vorgehend
Sozialgericht München, S 9 VJ 4/11, 04.10.2016

Gericht

Bayerisches Landessozialgericht

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 4. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin gegenüber dem Beklagten Anspruch auf Anerkennung eines Impfschadens und auf Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) aufgrund durchgeführter Impfungen hat.

Die Klägerin und Berufungsklägerin (Klägerin) ist 1982 geboren. Bei ihr bestehen eine Taubheit beidseits und ein nicht kompensierter Labyrinthausfall beidseits. Es ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt.

Am 20.11.2007 beantragte die Klägerin gegenüber dem Beklagten und Berufungsbeklagten (Beklagter) unter Bezugnahme auf ihren Impfausweis wegen Gehörlosigkeit die Gewährung von Versorgung nach dem IfSG. Die Klägerin trug vor, durch Quecksilber, welches den Impfstoffen beigefügt gewesen sei, vergiftet worden zu sein und dadurch die fortbestehende Hörschädigung davon getragen zu haben. Dem Antrag waren eine Kopie des Impfausweises sowie Befundberichte (insbesondere von H. Kinderspital - Kinderklinik der Universität A-Stadt - Pädiatrische Ambulanz) beigefügt. Laut Impfausweis erhielt die Klägerin am 13.06.1983, 03.11.1983, 30.05.1985, 02.07.1985 und am 28.10.1997 Impfungen gegen Kinderlähmung (Poliomyelitis), ferner am 13.06.1983, 03.11.1983 und 30.05.1985 Impfungen gegen Diphterie und Tetanus und am 17.02.1992 eine Impfung gegen Tetanus. Eine Impfung gegen Masern wurde am 20.06.1986 durchgeführt. Am 15.06.2001, 19.07.2001 und 26.05.2006 erhielt die Klägerin Impfungen gegen Frühsommer-Meningo-Enzephalitis (FSME-Impfung).

Der Beklagte lehnte nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme den Antrag auf Versorgung nach dem IfSG mit Bescheid vom 16.02.2009 ab. Zum einen könne ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den im Antrag angegebenen FSME-Impfungen und der geltend gemachten Gesundheitsstörung „Gehörlosigkeit“ nicht anerkannt werden. Nach den vorliegenden ärztlichen Unterlagen sei die Gehörlosigkeit mit Wahrscheinlichkeit als Folge einer Schädigung nach Frühgeburtlichkeit aufzufassen und keinesfalls in Zusammenhang zu bringen mit den FSME-Impfungen aus den Jahren 2001 und 2006. Zum anderen entbehre die geltend gemachte „Quecksilbervergiftung“ mit der Folge einer Hörschädigung jeglicher nachvollziehbarer Kausalität. Bei Kleinkindern falle der Zeitpunkt der ersten Impfungen mit der Epoche zusammen, in der Eltern gewöhnlich eine Schwerhörigkeit oder Taubheit ihres Kindes erstmals bemerken würden. Zwischen den angeführten Impfungen und dem Auftreten bzw. Bemerken der Gehörlosigkeit durch die Eltern liege lediglich und allein ein zeitlicher Zusammenhang vor. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der geltend gemachten Gesundheitsstörung „Gehörlosigkeit“ und den Impfungen gegen Kinderlähmung (Polio-Schluckimpfungen), den Impfungen gegen Wundstarrkrampf (Tetanus-Impfungen) und Diphterie sowie der Impfung vom 20.06.1986 gegen Masern lasse sich ebenfalls nicht feststellen, weil es sich nach versorgungsärztlicher Einschätzung mit Wahrscheinlichkeit um eine Schädigung nach Frühgeburtlichkeit handele.

Mit Schreiben vom 20.04.2009 beantragte die Klägerin durch ihren damaligen Bevollmächtigten die Überprüfung des Bescheides vom 16.02.2009. Es sei insbesondere nicht nachvollziehbar, dass die Schädigung der Klägerin auf eine Frühgeburtlichkeit zurückzuführen sei. Es hätten keine diesbezüglichen Untersuchungen stattgefunden. Bis zum Zeitpunkt der Impfungen habe die Klägerin auf Geräusche reagiert. Es sei völlig unklar, welche medizinischen Feststellungen zur Entscheidungsfindung herangezogen worden seien.

Nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme lehnte der Beklagte den Überprüfungsantrag mit Bescheid vom 26.10.2009 ab. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 16.02.2009 seien nicht erfüllt. Die von der Klägerin vorgetragenen Gründe ließen nach versorgungsärztlicher Überprüfung einen ursächlichen Zusammenhang der Gehörlosigkeit mit den Impfungen nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit herstellen.

Im Rahmen des dagegen geführten Widerspruchsverfahrens trug der damalige Bevollmächtigte der Klägerin vor, dass der Bescheid vom 26.10.2009 schon aus formellen Gründen rechtswidrig sei, denn er leide an einem Begründungsmangel. Vor allem aber verstoße der Bescheid gegen den Grundsatz der Amtsermittlung. Dem Beklagten sei entgangen, dass die versorgungsärztliche Überprüfung insbesondere deshalb oberflächlich und damit unzulänglich gewesen sei, weil entscheidungserhebliche Untersuchungsergebnisse in den vorbehandelnden Kliniken aus der Kleinkindzeit der Klägerin übergangen worden bzw. nicht gewertet worden seien. Nur wegen dieser Versäumnisse sei der Beklagte zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Ursachenzusammenhang nicht herzustellen sei. Die angefochtene Entscheidung gründe somit auf einem unzutreffenden Sachverhalt. Der Bescheid vom 26.10.2009 sei auch materiell rechtswidrig, weil die Feststellung des Beklagten, dass die Taubheit der Klägerin Folge einer frühkindlichen Taubheit sei, jedenfalls deshalb nicht haltbar sei, weil der Beklagte eingeräumt habe, dass die Klägerin bis zum Zeitpunkt ihrer Impfungen auf Geräusche reagiert und im Rahmen ihrer Sprachentwicklung kindlich bereits Doppellaute von sich gegeben habe. Letzteres sei aber bei einem gehörlosen Kind unmöglich, denn das Lautieren sei Folge kindlichen Nachahmungsdranges. Ein solcher könne bei einem gehörlosen Kind nicht ausgelöst werden. Es sei übergangen worden, dass es nach den vorliegenden Krankendaten nur um die Folgen der Impfungen vom 13.06.1983 und 03.11.1983 gehe.

Im Weiteren zog der Beklagte auf Grund des Vorhaltes einer unzureichenden Sachverhaltsaufklärung weitere medizinischen Unterlagen bei und beauftragte Prof. Dr. S. mit der Erstellung eines Gutachtens auf HNOärztlichem Fachgebiet. Die Sachverständige gelangte nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 03.05.2011 in ihrem Gutachten vom 20.06.2011 zu der Beurteilung, dass der Hörverlust 100% betrage. Nach den otoakustischen Emissionen handele es sich eher um einen Haarzellschaden und nicht um eine retrocochleäre Hörstörung. Bei der Klägerin bestehe somit eine Taubheit beidseits ohne Hörreste rechts und mit wenig fraglichen, nicht verwertbaren Hörresten links. Des Weiteren bestehe ein nicht kompensierter Labyrinthausfall beidseits. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Taubheit mit Labyrinthausfall beidseits und den Impfungen sei nicht gegeben. Unter anderem habe die Mutter der Klägerin bei der Untersuchung in der HNO-Universitätsklinik I. am 13.06.1984 angeben, dass die Klägerin seit einem Monat schlechter höre. Es sei nicht nachweisbar, dass die Gehörlosigkeit zeitnah zu den Impfungen aufgetreten sei.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20.09.2011 zurück. Die angefochtene Entscheidung bzw. die nochmalige Überprüfung im Widerspruchsverfahren habe weitere medizinische Unterlagen sowie das von der Klägerin vorgelegte Schreiben von Hr. M. vom 11.08.2009, das Ergebnis der Untersuchung bei Prof. Dr. S. vom 03.05.2011 sowie versorgungsärztliche Stellungnahmen dazu berücksichtigt. Danach habe ein ursächlicher Zusammenhang unverändert nicht nachgewiesen werden können, so dass der Antrag auf Rücknahme des Bescheides vom 16.02.2009 zutreffenderweise abgelehnt worden sei.

Dagegen hat die Klägerin durch ihre damaligen Bevollmächtigten am 04.10.2011 Klage zum Sozialgericht (SG) München erhoben und hierzu persönlich vorgetragen. Der Beklagte behaupte sachlich falsch, dass der Schaden der Klägerin Folge der Frühgeburtlichkeit sei. Nach der Impfung am 03.11.1983 (Diphterie, Polio und Tetanus) hätten ihre Eltern wegen des an diesem Tag bemerkten „Niedergangs“ des Gesundheitszustands der Klägerin besorgt die Kinderklinik aufgesucht. Dies sei in den Unterlagen dokumentiert. Am 14.11.1983 sei das neurologische Untersuchungsergebnis vom 03.11.1983 an den Kinderarzt gegangen. Durch das Schreiben von Dr. O. vom 11.09.1984 sei belegt, dass die Klägerin im November 1983 gehört habe, denn es sei notiert, dass sie Doppelsilben gesprochen und den Kopf nach einer Geräuschquelle gewendet habe. Im Verlauf von zwei Monaten nach der Impfung vom 03.11.1983 hätten die Eltern bemerkt, dass die Klägerin keine Doppelsilben mehr von sich gegeben habe.

Die Bevollmächtigten der Klägerin haben im Wesentlichen den Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt. Die HNOärztliche Stellungnahme des Beklagten habe unbeachtet gelassen, dass es nach den vorliegenden Krankenakten eigentlich vielmehr um die Folgen der Impfungen am 13.06.1983 und 03.11.1983 (jeweils Tetanus, Diphterie und Kinderlähmung) gegangen sei. In der Stellungnahme werde auch davon abgelenkt, dass die Klägerin zwar schon seit der Geburt am 22.09.1982 beträchtliche gesundheitliche Störungen, aber vor ihrer ersten Impfung am 13.06.1983 jedenfalls noch keinen Hörschaden gehabt habe. Schon nach der ersten Impfung sei offenbar gewesen, dass sich hierdurch eine Hörschädigung eingestellt habe. Über den nach den ersten beiden Impfungen vorhandenen Gehörzustand gebe es nach Aktenlage klare Angaben. So habe Dr. O. von der entwicklungsneurologischen Ambulanz der H. Kinderklinik im Schreiben vom 14.11.1983 nichts von einem Hörschaden festgestellt. Dort heiße es vielmehr „Hirnnervenfunktionen unauffällig“. Ein weiteres Schreiben von Dr. O. vom 11.09.1984 an die Sprachabteilung der HNO-Poliklinik belege, dass die Klägerin noch im November 1983 gehört haben müsse („Bei unserer neurologischen Untersuchung im November 1983 ist notiert, dass Doppelsilben spricht und den Kopf nach einer Geräuschquelle wendet.“). Auch die Angaben der Krankengymnastin im Bericht von Juli 1984 belegten die Hörfähigkeit der Klägerin im November 1983.

Somit könne es als belegt gelten, dass bis zu den in Rede stehenden Impfungen eine Gehörlosigkeit noch nicht vorhanden gewesen sei, denn die damaligen Behandler hätten sich mit eben dieser Frage bereits 1983 sorgsam befasst. Erst wenige Wochen nach der Impfung habe sich die Fähigkeit zum Hören geändert und verschlechtert. Im Januar 1984 seien bei der Entwicklungsdiagnostik keine ausreichenden Reaktionen auf Geräusche (mehr) vorhanden gewesen.

Das SG hat unter anderem die Schwerbehindertenakte der Klägerin beigezogen und am 21.08.2013 einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage und Beweisaufnahme durchgeführt, in dem es auch die Mutter der Klägerin (Zeugin) gehört hat. Diese hat angegeben, dass ihr bei den Untersuchungen U1 etc. nichts Spezielles gesagt worden sei, die Entwicklung der Klägerin sei halt insgesamt verzögert gewesen. Bezüglich des Zeitraums der ersten Lebensmonate bis zur ersten Impfung sei der Zeugin nichts aufgefallen in Bezug auf schlechtes Hören. An die auf die Impfungen folgenden Tage habe die Zeugin keine genauere Erinnerung. Sie können nur sagen, dass die Klägerin generell nach den Impfungen immer erhöhte Temperatur gehabt habe. Sie könne sich daran erinnern, weil das Impfen immer schwierig gewesen sei. Es sei schwierig gewesen, die Termine einzuhalten, weil die Klägerin oft krank gewesen sei und dann auch nach den Impfungen krank gewesen sei. 1983 sei sie mit der Klägerin in der H. Klinik wegen Krankengymnastik gewesen. Die Zeugin hat angegeben, sich an einen Hörtest zu erinnern, den Dr. B. gemacht habe, als die Klägerin etwa 1/2 Jahr alt gewesen sei. Sie habe einmal links und einmal rechts ein Geräusch gemacht - erinnerlich indem sie etwas gesagt habe - und die Klägerin habe sich dort hingewandt. Sie habe dann gesagt, das passe. Im Sommer 1983 sei der Zeugin nichts Besonderes aufgefallen, die Betreuerin in der Kinderkrippe habe immer wieder gesagt: „Ach da kommt ja die A., mein Ratscherl“. Auch sei der Zeugin keine besondere Lautstärke aufgefallen. Bezüglich der Impfung am 03.11.1983 hat die Zeugin angegeben, sich nicht konkret an die Tage danach erinnern zu können. Sie gehe davon aus, dass die Klägerin wieder krank gewesen sei. Damit meine sie, dass sie immer Fieber bekommen habe, das sei dann immer gleich bei 40 Grad gewesen. Die Klägerin habe oft, auch ohne Impfung, plötzlich Fieber bekommen, und sie habe immer wieder Bronchitis gehabt, sei verschleimt gewesen und habe häufig erbrochen. Bezüglich der Untersuchung am 03.11.1938 bei Dr. O. hat die Zeugin ausgesagt, sich daran nicht mehr konkret erinnern zu können. Sie habe in Erinnerung, dass bei der Klägerin mit ca. 1,5 Jahren festgestellt worden sei, dass sie nichts höre. Die Hörprüfung sei erinnerlich in Gang gekommen, als bei einer Frühförderstunde, als die Klägerin ca. 1,5 Jahre alt gewesen sei, ein Luftballon geplatzt sei. Die Untersuchung habe erinnerlich im Klinikum I. stattgefunden, an eine Untersuchung im Februar 1984 könne sie sich nicht konkret erinnern. Sie sei fast jeden freien Tag bei einem Arzt oder ähnlichem gewesen. Innerhalb der Familie seien keine Hörstörungen bekannt, mit Ausnahme einer altersbedingten Hörstörung einer Tante. Auf Nachfrage hat die Zeugin mitgeteilt, dass die Klägerin eine Mittelohrentzündung gehabt habe, wohl als sie schon im Kindergarten gewesen sei, das sei ab Herbst 1984 gewesen. Der Aufenthalt von 13.06.1984 bis 14.06.1984 im Klinikum I. habe damit nichts zu tun. Die Mittelohrentzündung sei nicht in dem Zeitraum gewesen, in dem die Klägerin die Paukenröhrchen gehabt habe. Diese habe sie erinnerlich 6 Monate gehabt. Sie könne nur sagen, dass die Mittelohrentzündung an einem Sonntag gewesen sei, an dem es kalt gewesen sei.

