitsstörung gegeben sei, und damit auch die aktuellsten Daten dafür sprechen, dass mit Aluminiumverbindungen adjuvantierte Impfungen nicht geeignet sind, das Risiko der Erkrankung an einer Myelitis transversa zu erhöhen bzw. eine solche Erkrankung auszulösen.
- die Argumentation des nach § 109 SGG benannten Sachverständigen Dr. C. bereits aus zahlreichen Verfahren bekannt und in gerichtlichen Entscheidungen wiederholt als nicht nachvollziehbar und nicht haltbar abgelehnt worden ist. Beispielhaft verweist der Senat nur auf das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 12.05.2016, L 4 VJ 1/14, und das Urteil des Bayer. LSG vom 18.05.2017, L 20 VJ 5/11. In letzterem Urteil ist mit Blick auf Aluminiumverbindungen als Adjuvans eines Impfstoffs Folgendes ausgeführt worden:
„Gleiches“ - zuvor war im genannten Urteil ausgeführt worden, dass in großen einschlägigen Studien kein Nachweis einer toxischen Schädigung des Menschen mit den minimalen, den Impfstoffen beigegebenen Mengen des Adjuvans Thiomersal habe erbracht werden können und dass es sich angesichts des derzeitigen medizinischen Wissensstandes bei den Ausführungen des auch dort nach § 109 SGG benannten Sachverständigen Dr. C. insoweit um reine Spekulation handle - „gilt bzgl. der Aluminiumverbindungen. Bei Zusatzstoffen, die Aluminium enthalten, handelt es sich um minimale Mengen. Impfbedingte neurologische Schadensvermutungen beim Menschen sind (bisher) reine Spekulation (so auch Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Urteil vom 12.05.2016, L 4 VJ 1/14, juris Rn. 58; siehe dazu auch BayLSG Urteil vom 14.02.2012, L 15 VJ 3/08, juris Rn. 54ff. und BayLSG Urteil vom 28.07.2011, L 15 VJ 8/09, juris Rn. 44ff.). Im Vergleich zur Aufnahme über Trinkwasser, Lebensmittel oder Antazida ist die Aufnahme von Aluminium mit Adjuvantien in Impfstoffen gering. Sie liegt deutlich unter dem TDI-Wert (tolerable daily intake) für Aluminium, der Menge, die täglich ein Leben lang ohne gesundheitsschädliche Wirkung aufgenommen werden kann. Im Bulletin vom 22.06.2007 hat sich die Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert-Koch-Institut (RKI) mit einer möglichen Verursachung von Impfschäden durch Aluminiumverbindungen als Adjuvantien in Impfstoffen befasst und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass im Vergleich zur Exposition über Trinkwasser, Lebensmittel oder Medikamente (Antacida) die Aluminium-Exposition durch aluminiumhaltige Adjuvantien in Impfstoffen gering ist. So nimmt der Mensch allein aus Nahrung und Trinkwasser unter normalen Bedingungen 3-5 mg Aluminium pro Tag auf. Bei einer im Mittel beobachteten 1-prozentigen Resorptionsquote bedeutet dies eine systemisch (d.h. den ganzen Organismus betreffend) verfügbare Menge von 0,03-0,05 mg Aluminium pro Tag durch die Nahrung. Größere Mengen von Aluminium enthalten Kaugummis, Zahnpasta und aluminiumhaltige Antacida. Als TDI-Wert gibt der Lebensmittelausschuss der EU-Kommission die Aluminiummenge, die ohne gesundheitsschädliche Wirkungen täglich ein Jahr lang peroral (d.h. durch eine Aufnahme über den Mund durch Nahrung und Trinkwasser) aufgenommen werden kann, mit 1 mg/kg Körpergewicht/Tag an. Bei einem durchschnittlichen Gewicht von 70 kg entspricht dies einer Menge von 70 mg Aluminium/Tag, die für einen Menschen als unbedenklich angesehen werden kann. Nach der Monographie „Impfstoffe für den Menschen“ der Europäischen Pharmakopöe ist der Aluminiumgehalt auf 1,25 mg pro Dosis beschränkt. Auch die im PEI im Jahr 2005 untersuchten Impfstoffchargen enthielten 0,25-0,55 mg/Impfstoffdosis. Damit ist im Vergleich zur Aufnahme über Trinkwasser, Lebensmittel oder Antacida die Aufnahme von Aluminium mit Adjuvantien in Impfstoffen gering, auch bei einem Kleinkind wie der Klägerin zum Zeitpunkt der Impfung. Sie liegt deutlich unter diesem TDI-Wert für Aluminium, der Menge, die täglich ein Leben lang ohne gesundheitsschädliche Wirkung aufgenommen werden kann. Hinzu kommt, dass bei der Exposition mit Aluminium durch Impfstoffe - gegenüber der peroralen Aufnahme - eine parenterale (d.h. am Darm vorbei) Applikation von schwerlöslichen, mit Antigenen beladenen Aluminiumhydroxid- oder Aluminiumphosphat-Partikeln erfolgt. Bei der Applikation einer Impfstoffdosis wird daher keinesfalls das gesamte Aluminium im Körper unmittelbar systemisch verfügbar. Zu berücksichtigen ist die Resorptionsgeschwindigkeit aus dem Muskel ins Blut. Die als Adjuvans eingesetzten Aluminiumsalze sind sehr schlecht wasserlöslich und werden deshalb sehr langsam resorbiert, gelangen also nur protrahiert (d.h. verzögert) in sehr kleinen Mengen in den Blutkreislauf. Vergleicht man daher die systemisch verfügbaren Mengen, ist für die in den Blutkreislauf gelangenden Mengen Aluminium aus Impfstoffen ein systemisches Toxizitätsrisiko auszuschließen.“
- auch die Ausführungen des Dr. C., der in seinem Gutachten einen Zusammenhang zwischen Impfung und Myelitis transversa annimmt, ohne dass klar wird, ob er dabei von einem hinreichend wahrscheinlichen Zusammenhang oder der Kannversorgung ausgeht, tatsächlich nicht einmal einen Zusammenhang im Sinne der Kannversorgung tragen. Denn wenn Dr. C. dem Gutachten des Prof. Dr. J. entgegen halten will, dass zwar die Ergebnisse der Arbeitsgruppe um Shoenfeld immer wieder kritisiert würden, sie aber aufgrund der angeblich breit aufgestellten Methodik nicht als Einzelmeinung zu bezeichnen seien, sondern ganz wesentlich zum gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstand über unerwünschte Wirkungen von Impfstoffen beitragen würden, steht dies in Widerspruch zu seinen eigenen weiteren Ausführungen. Dort weist nämlich Dr. C. darauf hin, dass die Ursache einer Autoimmunerkrankung wie der bei der Klägerin bislang nicht bekannt sei und es sich somit insgesamt bei allen Betrachtungen zu Ursachen derartiger Erkrankungen um Hypothesen handle. Dies entspricht aber nicht einem medizinischen Kenntnisstand, bei dem zumindest nach einer anerkannten einzelnen medizinischen Lehrmeinung der Zusammenhang zwischen Impfung und Myelitis transversa als wahrscheinlich erachtet werden könnte.
3.2. Zweite Alternative: Beginn der Symptome bereits kurz nach der Impfung
3.2.1. Zu Grunde zu legender Krankheitsverlauf
3.2.2. Rechtliche Bewertung
3.2.2.1. Erhebliche Zweifel am Vorliegen einer Myelitis transversa schon im Februar 2014
- Dass ein Vitamin B12-Mangel grundsätzlich geeignet ist, zu den von der Klägerin geschilderten Symptomen zu führen, ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen und des versorgungsärztlichen Dienstes unstreitig und wird auch von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen, da es medizinischem Grundwissen entspricht (vgl. z.B. Kisters, Vitamin-B12-Mangel - Erkennen und behandeln, 01.04.2015, [https://www.allgemeinarzt-online.de/archiv/a/erkennen-und-behandeln-1700675], der als neurologische Symptome „Parästhesien (Kribbeln bzw. Ameisenlaufen in Armen oder Beinen), Sensibilitätsstörungen (z. B. pelziges Taubheitsgefühl), Gangunsicherheit („Gehen wie auf Watte“), erhöhte Sturzneigung/Störungen der Tiefensensibilität (Erkennen und Lage der Stellung z. B. der Beine sind gestört), Ausfall der Reflexe/Lähmungen“ benennt.).
- Der Vortrag der Bevollmächtigten der Klägerin, diese habe vor der streitgegenständlichen Impfung niemals Depressionen und Müdigkeit, eine Symptomatik die typisch ist für einen Vitamin B12-Mangel ist (vgl. Herrmann, Obeid, a.a.O.) gehabt, entspricht nicht den Tatsachen. So hat der die Klägerin behandelnde Allgemeinarzt B. dem SG am 05.01.2016 berichtet, dass bei der Klägerin seit 2004, also schon lange vor der Impfung, eine „psychovegetative Erschöpfung, Angststörung und Anpassungsstörung mit bisher leichter depressiver Symptomatik“ bestanden habe. Davon, dass die Klägerin vor der Impfung nie unter Depressionen und Müdigkeit gelitten habe, kann also keine Rede sein. Wenn demgegenüber der genannte Arzt B. der Klägerin am 10.10.2016 zur Vorlage bei Gericht attestiert hat, dass vor dem 08.04.2014 Erschöpfungszustände bei der Klägerin nie aufgetreten seien, was dann von der Klägerin gegenüber dem Gericht als vermeintlicher Nachweis dafür vorgelegt worden ist, dass sie unter keinem Vitamin B12-Mangel gelitten habe, kann der Senat wegen der eindeutigen und anderslautenden Auskunft dieses Arztes vom 05.01.2016 im Attest vom 10.10.2016 nur ein Gefälligkeitsattest erkennen, das im sozialgerichtlichem Verfahren keine Verwertung zu Gunsten der Klägerin finden kann, sondern allenfalls Anlass für ein berufs- und/oder strafrechtliches Verfahren gegenüber dem Arzt B. geben könnte. Letztlich ist es aber für die Entscheidung ohne Bedeutung, ob die Klägerin im oder seit dem Jahr 2004 an Erschöpfungszuständen gelitten hat.
3.2.2.2. Vitamin B12-Mangel nicht impfbedingt
4. Beweisanträge in der mündlichen Verhandlung
4.1. Ergänzende Befragung des Prof. Dr. J.
„a) Der im Berufungsverfahren bereits anwaltlich vertretene Kläger hat es unterlassen darzulegen, welche konkreten Punkte des Beweisthemas einer persönlichen Befragung durch welchen konkreten Sachverständigen hätten unterzogen werden müssen, denen das LSG - von seinem Rechtsstandpunkt aus - ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sein soll und welches Ergebnis im Falle einer konkreten Befragung bestimmter Sachverständiger zu erwarten gewesen wäre (sog Entscheidungserheblichkeit). Zwar hat der Kläger geltend gemacht, mit Schriftsätzen vom 25. und 26.11.2014 neben einem Vertagungsantrag die ergänzende Befragung von Dr. Y. und Dr. B. beantragt zu haben nebst Beiziehung weiterer Unterlagen zur Überprüfung der wissenschaftlichen Auffassung der Sachverständigen und dass das LSG zu Unrecht diese Anträge als nicht sachdienlich bewertet habe. Aber selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, dass dieser auch die Aufrechterhaltung dieser Anträge im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 28.11.2014 dargelegt hat, wie sich aus der Protokollniederschrift ergibt, so enthalten diese Ausführungen des Klägers keine ausreichenden Angaben zu den zu begutachtenden Punkten iS von § 403 ZPO bzw eines konkreten Beweisthemas in dem Beweisantrag, die grundsätzlich nicht entbehrlich sind (vgl BSG Beschluss vom 9.3.2001 - B 2 U 404/00 B; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr. 3 RdNr. 6). Vor allem in Verfahren - wie vorliegend - in denen bereits mehrere medizinische Gutachten und ergänzende Stellungnahmen mit abweichenden Beurteilungen vorliegen, ist eine Konkretisierung des Beweisthemas unabdingbar, da eine pauschale Wiederholung bisher gestellter Beweisfragen nicht erkennen lässt, inwieweit überhaupt noch Aufklärungsbedarf vorliegt. Insoweit hätte der Kläger das von seinen Beweisanträgen in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 28.11.2014 umfasste Beweisthema konkretisieren und zumindest darlegen müssen, weshalb die von ihm benannten Sachverständigen der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung widersprochen haben. Denn das LSG ist als letztinstanzliche Tatsacheninstanz nur dann einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt, wenn es sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 160 Nr. 5). Insoweit hätte es zudem des klägerseitigen Vortrags bedurft, weshalb nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen und medizinischen Sachverhalt aus der rechtlichen Sicht des LSG erkennbar offengeblieben sind und damit zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden haben soll (vgl Becker, Die Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG
4.2. Weiteres Gutachten bei Prof. Dr. M.
- Dass die von der Klägerin schon für Februar und März 2014 angegebenen neurologischen Ausfallerscheinungen nicht mit der erforderlichen Gewissheit einer Myelitis transversa zuzuschreiben sind, steht u.a. nach dem Gutachten des Prof. Dr. J. fest. Es spricht vieles dafür, dass die zeitnah nach der Impfung aufgetretene neurologische Symptomatik durch den nachgewiesenen Vitamin B12-Mangel der Klägerin verursacht ist. Dass ein derartiger Vitaminmangel durch die Impfung bedingt sein könnte, ist nach den vorliegenden gutachterlichen und versorgungsärztlichen Einschätzungen nicht in Betracht zu ziehen, sodass es insofern keiner weiteren sachverständigen Äußerung bedurft hat.
- Selbst dann, wenn entgegen den obigen Ausführungen davon ausgegangen würde, dass die zeitnah nach der Impfung aufgetretene neurologische Symptomatik in einem kausalen Zusammenhang mit der Impfung stehen würde, könnte daraus keine Anerkennung eines Impfschadens resultieren. Denn als (einziger) potentieller Impfschaden kommt nach übereinstimmender Einschätzung aller Gutachter und Versorgungsärzte, auch des von der Klägerin nach § 109 SGG benannten Sachverständigen, allein ein Zustand nach Myelitis transversa infrage. Da aber eine Myelitis transversa nicht hinreichend wahrscheinlich durch einen Vitamin B 12-Mangel verursacht sein kann, könnte selbst dann, wenn die anfängliche vitaminmangelbedingte Symptomatik auf die Impfung zurückzuführen wäre, ein Impfschaden wegen der fehlenden Kausalität zwischen der im Februar/März vorliegenden neurologischen Symptomatik und der später aufgetretenen Myelitis transversa als Vorstufe zum Impfschaden, der in einem Zustand nach Myelitis transversa zu sehen wäre, nicht hinreichend wahrscheinlich gemacht werden. Irgendwelche anderen verbliebenen Folgewirkungen des Vitamin-B12-Mangels stehen nicht im Raum.
5. Keine Beiladung der Bundesrepublik Deutschland
- Ein Fall einer notwendigen Beiladung im Sinne von § 75 Abs. 2 SGG lag nicht vor. Weder hat die Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung bestanden noch ist die Bundesrepublik Deutschland als anderer Leistungspflichtiger in Betracht gekommen.
- Eine Beiladung der Bundesrepublik Deutschland gemäß § 75 Abs. 1 Satz 2 SGG hatte nicht zu erfolgen, da dies die Bundesrepublik Deutschland selbst hätte beantragen müssen (vgl. Bayer. LSG, Urteil vom 25.09.2014, L 15 VK 3/13 - m.w.N.). Mit der gesetzlichen Regelung soll lediglich der Bundesrepublik Deutschland, die die Kosten des sozialen Entschädigungsrechts trägt, die Möglichkeit gegeben werden, Einfluss auf den Prozess zu nehmen (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders./Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § § 75, Rdnr. 9). Beantragt nur ein Beteiligter, nicht aber die Bundesrepublik Deutschland die Beiladung, muss eine Beiladung nicht erfolgen (vgl. Leitherer, a.a.O., § 75, Rdnr. 9a). Bei einem Antrag eines Beteiligten steht es im Ermessen des Gerichts, die Bundesrepublik Deutschland gemäß § 75 Abs. 1 Satz 1 SGG (einfach) beizuladen (vgl. BSG, Urteil vom 22.04.1965, 10 RV 375/63).
- Für eine solche einfache Beiladung im Sinne von § 75 Abs. 1 Satz 1 SGG hat der Senat keinen Anlass gesehen. Sofern die Bevollmächtigte der Klägerin der Meinung ist, es müsste einerseits eine Erleichterung für Kläger in Impfschadensstreitigkeiten durch eine Gesetzesänderung herbeigeführt werden und andererseits verstärkte Anstrengungen in eine Impfrisikoforschung gesetzt werden, was beides Aufgabe der Bundesregierung sei, ist dafür wegen der rein gesundheits- und rechtspolitischen Zielrichtung ein mit einer Einzelfallbeurteilung verbundenes impfschadensrechtliches Berufungsverfahren nicht der richtige Ort.