Zu den Gleichgewichtsstörungen der Klägerin hat die Zeugin angegeben, dass die Klägerin erst im Sommer 1984 habe (frei) laufen können. Erinnerlich seien die Gleichgewichtsstörungen 1/2 Jahr zuvor festgestellt worden. Dies habe nicht im Zusammenhang mit der Mittelohrentzündung gestanden. Die Zeugin sei sich nicht sicher, meine jedoch, dass die Klägerin noch nicht habe laufen können, als sie die Mittelohrentzündung gehabt habe.

Die Klägerin hat sich mit weiteren Schriftsätzen persönlich gegenüber dem SG geäußert. Das gesundheitliche Risiko der Impfungen sei bekanntlich allein vom Impfmittelzusatz Thiomersal ausgegangen, das auch damals üblicherweise eingesetzt worden sei. Unzutreffend sei die Feststellung, die Zeugin habe am 13.06.1984 in der HNO-Klinik angegeben, dass die Klägerin seit einem Monat schlechter höre. Bereits zwei Monate nach der Impfung im November 1983, im Januar 1984, sei erstmals eine schwere Hörstörung diskutiert worden.

Sodann hat das SG am 30.10.2013 Prof. Dr. K. mit der Erstellung eines ärztlichen Gutachtens nach Aktenlage beauftragt. In seinem Gutachten vom 03.02.2014 gelangt der Sachverständige zu der Feststellung, dass zwar die Zeugin eine Schwangerschaftsdauer von 32 Wochen angegeben habe, es sei jedoch von 38 Wochen (Norm 40 Wochen) auszugehen. Für 38 Wochen habe Untermaßigkeit vorgelegen (Gewicht 2.330 g, Länge 46 cm, Kopfumfang 32 cm). Für die Verlegung der Klägerin zur Kinderklinik hätten nicht eine „Unreife“, sondern hoch-pathologische Symptome im Vordergrund gestanden. Diese seien u.a. auffallende Petechien sowie erniedrigte und weiter fallende Thrombozyten (bis 25.000; Norm über 200.000) gewesen. In der 4. Woche habe ein CT des Gehirns eine deutliche Erweiterung des rechten Seitenventrikels und periventrikuläre Dichteminderungen ergeben. Insgesamt habe bei der Klägerin eine Früh- und Mangelgeburt mit einer connatalen Infektion vorgelegen. Es sei eine connatale Virusinfektion mit bedrohlicher Thrombopenie sowie (CT-Befund, Kopfumfang und Muskelhypertonie) Cerebralschaden festzustellen gewesen. Die Infektion sei damals nicht näher benannt worden. Die anschließende Entwicklung der Klägerin zeige unter anderem eine erste Vorstellung in der Universitäts-Kinderklinik im Dezember 1982 wegen motorischer Auffälligkeiten. Die verordnete Therapie sei erst ab Mitte 1983 regelmäßig wahrgenommen worden. Auf Grundlage der vorliegenden Unterlagen hätten sich zwischen Geburt und November 1983 zwar therapeutische Fortschritte gezeigt, jedoch auch noch Anfang November 1983 eine erhebliche Entwicklungsretardierung. Für die Frage der Hörfähigkeit der Klägerin Anfang November 1983 sei das Testat „Hörnervenfunktionen unauffällig“ von Dr. O. entscheidend. Aus dem Impfpass ergebe sich eindeutig, welche Impfungen vorgenommen worden seien. Am 13.06.1983 und 03.11.1983 sei jeweils gegen Diphterie und Tetanus geimpft worden sowie eine Schluckimpfung Poliomyelitis erfolgt. Der Impfstoff der Diphterie-Tetanus-Impfung sei ein sog. Totimpfstoff, er enthalte u.a. auch Aluminiumhydroxid und Thiomersal. Der Impfstoff der Poliomyelitis-Impfung sei ein sog. Lebendimpfstoff, er enthalte weder Aluminiumhydroxid noch Thiomersal. Aus den Unterlagen ergebe sich, dass die im Rahmen der versuchten Durchführung eines Audiogramms am 05.04.1984 vorliegende Audiogramm-Kurve hochpathologisch sei, sie aber noch im Bereich eines sog. Resthörvermögens liege. Daher sei auch eine Resthörigkeit notiert. Laut Abschlussbericht der HNO-Klinik vom 13.06.1984 habe die Zeugin von dem Gefühl berichtet, dass die Klägerin besonders seit ca. einem Monat schlecht höre. Die Untersuchung habe Ergüsse in beiden Paukenhöhlen gezeigt (Adenotomie). Beidseitig seien Paukenröhrchen eingelegt worden. Bezogen auf die Beobachtungen der Zeugin hält Prof. Dr. K. fest, dass es keine Angaben über irgendeine Symptomatik, die an postvakzinale Enzephalitis/Enzephalopathie denken lasse, gebe. Sie sei auch nicht nötig bei einer isolierten Neuritis/Neuropathie. Aus den Unterlagen ergebe sich für den Zeitraum zwischen Impfung am 03.11.1983 und Feststellung der Hörverlustes im Januar 1984 ein Intervall von rund 60 Tagen. Es könne nicht angenommen werden, dass der Hörverlust bereits Ende 1983 aufgedeckt worden sei. Die Angaben der Zeugin bezüglich einer Feststellung erst im Juni 1984 könnten das Bemerken einer weiteren Hörverschlechterung gewesen sein. Es sei ein Resthörvermögen vorhanden gewesen, dessen Abnahme durch den prozessualen Verlauf des Leidens oder durch den gesicherten beidseitigen Paukenerguss verursacht gewesen sein könnte. Im Weiteren ergebe sich aus den Akten ein gegenüber der Normerwartung vermindertes Hirnwachstum, das 1984 den Status der Mikrocephalie erreicht gehabt habe.

Bezüglich der Ursachen für das Leiden der Klägerin führt der Sachverständige aus, dass schon vor der Impfung Früh- und Mangelgeburt vorgelegen habe, ferner psychomotorische und sprachliche Entwicklungsretardierung sowie vermindertes Hirnwachstum und ein pathologischer CT-Befund des Gehirns. Wenn vermehrt angegeben werde, hierfür sei eine Frühgeburt ursächlich, sei dies falsch. Vielmehr sei das gesamte Muster inklusive der vorzeitigen Geburt und inklusive der hochpathologischen zusätzlichen Symptomatik des Neugeborenen mit thrombopenischen Blutungen, Splenomegalie etc. als Einheit zu sehen. Eine Schädigung unter der Geburt sei auszuschließen, ebenso eine Schädigung durch Infekte der Klägerin. Die Klägerin stütze ihr Begehren auch auf die Verwendung von Hilfsstoffen in Form von Aluminium- und Quecksilberverbindungen, vorliegend speziell Thiomersal. Höhere Spiegel von Thiomersal könnten tatsächlich neurotoxische Effekte verursachen. In den Impfstoffen der zwei Impfungen vom 13.06.1983 und 03.11.1983 sei jeweils pro Ampulle 0,025 mg (d.h. 25 Mikrogramm) Thiomersal verwendet worden. Die Klägerin habe bis 03.11.1983 damit insgesamt 50 Mikrogramm Thiomersal erhalten. Quecksilber sei in Thiomersal nicht ganz zu 50% enthalten, daher habe die Klägerin insgesamt 25 Mikrogramm Quecksilber erhalten. Dies liege bezüglich des pro Kilogramm geschätzten Körpergewichts weit unterhalb der erlaubten, geschweige denn toxischen Grenze. Damit sei eine neurotoxische Verursachung des im Januar 1984 entdeckten Hörschadens und der 1984 erstmals genannten Gleichgewichtsstörung durch die beiden 1983 verabreichten Impfungen auszuschließen. Ebenso eine Progredienz durch die Impfungen 1985 und 1992, den einzigen nachfolgenden zwei Impfungen mit Thiomersal-Beigabe. In der Wissenschaft und den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) werde über seltene Enzephalopathien nach Diphterie-Impfung sowie über Mono- und Polyneuritiden nach Tetanus-Schutzimpfung berichtet. Die postvakzinale Inkubationszeit betrage bis zu 28 bzw. 21 Tage. Zur Poliomyelitis-Schluckimpfung würden keine peripheren Neuritiden benannt, ferner seltene Meningoenzephalitis mit einer Spanne der postvakzinalen Inkubationszeit vom 3. bis 14. Tag nach Impfung. Grundsätzlich denkbar sei auch eine Mononeuritis des Nervus stato-acusticus. Bezogen auf die Klägerin habe keine enzephalitische Symptomatik im Anschluss an die Impfung am 03.11.1983 vorgelegen. Eine Neuritis/Neuropathie betreffe den Nerv. Vorliegend handele es sich laut Ableitung der oto-akustischen Emissionen eher um einen Haarzellschaden und nicht um eine retrocochle-äre Hörstörung, d.h. das Hör-Endorgan in der Cochlea sei geschädigt, nicht aber der re-trocochleäre Nerv. Der Hörschaden sei bei der Klägerin erst im Januar 1984, 60 Tage nach der Impfung festgestellt worden, was weit außerhalb der Inkubationszeit von 21 bzw. 28 Tage liege. Schließlich sei festzuhalten, dass ein Impfschaden ein einmaliges akutes Schädigungsereignis sei. Es resultiere der anfängliche Schaden, an den sich dann im Laufe von Wochen oder Monaten volle oder teilweise Wiederherstellung anschließe oder aber Persistenz des Schadens. Niemals schließe sich Progredienz an, d.h. weitere Verschlimmerung und Ausweitung des Schadens. Bei der Klägerin liege jedoch eine Zunahme der Gleichgewichtsstörung sowie des Audiogramms, damit Progredienz, vor.

Zusätzlich hat Prof. Dr. K. zur viralen Infektionskrankheit Cytomegalie ausgeführt. Die große Mehrzahl an Infektionen verlaufe klinisch asymptomatisch. Bei einer Primärinfektion der Mutter während einer Schwangerschaft komme es in ca. 40% zu einer Virusinfektion des ungeborenen Kindes. Somit sei die Cytomegalie die häufigste connatale Infektion. 10% dieser infizierten Neugeborenen zeigten sofort oder/und später Symptome und Schäden. Das Virus überlebe im infizierten Organismus und könne zu erneuten virämischen Schüben und damit potentiell zu erneuten Symptomen bzw. Schädigungen reaktiviert werden. Leitsymptome der connatalen Infektion und Schädigung des Kindes seien Wachstumsretardierung (Dystrophie, Mangelgeburt), zum Teil zusätzlich Frühgeburt, Befall von Leber, Milz (Splenomegalie), Nieren, Speicheldrüsen etc., Thrombopenie mit petechialen Blutungen, Mikrocephalie bis unter die 3. Perzentile der Kopfumfangs-Verlaufskurve, Untergang von Hirnzellen mit Ventrikelerweiterung und periventrikulären Zelluntergängen, Entwicklungsretardierung und lebenslange cerebrale Leistungsdefizite; auch die Augen könnten geschädigt sein. Die häufigste Spätschädigung (im Rahmen einer Reaktivierung des Virus), und zwar bis zu 60% der connatalen Cytomegalie-Fälle, sei die Innenohrschwerhörigkeit, meist beidseitig ausgeprägt bis zu fehlendem Wortverständnis und damit Sprachretardierung. Diese Schwerhörigkeit könne im Laufe der Kindheit (im Gefolge weiterer Reaktivierungen des Virus) erheblich zunehmen, fallweise bis zur Taubheit. Auch das dem Innenohr anatomisch eng benachbarte Gleichgewichtsorgan könne geschädigt werden. Die Symptome der Klägerin als Neugeborene entsprächen lückenlos diesem Bild der connatalen Cytomegalie, ausdrücklich inklusive der im weiteren Verlauf auftretenden Hörstörung und Gleichgewichtsstörung inklusive deren weiterer Verschlechterung. Mit ganz erheblicher Wahrscheinlichkeit sei bei der Klägerin daher die Diagnose connatale Cytomegalie zu stellen mit typisch neonataler Symptomatik und mit typischer später auftretender Schädigung von Gehör und Gleichgewicht.

Der Sachverständige ist zusammenfassend zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Klägerin die Gesundheitsstörungen einer Hörstörung und einer Gleichgewichtsstörung vorlägen, die grundsätzlich als Impfschaden im Gefolge der beiden Impfungen 1983 in Frage kämen. Vorliegend lasse sich ein voll- oder teilursächlicher Zusammenhang zwischen diesen Impfungen 1983 und den Gesundheitsstörungen nicht mit der nötigen überwiegenden Wahrscheinlichkeit belegen. Die Voraussetzungen zur Anwendung der sog. Kann-Versorgung seien nicht gegeben.

Die Klägerin hat persönlich zu dem Gutachten Stellung genommen. Das Gutachten von Prof. Dr. K. zeige in wichtigen Punkten gravierende inhaltliche Sach- und logische Denkfehler auf. So sei die angenommene Inkubationszeit von 60 Tagen zweifelhaft, denn bei Taubheit im frühen Kleinkindalter handele es sich mangels verbaler Kommunikationsfähigkeit um eine verdeckte Behinderung. Die Klägerin habe im Zeitpunkt der zweiten Schluckimpfung am 03.11.1983 noch auf Geräusche reagiert und gesprochen; dies sei durch die Aussage der Mutter und den Bericht von Dr. O. nachgewiesen. Weil es keine anderen Erkrankungen zu der Zeit nach dem zweiten Impftermin am 03.11.1983 gegeben habe, die auf einen Verlust des Hörvermögens hindeuteten, könne nur die Impfung als schadensauslösendes Ereignis festgestellt werden. Taubheit als Impfschaden sei wissenschaftlich publiziert worden.

Auf gerichtliche Anforderung hat Prof. Dr. K. am 12.06.2016 ergänzend Stellung genommen. Er hat wiederholt festgestellt, dass eine impfbedingte Verursachung des Leidens der Klägerin nicht habe dargestellt werden können. Es fehle eine postvakzinale enzephalitisch/enzephalopathische Symptomatik, was ausnahmsweise vorkommen könne. Gravierend sei jedoch, dass laut Akte akut und zeitnah kein Versuch unternommen worden sei, durch bildgebende Darstellung (CT, MRT) eine frische, akute neurale Reaktion bzw. Schädigung zu belegen und bzw. oder labortechnisch aus Blutserum plus Liquor („Hirnwasser“) eine aktuelle neurale Reaktion mit einem der Impfstoffe nachzuweisen. Ferner gebe es für postvakzinale Inkubationszeit feste, wissenschaftlich fundierte Spannen, an die sich ein Gutachter halten müsse. Entscheidend sei vorliegend jedoch, dass Impfschäden nicht progredient verliefen, anders als die Erkrankung der Klägerin. Es sei ferner an der sehr wahrscheinlichen Diagnose der connatalen Cytomegalie festzuhalten. Aus den Unterlagen ergebe sich, dass die Klägerin im Januar 1986 noch über ein Resthörvermögen verfügt habe, im Jahr 2011 jedoch sei Taubheit diagnostiziert worden. Weiter läge eine Schädigung der Haarzellen vor und nicht eine retrocochleäre Störung, d.h. eine Schädigung des aus der Cochlea zum Hirn verlaufenden Nerven oder im Hirn liegender zugehörige Zellen.

Mit Gerichtsbescheid vom 04.10.2016 hat das SG die Klage gegen den Bescheid vom 26.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.09.2011 abgewiesen. Die am 13.06.1983 und 03.11.1983 verabreichten Impfungen gegen Tetanus, Diphtherie sowie Schluckimpfung Polio seien laut Impfausweis nachgewiesen, es handele sich hierbei um öffentlich empfohlene Impfungen. Ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem IfSG bestehe zur Überzeugung des Gerichts nicht. Vorliegend sei aus Sicht des Gerichts ein über die impfübliche Impfreaktion hinausgehender Gesundheits(erst) schaden im Gefolge der Impfungen vom 13.06.1983 bzw. 03.11.1983 nicht nachgewiesen. Auch eine Kann-Versorgung scheide aus, weil auch hierfür ein Gesundheits(erst) schaden nachgewiesen sein müsse. Das Gericht stütze sich auf das überzeugende Gutachten des Prof. Dr. K.. An dessen Sachkunde bestehe kein Zweifel. Prof. Dr. K. habe für das Gericht überzeugend dargelegt, dass ein Gesundheits(erst) schaden im Zusammenhang mit den Impfungen vom 13.06.1983 und 03.11.1983 nicht festgestellt werden könne. Anzeichen für eine nach den Impfungen stattgehabte Enzephalopathie seien nicht vorhanden. Zwar habe die Zeugin ausgesagt, dass die Klägerin erinnerlich nach den stattgehabten Impfungen mit Fieber reagiert habe. Daraus allein könne jedoch nicht auf den Ablauf einer Enzephalopathie geschlossen werden. Eine ernsthafte Erkrankung jeweils in den Tagen nach den Impfungen sei von der Zeugin jedenfalls nicht erinnert worden. Auch sei kein Entwicklungsknick im zeitlichen Zusammenhang mit den Impfungen angegeben, sondern lediglich von ruhigerem Verhalten berichtet worden. Der Gutachter Prof. Dr. K. habe hier zwar auch auf nicht mit Enzephalopathie einhergehende Neuritiden hingewiesen. Er sei hier aufgrund der ärztlichen Unterlagen und Berichte davon ausgegangen, dass eine Hörstörung erstmals Anfang Januar 1984 festgestellt worden sei. Auch das Gericht folge dieser Einschätzung des Gutachters Prof. Dr. K., nachdem Dr. O. in ihrem Bericht über die Untersuchung am Impftag, dem 03.11.1983, festgestellt hatte „Hirnnerven ohne Befund“, und damit auch der Hörnerv aus ärztlicher Sicht mit umfasst sei. Prof. Dr. K. habe dann überzeugend ausgeführt, dass bei dem damit festzuhaltenden zeitlichen Intervall von ca. 60 Tagen zwischen Impfung und Feststellung der Hörstörung der für eine Neuritis im Zusammenhang mit Impfung zu fordernde Zeitabstand von höchstens 28 Tagen maßgeblich überschritten ist. Der Gutachter sei darauf eingegangen, dass möglicherweise eine Hörstörung schon vorher vorgelegen habe und erst später im Januar 1984 bemerkt worden sei. Gewisse Unsicherheiten bei der Feststellung der Hörstörung seien auch dem Gericht verständlich, nachdem eine solche Hörstörung im Kleinkindesalter des Öfteren zunächst übersehen oder unterschätzt werde. Auch bei Zugrundelegung einer im näheren Zusammenhang mit der Impfung vom 03.11.1983 aufgetretenen Hörstörung sehe das Gericht jedoch ebenfalls nicht einen auf eine Impfung zu beziehenden Gesundheits(erst) schaden gegeben. Prof. Dr. K. nenne hier gewichtige Gegenargumente, wie zum einen die Feststellungen der Prof. Dr. S., die im Ergebnis nicht von einer re-trocochleären Hörstörung, also einer möglicherweise aufgrund Neuritis/Neuropathie vermittelten Hörstörung, ausgehe. Gegenargument für das Gericht sei auch die von dem Gutachter Prof. Dr. K. nachvollziehbar geschilderte Progression der Hörstörung, die auch nochmals in der ergänzenden Stellungnahme vom 12.06.2016 dargelegt worden sei. Der Gutachter habe hier unter Auswertung der Audiogramme sowie der ärztlichen Befunde dargelegt, dass die Hörstörung ab 1984 weiter fortgeschritten sei und sodann zu einer Ertaubung geführt habe. Er habe nachvollziehbar ausgeführt, dass dies nicht mit einem Impfschaden vereinbar sei. Denn bei einer Impfschädigung werde ein einmal schädigender Umstand gesetzt, der dann im Bereich einer dadurch gegebenenfalls vermittelten Hörstörung zu einem gewissen Gehörschaden führe. Der Gutachter habe zutreffend diese Feststellungen zunächst unabhängig von der dokumentierten Infektionssituation unmittelbar nach der Geburt getroffen. Weiter habe der Gutachter ergänzend darauf hingewiesen, dass die für die unmittelbaren ersten Lebenstage geschilderten Symptome im Zusammenhang mit damals stattgehabter Infektion mit den Symptomen einer Cytomegalie übereinstimmen würden. Der Gutachter habe hierzu ausgeführt, dass eine hohe Rate an Spätschäden bei dieser Erkrankung auf Innenohrschwerhörigkeit entfallen würde.

Den Feststellungen von Prof. Dr. K. schließe sich das Gericht wie ausgeführt an. Hinzuzufügen sei, dass der Gesundheits(erst) schaden im Vollbeweis, das heißt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, gegeben sein müsste, was hier zu verneinen sei.

Der Gutachter sei auch auf mögliche Wirkungen von Thiomersal (Quecksilber) eingegangen. Eine solche von der Klägerin angenommene Auswirkung sei auch nach Ansicht des Gerichts nicht wissenschaftlich belegt.

Gegen den Gerichtsbescheid ist am 09.11.2016 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) eingelegt und eine Begründung angekündigt, aber nicht vorgelegt worden. Mit richterlicher Verfügung vom 17.08.2018 hat die Berichterstatterin die Klägerin auf die mangelnde Erfolgsaussicht der Berufung hingewiesen und Frist zur Stellungnahme bis 01.10.2018 gewährt. Eine Reaktion hierauf ist nicht mehr erfolgt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 04.10.2016 sowie den Bescheid vom 26.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.09.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 16.02.2009 zurückzunehmen und bei der Klägerin die Gesundheitsstörungen Taubheit und Gleichgewichtsstörungen als Impfschaden anzuerkennen und ihr ab 01.01.2005 Versorgung in Form einer Beschädigtenrente zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Akten des SG und des Beklagten, einschließlich der Akten über das Schwerbehindertenverfahren, verwiesen. Sämtliche Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Gründe

Der Senat hat in Abwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden können. Diese wurde über den Termin zur mündlichen Verhandlung informiert und dabei auch auf die Folgen ihres Ausbleibens hingewiesen, §§ 110 Abs. 1 Satz 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, §§ 143, 144, 151 SGG, aber nicht begründet.

Streitgegenständlich ist ein Anspruch der Klägerin auf Anerkennung eines Impfschadens und auf Gewährung einer Beschädigtenrente nach dem IfSG gegenüber dem Beklagten.

Verfahrensrechtlich ist der Anspruch im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gegenständlich. Gegenstand des Verfahrens ist der ablehnende Überprüfungsbescheid des Beklagten vom 26.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.09.2011 bezüglich des Bescheides vom 16.02.2009. Weil der Beklagte in seinem Widerspruchsbescheid vom 20.09.2011 in die Sachprüfung eingetreten ist, ist die vollständige Überprüfung auch im gerichtlichen Verfahren eröffnet (vgl. BayLSG, Urteil vom 27.03.2015, L 15 VK 12/13, juris Rn. 68 f.) Das Berufungsgericht hat daher zu prüfen, ob die geltend gemachten Gesundheitsstörungen als Impfschaden anzuerkennen sind und einen Anspruch auf Gewährung einer Beschädigtenrente nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG i.V.m. § 31 Bundesversorgungsgesetz (BVG) begründen. Aufgrund von § 44 Abs. 4 SGB X ist der Anspruch auf Leistungen ab dem 01.01.2005 begrenzt.

Die auf die Anerkennung eines Impfschadens und auf die Gewährung einer Versorgungsrente gerichtete Klage ist zulässig. Der im Berufungsverfahren konkretisierend auszulegende Klageantrag (d.h. Gewährung einer Beschädigtenrente) ist als solcher auf ein zulässiges Begehren gerichtet (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 24, BSG, Urteil vom 15.12.2016, B 9 V 3/15 R, juris Rn. 13).

Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch jedoch nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG nicht vorliegen. Zum einen fehlt es mit dem SG schon am Nachweis einer Impfkomplikation, zum anderen aber auch an der Kausalität zwischen den Impfungen und der geltend gemachten gesundheitlichen Schädigung.

Das klägerische Begehren beurteilt sich dabei nach dem IfSG, weil Leistungen ab 01.01.2005 im Raume stehen und damit ab einem Zeitpunkt, als das - das Bundes-Seuchengesetz ohne Übergangsvorschrift ablösende (vgl. Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften v. 20.07.2000, BGBl. I, S. 1045) - IfSG (seit dem 01.01.2001) in Kraft war (vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R, juris Rn. 14; BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 10/10, juris Rn. 35).

Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde (1.), auf Grund des IfSG angeordnet wurde (2.), gesetzlich vorgeschrieben war (3.) oder auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist (4.), eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen eines Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.

Nach § 61 Satz 1 IfSG genügt zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG anerkannt werden, wobei die Zustimmung allgemein erteilt werden kann, § 61 Satz 2, 3 IfSG.

Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Die Entstehung eines Anspruchs auf Anerkennung eines Impfschadens und auf Versorgung verlangt demnach die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen (vgl. nur BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 36). Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfolgte Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation (Primärschaden im Sinne eines „Gesundheitserstschadens“), sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden (Sekundärschaden), vorliegen. Die Schutzimpfung (1. Glied), die Impfkomplikation (2. Glied) und der Impfschaden (3. Glied) bilden dabei vorliegend die einzelnen Elemente der sog. - dem Versorgungsrecht generell zugrundeliegenden (vgl. etwa BSG, Urteil vom 25.03.2004, B 9 VS 1/02 R, juris; BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 3/13 R, juris) - dreigliedrigen Kausalkette.

Die Schutzimpfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung im Sinne des Impfschadens müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d.h. im sog. Vollbeweis, feststehen. Dagegen genügt für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit, vgl. § 61 Satz 1 IfSG (vgl. nur BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 38).

Der erkennende Senat hat früher vereinzelt auf das Erfordernis des Vollbeweises bezüglich des Primärschadens (der Impfkomplikation) verzichtet (vgl. BayLSG, Urteil vom 28.07.2011, L 15 VJ 8/09, juris; BayLSG, Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, juris Rn. 36 m.w.N. auch zu a.A.). Diesen einzelfallbezogenen Ansatz verfolgen beide für das Versorgungsrecht zuständigen Senate des BayLSG (BayLSG, Urteil vom 18.05.2017, L 20 VJ 5/11, juris; BayLSG, Urteil vom 25.07.2017, L 20 VJ 1/17 juris; BayLSG, Urteil vom 11.07.2018, L 20 VJ 7/15, juris; BayLSG, Urteil vom 06.12.2018, L 20 VJ 3/17; BayLSG, Urteil vom 26.03.2019, L 15 VJ 9/16, juris; BayLSG, Urteil vom 14.05.2019, L 15 VJ 9/17, juris; BayLSG, Urteil vom 02.07.2019, L 15 VJ 8/17) inzwischen ausdrücklich nicht mehr. Andere Landessozialgerichte hatten sich dem soweit ersichtlich von vornherein nicht angeschlossen (z.B. Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2014, L 1 VE 12/09, juris; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.2016, L 13 VJ 19/15, juris). Auch das BSG hat - z.T. in Rechtsmittelverfahren gegen diese Entscheidungen - das Erfordernis eines Vollbeweises auch bezogen auf den Primärschaden bekräftigt (BSG, Beschluss vom 29.01.2018, B 9 V 39/17 B, juris; BSG, Beschluss vom 18.06.2018, B 9 V 1/18 B).

Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind (BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 38; BSG, Beschluss vom 29.01.2018, B 9 V 39/17 B, juris Rn. 7).

Das SG hat vorliegend zutreffend den Vollbeweis einer Impfkomplikation im Sinne des Primärschadens, also den Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, als nicht gegeben angesehen. Für den Beweisgrad des Vollbeweises muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen (vgl. nur BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34). Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen (vgl. BSG, Beschluss vom 29.01.2018, B 9 V 39/17 B, juris Rn. 7; BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34; BSG, Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, juris). Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3b m.w.N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34 m.w.N.). Eine Tatsache ist damit nachgewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34 m.w.N.; Keller, a.a.O., § 128 Rn. 3b m.w.N.), wenn also eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gegeben ist.

Vorliegend bestehen keinerlei Anhaltspunkte für eine Impfkomplikation. Eine solche wäre mit Prof. Dr. K. in einer postvakzinalen Enzephalitis/Enzephalopathie oder auch denkbar einer Neuritis/Neuropathie zu sehen. Der Sachverständige hat hierzu jedoch in seinem nachvollziehbaren, vollständigen und von großem Sachverständnis geprägtem Gutachten vom 03.02.2014 samt ergänzender Stellungnahme vom 12.06.2016 auch für den Senat überzeugend dargestellt, dass derartige Impfkomplikationen bei der Klägerin nicht feststellbar seien. Der Senat folgt diesbezüglich auch den Entscheidungsgründen im Urteil des SG, die er sich nach umfassender Prüfung zu eigen macht und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, § 153 Abs. 2 SGG.

Nachdem bereits ein Primärschaden nicht im Vollbeweis festzustellen ist, ist ein Anspruch der Klägerin nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG nicht gegeben. Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Regeln der Beweislast zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs auf ihr Vorliegen stützt. Beweiserleichterungen auch in den Fällen besonders schwieriger Nachweiserbringungen sind abzulehnen, das Gesetz enthält bezüglich der Kausalitätsbeurteilung nach § 61 IfSG bereits Erleichterungen (vgl. etwa BSG, Beschluss v. 04.06.2018, B 9 V 61/17 B, juris; s.a. hinsichtlich der Blindheit bei zerebralen Schäden BSG, Urteil vom 14.06.2018, B 9 BL 1/17 R, juris).

Selbst wenn man, wovon der Senat ausdrücklich nicht ausgeht, einen Primärschaden annehmen würde, wäre die Anerkennung eines Impfschadens vorliegend dennoch nicht möglich. Denn die bei der Klägerin vorliegende Taubheit und Gleichgewichtsstörung sind zur Überzeugung des Senats nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfungen vom 13.06.1982 und 03.11.1982 zurückzuführen. Auch dies hat bereits das SG zutreffend unter Würdigung der vorliegenden Unterlagen und der Ermittlungsergebnisse festgestellt. Auch der erkennende Senat folgt dem überzeugenden Sachverständigengutachten von Prof. Dr. K. vom 03.02.2014 samt ergänzender Stellungnahme vom 12.06.2016.