Tenor
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Oktober 2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
„Ab April 2012 habe ich verstärkte Regelblutungen bemerkt, die durchgehend jedenfalls bis August 2012 bestanden. Zusätzlich habe ich rote Pünktchen an meinen Oberarmen und an meinem Bauch bemerkt, von denen ich allerdings angenommen habe, dass sie von der Neurodermitis kämen. Diese Pünktchen sind dann geblieben, erst im August haben sie sich verstärkt.“
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Oktober 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. H. einzuholen, ob als Alternativursache für die bei der Klägerin bestehende ITP die diagnostizierte Helicobacter-Infektion in Frage kommt oder ob die Havrix(r) 1440-Impfung vom 13.03.2012 der hinreichend wahrscheinliche Auslöser der ITP-Erkrankung der Klägerin ist.
Gründe
„Es wäre allerdings realitätsfremd, in jedem impfschadensrechtlichen Fall zu verlangen, es müsse eine deutlich wahrnehmbare und fixierbare Primärschädigung festgestellt werden. Allgemein dient die Dreigliedrigkeit dazu, bestimmte Geschehnisabläufe bereits auf einer Vorstufe der Prüfung „auszusondern“ und das Fehlen kausaler Zusammenhänge leichter erkennen zu können. Je mehr sich die Kausalitätsprüfung in gedankliche Zwischenschritte „zerlegen“ lässt, desto objektivierbarer kann der Geschehnisablauf rechtlich aufgearbeitet werden (vgl. Kunze, Kausalität in der gesetzlichen Unfallversicherung, VSSR 2005, S. 299 <302>). Diese Differenzierung ist aber dann nicht möglich, wenn die Schädigung, also der (erste) Eingriff in das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, nicht deutlich zu Tage tritt, sondern wie hier im Verborgenen erfolgt (a.A. wohl Meßling in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 60 IfSG, Rn. 62). Zweifellos ist in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung schwieriger, weil sich der Verursachungspfad nicht klar abzeichnet. Dennoch darf nicht per se wegen der Nichterkennbarkeit einer Primärschädigung am Rechtsgut der körperlichen Gesundheit die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs negiert werden. Vielmehr muss der Zusammenhang zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen „Etappe“ beurteilt werden (vgl. LSG Bayern, Breithaupt 2012, S. 51 <56>).“
„Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr. 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm. 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.“
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 31. Mai 2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
das Urteil des SG Augsburg vom 31.05.2017 sowie den Bescheid vom 02.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.09.2014 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, beim Kläger die Entwicklungsstörungen und einen Frühkindlichen Autismus Kanner als Impfschaden im Sinne des Infektionsschutzgesetzes anzuerkennen und ihm ab Antragstellung Versorgung in Form einer Beschädigtenrente nach dem IfSG i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
die Berufung zurückzuweisen.
Gründe
Tenor
-
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. April 2017 wird als unzulässig verworfen.
-
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
- 1
-
I. In einem vorangegangenen Berufungsverfahren hat das LSG mit Urteil vom 10.4.2013 einen Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz wegen geltend gemachter Folgen von am 12.7.1995 und 15.10.1996 durchgeführter Schutzimpfungen verneint. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Kläger bei den Impfungen eine gesundheitliche Schädigung im Sinne einer unüblichen Impfreaktion erlitten habe, die zu einem globalen Entwicklungsrückstand als Impfschaden geführt habe. Auf die Beschwerde des Klägers hat das BSG mit Beschluss vom 14.11.2013 (B 9 V 33/13 B) das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, weil das LSG das Paul-Ehrlich-Institut (Prof. Dr. C.) nicht zu Einwänden des Klägers ergänzend befragt hat. Dementsprechend hat das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren Auskünfte bei Prof. Dr. C. und Prof. Dr. V. eingeholt und Prof. Dr. D., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Prof. Dr. D. hat eine vorläufige Stellungnahme erstattet und eine Fachinformation für Ärzte und Apotheker 1995 zu den Impfstoffen sowie einen Gutachtenentwurf übersandt.
- 2
-
Mit Urteil vom 26.4.2017 hat das LSG erneut einen Anspruch des Klägers verneint, weil nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass bei dem Kläger nach einer der Impfungen vom 12.7.1995 bis zum 3.11.1997 eine Primärschädigung im Sinne einer Impfkomplikation aufgetreten sei. Es fehle am Nachweis einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung. Sei eine solche das übliche Ausmaß übersteigende gesundheitliche Schädigung im Nachgang einer Impfung nicht erwiesen, so stelle sich vorliegend die Frage nach einem Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Primärschädigung nicht. Weiterer Ermittlungen zum Vorliegen einer Impfkomplikation im Gegensatz zu einer bloßen üblichen Impfreaktion habe es daher nicht bedurft. Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 26.4.2017 zuletzt noch gestellten Beweisanträge seien daher abzulehnen.
- 3
-
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG erneut Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung sowie von Verfahrensmängeln begründet.
- 4
-
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ist ordnungsgemäß dargetan worden(§ 160a Abs 2 S 3 SGG).
- 5
-
1. Grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist, und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1.) eine bestimmte Rechtsfrage, (2.) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3.) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4.) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.
- 6
-
Der Kläger hält folgende Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung:
"Gebietet die Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG zu ermitteln
a)
welche dauerhafte Gesundheitsschädigung vorliegt,
b)
wie wahrscheinlich die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung durch die Impfung ist,
c)
ob Alternativursachen für die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung ersichtlich sind,
wenn eine Primärschädigung nicht erkennbar zutage getreten ist?"
- 7
-
Ob der Kläger damit eine Rechtsfrage hinreichend bezeichnet hat, die auf die Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals abzielt (vgl Becker, SGb 2007, 261, 265 zu Fn 42 mwN), kann hier dahinstehen. Er hat bereits die höchstrichterliche Klärungsbedürftigkeit dieser von ihm aufgestellten Frage nicht dargetan. Es fehlt insbesondere eine Auseinandersetzung mit den Vorschriften des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) und des IfSG (hier insbesondere § 2 Nr 11 IfSG), nach denen eine Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen (Primär-)Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche (Sekundär-)Schädigung vorliegen müssen, wobei letztere nach § 2 Nr 11 IfSG als Impfschaden definiert wird, während Impfschaden nach der abweichenden Terminologie des BSeuchG die Primärschädigung bezeichnet(vgl hierzu auch BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 35 ff). Zudem hätte es einer Darlegung der Beweisanforderungen bedurft (vgl hierzu insgesamt BSG, aaO; BSG Urteil vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9), wie diese in der angefochtenen Entscheidung des LSG (S 21 des Urteils) bereits ausgeführt worden sind, um eine Sachaufklärungsrüge nach § 103 SGG im Rahmen einer grundsätzlichen Bedeutung als Rechtsfrage zu formulieren. Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis "nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen" nicht ausreichen.
- 8
-
Unabhängig davon hat der Kläger auch die Entscheidungserheblichkeit seiner vermeintlichen Rechtsfrage nicht dargelegt, da nach Auffassung des LSG unter Würdigung des gesamten Sach- und Streitstandes aufgrund des schriftlichen Gutachtens nebst ergänzender Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. sowie des Ergebnisses von dessen persönlicher Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 10.4.2013 eine Primärschädigung im Sinne des Gesetzes nicht vorliege. Durchgreifende Verfahrensrügen gegen die zugrunde liegenden Feststellungen sind der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen (dazu sogleich).
- 9
-
2. Der Kläger bezeichnet auch einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers stützt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr, vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 4 mwN). Geltend gemacht werden kann nur ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und - entgegen der Vorstellung des Klägers - 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
- 10
-
a) Die Beschwerdebegründung befasst sich umfangreich mit der Darlegung vermeintlicher Aufklärungsmängel (§ 103 SGG) durch das LSG ohne zuvor den Sachverhalt und den gesamten Verfahrensgang darzustellen. "Bezeichnet" iS des § 160a Abs 2 S 3 SGG ist ein Verfahrensmangel allerdings nur dann, wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird(BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Dies wird aber nur dann erkennbar, wenn zuvor diese Tatsachen im Zusammenhang mit dem Verfahrensgang dargestellt und einer rechtlichen Wertung unterzogen werden. Hieran fehlt es. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, aus der Beschwerdebegründung unter Heranziehung von Verwaltungs- und Prozessakten das herauszusuchen, was möglicherweise - bei wohlwollender Auslegung - zur Begründung der Beschwerde geeignet sein könnte (BSG, aaO). Sofern der Kläger eine erneute Anhörung von Dr. H. begehrt, scheitert dieses Vorhaben im Rahmen der Beschwerde bereits an dem Umstand, dass nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG gestützt werden kann. Unabhängig davon beschäftigt sich die Beschwerdebegründung auch nicht mit dem Umstand, dass Dr. H. sein Gutachten bereits vor dem SG erstattet hat und schon deshalb eine weitere Anhörung ohnehin nur unter den Voraussetzungen einer notwendigen Anhörung nach Maßgabe des § 411 Abs 3 ZPO verlangt werden konnte(vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B; BSG Beschluss vom 25.10.2012 - B 9 SB 18/12 B - Juris RdNr 7; dazu sogleich).
- 11
-
b) Darüber hinaus hat der Kläger auch nicht dargelegt, einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung des LSG vom 26.4.2017 gestellt zu haben. Die von ihm wiedergegebenen Anträge zu Ziff 1 b, c, 2 c, d, 4, 5 und 6 bezeichnen zwar einzelne Punkte hinsichtlich derer weiterer Beweis erhoben werden soll. Denn Merkmal eines Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Um in der aktuellen Prozesssituation ein Beweisthema für das LSG hinreichend genau zu bezeichnen, hätte der Kläger aber zusätzlich angeben müssen, warum gerade diese Punkte weiter klärungsbedürftig sein sollten. Denn je mehr Aussagen von Sachverständigen oder (sachverständigen) Zeugen zum Beweisthema bereits vorliegen, desto genauer muss der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen eingehen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 11 mwN). Angesichts dessen reicht es nicht aus, auf weitere Ermittlungserfordernisse hinsichtlich der beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen sowie deren Verursachung durch die Impfungen zu verweisen, da zu diesen Themenkomplexen bereits mehrere Sachverständigengutachten vorlagen. Die erneuten Anträge des Klägers hinsichtlich der streitgegenständlichen Impfstoffe und deren Verursachung der Entwicklungsretardierung beim Kläger sowie zu der unzureichenden Gewichtszunahme des Klägers nach allen Impfungen, die Einholung einer Stellungnahme eines impfschadensrechtlich erfahrenen Gutachters, eines toxikologischen Gutachtens und immunologischen Gutachtens waren insgesamt nicht dazu geeignet, dem Berufungsgericht noch klärungsbedürftige Punkte aufzuzeigen und es damit zu weiteren Ermittlungen zu veranlassen.
- 12
-
Die Beschwerde legt nicht schlüssig dar, warum die Anträge des Klägers das LSG hätten zu weiterer Beweiserhebung drängen müssen. Dazu hätte es der Darlegung bedurft, warum das Gericht objektiv gehalten gewesen war, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben (vgl BSG Beschluss vom 29.4.2010 - B 9 SB 47/09 B - Juris). Daran fehlt es hier. Die Würdigung voneinander abweichender Gutachtenergebnisse oder ärztlicher Auffassungen gehört wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst. Diese ist von dem LSG als letztes Tatsachengericht durchzuführen (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) und kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Eine Verpflichtung zur Einholung eines sog Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtenergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 13 mwN). Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8). Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten ungenügend sind, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO, weil sie grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben(vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN). Derartige Gründe hat die Beschwerde nicht dargelegt.
- 13
-
Die Beschwerde hat nicht substantiiert dargelegt, warum die Gewichtung der unterschiedlichen Befunde dem LSG misslungen sein sollte. Das Tatsachengericht braucht jedenfalls dann kein weiteres Gutachten einzuholen, wenn der Kläger bereits nicht darlegt, dass sich die Tatsachengrundlagen der Gutachten widersprechen. Selbst widersprüchliche Tatsachenfeststellungen verschiedener Gutachten erzwingen nicht bereits ein weiteres Gutachten, um den Widerspruch aufzulösen. Beruhen vielmehr die Differenzen zwischen den Auffassungen von Sachverständigen darauf, dass diese von verschiedenen tatsächlichen Annahmen ausgehen, dann muss der Tatrichter, ggf nach weiterer Aufklärung, die für seine Überzeugungsbildung maßgebenden Tatsachen feststellen oder begründen, weshalb und zu wessen Lasten sie beweislos geblieben sind (vgl BGH Urteil vom 23.9.1986 - VI ZR 261/85). Diese letztgültige Feststellung der maßgeblichen Anknüpfungs- bzw Befundtatsachen muss nicht zwingend durch ein weiteres Gutachten, sondern kann in freier Beweiswürdigung der von den Sachverständigen (oder sonst) festgestellten Tatsachen erfolgen. Haben die Sachverständigen unterschiedliche Befunde erhoben, so obliegt es grundsätzlich dem Tatsachengericht, die Aussagekraft der erhobenen Befunde anhand nachvollziehbarer Kriterien zu gewichten, soweit es dazu nicht auf medizinische Sachkunde zurückgreifen muss, die ihm die Sachverständigen im zu entscheidenden Fall nicht vermittelt haben und über die es auch sonst nicht verfügt. Insoweit hätte es im Rahmen der Beschwerde vorrangig der Darlegung bedurft, weshalb hinsichtlich der Beweisanträge die dort postulierten Anknüpfungstatsachen in Form des schwallartigen Erbrechens nach sämtlichen Impfungen entgegen der auf den Zeugenaussagen basierenden Wertung des LSG als erwiesen zu erachten sind. Der bloße Hinweis darauf, dass es für den Nachweis eines Primärschadens ausreichend sei, wenn die Primärschädigung im Verborgenen eintrete und nicht erkennbar zutage trete, reicht insoweit nicht aus. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG ist ein Primärschaden unter diesen Umständen gerade nicht nachgewiesen, sodass mangels Feststellung der Anknüpfungstatsachen die genannten Beweisanträge unerheblich sind. Die Beschwerde legt nicht substantiiert dar, warum die nachvollziehbare Argumentation des LSG, die den Kernbereich der grundsätzlich der Tatsacheninstanz vorbehaltenen Tatsachenwürdigung betrifft, offensichtlich fehlsam gewesen sein könnte.
- 14
-
Nichts anderes gilt hinsichtlich der übrigen Beweisanträge. Das LSG hat sich auf die schriftlichen und mündlichen Äußerungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. gestützt, dessen Gutachten auch im Rahmen der Beschwerde nicht als "ungenügend" iS von § 412 Abs 1 ZPO gerügt wird. Soweit das LSG die gutachterlichen Ausführungen deshalb für überzeugend halten durfte, musste es sich nicht gedrängt sehen, weitere sachverständige Stellungnahmen oder Gutachten einzuholen. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen fehlt eine plausible Darlegung, wieso es auf die weiter unter Beweis gestellten Umstände noch hätte ankommen können. Tatsächlich kritisiert der Kläger die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), womit er nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein eine Revisionszulassung nicht erreichen kann. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzureichende Rechtsanwendung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).
- 15
-
c) Auch die Verletzung rechtlichen Gehörs hat der Kläger nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Ein solcher Verstoß liegt ua vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen miteinzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 19 S 33 mwN) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Dementsprechend sind insbesondere Überraschungsentscheidungen verboten (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 8b mwN). Zur Begründung eines entsprechenden Revisionszulassungsgrundes ist nicht nur der Verstoß gegen diesen Grundsatz selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen ggf dadurch verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Ferner ist Voraussetzung für den Erfolg einer Gehörsrüge, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 21 S 35; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
- 16
-
Der Kläger hat nicht substantiiert dargelegt, warum die unterbliebene Anhörung der von ihm benannten Sachverständigen Prof. Dr. D. sowie Dr. H. eine Gehörsverletzung darstellt. Unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts stehenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, steht den Beteiligten gemäß § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO grundsätzlich das Recht zu, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten(BVerfG Beschluss vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 - Juris RdNr 11; vgl auch BSG Beschluss vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - Juris RdNr 7; BGH Urteil vom 7.10.1997 - VI ZR 252/96 - NJW 1998, 162, 163 - Juris RdNr 10 - alle mwN). Dabei reicht es aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 4; BVerwG Beschluss vom 19.3.1996 - 11 B 9/96 - NJW 1996, 2318), zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen. Einwendungen in diesem Sinne sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (vgl § 411 Abs 4 ZPO). Eine Form für die Befragung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, sodass sie sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen kann. Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen letztlich eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35). Dieser Obliegenheit ist ein Beteiligter jedenfalls dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören und er schriftlich Fragen im oben dargelegten Sinne angekündigt hat, die objektiv sachdienlich sind; liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten bleibt (vgl BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 4 RdNr 5). Die Beschwerde thematisiert schon nicht, ob das Fragerecht gegenüber dem erstinstanzlichen Sachverständigen vor dem LSG überhaupt noch bestanden habe (vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - aaO) bzw gegenüber Prof. Dr. D. mangels eines schriftlichen Gutachtens überhaupt entstanden sein könnte.