Für den zweifachen ursächlichen Zusammenhang der drei Glieder der Kausalkette nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG reicht es nach § 61 Satz 1 IfSG aus, wenn dieser jeweils mit Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Die Beweisanforderung der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung. Eine potentielle, versorgungsrechtlich geschützte Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (BSG, Urteil vom 22.09.1977, 10 RV 15/77, juris), also mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (BSG, Urteil vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80; BSG, Urteil vom 26.06.1985, 9a RVi 3/83, juris; BSG, Urteil vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84; BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, juris und BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort „hinreichend“ nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, a.a.O., § 128 Rn. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (BSG, Urteil vom 26.11.1968, 9 RV 610/66, juris; BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris).

Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der höchstrichterlichen versorgungsrechtlichen Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 08.08.1974, 10 RV 209/73, juris) rechtlich nur dann nebeneinanderstehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Während die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris; BSG, Urteil vom 30.01.2007, B 2 U 8/06 R, juris) demgegenüber den Begriff der „annähernden Gleichwertigkeit“ für nicht geeignet zur Abgrenzung hält, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich ansieht, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von überragender Bedeutung ist, hat der für das soziale Entschädigungsrecht zuständige Senat des BSG (vgl. Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 6/13, juris) zur annähernden Gleichwertigkeit festgelegt, dass diese dann anzunehmen ist, wenn eine vom Schutzbereich des BVG umfasste Ursache in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen. Die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinn als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, ist im jeweiligen Einzelfall aus der Auffassung des praktischen Lebens abzuleiten (BSG, Urteil vom 12.06.2001, B 9 V 5/00 R, juris). Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsschäden zu erfolgen (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris).

Den dem Sachverständigen vorliegend zur Beurteilung vorgelegten medizinischen Unterlagen kann ein Zusammenhang zwischen den stattgehabten Impfungen, einer unterstellten Primärschädigung und den manifestierten Gesundheitsstörungen der Klägerin nicht entnommen werden. Der Senat folgt den Bewertungen von Prof. Dr. K. in seinem Gutachten vom 03.02.2014 einschließlich ergänzender Stellungnahme vom 12.06.2016. In dem von großer Fachkenntnis geprägten Gutachten einschließlich ergänzender Stellungnahme, die beide umfassend das zugrundeliegende Material sowie den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ausgewertet haben und zu nachvollziehbaren und in sich schlüssigen Ergebnissen gelangen, führt Prof. Dr. K. aus, dass Gesundheitsstörungen in Form einer Hörstörung und einer Gleichgewichtsstörung zwar grundsätzlich als Impfschaden in Frage kommen könnten. Unabhängig von der vorliegend ausdrücklich nicht feststellbaren Primärschädigung gebe es bei der Klägerin jedoch deutliche Hinweise auf das Vorliegen einer connatalen Cytomegalie. Dies ausdrücklich inklusive der im weiteren Verlauf auftretenden Hör- und Gleichgewichtsstörung einschließlich deren Verschlechterung. Ferner spreche gerade der progrediente Verlauf gegen einen Impfschaden. Aufgrund des progredienten Verlaufs ist auch zur Überzeugung des Senats, wie bereits des SG, die erforderliche Wahrscheinlichkeit im oben genannten Sinn nicht gegeben. Aufgrund der gesamten Feststellungen ist bei der Klägerin ferner zur Überzeugung des Senats eine connatale Cytomegalie im Vollbeweis nachgewiesen. Diese stellt mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit die maßgebliche Ursache für den Eintritt und den Verlauf der gegenständlichen Gesundheitsstörungen der Klägerin dar.

Ein Anspruch der Klägerin kann ferner nicht auf die Vorgaben zur sog. „Kann-Versorgung“ gestützt werden, § 61 Satz 2, 3 IfSG. Kann eine Aussage zu einem (hinreichend) wahrscheinlichen Zusammenhang nur deshalb nicht getroffen werden, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kommt die sogenannte Kann-Versorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG in Betracht. Von Ungewissheit ist dann auszugehen, wenn es keine einheitlichen, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG von der Beurteilung auf dem Boden der „Schulmedizin“ (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, juris). Aber auch bei der Kann-Versorgung reicht allein die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das BSG spricht hier auch von der „guten Möglichkeit“ eines Zusammenhangs (BSG, Urteil vom 12.12.1995, 9 RV 17/94, juris; BSG, Urteil vom 17.07.2009, B 9/9a VS 5/06, juris). In einem solchen Fall liegt eine Schädigungsfolge dann vor, wenn bei Zugrundelegung der wenigstens einen wissenschaftlichen Lehrmeinung nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nachgewiesen ist. Existiert eine solche Meinung überhaupt nicht, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein, dass ein Zusammenhang nicht hergestellt werden kann (vgl. nur BayLSG, Urteil vom 11.07.2018, L 20 VJ 7/15, juris Rn. 83 m.w.N.; BayLSG, Urteil vom 26.03.2019, L 15 VJ 9/16, juris Rn. 76 m.w.N.). Unter Heranziehung dieses Maßstabes kommt nach den vorstehenden Ausführungen ein Anspruch der Klägerin auch im Wege der Kann-Versorgung nicht in Betracht. Dies ergibt sich auch daraus, dass ein Anspruch bereits am Vollbeweis einer Primärschädigung scheitert.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren erfolglos geblieben ist.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor, vgl. § 160 Abs. 2 SGG.

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die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.

(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.

(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit sie die Gewährung von Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend der Klägerin betrifft.

Die zweitinstanzlich erhobene Klage betreffend Folgen körperlicher Misshandlung wird abgewiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Die 1949 geborene Klägerin lebte bis 1962 bei ihrer Mutter und deren zweiten Ehemann H. Stiefvater). Der Vater der Klägerin hatte sich kurz nach der Geburt der Klägerin von deren Mutter getrennt. Gegen den Stiefvater wurde offenbar aufgrund des Verdachts, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben, ein Ermittlungsverfahren durchgeführt. Nach dem Tod des Stiefvaters im März 1962 wurde die Klägerin vom Jugendamt aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen und ihrem Vater, der wieder geheiratet hatte, zugeführt.

3

Im Mai 1967 erstattete die Klägerin gegen ihren Vater eine Strafanzeige. Dieser habe sie im vergangenen halben Jahr immer wieder unzüchtig berührt. Der Vater wurde offenbar verhaftet und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Klägerin zunächst dem Jugendamt der Stadt K. und ab August 1967 der Evangelischen Jugendhilfe des Amtes für Diakonie K. übertragen. Bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres arbeitete die Klägerin in der Heimküche eines Altersheims, wo sie anscheinend auch wohnte. Nach dem späteren Erwerb des Hauptschulabschlusses und verschiedenen Erwerbstätigkeiten heiratete die Klägerin im Jahre 1976 und gebar zwischen 1977 und 1981 drei Kinder.

4

Anlässlich einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der P.-Klinik B. im Jahr 2000 wurde bei der Klägerin neben einer mittelgradigen depressiven Episode erstmals eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Im Anschluss an diese Maßnahme nahm die Klägerin eine ambulante Psychotherapie bei der psychologischen Psychotherapeutin S. auf. Diese äußerte den Verdacht einer dissoziativen Identitätsstörung die im Jahr 2002 durch die Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. bestätigt wurde.

5

Im Mai 2005 beantragte die Klägerin beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Gewaltopferentschädigung, weil sie in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und von ihrem Vater sexuell belästigt worden sei. Zur Begründung legte sie das Ergebnis ihrer Recherchen sowie Unterlagen vor, die sie unter Mitwirkung ihrer Therapeutin zusammengetragen hatte. Von dort wurde die Angelegenheit im Juni 2005 wegen des angegebenen Tatorts in K. zuständigkeitshalber an das Versorgungsamt M. abgegeben. Dieses Amt holte einen Befundbericht der Psychotherapeutin S. sowie Berichte der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. ein. Zudem befragte das Amt schriftlich Frau C., die in der Zeit von 1969 bis 1972 als Sozialarbeiterin im Amt für Diakonie tätig und kurze Zeit mit der Pflegschaft der Klägerin befasst war. Ferner zog es die von der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe K. eV archivierte Akte der Klägerin über die Pflegschaft der Klägerin sowie die Schwerbehindertenakte des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie bei, das mit Bescheid vom 30.8.2005 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 wegen einer psychischen Behinderung ab Mai 2005 festgestellt hatte.

6

Mit Bescheid vom 3.1.2006 des Versorgungsamts M. in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 17.7.2006 wurde der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 OEG geworden sei. Weder der sexuelle Missbrauch durch den Stiefvater noch die sexuelle Belästigung durch den leiblichen Vater seien nachgewiesen. Selbst unter Heranziehung der Beweiserleichterung des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sei ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin nicht anzunehmen.

7

Das von der Klägerin daraufhin angerufene Sozialgericht Lüneburg (SG) hat von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. F. ein im Juli 2007 erstattetes nervenärztliches Gutachten mit einem unter Mithilfe des psychologischen Psychotherapeuten Dr. B. erstellten testpsychologischen Zusatzgutachten eingeholt. Der Sachverständige diagnostizierte eine dissoziative Identitätsstörung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH. Er vertrat die Auffassung, dass aufgrund des eindeutigen Vorliegens einer dissoziativen Identitätsstörung nach herrschender wissenschaftlicher Lehre ein frühkindlicher sexueller Missbrauch als Ursache für die Störung anzunehmen sei.

8

Mit Urteil vom 8.11.2007 hat das SG die noch gegen das Land Nordrhein-Westfalen gerichtete Klage abgewiesen, weil nicht im Sinne des notwendigen Vollbeweises feststellbar sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Auch unter Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG sei nicht anzunehmen, dass ein derartiger Angriff auf die Klägerin in ihrer Kindheit stattgefunden habe, weil von einer Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin nicht ausgegangen werden könne. Schließlich sei der vom Sachverständigen gezogene Rückschluss von der vorliegenden Erkrankung auf deren Ursache nicht zulässig.

9

Das von der Klägerin mit der Berufung angerufene Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat weitere medizinische Unterlagen eingeholt, ua den Rehabilitations-Entlassungsbericht der P.-Klinik B. vom 26.7.2000 sowie das für die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover in einem Rentenverfahren erstellte Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. T. vom 18.1.2005. Außerdem hat sich das LSG von der Dipl. Psychologin D. ein Glaubhaftigkeitsgutachten vom 19.4.2011 über die Klägerin erstatten lassen. Danach ist die Aussage der Klägerin bezüglich des dargelegten Missbrauchs durch den Stiefvater (1961 bis 1962) und den Vater (1963 bis 1967) nicht glaubhaft. Zwar liege keine bewusste Falschaussage vor, es bestünden aber Hinweise, dass die Angaben der Klägerin sich erst unter suggestiven Bedingungen entwickelt hätten.

10

Mit Urteil vom 16.9.2011 hat das LSG die zuletzt gegen den beklagten Landschaftsverband gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Seine Entscheidung hat es auf folgende Erwägungen gestützt:

Das Gericht sehe sich nicht in der Lage, einen sexuellen Missbrauch der Klägerin durch deren Stiefvater und/oder eine sexuelle Belästigung durch deren leiblichen Vater und damit einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG anzunehmen. Der von der Klägerin behauptete sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung sei zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Unmittelbare Tatzeugen seien nicht vorhanden. Stiefvater, Mutter und Vater der Klägerin seien bereits verstorben. Urkunden, wie etwa staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten etc, seien nicht mehr vorhanden. Andere Beweismittel, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten, seien nicht ersichtlich. Der sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung könne auch nicht aus der medizinischen Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung gefolgert werden.
Schließlich lasse sich ein sexueller Missbrauch bzw eine sexuelle Belästigung auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 KOVVfG annehmen. Zwar komme die Beweiserleichterung (Glaubhaftmachung) zugunsten der Klägerin zur Anwendung, weil es weder Zeugen noch sonstige zum Beweis geeignete Unterlagen zu den von der Klägerin behaupteten Taten gebe. Die entsprechenden Behauptungen der Klägerin seien jedoch nicht glaubhaft. Dies ergebe sich zum einen aus dem eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. und zum anderen auch aus eigenen Erwägungen des Senats zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin. Ein Anspruch auf Opferentschädigung ergebe sich aus im Wesentlichen gleichen Überlegungen auch nicht aus der Behauptung der Klägerin, von ihrem Vater einmal krankenhausreif geschlagen worden zu sein.

11

Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der Anspruch der Klägerin "wahrscheinlich" auch an den Voraussetzungen des § 10a OEG scheitern würde. Für Taten in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 könnten die Opfer nur dann Entschädigung nach dem OEG erhalten, wenn sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt seien, also ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 50 vorliege. Nach dem Schwerbehindertenrecht sei indes nur ein GdB von 30 anerkannt. Dem Gutachten des Dr. F. sei nicht zu folgen, weil er keinerlei Begründung dafür gegeben habe, dass die "MdE 50" betrage. Im Ergebnis könne dies jedoch dahinstehen.

12

Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Soweit das LSG davon ausgehe, dass keine Beweismittel mehr vorhanden seien, sei § 103 SGG verletzt. Sie, die Klägerin, habe dem LSG gegenüber die Vernehmung ihrer Halbschwester als Zeitzeugin angeboten. Soweit das LSG sage, dass aus der Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung nicht auf deren Ursache rückgeschlossen werden könne, stehe dies im Widerspruch zu der Aussage des erstinstanzlich eingeholten ärztlichen Gutachtens. Zudem sei nach der Entscheidung des BSG vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92 - ein derartiger Rückschluss durchaus ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft die geltend gemachte Belastung allgemein für geeignet halte, bestimmte Krankheiten hervorzurufen. Nach dem Gutachten des Dr. F. sei nach heute herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung ein entsprechender Rückschluss hier möglich.

13

Im Hinblick auf das zweitinstanzlich eingeholte aussagepsychologische Gutachten sei bisher ungeklärt, ob ein derartiges Gutachten überhaupt "die Entscheidung des Gerichts ersetzen darf". Bezüglich der vom LSG als eigene Erwägungen bezeichneten Gründe zur fehlenden Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen (fehlende Aussagekonstanz) habe das LSG nicht beachtet, dass sie an einer dissoziativen Identitätsstörung leide.

14

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 sowie des Sozialgerichts Lüneburg vom 8. November 2007 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2006 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter sowie einer schweren körperlichen Misshandlung Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

15

Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

16

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

17

Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

18

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

19

Die Revision der Klägerin ist zulässig.

20

Sie ist vom BSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf zahlreiche schädigende Vorgänge stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9 V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in zwei Gruppen zusammenzufassen, nämlich einen über Jahre andauernden sexuellen Missbrauch und eine körperliche Misshandlung.

21

Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs rügt die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG, weil das Gericht ihre Halbschwester nicht als Zeitzeugin vernommen habe. Als weitere Verletzung der Sachaufklärungspflicht betrachtet die Klägerin die Einholung und Verwertung eines aussagepsychologischen Gutachtens durch das LSG, und zwar auch in Bezug auf die behauptete einmalige schwere körperliche Misshandlung durch ihren Vater. Als Verletzung der Sachaufklärungspflicht und Überschreitung der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung rügt die Klägerin, dass das LSG entgegen dem erstinstanzlich eingeholten psychiatrischen Gutachten nicht davon ausgegangen sei, dass aus der Art ihrer jetzigen Erkrankung auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend rückgeschlossen werden könne. Die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung habe das LSG auch im Rahmen von ihm so bezeichneter eigener Erwägungen überschritten. Insgesamt rügt die Klägerin zusätzlich eine Verletzung des materiellen Beweisrechts, weil sich das LSG bei Anwendung des § 15 KOVVfG nicht an die danach geltenden Grundsätze der Glaubhaftmachung gehalten habe.

22

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter betrifft. Hinsichtlich geltend gemachter Folgen einer schweren körperlichen Misshandlung durch den Vater führt die Revision insoweit zu einer Änderung des Urteils des LSG, als die darauf bezogene zweitinstanzlich erhobene Klage abgewiesen wird.

23

Stillschweigend aber zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Berufungsverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat.

24

Obwohl auch der Revisionsantrag der Klägerin auf die Bewilligung einer "Opferentschädigung" gerichtet ist, legt der Senat den erhobenen Anspruch im wohlverstandenen Interesse der Klägerin dahin aus, dass diese die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt (vgl § 123 SGG). Der wörtlich gestellte Leistungsantrag wäre nämlich unzulässig. Zwar kann im sozialgerichtlichen Verfahren die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG auf jede nach dem materiellen Recht vorgesehene Leistung gerichtet werden. Die beanspruchte Leistung muss indes genau bezeichnet werden (BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 5). Der Begriff Opferentschädigung betrifft aber keine bestimmte Leistung, sondern umfasst alle nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl § 1 Abs 1 OEG iVm § 9 BVG). Selbst wenn nach den Umständen des Falles als "Opferentschädigung" nur Geldleistungen in Betracht kämen, kann nach der Rechtsprechung des Senats ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 SGG sein(Urteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - USK 99140 S 816 f; Urteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).

25

Soweit das LSG erstmals über einen Anspruch der Klägerin nach dem OEG/BVG wegen der Folgen einer einmaligen schweren körperlichen Misshandlung durch ihren Vater entschieden hat, handelt es sich um eine Entscheidung über eine erst im Laufe des Berufungsverfahrens erhobene Klage. Diese Klage ist schon deshalb unzulässig, weil über den Anspruch insoweit noch keine Verwaltungsentscheidung vorliegt. Das LSG hat sich mit diesem Streitpunkt nicht gesondert befasst. Insoweit ist das Urteil des LSG klarstellend dahin abzuändern, dass diese Klage abgewiesen wird.

26

Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:

Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

27

In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

28

Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).

29

In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das BSG bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).

30

Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.

31

Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).

32

Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).

33

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

34

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).

35

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

36

Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).

37

Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Entgegen der bisherigen Diktion auch des LSG ist nicht zwischen einem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und einer sexuellen Belästigung durch den Vater zu unterscheiden, sondern einheitlich von einem sexuellen Missbrauch zu sprechen. Denn strafrechtlich wird so nicht differenziert. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Personen unter vierzehn Jahren) setzt § 176 StGB "sexuelle Handlungen" voraus. Ebenso stellt § 177 StGB betreffend andere Personen "sexuelle Handlungen" unter Strafe. Als solche werden alle Einwirkungen auf ein Kind oder eine über vierzehn Jahre alte Person verstanden, die mit sexuell bezogenem Körperkontakt einhergehen (s nur Fischer, StGB, 59. Aufl 2012, § 177 RdNr 49), sodass darunter auch die bisher als sexuelle Belästigung bezeichneten Handlungen des Vaters der Klägerin fallen. Die von der Klägerin ihrem Stiefvater und ihrem Vater zur Last gelegten schädigenden Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.

38

Den behaupteten sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und später durch den Vater der Klägerin hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.

39

Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).

40

Diesen Kriterien hat das LSG zwar Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG angenommen hat. Der Anwendung dieser Vorschrift steht hier auch nicht der Umstand entgegen, dass das LSG verpflichtet war, die von der Klägerin benannte Zeugin R. zu vernehmen, denn diese ist nicht als Tatzeugin, sondern als Zeitzeugin benannt worden. Die Verpflichtung zu ihrer Vernehmung folgt indes aus § 103 SGG, denn ausgehend von seiner materiellen Rechtsansicht zur Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG hätte sich das LSG zu deren Vernehmung gedrängt fühlen müssen. Die Angaben der Zeugin R. sind nämlich von erheblicher Relevanz im Rahmen der Prüfung einer Glaubhaftmachung des sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Stiefvater H. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG über ein Ermittlungsverfahren gegen H. wegen eines sexuellen Missbrauchs seiner eigenen Tochter könnte es sich bei der Zeugin um die Tochter des H. handeln, die möglicherweise selbst von diesem sexuell missbraucht worden ist. Ihren Angaben kann somit auch hinsichtlich des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch H. erhebliche Bedeutung zukommen.

41

Obwohl das LSG den § 15 S 1 KOVVfG herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.

42

Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.

43

Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sog Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 22). Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 20, 23).

44

Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.

45

Aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 (- L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25) ergeben sich keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25 aE). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.

46

Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht: Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):

Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.

47

Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).

48

Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).

49

Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.

50

Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.

51

Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).

52

Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.

53

Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).

54

Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.

55

Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.

56

Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/ Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.

57

Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.

58

Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom LSG zu den Fragen eingeholt worden:

59

Ist die Aussage der Klägerin bezüglich der dargelegten schädigenden Ereignisse (Missbrauch durch den Stiefvater H. 1961 - 1962; Missbrauch durch den Vater 1963 - 1967) glaubhaft? Wenn ja, auf welchen aussagepsychologischen Kriterien beruht die Glaubhaftigkeit zu den unmittelbaren schädigenden Ereignissen? Wenn nein, nach welchen aussagepsychologischen Kriterien ist die Glaubhaftigkeit für die unmittelbaren schädigenden Ereignisse nicht erreicht oder auszuweisen?

60

Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen D. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in dem Abschnitt 3 ("Methodik der Begutachtung und Hypothesenbildung") festgestellt, dass es sich bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung um einen Hypothesen geleiteten Prüfprozess handele ("Wahrheits-Hypothese" und "Unwahr-Hypothese"). Dabei hat die Sachverständige auf Veröffentlichungen von Volbert (Beurteilung von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung - Forensisch-psychologische Praxis 2004 und Volbert/Steller, Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, 2004) hingewiesen (S 15 f des Gutachtens).

61

Da das Berufungsurteil mithin bei der Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.

62

Auf dieser nicht tragfähigen Tatsachenwürdigung beruht die Entscheidung des LSG. Das gilt auch in Anbetracht des Umstandes, dass das LSG seine Auffassung von der fehlenden "Glaubhaftigkeit" der Behauptungen der Klägerin zusätzlich auf eigene Erwägungen gestützt hat. Denn diese Erwägungen tragen die Entscheidung des LSG nicht allein. Vielmehr hat das LSG diese Ausführungen nur ergänzend gemacht ("nicht nur auf das Glaubhaftigkeitsgutachten, sondern auch auf eigene Erwägungen"), sodass das Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. nach der Diktion des LSG für dessen Tatsachenwürdigung maßgebend ist.

63

Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).

64

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 29. Januar 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Die 1949 geborene Klägerin wuchs im heutigen Land Sachsen auf. Im März 1991 und im Jahr 1992 berichtete sie gegenüber Ärzten von Misshandlungen im Stasigewahrsam. Im Oktober 1997 erstattete die Klägerin Strafanzeige wegen sexueller Nötigung in der Zeit vom 9.1989 durch ihren damaligen Vorgesetzten. Die zuständige Staatsanwaltschaft Dresden stellte das Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs 2 Strafprozessordnung ein, die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb erfolglos.

3

Im Juni 1999 beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt B. eine Versorgung nach dem OEG wegen "Folter, Misshandlung und Vergewaltigung" im K.-Gefängnis in K. während eines Aufenthaltes in der Zeit vom 9.1989 durch ihren damaligen Vorgesetzten und andere unbekannte Täter. An Schädigungsfolgen seien ua psychosomatische Folgen und Zahnverlust eingetreten. Das Versorgungsamt B. lehnte Ansprüche nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) ab; das zuständige Versorgungsamt C. lehnte sodann den OEG-Antrag der Klägerin ab (Bescheid vom 22.4.2003; Widerspruchsbescheid vom 12.1.2004).

4

Im anschließenden Klageverfahren hat das SG ua eine Begutachtung der Klägerin durch die Psychiaterin und Neurologin Dr. S. veranlasst. Die Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die Erlebnisse, welche die Klägerin in der Haft habe erleben müssen, so schwerwiegend gewesen seien, dass sie bei den vorliegenden Vorbelastungen (angegebener sexueller Missbrauch in der Kindheit durch einen Großonkel) die andauernde Persönlichkeitsveränderung der Klägerin mit verursacht oder sogar allein ausgelöst hätten (Gutachten vom 12.12.2007). Das SG hat ferner Beweis erhoben durch Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens (sog Glaubhaftigkeitsgutachten)der psychologischen Psychotherapeutin Dipl.-Psych. Sch. Diese erklärte, dass die behauptete Aussage der Klägerin mit Hilfe der aussagepsychologischen Methodik nicht verifiziert werden könne. Es zeigten sich Mängel im Hinblick auf die Konstanz der Aussage der Klägerin und Hinweise auf fremd- und autosuggestive Einflüsse. Weder die Täuschungs- noch die Suggestionshypothese könne zurückgewiesen werden (Gutachten vom 12.5.2010). Auf Antrag der Klägerin hat das SG schließlich eine Begutachtung der Klägerin durch den Psychiater und Neurologen Dr. St. veranlasst. Dieser erklärte im Wesentlichen, dass eine suggestive Beeinflussung der Erinnerungen der Klägerin nicht ausgeschlossen werden könne, sondern angesichts der Persönlichkeit der Klägerin und der Befragungsumstände als sehr wahrscheinlich anzunehmen sei. Die Klägerin könne die Angaben über die Stasihaft und die dort erlittenen Vergewaltigungen und Misshandlungen - wie auch die Angaben zum sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit - in dieser Form auch ohne einen Erlebnisbezug berichten (Gutachten vom 31.12.2012).

5

Das SG hat die seit 1.8.2008 gegen den beklagten Sozialverband als Funktionsnachfolger gerichtete Klage abgewiesen, weil es der Klägerin nicht gelungen sei, glaubhaft zu machen, dass sie Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG geworden sei. Aus den Gutachten der Sachverständigen Sch. und Dr. St. ergebe sich, dass die Angaben der Klägerin nicht geeignet seien, eine Glaubhaftmachung iS des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) zu begründen(Urteil vom 19.4.2013).

6

Im Berufungsverfahren hat das LSG zwei aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. G. vom 14.8.2014 und 14.10.2014 aus den Verfahren vor dem LSG zu den Az L 10 VE 34/13 ZVW und L 10 VE 28/11 in den Rechtsstreit eingeführt und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die von der Klägerin behauptete Folter sowie der sexuelle Missbrauch im K.-Gefängnis in K. seien nicht nachgewiesen, unmittelbare Tatzeugen nicht vorhanden. Das Vorliegen der Taten lasse sich auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung der Glaubhaftmachung annehmen. Die Angaben der Klägerin könnten nicht positiv durch aussagepsychologische Begutachtung verifiziert werden. Anlass zur Einholung eines weiteren Glaubhaftigkeitsgutachtens, welches unter Abfassung entsprechender Beweisfragen dem besonderen Beweismaßstab der Glaubhaftmachung Rechnung tragen solle, bestehe nicht. Denn das LSG habe in den Rechtsstreiten L 10 VE 34/13 ZVW und L 10 VE 28/11 Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. G. unter besonderer Berücksichtigung von § 15 KOVVfG eingeholt und in den vorliegenden Rechtsstreit eingeführt. Danach könne die vom BSG in seiner Rechtsprechung vom 17.4.2013 erhobene Forderung der besonderen Berücksichtigung des § 15 KOVVfG von aussagepsychologischen Gutachten nicht eingelöst werden(Urteil vom 29.1.2015).

7

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das LSG habe seine Entscheidung unter Bezugnahme auf zwei Gutachten getroffen, die den Anforderungen, welche das BSG bisher an sog Glaubhaftigkeitsgutachten in OEG-Verfahren gestellt habe, nicht entsprächen. Unter Vorlage einer ergänzenden schriftlichen Stellungnahme, Benennung eines weiteren Zeugen und Vorlage einer Urkunde rügt die Klägerin darüber hinaus, das LSG habe den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt und sie nicht zu vermeintlichen Widersprüchen (schriftlich) angehört. Es habe sie trotz fehlender finanzieller Mittel auch nicht persönlich zur mündlichen Verhandlung geladen.

8

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 29. Januar 2015 und das Urteil des SG Hildesheim vom 19. April 2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 22. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2004 aufzuheben und
den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG zu gewähren.

9

Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

10

Er verweist auf die Ausführungen des LSG, die er für zutreffend hält.

Entscheidungsgründe

11

Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG).

12

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 22.4.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.1.2004 und der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente nach den Vorschriften des OEG iVm dem BVG. Diesen verfolgt die Klägerin zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4, § 56 SGG; vgl BSG Urteil vom 18.11.2015 - B 9 V 1/14 R - BSGE , SozR 4, Juris RdNr 12; BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20), gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils iS des § 130 Abs 1 SGG.

13

Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Klägerin ihre ursprüngliche kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage vor dem LSG auf eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage umgestellt hat. Hierin liegt mangels einer Änderung des Klagegrundes eine nach § 99 Abs 3 SGG uneingeschränkt zulässige Antragsänderung(vgl BSG Urteil vom 7.6.1979 - 12 RK 13/78 - BSGE 48, 195, 196 = SozR 2200 § 394 Nr 1 S 1 zum Übergang von der Leistungs- zur Feststellungsklage; BSG Urteil vom 12.8.2010 - B 3 KR 9/09 R - SozR 4-2500 § 125 Nr 6 zum Übergang von der Feststellungs- zur Leistungsklage).

14

Der beklagte Kommunalverband ist passiv legitimiert. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Klageverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes im Sinne einer Funktionsnachfolge stattgefunden hat. Denn durch das Sächsische Verwaltungsneuordnungsgesetz (SächsVwNG) vom 29.1.2008 (SächsGVBl Nr 3/2008, S 137 ff) und das Gesetz zur Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes und weiterer sozialer Entschädigungsgesetze (SächsDGBVG) vom selben Tag ging die Zuständigkeit für die Gewährung der Leistungen nach dem OEG iVm dem BVG seit dem 1.8.2008 auf den Kommunalen Sozialverband S. über. Diese Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Opferentschädigung verstößt nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG (vgl - zur ähnlichen Übertragung im Rahmen einer Funktionsnachfolge auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW - BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 23 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 23, jeweils unter Hinweis auf Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21 und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 99 RdNr 6a mwN). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann.

15

2. Die Revision der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg. Das LSG hat auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen, weil die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Beschädigtenrente nicht erfüllt (3.). Die tatsächlichen Feststellungen des LSG sind für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG), denn sie halten einer revisionsrichterlichen Überprüfung stand. Die von der Klägerin gerügte Beweiswürdigung (4.) und Sachaufklärung (5.) sind - soweit revisionsrichterlich überprüfbar - nicht zu beanstanden, auch soweit die Klägerin im Revisionsverfahren ergänzend zu ihrem beruflichen Werdegang vorträgt, einen weiteren Zeugen benennt und zu Beweiszwecken eine Urkunde vorlegt.

16

3. Die Klägerin hat nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG.

17

a. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch aus einer auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vor dem 3.10.1990 begangenen rechtswidrigen Tat ist § 1 iVm § 10a OEG. Nach § 1 Abs 1 S 1 OEG erhält Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat(zu den allgemeinen Tatbestandsmerkmalen s auch BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN).