- 17
-
Jedenfalls hat die Beschwerde auch nicht ausreichend dargelegt, warum die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung am 26.4.2017 formulierten Fragen an die Sachverständigen Prof. Dr. D. und Dr. H. überhaupt noch erläuterungsbedürftig waren, nachdem die Sachverständigen zu diesen Punkten bereits Stellungnahmen abgegeben hatten und Stellungnahmen von anderen Sachverständigen vorgelegen haben. Darüber hinaus wäre es erforderlich gewesen darzulegen, weshalb es auf die Klärung dieser Fragen ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen noch ankommen konnte (aaO). Tatsächlich zielt der Antrag des Klägers ersichtlich darauf ab, das LSG nochmals von seiner abweichenden Rechtsauffassung und Tatsachenwürdigung zu überzeugen. Damit wendet sich der Kläger, wie oben bereits angeführt, tatsächlich gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, welche sich der Beurteilung durch das Revisionsgericht entzieht (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG), und rügt Fehler in der Rechtsanwendung, auf die es im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nicht ankommt (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
- 18
-
3. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
- 19
-
4. Die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgt ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG).
Tenor
-
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 2. November 2017 wird als unzulässig verworfen.
-
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
- 1
-
I. Der Kläger beansprucht in der Hauptsache im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X die Anerkennung einer Polyneuropathie beider Beine als Folge der am 29.8.1986, 7.8.1990 und 21.8.1990 durchgeführten Tetanusimpfungen und ab 1.1.2008 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 50. Diesen Anspruch hat das LSG mit Urteil vom 2.11.2017 verneint. Nach den vorliegenden Befundberichten und Sachverständigengutachten sei weiterhin nicht nachgewiesen, dass beim Kläger ein Impfschaden aufgrund der streitigen Impfungen vorliege.
- 2
-
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht als Zulassungsgründe die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Divergenz und Verfahrensmängel geltend.
- 3
-
II. Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Begründung vom 23.3.2018 genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht in der hierfür erforderlichen Weise dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG). Der Beschwerdevortrag des Klägers im Schriftsatz vom 24.5.2018 war nicht mehr zu berücksichtigen, weil er außerhalb der bis zum 5.4.2018 verlängerten Beschwerdebegründungsfrist lag (§ 160a Abs 2 S 1 und 2 SGG).
- 4
-
1. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss daher, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl BSG Beschluss vom 2.5.2017 - B 5 R 401/16 B - Juris RdNr 6 mwN). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.
- 5
-
Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, "ob auch im Bereich neurologischer Schäden in Analogie zu psychischen Schäden eine Beweiserleichterung dahingehend zu gewähren ist, dass bei zunächst 'unauffälligen' Befunden und vermeintlichem Fehlen einer Primärschädigung durch die spätere, gesicherte Diagnose Rückschlüsse auf eine schon früh bestehende Primärschädigung gezogen werden können".
- 6
-
Der Kläger hat jedoch die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragestellung nicht hinreichend dargelegt. Insbesondere setzt er sich nicht damit auseinander, inwiefern diese Frage durch die Rechtsprechung des BSG zum Impfschadensrecht bereits geklärt ist. Der Kläger berücksichtigt nicht, dass selbst wenn das BSG eine Frage noch nicht ausdrücklich entschieden hat, eine Rechtsfrage bereits dann als höchstrichterlich geklärt anzusehen ist, wenn schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (stRspr, zB BSG Beschluss vom 24.3.2018 - B 12 R 44/17 B - Juris RdNr 8 mwN). Der Kläger unterzieht sich nicht der notwendigen Mühe, sich bezogen auf den mit der Frage aufgeworfenen Problemkreis mit der Rechtsprechung des BSG zur Feststellung einer impfbedingten Primärschädigung auseinander zu setzen (vgl hierzu zB Senatsurteil vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 36 ff; zur Beweislast und Beweiserleichterung im Impfschadensrecht s auch Senatsurteil vom 27.8.1998 - B 9 VJ 2/97 R - Juris RdNr 17 ff) und prüft demzufolge nicht, ob sich hieraus schon Anhaltspunkte zur Beantwortung der gestellten Frage entnehmen lassen.
- 7
-
Überdies fehlen Ausführungen zur Klärungsfähigkeit. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich nicht, ob sich auf der Grundlage des vom LSG festgestellten und für das BSG im angestrebten Revisionsverfahren grundsätzlich verbindlichen (§ 163 SGG) Sachverhalts notwendig über die mit der gestellten Frage angesprochene Problematik zu entscheiden ist.
- 8
-
2. Divergenz im Sinne des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die in zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG aufgestellt hat. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht.
- 9
-
Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der in Bezug genommenen höchstrichterlichen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das BSG die höchstrichterliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr, zB BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 13 R 140/17 B - Juris RdNr 12 f). Auch diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
- 10
-
Soweit der Kläger unter Punkt 3 und 4 seiner Beschwerdebegründung eine Divergenz darin sieht, dass das LSG sowohl den vom BSG entwickelten Krankheits- als auch den Kausalitätsbegriff verkannt bzw nicht richtig angewendet habe, fehlt es bereits an der notwendigen Darstellung eines abstrakten Rechtssatzes aus dem angefochtenen Urteil des LSG, der eine Abweichung zu einem abstrakten Rechtssatz des BSG in den von ihm zitierten Entscheidungen aufzeigt. Sein diesbezügliches Vorbringen geht über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus. Allein die - im Kern vom Kläger behauptete - Unrichtigkeit der Entscheidung - zB aufgrund der Nichtbeachtung oder fehlerhaften Anwendung höchstrichterlicher Rechtsprechung - rechtfertigt die Zulassung wegen Divergenz nicht (vgl stRspr, zB BSG Beschluss vom 16.3.2017 - B 13 R 390/16 B - Juris RdNr 16).
- 11
-
3. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel im Sinne von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels(§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
- 12
-
a) Der Kläger rügt eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG), weil das LSG seinen in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag auf mündliche Befragung des Gutachters Prof. Dr. Dr. D. nicht nachgekommen sei. Für das Gericht sei erkennbar gewesen, dass er den Sachverständigen zum Vorliegen einer Small-Fiber-Neuropathie habe befragen wollen. Diese Sonderform der Polyneuropathie habe der Gutachter nicht berücksichtigt. Aus diesem Grunde entspreche das bereits sieben Jahre alte Gutachten nicht dem aktuellen wissenschaftlichen medizinischen Stand.
- 13
-
Sein diesbezüglicher Vortrag reicht jedoch zur Bezeichnung eines entsprechenden Verfahrensmangels nicht aus. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG hat der Verfahrensbeteiligte grundsätzlich - zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs - ein Recht auf Befragung eines Sachverständigen, der ein (schriftliches) Gutachten erstattet hat (§§ 116 S 2, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO). Das Fragerecht besteht unabhängig von dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, bei einem erläuterungsbedürftigen schriftlichen Gutachten nach § 411 Abs 3 ZPO das Erscheinen des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuordnen. Es ist Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG). Es besteht allerdings grundsätzlich nur hinsichtlich solcher Gutachten, die im selben Rechtszug erstattet worden sind.
- 14
-
Macht der Beteiligte von seinem Fragerecht nicht innerhalb desselben Rechtszugs Gebrauch, in dem das Gutachten eingeholt worden ist, kann er die Anhörung des Sachverständigen im nächsten Rechtszug aber auch noch dann verlangen, wenn die Voraussetzungen für eine notwendige Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens gemäß § 411 Abs 3 ZPO vorliegen und die Ablehnung des entsprechenden Antrags durch die nunmehr tätige Instanz ermessenswidrig wäre(stRspr, zB Senatsbeschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - Juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - Juris RdNr 7).
- 15
-
Allerdings ist der Sachverständige Prof. Dr. Dr. D., auf den sich das LSG im angefochtenen Urteil zur Entscheidungsfindung maßgeblich gestützt hat und dessen ergänzende mündliche Befragung der Kläger begehrt, nicht in der Vorinstanz gehört worden, sondern in dem vorangegangenen LSG-Verfahren (L 4 VE 16/09). Selbst wenn man dem Kläger dennoch insbesondere unter Berücksichtigung dessen, dass in jenem LSG-Verfahren der von dem hier vorliegenden Überprüfungsverfahren erfasste Bescheid vom 29.5.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7.8.2007 streitgegenständlich war, ein Fragerecht zubilligen wollte, hat der Kläger dessen oben genannte Voraussetzungen nicht hinreichend dargelegt.
- 16
-
Dass hier nach § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO die Voraussetzungen für eine notwendige Ladung des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Dr. D. durch das LSG vorgelegen hätten, ergibt sich aus der Beschwerdebegründung des Klägers nicht. Es hätte dazu der Darlegung bedurft, dass das LSG dem Antrag des Klägers auf Ladung des Sachverständigen hätte folgen müssen. Nur unter diesen Voraussetzungen wandelt sich das pflichtgemäße Ermessen in § 411 Abs 3 ZPO zu einer Verpflichtung des Gerichts und wäre ohne Weiteres davon auszugehen, dass dem Sachverständigen in der Folge (die dem LSG zuvor angekündigten) sachdienlichen Fragen im Sinne des § 116 S 2 SGG gestellt worden wären (Senatsbeschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - Juris RdNr 7).
- 17
-
Der Kläger weist zwar zutreffend darauf hin, dass alle medizinischen Fragen auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind (vgl Senatsurteil vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 42). Dennoch reicht sein Vortrag, das Gutachten des Prof. Dr. Dr. D. habe das Vorliegen einer Small-Fiber-Neuropathie nicht erörtert, obwohl diese Form der Polyneuropathie auch schon zur Zeit der Gutachtenerstattung in der medizinischen Fachliteratur diskutiert worden sei, zu der hier notwendigen Darlegung verbliebenen objektiven Ermittlungsbedarfs nicht aus. Denn der Kläger berücksichtigt und würdigt in seiner Beschwerdebegründung nicht hinreichend, dass sich der Sachverständige - wie sich sowohl aus dem LSG-Urteil vom 10.8.2011 (L 4 VE 16/09) als auch aus dem hier angefochtenen Berufungsurteil vom 2.11.2017 ergibt - mit den zahlreichen aktenkundigen neurologischen Befunden auseinandergesetzt und ausgeführt hat, dass aufgrund dieser Befundlage eine neurologische Erkrankung erst ab 2005 festgestellt werden könne (Bezugnahme auf den Befundbericht von Dr. Dr. Z. vom 28.3.2007). Dass der neurologische Sachverständige Prof. Dr. Dr. D. insoweit die aktenkundigen neurologischen und sonstigen medizinischen Befunde nicht oder nur lückenhaft oder oberflächlich ausgewertet hat, zeigt der Kläger nicht auf. Soweit er vor diesem Hintergrund dennoch behauptet, dass die von ihm über Jahre geklagte Schmerzsymptomatik auf eine durch die erfolgten Impfungen eingetretene Small-Fiber-Neuropathie zurückzuführen sei, hätte es - insbesondere aber auch im Hinblick auf die hiernach vorzunehmende Kausalbeurteilung - einer substanzvollen Darlegung bedurft, aus welchen aktenkundigen neurologischen Befundunterlagen vor oder möglicherweise nach der Begutachtung des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. D. sich denn überhaupt zumindest ein Anhalt für das Vorliegen einer Small-Fiber-Neuropathie ergeben könnte. Daran fehlt es. Der Kläger weist zwar darauf hin, dass es sich bei Small-Fiber-Neuropathie um eine "Sonderform der Polyneuropathie" handelt. Allerdings hat der Sachverständige Prof. Dr. Dr. D. worauf auch das LSG hingewiesen hat - in seinem Gutachten vom 29.7.2010 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 22.12.2010 bereits klar ausgeführt, dass die vom Kläger in den Jahren 1992 bis 2001 geschilderte Schmerzsymptomatik ohne (objektives) neurologisches Korrelat nicht als Ausdruck einer Polyneuropathie gewertet werden könne. Dass das LSG hiervon ausgehend nur noch ermessenswidrig von einer Ladung des Prof. Dr. Dr. D. zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens hätte Abstand nehmen können, hat der Kläger nach alledem nicht schlüssig dargetan. Sofern er mit der Auswertung und Würdigung der gutachterlichen Äußerungen des Prof. Dr. Dr. D. durch das Berufungsgericht nicht einverstanden ist, greift er im Kern dessen Beweiswürdigung an. Auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien Beweiswürdigung) kann jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 160 Abs 1 Nr 3 SGG von vornherein nicht gestützt werden.
- 18
-
b) Soweit der Kläger auch eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach §§ 103, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO darin sehen sollte, dass das LSG seinem Antrag, den Sachverständigen Prof. Dr. Dr. D. zur mündlichen Befragung seines Gutachtens zum Termin zu laden, zu Unrecht nicht nachgegangen sei, kann zwar eine gerügte Nicht-Ladung eines Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung auch ein Aufklärungsmangel des LSG sein (vgl hierzu BSG Beschluss vom 19.4.2017 - B 13 R 339/16 B - Juris RdNr 10 ff). Sein Vortrag erfüllt aber nicht die Anforderungen an eine diesbezügliche Sachaufklärungsrüge. Denn auch hierfür ist ua die Darlegung notwendig, dass das Berufungsgericht nur noch ermessenswidrig von der Befragung des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. D. hätte absehen können. Entsprechende Ausführungen enthält die Beschwerdebegründung - wie oben ausgeführt - aber nicht.
- 19
-
c) Der Kläger rügt zudem, das LSG hätte in Bezug auf seine Feststellung, dass Prof. Dr. H.
nicht nachgewiesen habe, wann es zu dem chronisch persistierenden Entzündungsgeschehen beim Kläger gekommen sei, im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht eine (weitere) ergänzende Stellungnahme dieses Sachverständigen einholen müssen. Auch mit seinem diesbezüglichen Vorbringen hat er jedoch keinen eine Nichtzulassungsbeschwerde begründenden Verfahrensmangel bezeichnet.
- 20
-
aa) Soweit er darin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG sieht, erfüllt sein Vorbringen nicht die spezifischen Darlegungsanforderungen an eine Sachaufklärungsrüge. Insoweit muss die Beschwerdebegründung (1) einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, bis zuletzt aufrechterhaltenen oder im Urteil wiedergegebenen Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, auf deren Grundlage bestimmte Tatfragen klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) die von dem Beweisantrag betroffenen tatsächlichen Umstände aufzeigen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) das voraussichtliche Ergebnis der unterbliebenen Beweisaufnahme angeben und (5) erläutern, weshalb die Entscheidung des LSG auf der unterlassenen Beweiserhebung beruhen kann (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 26.2.2018 - B 9 SB 84/17 B - Juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 22.7.2010 - B 13 R 585/09 B - Juris RdNr 10, jeweils mwN).
- 21
-
Diese Anforderungen gelten uneingeschränkt allerdings nur, wenn der Beschwerdeführer bereits in der Berufungsinstanz durch einen rechtskundigen und berufsmäßigen Prozessbevollmächtigten vertreten war (Senatsbeschluss vom 18.9.2003 - B 9 SB 11/03 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5 mwN). War dies - wie hier - nicht der Fall, kommen zum einen weniger strenge Anforderungen an Form und Inhalt eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags zur Anwendung. Zum anderen wird dann aus dem Fehlen eines in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich zu Protokoll - bzw in der Zustimmung zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung schriftsätzlich - aufrechterhaltenen Beweisantrag nicht stets der Schluss gezogen, dass dieser Beweisantrag bewusst nicht weiterverfolgt werden sollte (BSG Beschluss vom 22.7.2010 - B 13 R 585/09 B - Juris RdNr 11 mwN). Der Umstand, dass ein Kläger im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertreten war, führt jedoch nicht dazu, dass die in § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 3 SGG normierten Anforderungen an eine Sachaufklärungsrüge insgesamt unbeachtlich wären. Deshalb kann auch bei einem solchen Beteiligten nicht darauf verzichtet werden, dass er darlegt, einen konkreten Beweisantrag zumindest sinngemäß gestellt zu haben; dazu gehört die Angabe, welche konkreten Punkte am Ende des Verfahrens noch für aufklärungsbedürftig gehalten wurden und welcher Beweismittel sich das Gericht bedienen solle, um die begehrte weitere Aufklärung herbeizuführen (BSG Beschluss vom 22.7.2010, aaO, mwN). Entsprechenden Vortrag enthält die Beschwerdebegründung jedoch im Hinblick auf das Begehren einer weiteren Sachaufklärung durch eine zweite ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. H. nicht. Insoweit fehlt es bereits an der Bezeichnung eines im Berufungsverfahren zumindest sinngemäß gestellten konkreten Beweisantrags.
- 22
-
bb) Soweit der Kläger in der oben genannten Feststellung des LSG eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs in Form einer Überraschungsentscheidung (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) sieht, genügt sein Vorbringen ebenfalls nicht den Darlegungsanforderungen. Hierzu hätte der Kläger vorbringen müssen, dass er unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Sachentscheidung habe rechnen können. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl Senatsbeschluss vom 24.8.2017 - B 9 SB 44/17 B - Juris RdNr 8 mwN). Zudem gehört es zu den Aufgaben des Tatsachengerichts, sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit einander entgegenstehenden Gutachtenergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem grundsätzlich anschließen, ohne ein weiteres Gutachten oder eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme einholen zu müssen (vgl BSG Beschluss vom 3.12.2013 - B 13 R 447/12 B - Juris RdNr 17; BSG Beschluss vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - Juris RdNr 8, jeweils mwN).
- 23
-
Der Kläger legt überdies nicht substantiiert dar, dass er unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Entscheidung habe rechnen können. Dies wäre hier umso mehr erforderlich gewesen, als in einem tatsachengerichtlichen Verfahren, in dem ua aus den Beurteilungen von mehreren Sachverständigen unterschiedliche Bewertungen abgeleitet werden können und - wie hier - zwischen den Beteiligten streitig erörtert werden, jeder Beteiligte - und damit auch der Kläger - damit rechnen muss, dass das Gericht zu seinen Ungunsten entscheiden kann, in dem es sich der von ihm bevorzugten Sachverständigenbeurteilung ganz oder teilweise nicht anschließt. Nicht zuletzt deshalb war der Kläger bislang mit seinem Begehren in mehreren Gerichtsverfahren erfolglos geblieben.
- 24
-
cc) Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang mit der Aus- und Bewertung des Gutachtens des Prof. Dr. H. vom 10.3.2017 einschließlich seiner ergänzenden Stellungnahme vom 1.8.2017 durch das LSG nicht einverstanden ist, wendet er sich gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts. Zur Beweiswürdigung gehört auch die Würdigung unterschiedlicher Gutachtenergebnisse (BSG Beschluss vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - Juris RdNr 8). Hierauf kann jedoch - wie oben bereits ausgeführt - eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden.
- 25
-
d) Der Kläger sieht sein rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) auch dadurch verletzt, dass das LSG in der mündlichen Verhandlung die Annahme der "Originalurkunde" einer beglaubigten Übersetzung des Periodic-Safety-Update Report (PSUR) des Impfstoffherstellers N.
aus dem Jahr 2012 "verweigert" habe.
- 26
-
Damit hat er jedoch keinen Gehörsverstoß dargelegt. Denn er trägt selbst vor, dass er dem Gericht bereits mit Schriftsatz vom 30.9.2017 eine vollständige Kopie des Originals vorgelegt habe. Dass das LSG den Inhalt des PSUR des Impfstoffherstellers N. nicht im Sinne des Klägers gewürdigt bzw bewertet hat, begründet keinen Gehörsverstoß. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet nur, dass der Kläger "gehört", nicht jedoch "erhört" wird (vgl Senatsbeschluss vom 29.3.2017 - B 9 V 59/16 B - Juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 9.5.2011 - B 13 R 112/11 B - Juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 18.12.2012 - B 13 R 305/11 B - Juris RdNr 8). Dass der Kläger vom LSG daran gehindert worden sei, das erwähnte Schreiben des Direktors des P.-Instituts vom 28.10.2013 zu den Gerichtsakten zu reichen, behauptet er nicht.
- 27
-
e) Soweit der Kläger seine fehlende Anhörung vor dem Übertragungsbeschluss des LSG auf die Berichterstatterin nach § 153 Abs 5 SGG vom 31.8.2017 rügt, hat er nicht aufgezeigt, das darin ein Verfahrensmangel liegt, auf dem die Entscheidung des LSG beruhen kann. Denn eine solche Gehörsverletzung führt nicht zu einer fehlerhaften Besetzung der Richterbank und damit zu einem absoluten Revisionsgrund nach § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO, weil die Rückübertragung durch Beschluss des Senats auf den Senat möglich ist(vgl BSG Beschluss vom 24.1.2018 - B 14 AS 73/17 BH - Juris RdNr 6; BSG Urteil vom 21.9.2017 - B 8 SO 3/16 R - Juris RdNr 16 f - zur Veröffentlichung in SozR 4-1500 §153 Nr 16 vorgesehen). Dass vorliegend die Voraussetzungen für eine Rückübertragung vorgelegen haben, trägt der Kläger nicht vor.
- 28
-
4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
- 29
-
5. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Tenor
-
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.
-
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
- 1
-
Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.
- 2
-
Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.
- 3
-
Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.
- 4
-
Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.
- 5
-
Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.
- 6
-
Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.
- 7
-
Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.
- 8
-
Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.
- 9
-
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.
- 10
-
Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).
- 11
-
Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.
- 12
-
Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.
- 13
-
Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.
- 14
-
In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.
- 15
-
Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.
- 16
-
In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.
- 17
-
Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.
- 18
-
Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.
- 19
-
Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.
- 20
-
Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.
- 21
-
Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).
- 22
-
Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.
- 23
-
Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.
- 24
-
Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.
- 25
-
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.
- 26
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
- 27
-
Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.
- 28
-
Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.
Entscheidungsgründe
- 29
-
1. Die Revision des Klägers ist zulässig.
- 30
-
a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.
- 31
-
Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.
- 32
-
b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.
- 33
-
2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.
- 34
-
a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen
von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).
- 35
-
b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:
Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3. gesetzlich vorgeschrieben war oder
4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.
Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.
- 36
-
aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).
- 37
-
Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).
- 38
-
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.
- 39
-
bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales
) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.
- 40
-
Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):
Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.
- 41
-
Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS
, Einleitung zur VersMedV, S 5) , sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.
- 42
-
cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
- 43
-
Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.
- 44
-
c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.
- 45
-
aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25
) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.
- 46
-
Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".
- 47
-
Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.
- 48
-
bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.
- 49
-
aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:
So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.
- 50
-
Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.
- 51
-
In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).
- 52
-
Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.
- 53
-
Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:
Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.
- 54
-
Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:
Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.
- 55
-
Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:
Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.
- 56
-
Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:
Geringe Lokalreaktion,
- 57
-
enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:
Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.
- 58
-
In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):
Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.
Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.
In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.
Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.
- 59
-
bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:
Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.
- 60
-
Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.
- 61
-
Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.
- 62
-
Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.
- 63
-
d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.
- 64
-
aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.
- 65
-
bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.
- 66
-
Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.
- 67
-
aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.
- 68
-
Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.
- 69
-
Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.
- 70
-
bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.
- 71
-
ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.
- 72
-
e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
- 73
-
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Tenor
-
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. April 2017 wird als unzulässig verworfen.
-
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
- 1
-
I. In einem vorangegangenen Berufungsverfahren hat das LSG mit Urteil vom 10.4.2013 einen Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz wegen geltend gemachter Folgen von am 12.7.1995 und 15.10.1996 durchgeführter Schutzimpfungen verneint. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Kläger bei den Impfungen eine gesundheitliche Schädigung im Sinne einer unüblichen Impfreaktion erlitten habe, die zu einem globalen Entwicklungsrückstand als Impfschaden geführt habe. Auf die Beschwerde des Klägers hat das BSG mit Beschluss vom 14.11.2013 (B 9 V 33/13 B) das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, weil das LSG das Paul-Ehrlich-Institut (Prof. Dr. C.) nicht zu Einwänden des Klägers ergänzend befragt hat. Dementsprechend hat das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren Auskünfte bei Prof. Dr. C. und Prof. Dr. V. eingeholt und Prof. Dr. D., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Prof. Dr. D. hat eine vorläufige Stellungnahme erstattet und eine Fachinformation für Ärzte und Apotheker 1995 zu den Impfstoffen sowie einen Gutachtenentwurf übersandt.
- 2
-
Mit Urteil vom 26.4.2017 hat das LSG erneut einen Anspruch des Klägers verneint, weil nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass bei dem Kläger nach einer der Impfungen vom 12.7.1995 bis zum 3.11.1997 eine Primärschädigung im Sinne einer Impfkomplikation aufgetreten sei. Es fehle am Nachweis einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung. Sei eine solche das übliche Ausmaß übersteigende gesundheitliche Schädigung im Nachgang einer Impfung nicht erwiesen, so stelle sich vorliegend die Frage nach einem Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Primärschädigung nicht. Weiterer Ermittlungen zum Vorliegen einer Impfkomplikation im Gegensatz zu einer bloßen üblichen Impfreaktion habe es daher nicht bedurft. Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 26.4.2017 zuletzt noch gestellten Beweisanträge seien daher abzulehnen.
- 3
-
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG erneut Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung sowie von Verfahrensmängeln begründet.
- 4
-
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ist ordnungsgemäß dargetan worden(§ 160a Abs 2 S 3 SGG).
- 5
-
1. Grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist, und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1.) eine bestimmte Rechtsfrage, (2.) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3.) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4.) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.
- 6
-
Der Kläger hält folgende Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung:
"Gebietet die Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG zu ermitteln
a)
welche dauerhafte Gesundheitsschädigung vorliegt,
b)
wie wahrscheinlich die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung durch die Impfung ist,
c)
ob Alternativursachen für die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung ersichtlich sind,
wenn eine Primärschädigung nicht erkennbar zutage getreten ist?"
- 7
-
Ob der Kläger damit eine Rechtsfrage hinreichend bezeichnet hat, die auf die Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals abzielt (vgl Becker, SGb 2007, 261, 265 zu Fn 42 mwN), kann hier dahinstehen. Er hat bereits die höchstrichterliche Klärungsbedürftigkeit dieser von ihm aufgestellten Frage nicht dargetan. Es fehlt insbesondere eine Auseinandersetzung mit den Vorschriften des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) und des IfSG (hier insbesondere § 2 Nr 11 IfSG), nach denen eine Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen (Primär-)Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche (Sekundär-)Schädigung vorliegen müssen, wobei letztere nach § 2 Nr 11 IfSG als Impfschaden definiert wird, während Impfschaden nach der abweichenden Terminologie des BSeuchG die Primärschädigung bezeichnet(vgl hierzu auch BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 35 ff). Zudem hätte es einer Darlegung der Beweisanforderungen bedurft (vgl hierzu insgesamt BSG, aaO; BSG Urteil vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9), wie diese in der angefochtenen Entscheidung des LSG (S 21 des Urteils) bereits ausgeführt worden sind, um eine Sachaufklärungsrüge nach § 103 SGG im Rahmen einer grundsätzlichen Bedeutung als Rechtsfrage zu formulieren. Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis "nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen" nicht ausreichen.
- 8
-
Unabhängig davon hat der Kläger auch die Entscheidungserheblichkeit seiner vermeintlichen Rechtsfrage nicht dargelegt, da nach Auffassung des LSG unter Würdigung des gesamten Sach- und Streitstandes aufgrund des schriftlichen Gutachtens nebst ergänzender Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. sowie des Ergebnisses von dessen persönlicher Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 10.4.2013 eine Primärschädigung im Sinne des Gesetzes nicht vorliege. Durchgreifende Verfahrensrügen gegen die zugrunde liegenden Feststellungen sind der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen (dazu sogleich).
- 9
-
2. Der Kläger bezeichnet auch einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers stützt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr, vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 4 mwN). Geltend gemacht werden kann nur ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und - entgegen der Vorstellung des Klägers - 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
- 10
-
a) Die Beschwerdebegründung befasst sich umfangreich mit der Darlegung vermeintlicher Aufklärungsmängel (§ 103 SGG) durch das LSG ohne zuvor den Sachverhalt und den gesamten Verfahrensgang darzustellen. "Bezeichnet" iS des § 160a Abs 2 S 3 SGG ist ein Verfahrensmangel allerdings nur dann, wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird(BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Dies wird aber nur dann erkennbar, wenn zuvor diese Tatsachen im Zusammenhang mit dem Verfahrensgang dargestellt und einer rechtlichen Wertung unterzogen werden. Hieran fehlt es. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, aus der Beschwerdebegründung unter Heranziehung von Verwaltungs- und Prozessakten das herauszusuchen, was möglicherweise - bei wohlwollender Auslegung - zur Begründung der Beschwerde geeignet sein könnte (BSG, aaO). Sofern der Kläger eine erneute Anhörung von Dr. H. begehrt, scheitert dieses Vorhaben im Rahmen der Beschwerde bereits an dem Umstand, dass nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG gestützt werden kann. Unabhängig davon beschäftigt sich die Beschwerdebegründung auch nicht mit dem Umstand, dass Dr. H. sein Gutachten bereits vor dem SG erstattet hat und schon deshalb eine weitere Anhörung ohnehin nur unter den Voraussetzungen einer notwendigen Anhörung nach Maßgabe des § 411 Abs 3 ZPO verlangt werden konnte(vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B; BSG Beschluss vom 25.10.2012 - B 9 SB 18/12 B - Juris RdNr 7; dazu sogleich).
- 11
-
b) Darüber hinaus hat der Kläger auch nicht dargelegt, einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung des LSG vom 26.4.2017 gestellt zu haben. Die von ihm wiedergegebenen Anträge zu Ziff 1 b, c, 2 c, d, 4, 5 und 6 bezeichnen zwar einzelne Punkte hinsichtlich derer weiterer Beweis erhoben werden soll. Denn Merkmal eines Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Um in der aktuellen Prozesssituation ein Beweisthema für das LSG hinreichend genau zu bezeichnen, hätte der Kläger aber zusätzlich angeben müssen, warum gerade diese Punkte weiter klärungsbedürftig sein sollten. Denn je mehr Aussagen von Sachverständigen oder (sachverständigen) Zeugen zum Beweisthema bereits vorliegen, desto genauer muss der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen eingehen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 11 mwN). Angesichts dessen reicht es nicht aus, auf weitere Ermittlungserfordernisse hinsichtlich der beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen sowie deren Verursachung durch die Impfungen zu verweisen, da zu diesen Themenkomplexen bereits mehrere Sachverständigengutachten vorlagen. Die erneuten Anträge des Klägers hinsichtlich der streitgegenständlichen Impfstoffe und deren Verursachung der Entwicklungsretardierung beim Kläger sowie zu der unzureichenden Gewichtszunahme des Klägers nach allen Impfungen, die Einholung einer Stellungnahme eines impfschadensrechtlich erfahrenen Gutachters, eines toxikologischen Gutachtens und immunologischen Gutachtens waren insgesamt nicht dazu geeignet, dem Berufungsgericht noch klärungsbedürftige Punkte aufzuzeigen und es damit zu weiteren Ermittlungen zu veranlassen.
- 12
-
Die Beschwerde legt nicht schlüssig dar, warum die Anträge des Klägers das LSG hätten zu weiterer Beweiserhebung drängen müssen. Dazu hätte es der Darlegung bedurft, warum das Gericht objektiv gehalten gewesen war, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben (vgl BSG Beschluss vom 29.4.2010 - B 9 SB 47/09 B - Juris). Daran fehlt es hier. Die Würdigung voneinander abweichender Gutachtenergebnisse oder ärztlicher Auffassungen gehört wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst. Diese ist von dem LSG als letztes Tatsachengericht durchzuführen (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) und kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Eine Verpflichtung zur Einholung eines sog Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtenergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 13 mwN). Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8). Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten ungenügend sind, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO, weil sie grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben(vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN). Derartige Gründe hat die Beschwerde nicht dargelegt.
- 13
-
Die Beschwerde hat nicht substantiiert dargelegt, warum die Gewichtung der unterschiedlichen Befunde dem LSG misslungen sein sollte. Das Tatsachengericht braucht jedenfalls dann kein weiteres Gutachten einzuholen, wenn der Kläger bereits nicht darlegt, dass sich die Tatsachengrundlagen der Gutachten widersprechen. Selbst widersprüchliche Tatsachenfeststellungen verschiedener Gutachten erzwingen nicht bereits ein weiteres Gutachten, um den Widerspruch aufzulösen. Beruhen vielmehr die Differenzen zwischen den Auffassungen von Sachverständigen darauf, dass diese von verschiedenen tatsächlichen Annahmen ausgehen, dann muss der Tatrichter, ggf nach weiterer Aufklärung, die für seine Überzeugungsbildung maßgebenden Tatsachen feststellen oder begründen, weshalb und zu wessen Lasten sie beweislos geblieben sind (vgl BGH Urteil vom 23.9.1986 - VI ZR 261/85). Diese letztgültige Feststellung der maßgeblichen Anknüpfungs- bzw Befundtatsachen muss nicht zwingend durch ein weiteres Gutachten, sondern kann in freier Beweiswürdigung der von den Sachverständigen (oder sonst) festgestellten Tatsachen erfolgen. Haben die Sachverständigen unterschiedliche Befunde erhoben, so obliegt es grundsätzlich dem Tatsachengericht, die Aussagekraft der erhobenen Befunde anhand nachvollziehbarer Kriterien zu gewichten, soweit es dazu nicht auf medizinische Sachkunde zurückgreifen muss, die ihm die Sachverständigen im zu entscheidenden Fall nicht vermittelt haben und über die es auch sonst nicht verfügt. Insoweit hätte es im Rahmen der Beschwerde vorrangig der Darlegung bedurft, weshalb hinsichtlich der Beweisanträge die dort postulierten Anknüpfungstatsachen in Form des schwallartigen Erbrechens nach sämtlichen Impfungen entgegen der auf den Zeugenaussagen basierenden Wertung des LSG als erwiesen zu erachten sind. Der bloße Hinweis darauf, dass es für den Nachweis eines Primärschadens ausreichend sei, wenn die Primärschädigung im Verborgenen eintrete und nicht erkennbar zutage trete, reicht insoweit nicht aus. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG ist ein Primärschaden unter diesen Umständen gerade nicht nachgewiesen, sodass mangels Feststellung der Anknüpfungstatsachen die genannten Beweisanträge unerheblich sind. Die Beschwerde legt nicht substantiiert dar, warum die nachvollziehbare Argumentation des LSG, die den Kernbereich der grundsätzlich der Tatsacheninstanz vorbehaltenen Tatsachenwürdigung betrifft, offensichtlich fehlsam gewesen sein könnte.