18

In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind und im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

19

Seit dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland gilt das OEG auch in den neuen Bundesländern. Bei Gewalttaten, die im Gebiet der ehemaligen DDR vor dem 3.10.1990 begangen worden sind, richtet sich der Anspruch auf Versorgung nach der Härtefallregelung des § 10a OEG. Danach erhalten auch Personen, die in dem in Art 3 des Vertrages zwischen der BRD und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) genannten Gebiet (den sog neuen Bundesländern) ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zum Zeitpunkt der Schädigung hatten, Versorgung nach Maßgabe des § 10a Abs 1 S 1 OEG, wenn die Schädigung in der Zeit vom 7.10.1949 bis zum 2.10.1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist (§ 10 S 2 OEG).

20

b. Nach den Feststellungen des LSG liegen jedoch die Voraussetzungen für eine Versorgung nach dem OEG nicht vor, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 1 Abs 1 S 1 OEG nicht erfüllt sind.

21

Gemäß § 1 Abs 1 S 1 OEG(idF vom 11.5.1976, BGBl I 1181) erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Die erlittene Schädigung muss keine physische Beeinträchtigung sein. Vielmehr sind auch psychische Gesundheitsschäden geeignet, einen Anspruch nach dem OEG zu begründen, jedoch müssen sie auf einen "tätlichen Angriff" zurückzuführen sein. Insoweit ist entscheidend, ob der Primärschaden und eventuelle Folgeschäden gerade die zurechenbare Folge einer körperlichen Gewaltanwendung gegen eine Person sind (BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - BSGE 118, 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr 21).

22

Die Klage ist unbegründet, weil ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nicht nachgewiesen ist.

23

c. Der Senat hat für den Begriff "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich auf eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung abgestellt (BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - aaO; Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 14 mwN). Dabei ist zwar einerseits die Rechtsfeindlichkeit entscheidend, die vor allem als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz verstanden wird; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit mit Rücksicht auf den das OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 27 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 28, jeweils unter Hinweis auf BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Andererseits genügt es nicht, dass die Tat gegen eine Norm des Strafgesetzes verstößt, denn die Verletzungshandlung im OEG ist nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt (vgl BT-Drucks 7/2506 S 10). Die Auslegung des Begriffs des "tätlichen Angriffs" orientiert sich jedoch an der im Strafrecht zu den §§ 113, 121 StGB gewonnenen Bedeutung(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - aaO, RdNr 32 mwN). Wesentlich ist die grundlegende gesetzgeberische Entscheidung, dass durch die Verwendung des Begriffs des tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG der allgemeine Gewaltbegriff im strafrechtlichen Sinn begrenzt und grundsätzlich eine Kraftentfaltung gegen eine Person erforderlich sein soll(vgl BT-Drucks 7/2506 S 10).

24

Die von der Klägerin behaupteten Ereignisse im K.-Gefängnis in K. in der Zeit vom 9.1989 wären zwar grundsätzlich geeignet einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG darzustellen. Diese sind jedoch zur Überzeugung des LSG nicht glaubhaft.

25

d. Der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG besteht aus drei Merkmalen (vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff - sog schädigender Vorgang -, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang (Kausalität) miteinander verbunden sind. Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt die Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs 1 S 1 OEG iVm § 1 Abs 3 BVG). Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind der Entscheidung hinsichtlich des schädigenden Vorgangs die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind und wenn die Angaben des Antragstellers nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

26

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 3b mwN). Das bedeutet, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 33 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 34 ; BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21 ). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4; BSG Urteil vom 5.5.2009 - B 13 R 55/08 R - BSGE 103, 99, 104).

27

Eine Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 34 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 35; aA Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 3c).

28

Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 35 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 36 ), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 35 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 36 ), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss eine den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG ; vgl BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 35 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 36; BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).

29

e. Die von der Klägerin behaupteten körperlichen Misshandlungen im K.-Gefängnis sind nicht nachgewiesen im Sinne einer Glaubhaftmachung. Das LSG ist auf Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen zu dem Ergebnis gekommen, dass unmittelbare Tatzeugen für die von der Klägerin behaupteten Ereignisse im K.-Gefängnis in der Zeit vom 9.1989 nicht vorhanden sind. Der von der Klägerin in erster Linie beschuldigte Vorgesetzte hat die Vorwürfe bestritten. Weitere Täter hat die Klägerin nicht namentlich benannt und konnten auch nicht ermittelt werden. Auch sind keine sonstigen Beweismittel (zB Urkundsbeweise, Zeugen) vorhanden, die das Vorbringen der Klägerin entweder stützen oder widerlegen könnten.

30

Auf Grundlage dieser Feststellungen durfte das LSG zu Recht die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG für anwendbar halten. Denn die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46; zuletzt BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 41 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 39 ). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO ) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6; BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 41 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 39 ).

31

Hiervon ausgehend hat das LSG jedoch die Angaben der Klägerin über einen körperlichen und sexuellen Missbrauch im K.-Gefängnis im September 1989 als nicht glaubhaft erachtet.

32

4. Diese Beurteilung hält einer revisionsrichterlichen Überprüfung stand. Die von der Klägerin gerügte Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) und Sachaufklärung (§§ 103, 106 SGG) durch das LSG sind nicht zu beanstanden.

33

Das Tatsachengericht entscheidet gemäß § 128 Abs 1 S 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; es ist in seiner Beweiswürdigung frei und lediglich an die Regeln der Logik und der Erfahrung gebunden. Das dem Gericht insofern eingeräumte Ermessen kann das Revisionsgericht nur begrenzt überprüfen. Die Grenzen der freien Beweiswürdigung sind erst überschritten, wenn das Tatsachengericht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstößt, aber auch, wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt (stRspr; vgl etwa schon BSG Beschluss vom 8.7.1958 - 8 RV 1345/57 - SozR Nr 34 zu § 128 SGG; BSG Beschluss vom 15.8.1960 - 4 RJ 291/59 - SozR Nr 56 zu § 128 SGG; zuletzt auch BSG Urteil vom 18.11.2015 - B 9 V 1/14 R - BSGE , SozR 4-3800 § 1 Nr 22; BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 1/14 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 21 mwN).

34

Diese Grenzen hat das LSG eingehalten, es hat sich eingehend mit dem Sachverhalt, den Verfahrens- und den beigezogenen Akten, den Ergebnissen der vom SG eingeholten Sachverständigengutachten und den von ihm in den Rechtsstreit eingeführten Sachverständigengutachten aus anderen OEG-Verfahren auseinandergesetzt. Es hat das Gesamtergebnis des Verfahrens ausreichend und umfassend berücksichtigt und sich frei von Denkfehlern davon überzeugt, dass die Klägerin nicht nachweislich Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG geworden ist. Dabei hat es die von ihm angewandte Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG rechtlich zutreffend erkannt. Die Einwände der Klägerin gegen die Verwertung der vom SG eingeholten Sachverständigengutachten greifen nicht durch.

35

a. Die Einholung und Berücksichtigung aussagepsychologischer Gutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht zulässig nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 44 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 42 ).

36

Auch spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass ein Berufungsgericht nicht selbst ein aussagepsychologisches Gutachten über den Kläger bzw die Klägerin einholt, sondern für seine Entscheidung Glaubhaftigkeitsgutachten verwertet, welche die Vorinstanz - wie hier geschehen (§ 106 Abs 3 Nr 5 und § 109 Abs 1 S 1 SGG) - im Klageverfahren eingeholt hat. Liegen bereits Gutachten von ärztlichen Sachverständigen desselben Fachgebiets als Beweismittel vor, bedarf es unter Berücksichtigung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG)grundsätzlich keiner weiteren Sachaufklärung in dieser Richtung. Anders verhält es sich, wenn die vorliegenden Gutachten schwere Mängel aufweisen, in sich widersprüchlich sind, von unzutreffenden Voraussetzungen ausgehen oder Zweifel an der Sachkunde oder Sachlichkeit des Sachverständigen erwecken (vgl etwa BSG Beschluss vom 24.3.2005 - B 2 U 368/04 B - Juris RdNr 5 ; BSG Beschluss vom 16.2.2012 - B 9 V 17/11 B - Juris RdNr 13 ) oder wenn wesentliche Veränderungen in dem bereits begutachteten Lebenssachverhalt eingetreten sind (zB Verschlimmerung von gesundheitlichen Leiden, vgl BSG Beschluss vom 24.4.2014 - B 13 R 325/13 B - Juris).

37

Für derartige Mängel oder Veränderungen liegen betreffend die Gutachten der Sachverständigen Sch. und Dr. St. keinerlei Anhaltspunkte vor. Insbesondere geht die Rüge der Klägerin, dass die Gutachten nicht verwertbar seien, weil das SG die Sachverständigen nicht auf den geltenden Beweismaßstab (§ 15 S 1 KOVVfG) hingewiesen und ihnen keine Angaben zur relativen Wahrscheinlichkeit eines Erlebnisbezuges abverlangt hat, ins Leere.

38

b. Allerdings hat der Senat einen Hinweis auf den nach § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab gegenüber dem Sachverständigen in seinen Entscheidungen vom 17.4.2013 (B 9 V 1/12 R, B 9 V 3/12 R, s unten) für notwendig erachtet.

39

Aus dem Umstand, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, hat der Senat gefolgert, dass ein Gericht den Sachverständigen eines aussagepsychologischen Gutachtens auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären hat, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten könne. Im Rahmen der Beweisfragen müsse darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden könnten. Der Senat ist insoweit davon ausgegangen, dass es erforderlich ist, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergebe ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 57 ff und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 55 ff).

40

c. An diesem Erfordernis der Berücksichtigung des Beweismaßstabes nach § 15 S 1 KOVVfG bei der Erstellung eines aussagepsychologischen Gutachtens hält der Senat nach nochmaliger Überprüfung nicht mehr fest. In Verfahren über eine Gewaltopferentschädigung bedarf es keines besonderen Hinweises an den Sachverständigen auf den Beweismaßstab der Glaubhaftmachung.

41

Aussagepsychologische Gutachten können im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens nach dem OEG - gleich wie in anderen Rechtsstreitigkeiten, in denen es wesentlich auf die Aussage eines Beteiligten oder Zeugen ankommt - von Bedeutung sein. Denn Gegenstand eines solchen Gutachtens ist die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Diese Frage stellt sich nicht nur in strafgerichtlichen Verfahren. Eine solche Beurteilung zählt an sich zu den ureigenen Aufgaben eines Tatrichters; sie gehört seit jeher zum Wesen richterlicher Rechtsfindung (BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 16.12.2002 - 2 BvR 2099/01 - Juris RdNr 13). Daher kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 45 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 43, mit Verweis auf BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22 ). Der Richter selbst hat bei der Beweiswürdigung Erfahrungsregeln zu beachten, die ua aus aussagepsychologischen Untersuchungen gewonnen wurden (BVerfG Stattgebender Kammerbeschluss vom 30.4.2003 - 2 BvR 2045/02 - NJW 2003, 2444 - Juris RdNr 37). Allerdings kann die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 45 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 43, mit Verweis auf BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6 ; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 22).

42

Damit ein aussagepsychologisches Gutachten im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens nach dem OEG verwertet werden kann, muss es sachgerecht erstellt sein. Dies zu gewährleisten, ist in erster Linie Aufgabe des Tatrichters, beispielsweise durch die Wahl eines geeigneten Sachverständigen, durch die Formulierung der Beweisfragen und durch die Prüfung des erstellten Gutachtens. Soweit der Senat in seinen Entscheidungen vom 17.4.2013 (B 9 V 1/12 R, B 9 V 3/12 R) aber noch angenommen hat, dass es im Rahmen der Beweisanordnung eines gerichtlichen Hinweises an den Sachverständigen auf den Beweismaßstab des § 15 S 1 KOVVfG und der Klärung bedürfe, ob der Sachverständige sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten könne, wird diese Auffassung nicht aufrechterhalten.

43

Dies ist im Wesentlichen auf die Möglichkeiten und Grenzen einer aussagepsychologischen Begutachtung zurückzuführen. Die zugrunde liegenden Tatsachen können vom Senat als generelle Tatsachen (vgl hierzu zB BSGE 112, 257 - SozR 4-2500 § 137 Nr 2 RdNr 4 mwN; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 163 RdNr 20, 21) anhand der Darstellungen der Sachverständigen Prof. Dr. G. in den vom LSG in den Rechtsstreit eingeführten Gutachten selbst bewertet werden. Deren Expertise auf dem Gebiet der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist allgemein anerkannt und wird auch von den Beteiligten nicht in Frage gestellt. Die Glaubhaftigkeitsbegutachtung kann danach keine Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben ( Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49 ; vgl auch BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 46 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 44). Die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist eine Methode zur Substantiierung des Erlebnisgehaltes einer Aussage. Im positiven Fall können aussagepsychologische Gutachten Zweifel an der Erlebnisbasis und Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage zurückweisen. Dies geschieht durch die Bildung von Alternativhypothesen, dh Konkurrenzannahmen zur Erlebnishypothese, und deren Zurückweisung als unsubstantiiert. Aufgabe des aussagepsychologischen Sachverständigen ist es, auf den Einzelfall bezogene Alternativhypothesen zur Erlebnishypothese darzustellen und durch deren Prüfung erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt, zu treffen. Dadurch vermittelt er dem Gericht auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 46 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 44 mit Verweis auf Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f).

44

Im Gegensatz dazu obliegt die anschließende umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen dem Gericht (so schon BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 46 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 44). Die Feststellung, ob die Aussage eines Gewaltopfers bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten relativ am wahrscheinlichsten ist, obliegt allein der richterlichen Beweiswürdigung. Insofern unterscheiden sich aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsgutachten nicht von Sachverständigengutachten in anderen, zB medizinischen, Gebieten. Dort, wo dem Gericht eigene Sachkunde fehlt, zB bei der Feststellung einzelner Gesundheitsstörungen, zieht es ärztliches Fachwissen heran. Anschließend ist es grundsätzlich Aufgabe des Tatsachengerichts, ausgehend von einem bestimmten Rechtsstandpunkt eine Beweiswürdigung anhand der feststehenden, zB medizinischen, Tatsachen vorzunehmen (stRspr, vgl BSG Urteil vom 29.1.1956 - 2 RU 121/56 - BSGE 4, 147, 149 f; BSG Urteil vom 9.10.1987 - 9a RVs 5/86 - BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26, S 83 f; BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10; zuletzt BSG Beschluss vom 21.3.2016 - B 9 SB 81/15 B - Juris RdNr 6, RegNr 32076 - BSG-Intern).

45

Aus diesen Gründen bedarf es keines Hinweises des Gerichts an den aussagepsychologischen Sachverständigen auf den Beweismaßstab des § 15 S 1 KOVVfG. Aussagepsychologische Gutachten sind von ihrer Logik her nicht darauf ausgerichtet, die differentielle Wahrscheinlichkeit von alternativen Hypothesen zu prüfen (G., Gutachten idS L 10 VE 28/11, S 25 = Prozessakte S 948). Von einem aussagepsychologischen Sachverständigen dennoch eine derartige Prüfung zu verlangen, hieße, diesen in seiner Sachkompetenz zu überfordern. Vielmehr darf dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprechen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhen ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 47 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 45 mit Verweis auf LSG NRW Urteil vom 28.11.2007 - L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25 aE). Die Würdigung der eingeholten Sachverständigengutachten - hier der auf den Einzelfall bezogenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Aussagetüchtigkeit der begutachteten Person sowie der Qualität und der Zuverlässigkeit ihrer Aussage - ist hingegen ureigene tatrichterliche Aufgabe (zu medizinischen Tatsachen vgl BSG Beschluss vom 11.3.2016 - B 9 V 3/16 B - Juris RdNr 6, RegNr 32065 - BSG-Intern). Selbst wenn ein Sachverständiger Vorschläge zur rechtlichen Bewertung der von ihm sachkundig festgestellten Tatsachen macht, sind die Gerichte an diese nicht gebunden(zu medizinischen Tatsachen vgl BSG Beschluss vom 21.3.2016 - B 9 SB 81/15 B - Juris RdNr 6, RegNr 32076 - BSG-Intern). Daher ist auch eine entsprechende Fragestellung im Rahmen der Beweisanordnung nicht erforderlich.