- 14
-
Nichts anderes gilt hinsichtlich der übrigen Beweisanträge. Das LSG hat sich auf die schriftlichen und mündlichen Äußerungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. gestützt, dessen Gutachten auch im Rahmen der Beschwerde nicht als "ungenügend" iS von § 412 Abs 1 ZPO gerügt wird. Soweit das LSG die gutachterlichen Ausführungen deshalb für überzeugend halten durfte, musste es sich nicht gedrängt sehen, weitere sachverständige Stellungnahmen oder Gutachten einzuholen. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen fehlt eine plausible Darlegung, wieso es auf die weiter unter Beweis gestellten Umstände noch hätte ankommen können. Tatsächlich kritisiert der Kläger die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), womit er nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein eine Revisionszulassung nicht erreichen kann. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzureichende Rechtsanwendung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).
- 15
-
c) Auch die Verletzung rechtlichen Gehörs hat der Kläger nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Ein solcher Verstoß liegt ua vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen miteinzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 19 S 33 mwN) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Dementsprechend sind insbesondere Überraschungsentscheidungen verboten (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 8b mwN). Zur Begründung eines entsprechenden Revisionszulassungsgrundes ist nicht nur der Verstoß gegen diesen Grundsatz selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen ggf dadurch verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Ferner ist Voraussetzung für den Erfolg einer Gehörsrüge, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 21 S 35; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
- 16
-
Der Kläger hat nicht substantiiert dargelegt, warum die unterbliebene Anhörung der von ihm benannten Sachverständigen Prof. Dr. D. sowie Dr. H. eine Gehörsverletzung darstellt. Unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts stehenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, steht den Beteiligten gemäß § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO grundsätzlich das Recht zu, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten(BVerfG Beschluss vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 - Juris RdNr 11; vgl auch BSG Beschluss vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - Juris RdNr 7; BGH Urteil vom 7.10.1997 - VI ZR 252/96 - NJW 1998, 162, 163 - Juris RdNr 10 - alle mwN). Dabei reicht es aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 4; BVerwG Beschluss vom 19.3.1996 - 11 B 9/96 - NJW 1996, 2318), zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen. Einwendungen in diesem Sinne sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (vgl § 411 Abs 4 ZPO). Eine Form für die Befragung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, sodass sie sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen kann. Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen letztlich eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35). Dieser Obliegenheit ist ein Beteiligter jedenfalls dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören und er schriftlich Fragen im oben dargelegten Sinne angekündigt hat, die objektiv sachdienlich sind; liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten bleibt (vgl BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 4 RdNr 5). Die Beschwerde thematisiert schon nicht, ob das Fragerecht gegenüber dem erstinstanzlichen Sachverständigen vor dem LSG überhaupt noch bestanden habe (vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - aaO) bzw gegenüber Prof. Dr. D. mangels eines schriftlichen Gutachtens überhaupt entstanden sein könnte.
- 17
-
Jedenfalls hat die Beschwerde auch nicht ausreichend dargelegt, warum die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung am 26.4.2017 formulierten Fragen an die Sachverständigen Prof. Dr. D. und Dr. H. überhaupt noch erläuterungsbedürftig waren, nachdem die Sachverständigen zu diesen Punkten bereits Stellungnahmen abgegeben hatten und Stellungnahmen von anderen Sachverständigen vorgelegen haben. Darüber hinaus wäre es erforderlich gewesen darzulegen, weshalb es auf die Klärung dieser Fragen ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen noch ankommen konnte (aaO). Tatsächlich zielt der Antrag des Klägers ersichtlich darauf ab, das LSG nochmals von seiner abweichenden Rechtsauffassung und Tatsachenwürdigung zu überzeugen. Damit wendet sich der Kläger, wie oben bereits angeführt, tatsächlich gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, welche sich der Beurteilung durch das Revisionsgericht entzieht (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG), und rügt Fehler in der Rechtsanwendung, auf die es im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nicht ankommt (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
- 18
-
3. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
- 19
-
4. Die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgt ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG).
Tenor
-
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit sie die Gewährung von Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend der Klägerin betrifft.
-
Die zweitinstanzlich erhobene Klage betreffend Folgen körperlicher Misshandlung wird abgewiesen.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
- 2
-
Die 1949 geborene Klägerin lebte bis 1962 bei ihrer Mutter und deren zweiten Ehemann H. Stiefvater). Der Vater der Klägerin hatte sich kurz nach der Geburt der Klägerin von deren Mutter getrennt. Gegen den Stiefvater wurde offenbar aufgrund des Verdachts, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben, ein Ermittlungsverfahren durchgeführt. Nach dem Tod des Stiefvaters im März 1962 wurde die Klägerin vom Jugendamt aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen und ihrem Vater, der wieder geheiratet hatte, zugeführt.
- 3
-
Im Mai 1967 erstattete die Klägerin gegen ihren Vater eine Strafanzeige. Dieser habe sie im vergangenen halben Jahr immer wieder unzüchtig berührt. Der Vater wurde offenbar verhaftet und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Klägerin zunächst dem Jugendamt der Stadt K. und ab August 1967 der Evangelischen Jugendhilfe des Amtes für Diakonie K. übertragen. Bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres arbeitete die Klägerin in der Heimküche eines Altersheims, wo sie anscheinend auch wohnte. Nach dem späteren Erwerb des Hauptschulabschlusses und verschiedenen Erwerbstätigkeiten heiratete die Klägerin im Jahre 1976 und gebar zwischen 1977 und 1981 drei Kinder.
- 4
-
Anlässlich einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der P.-Klinik B. im Jahr 2000 wurde bei der Klägerin neben einer mittelgradigen depressiven Episode erstmals eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Im Anschluss an diese Maßnahme nahm die Klägerin eine ambulante Psychotherapie bei der psychologischen Psychotherapeutin S. auf. Diese äußerte den Verdacht einer dissoziativen Identitätsstörung die im Jahr 2002 durch die Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. bestätigt wurde.
- 5
-
Im Mai 2005 beantragte die Klägerin beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Gewaltopferentschädigung, weil sie in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und von ihrem Vater sexuell belästigt worden sei. Zur Begründung legte sie das Ergebnis ihrer Recherchen sowie Unterlagen vor, die sie unter Mitwirkung ihrer Therapeutin zusammengetragen hatte. Von dort wurde die Angelegenheit im Juni 2005 wegen des angegebenen Tatorts in K. zuständigkeitshalber an das Versorgungsamt M. abgegeben. Dieses Amt holte einen Befundbericht der Psychotherapeutin S. sowie Berichte der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. ein. Zudem befragte das Amt schriftlich Frau C., die in der Zeit von 1969 bis 1972 als Sozialarbeiterin im Amt für Diakonie tätig und kurze Zeit mit der Pflegschaft der Klägerin befasst war. Ferner zog es die von der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe K. eV archivierte Akte der Klägerin über die Pflegschaft der Klägerin sowie die Schwerbehindertenakte des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie bei, das mit Bescheid vom 30.8.2005 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 wegen einer psychischen Behinderung ab Mai 2005 festgestellt hatte.
- 6
-
Mit Bescheid vom 3.1.2006 des Versorgungsamts M. in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 17.7.2006 wurde der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 OEG geworden sei. Weder der sexuelle Missbrauch durch den Stiefvater noch die sexuelle Belästigung durch den leiblichen Vater seien nachgewiesen. Selbst unter Heranziehung der Beweiserleichterung des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sei ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin nicht anzunehmen.
- 7
-
Das von der Klägerin daraufhin angerufene Sozialgericht Lüneburg (SG) hat von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. F. ein im Juli 2007 erstattetes nervenärztliches Gutachten mit einem unter Mithilfe des psychologischen Psychotherapeuten Dr. B. erstellten testpsychologischen Zusatzgutachten eingeholt. Der Sachverständige diagnostizierte eine dissoziative Identitätsstörung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH. Er vertrat die Auffassung, dass aufgrund des eindeutigen Vorliegens einer dissoziativen Identitätsstörung nach herrschender wissenschaftlicher Lehre ein frühkindlicher sexueller Missbrauch als Ursache für die Störung anzunehmen sei.
- 8
-
Mit Urteil vom 8.11.2007 hat das SG die noch gegen das Land Nordrhein-Westfalen gerichtete Klage abgewiesen, weil nicht im Sinne des notwendigen Vollbeweises feststellbar sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Auch unter Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG sei nicht anzunehmen, dass ein derartiger Angriff auf die Klägerin in ihrer Kindheit stattgefunden habe, weil von einer Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin nicht ausgegangen werden könne. Schließlich sei der vom Sachverständigen gezogene Rückschluss von der vorliegenden Erkrankung auf deren Ursache nicht zulässig.
- 9
-
Das von der Klägerin mit der Berufung angerufene Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat weitere medizinische Unterlagen eingeholt, ua den Rehabilitations-Entlassungsbericht der P.-Klinik B. vom 26.7.2000 sowie das für die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover in einem Rentenverfahren erstellte Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. T. vom 18.1.2005. Außerdem hat sich das LSG von der Dipl. Psychologin D. ein Glaubhaftigkeitsgutachten vom 19.4.2011 über die Klägerin erstatten lassen. Danach ist die Aussage der Klägerin bezüglich des dargelegten Missbrauchs durch den Stiefvater (1961 bis 1962) und den Vater (1963 bis 1967) nicht glaubhaft. Zwar liege keine bewusste Falschaussage vor, es bestünden aber Hinweise, dass die Angaben der Klägerin sich erst unter suggestiven Bedingungen entwickelt hätten.
- 10
-
Mit Urteil vom 16.9.2011 hat das LSG die zuletzt gegen den beklagten Landschaftsverband gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Seine Entscheidung hat es auf folgende Erwägungen gestützt:
Das Gericht sehe sich nicht in der Lage, einen sexuellen Missbrauch der Klägerin durch deren Stiefvater und/oder eine sexuelle Belästigung durch deren leiblichen Vater und damit einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG anzunehmen. Der von der Klägerin behauptete sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung sei zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Unmittelbare Tatzeugen seien nicht vorhanden. Stiefvater, Mutter und Vater der Klägerin seien bereits verstorben. Urkunden, wie etwa staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten etc, seien nicht mehr vorhanden. Andere Beweismittel, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten, seien nicht ersichtlich. Der sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung könne auch nicht aus der medizinischen Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung gefolgert werden.
Schließlich lasse sich ein sexueller Missbrauch bzw eine sexuelle Belästigung auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 KOVVfG annehmen. Zwar komme die Beweiserleichterung (Glaubhaftmachung) zugunsten der Klägerin zur Anwendung, weil es weder Zeugen noch sonstige zum Beweis geeignete Unterlagen zu den von der Klägerin behaupteten Taten gebe. Die entsprechenden Behauptungen der Klägerin seien jedoch nicht glaubhaft. Dies ergebe sich zum einen aus dem eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. und zum anderen auch aus eigenen Erwägungen des Senats zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin. Ein Anspruch auf Opferentschädigung ergebe sich aus im Wesentlichen gleichen Überlegungen auch nicht aus der Behauptung der Klägerin, von ihrem Vater einmal krankenhausreif geschlagen worden zu sein.
- 11
-
Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der Anspruch der Klägerin "wahrscheinlich" auch an den Voraussetzungen des § 10a OEG scheitern würde. Für Taten in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 könnten die Opfer nur dann Entschädigung nach dem OEG erhalten, wenn sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt seien, also ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 50 vorliege. Nach dem Schwerbehindertenrecht sei indes nur ein GdB von 30 anerkannt. Dem Gutachten des Dr. F. sei nicht zu folgen, weil er keinerlei Begründung dafür gegeben habe, dass die "MdE 50" betrage. Im Ergebnis könne dies jedoch dahinstehen.
- 12
-
Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Soweit das LSG davon ausgehe, dass keine Beweismittel mehr vorhanden seien, sei § 103 SGG verletzt. Sie, die Klägerin, habe dem LSG gegenüber die Vernehmung ihrer Halbschwester als Zeitzeugin angeboten. Soweit das LSG sage, dass aus der Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung nicht auf deren Ursache rückgeschlossen werden könne, stehe dies im Widerspruch zu der Aussage des erstinstanzlich eingeholten ärztlichen Gutachtens. Zudem sei nach der Entscheidung des BSG vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92 - ein derartiger Rückschluss durchaus ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft die geltend gemachte Belastung allgemein für geeignet halte, bestimmte Krankheiten hervorzurufen. Nach dem Gutachten des Dr. F. sei nach heute herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung ein entsprechender Rückschluss hier möglich.
- 13
-
Im Hinblick auf das zweitinstanzlich eingeholte aussagepsychologische Gutachten sei bisher ungeklärt, ob ein derartiges Gutachten überhaupt "die Entscheidung des Gerichts ersetzen darf". Bezüglich der vom LSG als eigene Erwägungen bezeichneten Gründe zur fehlenden Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen (fehlende Aussagekonstanz) habe das LSG nicht beachtet, dass sie an einer dissoziativen Identitätsstörung leide.
- 14
-
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 sowie des Sozialgerichts Lüneburg vom 8. November 2007 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2006 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter sowie einer schweren körperlichen Misshandlung Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
- 15
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
- 16
-
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
- 17
-
Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
- 18
-
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
- 19
-
Die Revision der Klägerin ist zulässig.
- 20
-
Sie ist vom BSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf zahlreiche schädigende Vorgänge stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9 V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in zwei Gruppen zusammenzufassen, nämlich einen über Jahre andauernden sexuellen Missbrauch und eine körperliche Misshandlung.
- 21
-
Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs rügt die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG, weil das Gericht ihre Halbschwester nicht als Zeitzeugin vernommen habe. Als weitere Verletzung der Sachaufklärungspflicht betrachtet die Klägerin die Einholung und Verwertung eines aussagepsychologischen Gutachtens durch das LSG, und zwar auch in Bezug auf die behauptete einmalige schwere körperliche Misshandlung durch ihren Vater. Als Verletzung der Sachaufklärungspflicht und Überschreitung der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung rügt die Klägerin, dass das LSG entgegen dem erstinstanzlich eingeholten psychiatrischen Gutachten nicht davon ausgegangen sei, dass aus der Art ihrer jetzigen Erkrankung auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend rückgeschlossen werden könne. Die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung habe das LSG auch im Rahmen von ihm so bezeichneter eigener Erwägungen überschritten. Insgesamt rügt die Klägerin zusätzlich eine Verletzung des materiellen Beweisrechts, weil sich das LSG bei Anwendung des § 15 KOVVfG nicht an die danach geltenden Grundsätze der Glaubhaftmachung gehalten habe.
- 22
-
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter betrifft. Hinsichtlich geltend gemachter Folgen einer schweren körperlichen Misshandlung durch den Vater führt die Revision insoweit zu einer Änderung des Urteils des LSG, als die darauf bezogene zweitinstanzlich erhobene Klage abgewiesen wird.
- 23
-
Stillschweigend aber zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Berufungsverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat.
- 24
-
Obwohl auch der Revisionsantrag der Klägerin auf die Bewilligung einer "Opferentschädigung" gerichtet ist, legt der Senat den erhobenen Anspruch im wohlverstandenen Interesse der Klägerin dahin aus, dass diese die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt (vgl § 123 SGG). Der wörtlich gestellte Leistungsantrag wäre nämlich unzulässig. Zwar kann im sozialgerichtlichen Verfahren die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG auf jede nach dem materiellen Recht vorgesehene Leistung gerichtet werden. Die beanspruchte Leistung muss indes genau bezeichnet werden (BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 5). Der Begriff Opferentschädigung betrifft aber keine bestimmte Leistung, sondern umfasst alle nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl § 1 Abs 1 OEG iVm § 9 BVG). Selbst wenn nach den Umständen des Falles als "Opferentschädigung" nur Geldleistungen in Betracht kämen, kann nach der Rechtsprechung des Senats ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 SGG sein(Urteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - USK 99140 S 816 f; Urteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).
- 25
-
Soweit das LSG erstmals über einen Anspruch der Klägerin nach dem OEG/BVG wegen der Folgen einer einmaligen schweren körperlichen Misshandlung durch ihren Vater entschieden hat, handelt es sich um eine Entscheidung über eine erst im Laufe des Berufungsverfahrens erhobene Klage. Diese Klage ist schon deshalb unzulässig, weil über den Anspruch insoweit noch keine Verwaltungsentscheidung vorliegt. Das LSG hat sich mit diesem Streitpunkt nicht gesondert befasst. Insoweit ist das Urteil des LSG klarstellend dahin abzuändern, dass diese Klage abgewiesen wird.
- 26
-
Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:
Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
- 27
-
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
- 28
-
Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).
- 29
-
In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das BSG bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).
- 30
-
Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.
- 31
-
Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).
- 32
-
Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).
- 33
-
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
- 34
-
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).
- 35
-
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
- 36
-
Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).
- 37
-
Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Entgegen der bisherigen Diktion auch des LSG ist nicht zwischen einem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und einer sexuellen Belästigung durch den Vater zu unterscheiden, sondern einheitlich von einem sexuellen Missbrauch zu sprechen. Denn strafrechtlich wird so nicht differenziert. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Personen unter vierzehn Jahren) setzt § 176 StGB "sexuelle Handlungen" voraus. Ebenso stellt § 177 StGB betreffend andere Personen "sexuelle Handlungen" unter Strafe. Als solche werden alle Einwirkungen auf ein Kind oder eine über vierzehn Jahre alte Person verstanden, die mit sexuell bezogenem Körperkontakt einhergehen (s nur Fischer, StGB, 59. Aufl 2012, § 177 RdNr 49), sodass darunter auch die bisher als sexuelle Belästigung bezeichneten Handlungen des Vaters der Klägerin fallen. Die von der Klägerin ihrem Stiefvater und ihrem Vater zur Last gelegten schädigenden Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.
- 38
-
Den behaupteten sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und später durch den Vater der Klägerin hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.
- 39
-
Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).
- 40
-
Diesen Kriterien hat das LSG zwar Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG angenommen hat. Der Anwendung dieser Vorschrift steht hier auch nicht der Umstand entgegen, dass das LSG verpflichtet war, die von der Klägerin benannte Zeugin R. zu vernehmen, denn diese ist nicht als Tatzeugin, sondern als Zeitzeugin benannt worden. Die Verpflichtung zu ihrer Vernehmung folgt indes aus § 103 SGG, denn ausgehend von seiner materiellen Rechtsansicht zur Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG hätte sich das LSG zu deren Vernehmung gedrängt fühlen müssen. Die Angaben der Zeugin R. sind nämlich von erheblicher Relevanz im Rahmen der Prüfung einer Glaubhaftmachung des sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Stiefvater H. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG über ein Ermittlungsverfahren gegen H. wegen eines sexuellen Missbrauchs seiner eigenen Tochter könnte es sich bei der Zeugin um die Tochter des H. handeln, die möglicherweise selbst von diesem sexuell missbraucht worden ist. Ihren Angaben kann somit auch hinsichtlich des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch H. erhebliche Bedeutung zukommen.
- 41
-
Obwohl das LSG den § 15 S 1 KOVVfG herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.
- 42
-
Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.
- 43
-
Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sog Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9
= Juris RdNr 22) . Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9= Juris RdNr 20, 23) .
- 44
-
Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.
- 45
-
Aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 (- L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25) ergeben sich keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25 aE). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.
- 46
-
Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht: Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):
Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.
- 47
-
Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).
- 48
-
Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).
- 49
-
Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.
- 50
-
Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.
- 51
-
Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).
- 52
-
Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.
- 53
-
Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).
- 54
-
Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.
- 55
-
Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.
- 56
-
Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/ Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.
- 57
-
Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.
- 58
-
Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom LSG zu den Fragen eingeholt worden:
- 59
-
Ist die Aussage der Klägerin bezüglich der dargelegten schädigenden Ereignisse (Missbrauch durch den Stiefvater H. 1961 - 1962; Missbrauch durch den Vater 1963 - 1967) glaubhaft? Wenn ja, auf welchen aussagepsychologischen Kriterien beruht die Glaubhaftigkeit zu den unmittelbaren schädigenden Ereignissen? Wenn nein, nach welchen aussagepsychologischen Kriterien ist die Glaubhaftigkeit für die unmittelbaren schädigenden Ereignisse nicht erreicht oder auszuweisen?
- 60
-
Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen D. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in dem Abschnitt 3 ("Methodik der Begutachtung und Hypothesenbildung") festgestellt, dass es sich bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung um einen Hypothesen geleiteten Prüfprozess handele ("Wahrheits-Hypothese" und "Unwahr-Hypothese"). Dabei hat die Sachverständige auf Veröffentlichungen von Volbert (Beurteilung von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung - Forensisch-psychologische Praxis 2004 und Volbert/Steller, Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, 2004) hingewiesen (S 15 f des Gutachtens).
- 61
-
Da das Berufungsurteil mithin bei der Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.
- 62
-
Auf dieser nicht tragfähigen Tatsachenwürdigung beruht die Entscheidung des LSG. Das gilt auch in Anbetracht des Umstandes, dass das LSG seine Auffassung von der fehlenden "Glaubhaftigkeit" der Behauptungen der Klägerin zusätzlich auf eigene Erwägungen gestützt hat. Denn diese Erwägungen tragen die Entscheidung des LSG nicht allein. Vielmehr hat das LSG diese Ausführungen nur ergänzend gemacht ("nicht nur auf das Glaubhaftigkeitsgutachten, sondern auch auf eigene Erwägungen"), sodass das Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. nach der Diktion des LSG für dessen Tatsachenwürdigung maßgebend ist.
- 63
-
Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).
- 64
-
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Tenor
-
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. April 2017 wird als unzulässig verworfen.
-
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
- 1
-
I. In einem vorangegangenen Berufungsverfahren hat das LSG mit Urteil vom 10.4.2013 einen Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz wegen geltend gemachter Folgen von am 12.7.1995 und 15.10.1996 durchgeführter Schutzimpfungen verneint. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Kläger bei den Impfungen eine gesundheitliche Schädigung im Sinne einer unüblichen Impfreaktion erlitten habe, die zu einem globalen Entwicklungsrückstand als Impfschaden geführt habe. Auf die Beschwerde des Klägers hat das BSG mit Beschluss vom 14.11.2013 (B 9 V 33/13 B) das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, weil das LSG das Paul-Ehrlich-Institut (Prof. Dr. C.) nicht zu Einwänden des Klägers ergänzend befragt hat. Dementsprechend hat das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren Auskünfte bei Prof. Dr. C. und Prof. Dr. V. eingeholt und Prof. Dr. D., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Prof. Dr. D. hat eine vorläufige Stellungnahme erstattet und eine Fachinformation für Ärzte und Apotheker 1995 zu den Impfstoffen sowie einen Gutachtenentwurf übersandt.
- 2
-
Mit Urteil vom 26.4.2017 hat das LSG erneut einen Anspruch des Klägers verneint, weil nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass bei dem Kläger nach einer der Impfungen vom 12.7.1995 bis zum 3.11.1997 eine Primärschädigung im Sinne einer Impfkomplikation aufgetreten sei. Es fehle am Nachweis einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung. Sei eine solche das übliche Ausmaß übersteigende gesundheitliche Schädigung im Nachgang einer Impfung nicht erwiesen, so stelle sich vorliegend die Frage nach einem Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Primärschädigung nicht. Weiterer Ermittlungen zum Vorliegen einer Impfkomplikation im Gegensatz zu einer bloßen üblichen Impfreaktion habe es daher nicht bedurft. Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 26.4.2017 zuletzt noch gestellten Beweisanträge seien daher abzulehnen.
- 3
-
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG erneut Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung sowie von Verfahrensmängeln begründet.
- 4
-
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ist ordnungsgemäß dargetan worden(§ 160a Abs 2 S 3 SGG).
- 5
-
1. Grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist, und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1.) eine bestimmte Rechtsfrage, (2.) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3.) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4.) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.
- 6
-
Der Kläger hält folgende Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung:
"Gebietet die Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG zu ermitteln
a)
welche dauerhafte Gesundheitsschädigung vorliegt,
b)
wie wahrscheinlich die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung durch die Impfung ist,
c)
ob Alternativursachen für die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung ersichtlich sind,
wenn eine Primärschädigung nicht erkennbar zutage getreten ist?"
- 7
-
Ob der Kläger damit eine Rechtsfrage hinreichend bezeichnet hat, die auf die Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals abzielt (vgl Becker, SGb 2007, 261, 265 zu Fn 42 mwN), kann hier dahinstehen. Er hat bereits die höchstrichterliche Klärungsbedürftigkeit dieser von ihm aufgestellten Frage nicht dargetan. Es fehlt insbesondere eine Auseinandersetzung mit den Vorschriften des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) und des IfSG (hier insbesondere § 2 Nr 11 IfSG), nach denen eine Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen (Primär-)Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche (Sekundär-)Schädigung vorliegen müssen, wobei letztere nach § 2 Nr 11 IfSG als Impfschaden definiert wird, während Impfschaden nach der abweichenden Terminologie des BSeuchG die Primärschädigung bezeichnet(vgl hierzu auch BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 35 ff). Zudem hätte es einer Darlegung der Beweisanforderungen bedurft (vgl hierzu insgesamt BSG, aaO; BSG Urteil vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9), wie diese in der angefochtenen Entscheidung des LSG (S 21 des Urteils) bereits ausgeführt worden sind, um eine Sachaufklärungsrüge nach § 103 SGG im Rahmen einer grundsätzlichen Bedeutung als Rechtsfrage zu formulieren. Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis "nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen" nicht ausreichen.
- 8
-
Unabhängig davon hat der Kläger auch die Entscheidungserheblichkeit seiner vermeintlichen Rechtsfrage nicht dargelegt, da nach Auffassung des LSG unter Würdigung des gesamten Sach- und Streitstandes aufgrund des schriftlichen Gutachtens nebst ergänzender Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. sowie des Ergebnisses von dessen persönlicher Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 10.4.2013 eine Primärschädigung im Sinne des Gesetzes nicht vorliege. Durchgreifende Verfahrensrügen gegen die zugrunde liegenden Feststellungen sind der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen (dazu sogleich).
- 9
-
2. Der Kläger bezeichnet auch einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers stützt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr, vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 4 mwN). Geltend gemacht werden kann nur ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und - entgegen der Vorstellung des Klägers - 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
- 10
-
a) Die Beschwerdebegründung befasst sich umfangreich mit der Darlegung vermeintlicher Aufklärungsmängel (§ 103 SGG) durch das LSG ohne zuvor den Sachverhalt und den gesamten Verfahrensgang darzustellen. "Bezeichnet" iS des § 160a Abs 2 S 3 SGG ist ein Verfahrensmangel allerdings nur dann, wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird(BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Dies wird aber nur dann erkennbar, wenn zuvor diese Tatsachen im Zusammenhang mit dem Verfahrensgang dargestellt und einer rechtlichen Wertung unterzogen werden. Hieran fehlt es. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, aus der Beschwerdebegründung unter Heranziehung von Verwaltungs- und Prozessakten das herauszusuchen, was möglicherweise - bei wohlwollender Auslegung - zur Begründung der Beschwerde geeignet sein könnte (BSG, aaO). Sofern der Kläger eine erneute Anhörung von Dr. H. begehrt, scheitert dieses Vorhaben im Rahmen der Beschwerde bereits an dem Umstand, dass nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG gestützt werden kann. Unabhängig davon beschäftigt sich die Beschwerdebegründung auch nicht mit dem Umstand, dass Dr. H. sein Gutachten bereits vor dem SG erstattet hat und schon deshalb eine weitere Anhörung ohnehin nur unter den Voraussetzungen einer notwendigen Anhörung nach Maßgabe des § 411 Abs 3 ZPO verlangt werden konnte(vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B; BSG Beschluss vom 25.10.2012 - B 9 SB 18/12 B - Juris RdNr 7; dazu sogleich).
- 11
-
b) Darüber hinaus hat der Kläger auch nicht dargelegt, einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung des LSG vom 26.4.2017 gestellt zu haben. Die von ihm wiedergegebenen Anträge zu Ziff 1 b, c, 2 c, d, 4, 5 und 6 bezeichnen zwar einzelne Punkte hinsichtlich derer weiterer Beweis erhoben werden soll. Denn Merkmal eines Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Um in der aktuellen Prozesssituation ein Beweisthema für das LSG hinreichend genau zu bezeichnen, hätte der Kläger aber zusätzlich angeben müssen, warum gerade diese Punkte weiter klärungsbedürftig sein sollten. Denn je mehr Aussagen von Sachverständigen oder (sachverständigen) Zeugen zum Beweisthema bereits vorliegen, desto genauer muss der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen eingehen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 11 mwN). Angesichts dessen reicht es nicht aus, auf weitere Ermittlungserfordernisse hinsichtlich der beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen sowie deren Verursachung durch die Impfungen zu verweisen, da zu diesen Themenkomplexen bereits mehrere Sachverständigengutachten vorlagen. Die erneuten Anträge des Klägers hinsichtlich der streitgegenständlichen Impfstoffe und deren Verursachung der Entwicklungsretardierung beim Kläger sowie zu der unzureichenden Gewichtszunahme des Klägers nach allen Impfungen, die Einholung einer Stellungnahme eines impfschadensrechtlich erfahrenen Gutachters, eines toxikologischen Gutachtens und immunologischen Gutachtens waren insgesamt nicht dazu geeignet, dem Berufungsgericht noch klärungsbedürftige Punkte aufzuzeigen und es damit zu weiteren Ermittlungen zu veranlassen.
- 12
-
Die Beschwerde legt nicht schlüssig dar, warum die Anträge des Klägers das LSG hätten zu weiterer Beweiserhebung drängen müssen. Dazu hätte es der Darlegung bedurft, warum das Gericht objektiv gehalten gewesen war, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben (vgl BSG Beschluss vom 29.4.2010 - B 9 SB 47/09 B - Juris). Daran fehlt es hier. Die Würdigung voneinander abweichender Gutachtenergebnisse oder ärztlicher Auffassungen gehört wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst. Diese ist von dem LSG als letztes Tatsachengericht durchzuführen (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) und kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Eine Verpflichtung zur Einholung eines sog Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtenergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 13 mwN). Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8). Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten ungenügend sind, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO, weil sie grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben(vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN). Derartige Gründe hat die Beschwerde nicht dargelegt.
- 13
-
Die Beschwerde hat nicht substantiiert dargelegt, warum die Gewichtung der unterschiedlichen Befunde dem LSG misslungen sein sollte. Das Tatsachengericht braucht jedenfalls dann kein weiteres Gutachten einzuholen, wenn der Kläger bereits nicht darlegt, dass sich die Tatsachengrundlagen der Gutachten widersprechen. Selbst widersprüchliche Tatsachenfeststellungen verschiedener Gutachten erzwingen nicht bereits ein weiteres Gutachten, um den Widerspruch aufzulösen. Beruhen vielmehr die Differenzen zwischen den Auffassungen von Sachverständigen darauf, dass diese von verschiedenen tatsächlichen Annahmen ausgehen, dann muss der Tatrichter, ggf nach weiterer Aufklärung, die für seine Überzeugungsbildung maßgebenden Tatsachen feststellen oder begründen, weshalb und zu wessen Lasten sie beweislos geblieben sind (vgl BGH Urteil vom 23.9.1986 - VI ZR 261/85). Diese letztgültige Feststellung der maßgeblichen Anknüpfungs- bzw Befundtatsachen muss nicht zwingend durch ein weiteres Gutachten, sondern kann in freier Beweiswürdigung der von den Sachverständigen (oder sonst) festgestellten Tatsachen erfolgen. Haben die Sachverständigen unterschiedliche Befunde erhoben, so obliegt es grundsätzlich dem Tatsachengericht, die Aussagekraft der erhobenen Befunde anhand nachvollziehbarer Kriterien zu gewichten, soweit es dazu nicht auf medizinische Sachkunde zurückgreifen muss, die ihm die Sachverständigen im zu entscheidenden Fall nicht vermittelt haben und über die es auch sonst nicht verfügt. Insoweit hätte es im Rahmen der Beschwerde vorrangig der Darlegung bedurft, weshalb hinsichtlich der Beweisanträge die dort postulierten Anknüpfungstatsachen in Form des schwallartigen Erbrechens nach sämtlichen Impfungen entgegen der auf den Zeugenaussagen basierenden Wertung des LSG als erwiesen zu erachten sind. Der bloße Hinweis darauf, dass es für den Nachweis eines Primärschadens ausreichend sei, wenn die Primärschädigung im Verborgenen eintrete und nicht erkennbar zutage trete, reicht insoweit nicht aus. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG ist ein Primärschaden unter diesen Umständen gerade nicht nachgewiesen, sodass mangels Feststellung der Anknüpfungstatsachen die genannten Beweisanträge unerheblich sind. Die Beschwerde legt nicht substantiiert dar, warum die nachvollziehbare Argumentation des LSG, die den Kernbereich der grundsätzlich der Tatsacheninstanz vorbehaltenen Tatsachenwürdigung betrifft, offensichtlich fehlsam gewesen sein könnte.
- 14
-
Nichts anderes gilt hinsichtlich der übrigen Beweisanträge. Das LSG hat sich auf die schriftlichen und mündlichen Äußerungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. gestützt, dessen Gutachten auch im Rahmen der Beschwerde nicht als "ungenügend" iS von § 412 Abs 1 ZPO gerügt wird. Soweit das LSG die gutachterlichen Ausführungen deshalb für überzeugend halten durfte, musste es sich nicht gedrängt sehen, weitere sachverständige Stellungnahmen oder Gutachten einzuholen. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen fehlt eine plausible Darlegung, wieso es auf die weiter unter Beweis gestellten Umstände noch hätte ankommen können. Tatsächlich kritisiert der Kläger die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), womit er nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein eine Revisionszulassung nicht erreichen kann. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzureichende Rechtsanwendung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).