46

Zwar ist es möglich, dass sich im Rahmen der Glaubhaftigkeitsbegutachtung eine oder mehrere Konkurrenzannahmen zur Erlebnishypothese nicht zurückweisen lassen und (mindestens) ebenso wahrscheinlich sind wie ein Erlebnisbezug der Aussage. Weil aber aussagepsychologische Sachverständige keine relative Wahrscheinlichkeit der Aussagen feststellen (können), muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines Glaubhaftigkeitsgutachtens (dh Zweifel am Erlebnisbezug der Aussage können nicht ausgeschlossen werden) nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können. Diesen Unterschied im Rahmen der Beweiswürdigung zu beachten, ist richterliche Aufgabe.

47

Vor diesem Hintergrund ist es unschädlich, dass das SG die Sachverständigen S. und Dr. St. nicht auf den § 15 S 1 KOVVfG hingewiesen und das LSG kein weiteres aussagepsychologisches Gutachten über die Klägerin eingeholt hat. Dies gilt auch in Ansehung der sinngemäßen Rüge der Klägerin, dass die vom SG beauftragten Sachverständigen keine Angaben dazu gemacht haben, ob ihre Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können, obwohl dies "einem Psychologen aufgrund seiner Qualifikation und seiner Erfahrung möglich sein" müsse. Entgegen dem Revisionsvorbringen ist insoweit - wie oben ausgeführt - zu unterscheiden zwischen der Begutachtung zum Zwecke der Beweiserhebung einerseits und der richterlichen Beweiswürdigung andererseits.

48

d. Schließlich hat das LSG auch den von § 15 S 1 KOVVfG eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung nicht verkannt. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG zwar auch auf die aussagepsychologischen Gutachten der Sachverständigen Sch. und Dr. St. gestützt. Beiden Gutachten kam der bzw die jeweilige Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Nullhypothese des fehlenden Erlebnisbezuges nicht zurückgewiesen werden konnte, dh dass die Klägerin die Angaben in Bezug auf den vorgetragenen sexuellen Missbrauch im K.-Gefängnis auch ohne einen Erlebnisbezug berichten könne. Jedoch hat das LSG das Ergebnis der aussagepsychologischen Gutachten in seiner Entscheidung nicht unkritisch übernommen und seine eigene Beurteilung der Aussagen der Klägerin im Rahmen der aussagepsychologischen Begutachtungen in der Zusammenschau mit dem übrigen Akteninhalt zum Kern seiner Entscheidung gemacht. Das LSG hat seine Überzeugung, dass die Behauptung der Klägerin, sie sei im September 1989 im K.-Gefängnis sexuell missbraucht und gefoltert worden, nicht glaubhaft sei, auf "seine eigene Überzeugung" gestützt, die es sich "aus den gesamten vorliegenden Unterlagen gebildet hat sowie ergänzend auf die Ausführungen der Sachverständigen Dipl.-Psych. Sch. in ihrem Gutachten vom 12. Mai 2010 und Dr. St. vom 31.12.2012" (s S 18 f des Urteils). Folglich hat das LSG seine Auffassung von der fehlenden Glaubhaftigkeit der Behauptungen der Klägerin nicht allein auf Grundlage der Ergebnisse der beiden aussagepsychologischen Gutachten über die Klägerin gebildet, sondern hat eine freie und umfassende Beweiswürdigung vorgenommen.

49

5. Soweit die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§§ 103, 106 SGG) des LSG darin sieht, dass dieses sie zur Widersprüchlichkeit ihrer Angaben weder schriftlich angehört noch zur mündlichen Verhandlung persönlich geladen habe, dringt sie damit nicht durch. Eine Verletzung der §§ 103, 106 SGG liegt nur vor, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, obwohl es sich ausgehend von seiner Rechtsauffassung zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen(stRspr vgl zB BSG Urteil vom 10.6.1975 - 9 RV 124/74 - BSGE 40, 49 = SozR 3100 § 30 Nr 7). Daran fehlt es hier. Das LSG durfte insbesondere die Feststellungen aus dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren zum beruflichen Werdegang der Klägerin übernehmen (vgl BSG Urteil vom 22.6.1988 - 9/9a RVg 3/87 - BSGE 63, 270, 273 = SozR 1500 § 128 SGG Nr 34, S 31 ). Selbst wenn diese Wiedergabe ungenau oder in Teilen unzutreffend sein sollte, hat die Klägerin nicht hinreichend dargelegt, inwiefern die Entscheidung des LSG darauf - revisionsrechtlich relevant - beruhen sollte. Das Vorbringen der Klägerin im Zusammenhang mit ihrem beruflichen Werdegang stellt allenfalls ein von den tatsächlichen Feststellungen des LSG abweichendes tatsächliches Vorbringen dar, nicht aber eine durchgreifende Verfahrensrüge. Abweichenden Sachvortrag in der Revisionsinstanz kann der Senat nicht berücksichtigen (BSG Urteil vom 25.4.2002 - B 11 AL 89/01 R - BSGE 89, 250, 252 = SozR 3-4100 § 119 Nr 24; Urteil vom 11.3.1970 - 3 RK 25/67 - BSGE 31, 63, 65 = SozR Nr 17 zu § 3 AVG). Nichts anderes gilt hinsichtlich der dem LSG im Übrigen zahlreich vorliegenden aktenkundigen Aussagen der Klägerin aus den Jahren seit 1997 gegenüber verschiedenen Ärzten, Behörden und Gerichten, die sowohl voneinander als auch von den Inhalten der aktenkundigen Urkunden abweichen. Soweit die Klägerin einen weiteren Zeugen benennt und zu Beweiszwecken eine Urkunde vorlegt, musste der Senat dies auch nicht ausnahmsweise berücksichtigen, etwa zur Vermeidung eines Wiederaufnahmeverfahrens (vgl BSGE 18, 186 = SozR Nr 6 zu § 179 SGG).

50

Soweit die Klägerin sinngemäß eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör darin sehen sollte, dass das LSG sie zur Widersprüchlichkeit ihrer Angaben weder schriftlich angehört noch zur mündlichen Verhandlung persönlich geladen habe, so dringt sie auch hiermit nicht durch. Der in §§ 62, 128 Abs 2 SGG konkretisierte Anspruch auf rechtliches Gehör(Art 101 Abs 1 GG) soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht haben äußern können (vgl BSG Urteil vom 23.5.1996 - 13 RJ 75/95 - SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BVerfG Beschluss vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfG Beschluss vom 19.7.1967 - 2 BvR 639/66 - BVerfGE 22, 267, 274; BVerfG Urteil vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205, 216 f). In diesem Rahmen besteht jedoch keine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage ( BSG Urteil vom 16.3.2016 - B 9 V 6/15 R - vorgesehen für SozR 4). Auch besteht weder eine Pflicht des Gerichts, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage im Rahmen der mündlichen Verhandlung bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen, noch dies bereits vor der mündlichen Verhandlung im Rahmen eines richterlichen Hinweises zu tun. Denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen ( BSG Urteil vom 16.3.2016, aaO). Angesichts der bereits lange vorliegenden Gutachten wie auch des Inhalts des Widerspruchsbescheides und des Urteils des SG musste die Klägerin damit rechnen, dass das LSG ihre Aussagen als widersprüchlich bewerten und ihren Anspruch verneinen würde.

51

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Im Sinne dieses Gesetzes ist

1.
Krankheitserregerein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann,
2.
Infektiondie Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus,
3.
übertragbare Krankheiteine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit,
3a.
bedrohliche übertragbare Krankheiteine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann,
4.
Krankereine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist,
5.
Krankheitsverdächtigereine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen,
6.
Ausscheidereine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein,
7.
Ansteckungsverdächtigereine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein,
8.
nosokomiale Infektioneine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand,
9.
Schutzimpfungdie Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen,
10.
andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxedie Gabe von Antikörpern (passive Immunprophylaxe) oder die Gabe von Medikamenten (Chemoprophylaxe) zum Schutz vor Weiterverbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten,
11.
Impfschadendie gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde,
12.
Gesundheitsschädlingein Tier, durch das Krankheitserreger auf Menschen übertragen werden können,
13.
Sentinel-Erhebungeine epidemiologische Methode zur stichprobenartigen Erfassung der Verbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten und der Immunität gegen bestimmte übertragbare Krankheiten in ausgewählten Bevölkerungsgruppen,
14.
Gesundheitsamtdie nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bestimmte und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde,
15.
Einrichtung oder Unternehmeneine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person, in deren unmittelbarem Verantwortungsbereich natürliche Personen behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden,
15a.
Leitung der Einrichtung
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich einer Einrichtung durch diese mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern die Einrichtung von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
15b.
Leitung des Unternehmens
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich eines Unternehmens durch dieses mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern das Unternehmen von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
16.
personenbezogene AngabeName und Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift der Hauptwohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und, falls abweichend, Anschrift des derzeitigen Aufenthaltsortes der betroffenen Person sowie, soweit vorliegend, Telefonnummer und E-Mail-Adresse,
17.
Risikogebietein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für das vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen übertragbaren Krankheit festgestellt wurde; die Einstufung als Risikogebiet erfolgt erst mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung der Feststellung durch das Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse https://www.rki.de/risikogebiete.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

Im Sinne dieses Gesetzes ist

1.
Krankheitserregerein vermehrungsfähiges Agens (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) oder ein sonstiges biologisches transmissibles Agens, das bei Menschen eine Infektion oder übertragbare Krankheit verursachen kann,
2.
Infektiondie Aufnahme eines Krankheitserregers und seine nachfolgende Entwicklung oder Vermehrung im menschlichen Organismus,
3.
übertragbare Krankheiteine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit,
3a.
bedrohliche übertragbare Krankheiteine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann,
4.
Krankereine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist,
5.
Krankheitsverdächtigereine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen,
6.
Ausscheidereine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein,
7.
Ansteckungsverdächtigereine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein,
8.
nosokomiale Infektioneine Infektion mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen als Reaktion auf das Vorhandensein von Erregern oder ihrer Toxine, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme steht, soweit die Infektion nicht bereits vorher bestand,
9.
Schutzimpfungdie Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer übertragbaren Krankheit zu schützen,
10.
andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxedie Gabe von Antikörpern (passive Immunprophylaxe) oder die Gabe von Medikamenten (Chemoprophylaxe) zum Schutz vor Weiterverbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten,
11.
Impfschadendie gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde,
12.
Gesundheitsschädlingein Tier, durch das Krankheitserreger auf Menschen übertragen werden können,
13.
Sentinel-Erhebungeine epidemiologische Methode zur stichprobenartigen Erfassung der Verbreitung bestimmter übertragbarer Krankheiten und der Immunität gegen bestimmte übertragbare Krankheiten in ausgewählten Bevölkerungsgruppen,
14.
Gesundheitsamtdie nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bestimmte und mit einem Amtsarzt besetzte Behörde,
15.
Einrichtung oder Unternehmeneine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine natürliche Person, in deren unmittelbarem Verantwortungsbereich natürliche Personen behandelt, betreut, gepflegt oder untergebracht werden,
15a.
Leitung der Einrichtung
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich einer Einrichtung durch diese mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern die Einrichtung von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
15b.
Leitung des Unternehmens
a)
die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die im Verantwortungsbereich eines Unternehmens durch dieses mit den Aufgaben nach diesem Gesetz betraut ist oder sind,
b)
sofern eine Aufgabenübertragung nach Buchstabe a nicht erfolgt ist, die natürliche Person oder die natürlichen Personen, die für die Geschäftsführung zuständig ist oder sind, oder
c)
sofern das Unternehmen von einer einzelnen natürlichen Person betrieben wird, diese selbst,
16.
personenbezogene AngabeName und Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift der Hauptwohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und, falls abweichend, Anschrift des derzeitigen Aufenthaltsortes der betroffenen Person sowie, soweit vorliegend, Telefonnummer und E-Mail-Adresse,
17.
Risikogebietein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für das vom Bundesministerium für Gesundheit im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit einer bestimmten bedrohlichen übertragbaren Krankheit festgestellt wurde; die Einstufung als Risikogebiet erfolgt erst mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung der Feststellung durch das Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse https://www.rki.de/risikogebiete.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.

2

Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.

3

Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.

4

Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.

5

Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.

6

Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.

7

Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.

8

Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.

9

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.

10

Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).

11

Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.

12

Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.

13

Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.

14

In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.

15

Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.

16

In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.

17

Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.

18

Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.

19

Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.

20

Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.

21

Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).

22

Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.

23

Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.

24

Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.

25

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.

26

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

27

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.

28

Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.

Entscheidungsgründe

29

1. Die Revision des Klägers ist zulässig.

30

a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.

31

Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.

32

b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.

33

2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.

34

a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).

35

           

b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:

Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 

4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,

eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

        

Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

        
36

aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).

37

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).

38

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

39

bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

40

           

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):

        

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

41

Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS , Einleitung zur VersMedV, S 5), sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.

42

cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

43

Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.

44

c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.

45

aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25 ) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.

46

Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".

47

Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.

48

bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.

49

           

aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:

So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.

50

           

Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

51

In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).

52

Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.

53

           

Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:

        

Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.

54

           

Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:

        

Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.

55

           

Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:

        

Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.

56

           

Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:

        

Geringe Lokalreaktion,

57

           

enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:

        

Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.

58

           

In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):

        

Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.

Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.

In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.

Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.

59

           

bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:

        

Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.

60

Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.

61

Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.

62

Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.

63

d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.

64

aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.

65

bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.

66

Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

67

aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.

68

Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.

69

Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.

70

bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.

71

ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.

72

e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

73

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2. Juli 2013 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die medizinischen und versorgungsrechtlichen Folgen einer Strahlentherapie.

2

Der 1946 geborene Kläger war von 1966 bis Ende April 1997 Soldat der Bundeswehr. 1988 wurde bei ihm ein bösartiger Hodentumor diagnostiziert und im Rahmen der freien Heilfürsorge ärztlich behandelt. Nach einer operativen Semikastratio im Bundeswehrzentralkrankenhaus K erfolgte während des dortigen stationären Aufenthalts eine Kobaltnachbestrahlung, die (in 20 Einzelbestrahlungen zu je 2 Gy) im Städtischen Krankenhaus K in K
durchgeführt wurde. In der Folgezeit traten beim Kläger Rückenbeschwerden auf, die vom truppenärztlichen Dienst behandelt wurden. Als ursächlich wurden degenerative Veränderungen angesehen, ggf psychosomatisch verstärkt. Röntgenologisch wurde später eine Strahlenfibrose nachgewiesen. Ferner litt der Kläger nach dem operativen Eingriff linksseitig unter chronischen Leistenschmerzen.