- 15
-
c) Auch die Verletzung rechtlichen Gehörs hat der Kläger nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Ein solcher Verstoß liegt ua vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen miteinzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 19 S 33 mwN) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Dementsprechend sind insbesondere Überraschungsentscheidungen verboten (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 8b mwN). Zur Begründung eines entsprechenden Revisionszulassungsgrundes ist nicht nur der Verstoß gegen diesen Grundsatz selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen ggf dadurch verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Ferner ist Voraussetzung für den Erfolg einer Gehörsrüge, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 21 S 35; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
- 16
-
Der Kläger hat nicht substantiiert dargelegt, warum die unterbliebene Anhörung der von ihm benannten Sachverständigen Prof. Dr. D. sowie Dr. H. eine Gehörsverletzung darstellt. Unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts stehenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, steht den Beteiligten gemäß § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO grundsätzlich das Recht zu, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten(BVerfG Beschluss vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 - Juris RdNr 11; vgl auch BSG Beschluss vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - Juris RdNr 7; BGH Urteil vom 7.10.1997 - VI ZR 252/96 - NJW 1998, 162, 163 - Juris RdNr 10 - alle mwN). Dabei reicht es aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 4; BVerwG Beschluss vom 19.3.1996 - 11 B 9/96 - NJW 1996, 2318), zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen. Einwendungen in diesem Sinne sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (vgl § 411 Abs 4 ZPO). Eine Form für die Befragung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, sodass sie sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen kann. Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen letztlich eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35). Dieser Obliegenheit ist ein Beteiligter jedenfalls dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören und er schriftlich Fragen im oben dargelegten Sinne angekündigt hat, die objektiv sachdienlich sind; liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten bleibt (vgl BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 4 RdNr 5). Die Beschwerde thematisiert schon nicht, ob das Fragerecht gegenüber dem erstinstanzlichen Sachverständigen vor dem LSG überhaupt noch bestanden habe (vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - aaO) bzw gegenüber Prof. Dr. D. mangels eines schriftlichen Gutachtens überhaupt entstanden sein könnte.
- 17
-
Jedenfalls hat die Beschwerde auch nicht ausreichend dargelegt, warum die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung am 26.4.2017 formulierten Fragen an die Sachverständigen Prof. Dr. D. und Dr. H. überhaupt noch erläuterungsbedürftig waren, nachdem die Sachverständigen zu diesen Punkten bereits Stellungnahmen abgegeben hatten und Stellungnahmen von anderen Sachverständigen vorgelegen haben. Darüber hinaus wäre es erforderlich gewesen darzulegen, weshalb es auf die Klärung dieser Fragen ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen noch ankommen konnte (aaO). Tatsächlich zielt der Antrag des Klägers ersichtlich darauf ab, das LSG nochmals von seiner abweichenden Rechtsauffassung und Tatsachenwürdigung zu überzeugen. Damit wendet sich der Kläger, wie oben bereits angeführt, tatsächlich gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, welche sich der Beurteilung durch das Revisionsgericht entzieht (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG), und rügt Fehler in der Rechtsanwendung, auf die es im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nicht ankommt (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
- 18
-
3. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
- 19
-
4. Die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgt ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG).
Tenor
-
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit sie die Gewährung von Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend der Klägerin betrifft.
-
Die zweitinstanzlich erhobene Klage betreffend Folgen körperlicher Misshandlung wird abgewiesen.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
- 2
-
Die 1949 geborene Klägerin lebte bis 1962 bei ihrer Mutter und deren zweiten Ehemann H. Stiefvater). Der Vater der Klägerin hatte sich kurz nach der Geburt der Klägerin von deren Mutter getrennt. Gegen den Stiefvater wurde offenbar aufgrund des Verdachts, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben, ein Ermittlungsverfahren durchgeführt. Nach dem Tod des Stiefvaters im März 1962 wurde die Klägerin vom Jugendamt aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen und ihrem Vater, der wieder geheiratet hatte, zugeführt.
- 3
-
Im Mai 1967 erstattete die Klägerin gegen ihren Vater eine Strafanzeige. Dieser habe sie im vergangenen halben Jahr immer wieder unzüchtig berührt. Der Vater wurde offenbar verhaftet und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Klägerin zunächst dem Jugendamt der Stadt K. und ab August 1967 der Evangelischen Jugendhilfe des Amtes für Diakonie K. übertragen. Bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres arbeitete die Klägerin in der Heimküche eines Altersheims, wo sie anscheinend auch wohnte. Nach dem späteren Erwerb des Hauptschulabschlusses und verschiedenen Erwerbstätigkeiten heiratete die Klägerin im Jahre 1976 und gebar zwischen 1977 und 1981 drei Kinder.
- 4
-
Anlässlich einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der P.-Klinik B. im Jahr 2000 wurde bei der Klägerin neben einer mittelgradigen depressiven Episode erstmals eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Im Anschluss an diese Maßnahme nahm die Klägerin eine ambulante Psychotherapie bei der psychologischen Psychotherapeutin S. auf. Diese äußerte den Verdacht einer dissoziativen Identitätsstörung die im Jahr 2002 durch die Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. bestätigt wurde.
- 5
-
Im Mai 2005 beantragte die Klägerin beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Gewaltopferentschädigung, weil sie in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und von ihrem Vater sexuell belästigt worden sei. Zur Begründung legte sie das Ergebnis ihrer Recherchen sowie Unterlagen vor, die sie unter Mitwirkung ihrer Therapeutin zusammengetragen hatte. Von dort wurde die Angelegenheit im Juni 2005 wegen des angegebenen Tatorts in K. zuständigkeitshalber an das Versorgungsamt M. abgegeben. Dieses Amt holte einen Befundbericht der Psychotherapeutin S. sowie Berichte der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. ein. Zudem befragte das Amt schriftlich Frau C., die in der Zeit von 1969 bis 1972 als Sozialarbeiterin im Amt für Diakonie tätig und kurze Zeit mit der Pflegschaft der Klägerin befasst war. Ferner zog es die von der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe K. eV archivierte Akte der Klägerin über die Pflegschaft der Klägerin sowie die Schwerbehindertenakte des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie bei, das mit Bescheid vom 30.8.2005 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 wegen einer psychischen Behinderung ab Mai 2005 festgestellt hatte.
- 6
-
Mit Bescheid vom 3.1.2006 des Versorgungsamts M. in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 17.7.2006 wurde der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 OEG geworden sei. Weder der sexuelle Missbrauch durch den Stiefvater noch die sexuelle Belästigung durch den leiblichen Vater seien nachgewiesen. Selbst unter Heranziehung der Beweiserleichterung des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sei ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin nicht anzunehmen.
- 7
-
Das von der Klägerin daraufhin angerufene Sozialgericht Lüneburg (SG) hat von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. F. ein im Juli 2007 erstattetes nervenärztliches Gutachten mit einem unter Mithilfe des psychologischen Psychotherapeuten Dr. B. erstellten testpsychologischen Zusatzgutachten eingeholt. Der Sachverständige diagnostizierte eine dissoziative Identitätsstörung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH. Er vertrat die Auffassung, dass aufgrund des eindeutigen Vorliegens einer dissoziativen Identitätsstörung nach herrschender wissenschaftlicher Lehre ein frühkindlicher sexueller Missbrauch als Ursache für die Störung anzunehmen sei.
- 8
-
Mit Urteil vom 8.11.2007 hat das SG die noch gegen das Land Nordrhein-Westfalen gerichtete Klage abgewiesen, weil nicht im Sinne des notwendigen Vollbeweises feststellbar sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Auch unter Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG sei nicht anzunehmen, dass ein derartiger Angriff auf die Klägerin in ihrer Kindheit stattgefunden habe, weil von einer Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin nicht ausgegangen werden könne. Schließlich sei der vom Sachverständigen gezogene Rückschluss von der vorliegenden Erkrankung auf deren Ursache nicht zulässig.
- 9
-
Das von der Klägerin mit der Berufung angerufene Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat weitere medizinische Unterlagen eingeholt, ua den Rehabilitations-Entlassungsbericht der P.-Klinik B. vom 26.7.2000 sowie das für die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover in einem Rentenverfahren erstellte Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. T. vom 18.1.2005. Außerdem hat sich das LSG von der Dipl. Psychologin D. ein Glaubhaftigkeitsgutachten vom 19.4.2011 über die Klägerin erstatten lassen. Danach ist die Aussage der Klägerin bezüglich des dargelegten Missbrauchs durch den Stiefvater (1961 bis 1962) und den Vater (1963 bis 1967) nicht glaubhaft. Zwar liege keine bewusste Falschaussage vor, es bestünden aber Hinweise, dass die Angaben der Klägerin sich erst unter suggestiven Bedingungen entwickelt hätten.
- 10
-
Mit Urteil vom 16.9.2011 hat das LSG die zuletzt gegen den beklagten Landschaftsverband gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Seine Entscheidung hat es auf folgende Erwägungen gestützt:
Das Gericht sehe sich nicht in der Lage, einen sexuellen Missbrauch der Klägerin durch deren Stiefvater und/oder eine sexuelle Belästigung durch deren leiblichen Vater und damit einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG anzunehmen. Der von der Klägerin behauptete sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung sei zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Unmittelbare Tatzeugen seien nicht vorhanden. Stiefvater, Mutter und Vater der Klägerin seien bereits verstorben. Urkunden, wie etwa staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten etc, seien nicht mehr vorhanden. Andere Beweismittel, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten, seien nicht ersichtlich. Der sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung könne auch nicht aus der medizinischen Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung gefolgert werden.
Schließlich lasse sich ein sexueller Missbrauch bzw eine sexuelle Belästigung auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 KOVVfG annehmen. Zwar komme die Beweiserleichterung (Glaubhaftmachung) zugunsten der Klägerin zur Anwendung, weil es weder Zeugen noch sonstige zum Beweis geeignete Unterlagen zu den von der Klägerin behaupteten Taten gebe. Die entsprechenden Behauptungen der Klägerin seien jedoch nicht glaubhaft. Dies ergebe sich zum einen aus dem eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. und zum anderen auch aus eigenen Erwägungen des Senats zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin. Ein Anspruch auf Opferentschädigung ergebe sich aus im Wesentlichen gleichen Überlegungen auch nicht aus der Behauptung der Klägerin, von ihrem Vater einmal krankenhausreif geschlagen worden zu sein.
- 11
-
Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der Anspruch der Klägerin "wahrscheinlich" auch an den Voraussetzungen des § 10a OEG scheitern würde. Für Taten in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 könnten die Opfer nur dann Entschädigung nach dem OEG erhalten, wenn sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt seien, also ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 50 vorliege. Nach dem Schwerbehindertenrecht sei indes nur ein GdB von 30 anerkannt. Dem Gutachten des Dr. F. sei nicht zu folgen, weil er keinerlei Begründung dafür gegeben habe, dass die "MdE 50" betrage. Im Ergebnis könne dies jedoch dahinstehen.
- 12
-
Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Soweit das LSG davon ausgehe, dass keine Beweismittel mehr vorhanden seien, sei § 103 SGG verletzt. Sie, die Klägerin, habe dem LSG gegenüber die Vernehmung ihrer Halbschwester als Zeitzeugin angeboten. Soweit das LSG sage, dass aus der Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung nicht auf deren Ursache rückgeschlossen werden könne, stehe dies im Widerspruch zu der Aussage des erstinstanzlich eingeholten ärztlichen Gutachtens. Zudem sei nach der Entscheidung des BSG vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92 - ein derartiger Rückschluss durchaus ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft die geltend gemachte Belastung allgemein für geeignet halte, bestimmte Krankheiten hervorzurufen. Nach dem Gutachten des Dr. F. sei nach heute herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung ein entsprechender Rückschluss hier möglich.
- 13
-
Im Hinblick auf das zweitinstanzlich eingeholte aussagepsychologische Gutachten sei bisher ungeklärt, ob ein derartiges Gutachten überhaupt "die Entscheidung des Gerichts ersetzen darf". Bezüglich der vom LSG als eigene Erwägungen bezeichneten Gründe zur fehlenden Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen (fehlende Aussagekonstanz) habe das LSG nicht beachtet, dass sie an einer dissoziativen Identitätsstörung leide.
- 14
-
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 sowie des Sozialgerichts Lüneburg vom 8. November 2007 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2006 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter sowie einer schweren körperlichen Misshandlung Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
- 15
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
- 16
-
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
- 17
-
Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
- 18
-
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
- 19
-
Die Revision der Klägerin ist zulässig.
- 20
-
Sie ist vom BSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf zahlreiche schädigende Vorgänge stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9 V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in zwei Gruppen zusammenzufassen, nämlich einen über Jahre andauernden sexuellen Missbrauch und eine körperliche Misshandlung.
- 21
-
Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs rügt die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG, weil das Gericht ihre Halbschwester nicht als Zeitzeugin vernommen habe. Als weitere Verletzung der Sachaufklärungspflicht betrachtet die Klägerin die Einholung und Verwertung eines aussagepsychologischen Gutachtens durch das LSG, und zwar auch in Bezug auf die behauptete einmalige schwere körperliche Misshandlung durch ihren Vater. Als Verletzung der Sachaufklärungspflicht und Überschreitung der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung rügt die Klägerin, dass das LSG entgegen dem erstinstanzlich eingeholten psychiatrischen Gutachten nicht davon ausgegangen sei, dass aus der Art ihrer jetzigen Erkrankung auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend rückgeschlossen werden könne. Die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung habe das LSG auch im Rahmen von ihm so bezeichneter eigener Erwägungen überschritten. Insgesamt rügt die Klägerin zusätzlich eine Verletzung des materiellen Beweisrechts, weil sich das LSG bei Anwendung des § 15 KOVVfG nicht an die danach geltenden Grundsätze der Glaubhaftmachung gehalten habe.
- 22
-
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter betrifft. Hinsichtlich geltend gemachter Folgen einer schweren körperlichen Misshandlung durch den Vater führt die Revision insoweit zu einer Änderung des Urteils des LSG, als die darauf bezogene zweitinstanzlich erhobene Klage abgewiesen wird.
- 23
-
Stillschweigend aber zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Berufungsverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat.
- 24
-
Obwohl auch der Revisionsantrag der Klägerin auf die Bewilligung einer "Opferentschädigung" gerichtet ist, legt der Senat den erhobenen Anspruch im wohlverstandenen Interesse der Klägerin dahin aus, dass diese die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt (vgl § 123 SGG). Der wörtlich gestellte Leistungsantrag wäre nämlich unzulässig. Zwar kann im sozialgerichtlichen Verfahren die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG auf jede nach dem materiellen Recht vorgesehene Leistung gerichtet werden. Die beanspruchte Leistung muss indes genau bezeichnet werden (BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 5). Der Begriff Opferentschädigung betrifft aber keine bestimmte Leistung, sondern umfasst alle nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl § 1 Abs 1 OEG iVm § 9 BVG). Selbst wenn nach den Umständen des Falles als "Opferentschädigung" nur Geldleistungen in Betracht kämen, kann nach der Rechtsprechung des Senats ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 SGG sein(Urteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - USK 99140 S 816 f; Urteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).
- 25
-
Soweit das LSG erstmals über einen Anspruch der Klägerin nach dem OEG/BVG wegen der Folgen einer einmaligen schweren körperlichen Misshandlung durch ihren Vater entschieden hat, handelt es sich um eine Entscheidung über eine erst im Laufe des Berufungsverfahrens erhobene Klage. Diese Klage ist schon deshalb unzulässig, weil über den Anspruch insoweit noch keine Verwaltungsentscheidung vorliegt. Das LSG hat sich mit diesem Streitpunkt nicht gesondert befasst. Insoweit ist das Urteil des LSG klarstellend dahin abzuändern, dass diese Klage abgewiesen wird.
- 26
-
Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:
Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
- 27
-
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
- 28
-
Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).
- 29
-
In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das BSG bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).
- 30
-
Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.
- 31
-
Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).
- 32
-
Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).
- 33
-
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
- 34
-
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).
- 35
-
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
- 36
-
Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).
- 37
-
Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Entgegen der bisherigen Diktion auch des LSG ist nicht zwischen einem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und einer sexuellen Belästigung durch den Vater zu unterscheiden, sondern einheitlich von einem sexuellen Missbrauch zu sprechen. Denn strafrechtlich wird so nicht differenziert. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Personen unter vierzehn Jahren) setzt § 176 StGB "sexuelle Handlungen" voraus. Ebenso stellt § 177 StGB betreffend andere Personen "sexuelle Handlungen" unter Strafe. Als solche werden alle Einwirkungen auf ein Kind oder eine über vierzehn Jahre alte Person verstanden, die mit sexuell bezogenem Körperkontakt einhergehen (s nur Fischer, StGB, 59. Aufl 2012, § 177 RdNr 49), sodass darunter auch die bisher als sexuelle Belästigung bezeichneten Handlungen des Vaters der Klägerin fallen. Die von der Klägerin ihrem Stiefvater und ihrem Vater zur Last gelegten schädigenden Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.
- 38
-
Den behaupteten sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und später durch den Vater der Klägerin hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.
- 39
-
Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).
- 40
-
Diesen Kriterien hat das LSG zwar Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG angenommen hat. Der Anwendung dieser Vorschrift steht hier auch nicht der Umstand entgegen, dass das LSG verpflichtet war, die von der Klägerin benannte Zeugin R. zu vernehmen, denn diese ist nicht als Tatzeugin, sondern als Zeitzeugin benannt worden. Die Verpflichtung zu ihrer Vernehmung folgt indes aus § 103 SGG, denn ausgehend von seiner materiellen Rechtsansicht zur Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG hätte sich das LSG zu deren Vernehmung gedrängt fühlen müssen. Die Angaben der Zeugin R. sind nämlich von erheblicher Relevanz im Rahmen der Prüfung einer Glaubhaftmachung des sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Stiefvater H. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG über ein Ermittlungsverfahren gegen H. wegen eines sexuellen Missbrauchs seiner eigenen Tochter könnte es sich bei der Zeugin um die Tochter des H. handeln, die möglicherweise selbst von diesem sexuell missbraucht worden ist. Ihren Angaben kann somit auch hinsichtlich des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch H. erhebliche Bedeutung zukommen.
- 41
-
Obwohl das LSG den § 15 S 1 KOVVfG herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.
- 42
-
Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.
- 43
-
Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sog Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9
= Juris RdNr 22) . Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9= Juris RdNr 20, 23) .
- 44
-
Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.
- 45
-
Aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 (- L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25) ergeben sich keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25 aE). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.
- 46
-
Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht: Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):
Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.
- 47
-
Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).
- 48
-
Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).
- 49
-
Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.
- 50
-
Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.
- 51
-
Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).
- 52
-
Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.
- 53
-
Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).
- 54
-
Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.
- 55
-
Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.
- 56
-
Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/ Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.
- 57
-
Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.
- 58
-
Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom LSG zu den Fragen eingeholt worden:
- 59
-
Ist die Aussage der Klägerin bezüglich der dargelegten schädigenden Ereignisse (Missbrauch durch den Stiefvater H. 1961 - 1962; Missbrauch durch den Vater 1963 - 1967) glaubhaft? Wenn ja, auf welchen aussagepsychologischen Kriterien beruht die Glaubhaftigkeit zu den unmittelbaren schädigenden Ereignissen? Wenn nein, nach welchen aussagepsychologischen Kriterien ist die Glaubhaftigkeit für die unmittelbaren schädigenden Ereignisse nicht erreicht oder auszuweisen?
- 60
-
Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen D. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in dem Abschnitt 3 ("Methodik der Begutachtung und Hypothesenbildung") festgestellt, dass es sich bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung um einen Hypothesen geleiteten Prüfprozess handele ("Wahrheits-Hypothese" und "Unwahr-Hypothese"). Dabei hat die Sachverständige auf Veröffentlichungen von Volbert (Beurteilung von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung - Forensisch-psychologische Praxis 2004 und Volbert/Steller, Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, 2004) hingewiesen (S 15 f des Gutachtens).
- 61
-
Da das Berufungsurteil mithin bei der Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.
- 62
-
Auf dieser nicht tragfähigen Tatsachenwürdigung beruht die Entscheidung des LSG. Das gilt auch in Anbetracht des Umstandes, dass das LSG seine Auffassung von der fehlenden "Glaubhaftigkeit" der Behauptungen der Klägerin zusätzlich auf eigene Erwägungen gestützt hat. Denn diese Erwägungen tragen die Entscheidung des LSG nicht allein. Vielmehr hat das LSG diese Ausführungen nur ergänzend gemacht ("nicht nur auf das Glaubhaftigkeitsgutachten, sondern auch auf eigene Erwägungen"), sodass das Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. nach der Diktion des LSG für dessen Tatsachenwürdigung maßgebend ist.
- 63
-
Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).
- 64
-
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.
(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.
(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.
(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.
(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
- 1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, - 1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde, - 2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, - 3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder - 4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte
- 1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte, - 2.
von einem Arzt geimpft worden ist und - 3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.
(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer
- 1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945, - 2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung, - 3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder - 4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.
(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.
(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.
Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
- 1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, - 1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde, - 2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, - 3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder - 4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte
- 1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte, - 2.
von einem Arzt geimpft worden ist und - 3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.
(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer
- 1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945, - 2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung, - 3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder - 4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.
(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.
(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.
Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
Tenor
-
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.
-
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
- 1
-
Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.
- 2
-
Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.
- 3
-
Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.
- 4
-
Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.
- 5
-
Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.
- 6
-
Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.
- 7
-
Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.
- 8
-
Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.
- 9
-
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.
- 10
-
Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).
- 11
-
Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.
- 12
-
Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.
- 13
-
Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.
- 14
-
In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.
- 15
-
Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.
- 16
-
In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.
- 17
-
Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.
- 18
-
Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.
- 19
-
Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.
- 20
-
Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.
- 21
-
Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).
- 22
-
Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.
- 23
-
Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.
- 24
-
Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.
- 25
-
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.
- 26
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
- 27
-
Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.
- 28
-
Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.
Entscheidungsgründe
- 29
-
1. Die Revision des Klägers ist zulässig.
- 30
-
a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.
- 31
-
Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.
- 32
-
b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.
- 33
-
2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.
- 34
-
a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen
von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).
- 35
-
b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:
Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3. gesetzlich vorgeschrieben war oder
4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.
Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.
- 36
-
aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).
- 37
-
Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).
- 38
-
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.
- 39
-
bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales
) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.
- 40
-
Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):
Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.
- 41
-
Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS
, Einleitung zur VersMedV, S 5) , sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.
- 42
-
cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
- 43
-
Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.
- 44
-
c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.
- 45
-
aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25
) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.
- 46
-
Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".
- 47
-
Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.
- 48
-
bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.
- 49
-
aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:
So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.
- 50
-
Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.
- 51
-
In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).
- 52
-
Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.
- 53
-
Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:
Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.
- 54
-
Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:
Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.
- 55
-
Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:
Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.
- 56
-
Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:
Geringe Lokalreaktion,
- 57
-
enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:
Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.
- 58
-
In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):
Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.
Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.
In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.
Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.
- 59
-
bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:
Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.
- 60
-
Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.
- 61
-
Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.
- 62
-
Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.
- 63
-
d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.
- 64
-
aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.
- 65
-
bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.
- 66
-
Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.
- 67
-
aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.
- 68
-
Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.
- 69
-
Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.
- 70
-
bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.
- 71
-
ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.
- 72
-
e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
- 73
-
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 8. Juni 2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1. Zu der Frage, ob es beim Kläger im Vollbeweis zu einer Dissektion gekommen sei:
Seiner Einschätzung nach sei es nicht zu einer Dissektion gekommen, die nach den Kriterien des Vollbeweises als gesichert angesehen werden könne. Im Vollbeweis gesichert sei beim Kläger ein Hirninfarkt sowie ein sich aus der Diagnostik der Neurologischen Klinik A-Stadt ergebender Verschluss der distalen intrakraniellen Arteria carotis links; die CT-Angiographie am 10.11.2009 habe eine „hochgradig stenosierende, wohl embolische Kontrastmittelaussparung in der linken A. carotis interna im distalen zervikalen Abschnitt und dem Canalis caroticus“ gezeigt. Befunde, die die positiven Kriterien einer Dissektion (Nachweis eines Wandhämatoms, trichterförmige Lumeneinengung, klinische Korrelate wie lokale Schmerzen oder ein Horner-Syndrom) erfüllen würden, lägen nicht vor. Auch könnten die im weiteren Verlauf erhobenen Befunde die Diagnose einer Dissektion nicht bestätigen. Eine im Rahmen der Reha-Behandlung im Klinikum S. durchgeführte Dopplersonographie am 25.02.2010 habe eine unauffällige Gefäßwandmorphologie und unauffällige Strömungsprofile gezeigt. Auch aus der Literatur ergebe sich ein differenziertes Bild. Bei einer - vom Gutachter näher genannten - Untersuchung an 249 Patienten mit einer Dissektion der carotis hätten 124 einen kompletten Verschluss gezeigt, von denen sich nach einer Nachbeobachtungszeit von bis zwölf Monaten gerade etwa 45% komplett zurückgebildet hätten, während in 55% noch leichte bis schwere Stenosen nachweisbar gewesen seien. Die Rekanalisation habe in einem Zeitraum von sechs Monaten stattgefunden, in 50% der Fälle sei sie allerdings nach drei Monaten erkennbar gewesen. Hieraus ergebe sich, dass eine Dissektion zwar möglich sei, nicht jedoch in solcher Weise als gesichert angesehen werden könne, dass z.B. eine kardiale Embolie nicht auch in gleicher Weise vorstellbar sei.
2. Zu der Frage, ob über die allgemeine Ursache des Entstehungsgrundes einer Dissektion in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit bestehe:
Der Großteil der Dissektionen trete spontan bzw. sporadisch auf und eine Ursache sei nicht klar erkennbar, d.h. die Frage einer wissenschaftlichen Ungewissheit sei zu bejahen.
3. Zu der Frage, ob es wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung gebe, die -theoretisch - die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs zwischen einer Dissektion und der hier erfolgten Impfung mit Pandemrix vertrete:
Ein epidemiologisch erhöhtes Risiko einer Dissektion nach einer Impfung mit Pandemrix sei nicht belegt, was u.a. mit methodischen Problemen zusammenhängen könne. Begebe man sich auf das Feld theoretischer Überlegungen, so sei es mittlerweile als gesichert anzusehen, dass es nach Impfung mit Pandemrix zu einer erhöhten Inzidenz der Erkrankung Narkolepsie gekommen sei. Ursache sei ein Untergang von Zellen im Gehirn, die ein bestimmtes wachheitsförderndes Hormon bilden würden. Es sei bekannt, dass diese Zelldegeneration immunologisch, d.h. entzündlich bedingt sei. An derartigen immunologischen Prozessen seien Zytokine beteiligt, die letztlich auch die positive Wirkung einer Impfung, nämlich die Ausschaltung von immunpathologischen Agentien bedingen würden. Eine Entgleisung einer solchen immunologische Reaktion bzw. ein erhöhtes Auftreten von Zytokinen könne z.B. Einfluss auf die kardiale Funktion nehmen bzw. am Auftreten von kardialen und auch Gefäßerkrankungen beteiligt seien. Somit ergeben sich durchaus theoretisch gut begründbare mögliche pathophysiologische Zusammenhänge zwischen dem Schlaganfall und der Impfung beim Kläger.
Der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten hat zu dieser ergänzenden Stellungnahme am 27.12.2017 u.a. darauf hingewiesen, dass eine Gefäßdissektion der Arteria carotis als Primärschaden nicht belegt sei. Auch sei vom Sachverständigen bestätigt worden, dass sich in der wissenschaftlichen Literatur keine Arbeiten finden würden, die Hinweise auf ein erhöhtes Risiko einer Gefäßdissektion nach einer Impfung zeigen würden. Der Vergleich mit der Krankheit Narkolepsie könne in der Diskussion des vorliegenden Falls keinen Beitrag leisten. Es handle sich um ein vollständig anderes Krankheitsbild mit einem anderen Pathomechanismus. Hinweise darauf, dass eine Gefäßdissektion in relevantem Zusammenhang mit Autoimmunprozessen stehe, seien aktuell nicht bekannt. Aus einem rein zeitlichen Zusammenhang und der bloßen theoretischen Möglichkeit, dass eine durch eine Impfung induzierte Ausschüttung von Zytokinen einen Einfluss auf die Herz-Gefäß- oder Kreislauffunktion haben könnte, ergebe sich keine Grundlage für die Anerkennung der Gesundheitsstörung als Impfschaden.
Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schreiben vom 26.01.2018 ihre Ansicht geäußert, dass mehr für als gegen eine Kausalität der Impfung für den Schlaganfall spreche. Der Gutachter habe gut begründbare pathophysiologische Zusammenhänge zwischen Schlaganfall und Impfung bestätigt und auch der zeitliche Zusammenhang sei gegeben. Zudem habe der Gutachter ausgeführt, dass nach den aktuellen Informationen kein Alternativauslöser beim Kläger in Betracht komme. Weiter haben sie auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 21.06.2017 hingewiesen, welches sich mit einem französischen Fall eines Impfschadens im Bereich der Produkthaftung befasst habe. Auch in dem dort entschiedenen Fall habe es eine zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung des Impfstoffes und dem Auftreten der Erkrankung gegeben, aufgrund derer es das Gericht als ausreichend angesehen habe, dass nur gewisse Umstände auf den Impfstoff als Schadensursache hingedeutet hätten.
den Gerichtsbescheid vom 08.06.2015 aufzuheben und unter Aufhebung des Bescheids vom 23.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2013 den Hirninfarkt des Klägers mit den daraus resultierenden gesundheitlichen Einschränkungen als Impfschaden infolge der Impfung vom 03.11.2009 anzuerkennen und ihm Versorgung zu leisten.
die Berufung zurückzuweisen.
Gründe
-
1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
-
2.auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
-
3.gesetzlich vorgeschrieben war oder
-
4.auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.
„Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis „nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen“ nicht ausreichen.“
„Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.“
1. Feststellungen
2. Kein Primärschaden
„Verdachtsdiagnosen im Sinne dieser Kodierrichtlinie sind Diagnosen, die am Ende eines stationären Aufenthaltes weder sicher bestätigt noch sicher ausgeschlossen sind. Verdachtsdiagnosen werden unterschiedlich kodiert, abhängig davon, ob der Patient nach Hause entlassen oder in ein anderes Krankenhaus verlegt wurde
… Wenn eine Behandlung eingeleitet wurde und die Untersuchungsergebnisse nicht eindeutig waren, ist die Verdachtsdiagnose zu kodieren.“
2.3. Keine Wahlfeststellung
3. Auch bei Annahme einer Dissektion keine Kausalität zwischen Impfung und Primärschaden
3.1. Kein Zusammenhang im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit
3.2. Kein Zusammenhang im Sinne der Kannversorgung
„Impfstoffe sind, wie alle anderen wirksamen Arzneimittel auch, nicht völlig frei von Nebenwirkungen. Die Anforderungen an die Sicherheit von Impfstoffen sind höher als etwa an Arzneimittel zur Behandlung schwer erkrankter Personen. Denn es sind in der Regel gesunde Kinder, Jugendliche und Erwachsene, welche geimpft werden. In äußerst seltenen Fällen können Impfstoffe zu Gesundheitsstörungen und Erkrankungen führen. Ein zeitlicher Zusammenhang von Impfung und einer Erkrankung begründet einen Verdacht, ist aber noch kein Beweis dafür, dass eine Impfung die Krankheit verursacht hat.
Für Verdachtsfälle von Impfreaktionen, die über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehen, besteht nach Infektionsschutzgesetz eine Verpflichtung für den impfenden Arzt, dies an das zuständige Gesundheitsamt zu melden. Von dort erhält das P.-E.-Institut die Daten in anonymisierter Form. Die Experten des Referats Arzneimittelsicherheit prüfen jede Meldung und beurteilen aufgrund der gemeldeten und ggf. recherchierten Informationen, ob ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung als gesichert, wahrscheinlich, möglich, unwahrscheinlich oder auch wegen fehlender Daten nicht zu beurteilen ist. Ziel dieser Bewertungen ist es, mögliche Risikosignale bei einem Impfstoff frühzeitig zu erkennen um Maßnahmen zur Risikominimierung ergreifen zu können. Sehr seltene, aber vielleicht schwerwiegende Nebenwirkungen können auch in großen klinischen Prüfungen nicht entdeckt werden, sondern erst dann, wenn sehr viele Menschen den betreffenden Impfstoff erhalten haben. Daher ist die Beobachtung, Meldung und Bewertung von Verdachtsfällen auf Impfkomplikationen äußerst wichtig.“
(https://www...de/DE/arzneimittel/impfstoff-impfstoffe-fuer-den-menschen/informationen-zu-impfstoffen-impfungen-impfen.html - Stand 11.07.2018)
Tenor
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Oktober 2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
„Ab April 2012 habe ich verstärkte Regelblutungen bemerkt, die durchgehend jedenfalls bis August 2012 bestanden. Zusätzlich habe ich rote Pünktchen an meinen Oberarmen und an meinem Bauch bemerkt, von denen ich allerdings angenommen habe, dass sie von der Neurodermitis kämen. Diese Pünktchen sind dann geblieben, erst im August haben sie sich verstärkt.“
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Oktober 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. H. einzuholen, ob als Alternativursache für die bei der Klägerin bestehende ITP die diagnostizierte Helicobacter-Infektion in Frage kommt oder ob die Havrix(r) 1440-Impfung vom 13.03.2012 der hinreichend wahrscheinliche Auslöser der ITP-Erkrankung der Klägerin ist.
Gründe
„Es wäre allerdings realitätsfremd, in jedem impfschadensrechtlichen Fall zu verlangen, es müsse eine deutlich wahrnehmbare und fixierbare Primärschädigung festgestellt werden. Allgemein dient die Dreigliedrigkeit dazu, bestimmte Geschehnisabläufe bereits auf einer Vorstufe der Prüfung „auszusondern“ und das Fehlen kausaler Zusammenhänge leichter erkennen zu können. Je mehr sich die Kausalitätsprüfung in gedankliche Zwischenschritte „zerlegen“ lässt, desto objektivierbarer kann der Geschehnisablauf rechtlich aufgearbeitet werden (vgl. Kunze, Kausalität in der gesetzlichen Unfallversicherung, VSSR 2005, S. 299 <302>). Diese Differenzierung ist aber dann nicht möglich, wenn die Schädigung, also der (erste) Eingriff in das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, nicht deutlich zu Tage tritt, sondern wie hier im Verborgenen erfolgt (a.A. wohl Meßling in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 60 IfSG, Rn. 62). Zweifellos ist in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung schwieriger, weil sich der Verursachungspfad nicht klar abzeichnet. Dennoch darf nicht per se wegen der Nichterkennbarkeit einer Primärschädigung am Rechtsgut der körperlichen Gesundheit die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs negiert werden. Vielmehr muss der Zusammenhang zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen „Etappe“ beurteilt werden (vgl. LSG Bayern, Breithaupt 2012, S. 51 <56>).“
„Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr. 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm. 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.“
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.