3

Den Antrag des Klägers auf Anerkennung des Hodentumors und der nach dessen Behandlung aufgetretenen Gesundheitsstörungen als Folge einer Wehrdienstbeschädigung (WDB) lehnte die beigeladene Bundesrepublik Deutschland zunächst ab. Nach einem gerichtlichen Teilanerkenntnis stellte sie mit Ausführungsbescheid vom 10.1.2001 einen chronischen Leistenschmerz links (ilioinguinales Syndrom) nach linksseitiger Hodenresektion als WDB-Folge fest. Diese Entscheidung wurde von dem beklagten Freistaat übernommen, der seit der Beendigung des Wehrdienstverhältnisses für die Versorgung des Klägers zuständig ist (Bescheid vom 8.6.2001).

4

Anfang 2005 wurde beim Kläger ein Harnblasentumor diagnostiziert und sowohl operativ als auch chemotherapeutisch behandelt. Wegen einer später aufgetretenen Bauchspeicheldrüsenerkrankung wurde zudem im Oktober 2005 eine Duodenopankreatektomie (sog Whipple-Operation) durchgeführt. Seit diesem Eingriff ist der Kläger nach seinen Angaben frei von Rückenschmerzen.

5

Etwa ein Jahr später wandte sich der Kläger an die Beigeladene mit der Bitte um Überprüfung der ablehnenden Verwaltungsentscheidung bezüglich der Ursache seiner damaligen Rückenbeschwerden sowie um Prüfung, ob der Blasentumor Folge der 1988 erfolgten Strahlentherapie sei. Der für eine Neufeststellung hinzugetretener WDB-Folgen zuständige Beklagte lehnte dies ab. Die 1988 durchgeführte Strahlentherapie sei nicht geeignet gewesen, einen Harnblasentumor hervorzurufen (Bescheid vom 19.12.2006). Daneben lehnte der Beklagte (ebenso wie zuvor bereits die Beigeladene) eine Rücknahme des letzten bestandskräftigen Feststellungsbescheids über WDB-Folgen ab. Für die Annahme des Klägers, seine langjährigen heftigen Rückenschmerzen seien truppenärztlich falsch behandelt worden, gebe es keinen Beleg. Die seinerzeit geklagten Beschwerden passten nicht zu einer Schmerzausstrahlung, wie sie durch eine Bauchspeicheldrüsenerkrankung zu erwarten sei (Bescheid vom 4.9.2008).

6

Die vom Kläger gegen beide Bescheide erhobenen Widersprüche und seine Klage blieben ohne Erfolg. Zwischen der Bestrahlung und den späteren Gesundheitsstörungen des Klägers bestehe kein ursächlicher Zusammenhang. Es fehle auch an einer fehlerhaften truppenärztlichen Behandlung der aufgetretenen Beschwerden (Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 27.1.2009, Gerichtsbescheid des SG Augsburg vom 27.5.2010).

7

Das LSG hat diese Kausalitätsfragen offengelassen und die Berufung des Klägers aus Rechtsgründen zurückgewiesen. Die Anerkennung einer weiteren WDB-Folge scheitere bereits am Fehlen eines den Versorgungsschutz begründenden Tatbestands. Die vom Kläger als Ursache angesehene Strahlentherapie sei weder eine Wehrdienstverrichtung oder ein in Zusammenhang mit dem Wehrdienst stehender Unfall noch sei sie durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse geprägt gewesen. Ob es später zu einer fehlerhaften truppenärztlichen Behandlung der klägerischen Rückenbeschwerden gekommen sei, könne demgegenüber dahinstehen, weil eine solche Falschbehandlung spätestens im April 1997 geendet habe und daher zumindest nicht mehr für die Aufrechterhaltung der Schmerzen in den Jahren 2002 bis 2005 verantwortlich gewesen sein könne. Wegen der Begrenzung der rückwirkenden Erbringung von Sozialleistungen auf vier Jahre vor der Antragstellung sei aber bei der Überprüfungsentscheidung nur dieser Zeitraum zu berücksichtigen (Urteil vom 2.7.2013).

8

Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Versorgungsbegehren weiter. Er ist der Ansicht, zu den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen zähle auch die ärztliche Behandlung eines Soldaten im Rahmen der unentgeltlichen Heilfürsorge, weil diese mit einem Ausschluss der freien Arztwahl einhergehe. Daher seien die unerwünschten Auswirkungen einer solchen Therapie als Folge einer WDB anzuerkennen.

9

Der Kläger beantragt,

        

1.    

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2.7.2013 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 27.5.2010 aufzuheben,

        

2.    

den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheids vom 19.12.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 zu verpflichten, in Abänderung seines Bescheids vom 8.6.2001 als weitere Folgen einer Wehrdienstbeschädigung des Klägers einen Harnblasentumor (ab Januar 2005), eine Erkrankung der Bauchspeicheldrüse (ab Oktober 2005) und Verwachsungen des Dünndarms (ab Oktober 2005) festzustellen,

        

3.    

den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheids vom 4.9.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 zu verpflichten, unter teilweiser Rücknahme seines Bescheids vom 8.6.2001 als weitere Folgen einer Wehrdienstbeschädigung des Klägers mit Wirkung ab 1.1.2002 Rückenschmerzen (bis Oktober 2005) und eine Strahlenfibrose festzustellen,

        

4.    

den Beklagten unter Aufhebung seiner Bescheide vom 19.12.2006 und vom 4.9.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 zu verurteilen, dem Kläger auch wegen der genannten weiteren Folgen einer Wehrdienstbeschädigung Versorgung nach dem SVG zu gewähren.

10

Der Beklagte und die Beigeladene haben sich zur Revision nicht eingelassen.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache dorthin begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Die bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG, an die der Senat gebunden ist (§ 163 SGG), lassen eine abschließende Entscheidung des Verfahrens nicht zu. Auf ihrer Grundlage lässt sich nicht beurteilen, ob dem Kläger ein Anspruch auf Anerkennung einer weiteren WDB-Folge und auf Gewährung einer Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) zusteht. Davon sind beide Verwaltungsakte des Beklagten vom 19.12.2006 und 4.9.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 betroffen, die der Kläger angefochten hat.

12

1. Im Ergebnis zu Recht ist das LSG allerdings von der formellen Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Bescheide ausgegangen; insbesondere ist die Zuständigkeit des Beklagten für deren Erlass zu bejahen. Zwar hat das LSG verkannt, dass für die Aufhebung eines unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts nicht stets die Behörde zuständig ist, die ihn erlassen hat. Maßgebend ist gemäß § 44 Abs 3 SGB X - ggf iVm § 48 Abs 4 SGB X - vielmehr die aktuelle Zuständigkeit für eine Entscheidung in der Sache nach dem geltenden Leistungsrecht. Diese beruht hier auf den besonderen verwaltungsverfahrensrechtlichen Regelungen der §§ 44 ff SGB X, die dazu führen, dass eine rückwirkende Erbringung von Sozialleistungen für die Zeit bis zum Ausscheiden des Klägers aus der Bundeswehr (Ende April 1997) von vornherein nicht in Betracht kommt. Denn sein 2006 gestellter Überprüfungsantrag ermöglicht gemäß § 44 Abs 4 SGB X eine nachträgliche Versorgung erst für die Zeit seit dem 1.1.2002. Der Senat hat bereits entschieden, dass es für die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen der Bundeswehrverwaltung und den für die Ausführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden nach § 88 SVG darauf ankommt, ob es um die Feststellung von Folgen einer WDB geht, die bereits während des Wehrdienstes vorgelegen haben oder die erst nach dessen Ende aufgetreten sind(zuletzt Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VS 2/09 R - SozR 4-3200 § 88 Nr 4). An dieser Rechtsprechung ist für die bis zum 31.12.2014 geltende Rechtslage festzuhalten. Ihre Begründung liegt in der untrennbaren Verbindung der beiden auf der Grundlage des § 85 SVG zu erlassenden Verwaltungsakte iS des § 31 SGB X: zum einen über die Feststellung von Gesundheitsstörungen als Folgen einer WDB, zum anderen über die Gewährung einer Leistung (Ausgleich) wegen der Folgen der WDB(BSG, aaO RdNr 36 mwN). Beide nach § 85 SVG ergehenden Verwaltungsakte beziehen sich ausschließlich auf die Zeit des Wehrdienstverhältnisses(BSG, aaO RdNr 37 mwN). Da im vorliegenden Fall für diesen Zeitraum nach dem oben Gesagten keine Leistungen mehr zu erbringen sind, besteht auch keine Zuständigkeit der Beigeladenen zur Feststellung weiterer Folgen einer WDB (mehr).

13

2. Materielle Rechtsgrundlage für die vom Kläger geltend gemachten Versorgungsansprüche ist daher hier § 80 S 1 SVG. Danach erhält ein Soldat, der eine WDB erlitten hat, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der WDB auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Den Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, dass der Kläger über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren Soldat der Bundeswehr war, dass sein Wehrdienstverhältnis mit Ablauf des Monats April 1997 geendet und er einen Versorgungsantrag gestellt hat.

14

Der Begriff der WDB bezeichnet eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist (§ 81 Abs 1 SVG). Hintergrund dessen ist, dass ein schädigender Vorgang in diesen drei Fällen in einem derart engen inneren Zusammenhang zum Wehrdienst steht, dass die Zuerkennung eines Versorgungsanspruchs gerechtfertigt erscheint (vgl Lilienfeld in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 81 RdNr 7). Versorgungsrechtlich relevante gesundheitliche Folgen einer solchen WDB sind bleibende Gesundheitsstörungen, die mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Primärschädigung zurückzuführen sind (§ 81 Abs 6 SVG). Durch diese gesetzlichen Bestimmungen ist nach einhelliger Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum für die Anerkennung von Schädigungsfolgen eine dreigliedrige Kausalkette vorgegeben: Ein mit dem Wehrdienst zusammenhängender schädigender Vorgang muss zu einer primären Schädigung geführt haben, die wiederum die geltend gemachten Schädigungsfolgen bedingt haben muss. Dabei müssen sich die drei Glieder selbst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lassen, während für den ursächlichen Zusammenhang eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreicht (siehe zum Ganzen BSG Urteile vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 16 und vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - SozR 3-3200 § 81 Nr 16 = Juris RdNr 14 ff mwN).

15

a) Mit seinem Bescheid vom 19.12.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 hat der Beklagte den Eintritt einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse seit Erlass seines Bescheids vom 8.6.2001 gemäß § 48 SGB X verneint. Gemäß § 48 Abs 1 S 1, 2 Nr 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist; handelt es sich um eine Änderung zugunsten des Betroffenen, soll die Neufeststellung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an erfolgen. Das wäre ua der Fall, wenn bei dem Kläger zwischenzeitlich eine neue WDB-Folge aufgetreten wäre.

16

Ausdrücklich hat der Beklagte die Anerkennung des 2005 diagnostizierten Harnblasentumors als Folge einer WDB abgelehnt. Die Frage, ob dieser - wie vom Kläger angenommen - auf die 1988 durchgeführte Strahlentherapie zurückzuführen ist, kann der Senat nicht beantworten. Ebenso wie hinsichtlich der im Oktober 2005 operativ behandelten Bauchspeicheldrüsenerkrankung und der dabei festgestellten Dünndarmverwachsungen fehlt es an den dazu nötigen Feststellungen des LSG zu deren Ursachen.

17

Entgegen der Ansicht des LSG lässt sich jedoch nicht schon das Vorliegen eines den Versorgungsschutz begründenden Tatbestands als Ausgangspunkt der Kausalkette verneinen. Vielmehr ist die vom Kläger angenommene Ursache seiner Gesundheitsstörungen, die 1988 durchgeführte Strahlentherapie, unter äußeren Umständen erfolgt, die zu den dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnissen zählen.

18

aa) Zu Recht hat das LSG allerdings eine sachliche Prüfung des Tatbestands einer WDB vorgenommen. Zwischen den Beteiligten steht nicht etwa schon aufgrund der Bestandskraft des Bescheids des Beklagten vom 8.6.2001 gemäß § 77 SGG bindend fest, dass die 1988 erfolgte linksseitige Hodenresektion (mit Kobaltnachbestrahlung) eine WDB darstellt, so dass deren nachteilige gesundheitliche Auswirkungen ohne weiteres Folgen einer WDB wären. Derart weit reicht die Bindungswirkung des genannten Verwaltungsakts nicht, weil sich dessen Verfügungssatz auf die Feststellung vorliegender Folgen einer WDB beschränkt. Selbst wenn in der Bezeichnung solcher bleibender Gesundheitsstörungen auf eine Ursache Bezug genommen wird - wie hier hinsichtlich des chronischen Leistenschmerzes - dient dies nur der näheren Beschreibung der anerkannten Schädigungsfolge. Eine rechtsverbindliche Feststellung dieser Ursache ist damit ebenso wenig verbunden wie deren rechtliche Bewertung als WDB mit Bindungswirkung für eventuell später auftretende andere Gesundheitsnachteile (eingehend dazu schon das Senatsurteil vom 14.3.1972 - 9 RV 388/71 - SozR Nr 84 zu § 1 BVG = Juris RdNr 29 ff).

19

bb) Alle Beteiligten gehen zutreffend davon aus, dass in Ansehung der 1988 durchgeführten Strahlentherapie die Voraussetzungen der 3. Variante des § 81 Abs 1 SVG erfüllt sind. Die einem Soldaten in Erfüllung seines Anspruchs auf unentgeltliche Heilfürsorge zugewandte ärztliche Behandlung gehört zu den dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnissen. Mit diesem Tatbestandsmerkmal sind schon nach seinem Wortlaut alle Umstände bezeichnet, die die Lebensumstände eines Soldaten von denen der Zivilbevölkerung unterscheiden. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zu den §§ 80 bis 84 und 88 des SVG(SVGVwV, veröffentlicht im BAnz 1981 Nr 151 S 6) spricht treffend von "den besonderen, von den Verhältnissen des zivilen Lebens abweichenden und diesen in der Regel fremden Verhältnissen des Wehrdienstes" (unter 81.1.2). Die Senatsrechtsprechung stellt auf Umstände ab, "die der Eigenart des Dienstes entsprechen und im Allgemeinen eng mit dem Dienst verbunden sind" (siehe nur Urteile vom 5.7.2007 - B 9/9a VS 3/06 R - BSGE 99, 1, 7 = SozR 4-3200 § 81 Nr 3 = Juris RdNr 27 und vom 28.5.1997 - 9 RV 28/95 - BSGE 80, 236, 238 = SozR 3-3200 § 81 Nr 14 = Juris RdNr 16). Der Tatbestand des § 81 Abs 1 SVG erfasst damit alle Einflüsse des Wehrdienstes, die aus der besonderen Rechtsnatur dieses Verhältnisses und insbesondere der damit verbundenen Beschränkung der persönlichen Freiheit des Soldaten herrühren. Letztere erlangt etwa bei der Kasernierung nach § 18 Soldatengesetz (SG) oder bei der Pflicht zur Kameradschaft gemäß § 12 SG praktische Bedeutung.

20

Nach jahrzehntelanger ständiger Rechtsprechung des Senats gehören insbesondere auch die Besonderheiten der truppenärztlichen Behandlung zu den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen iS des § 81 Abs 1 SVG. Ein deutlicher Unterschied zum Zivilleben besteht hier insoweit, als der Soldat dabei keine freie Arztwahl hat (zuletzt BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9a V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3 = Juris RdNr 24; ferner etwa BSG Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 19 unter Hinweis auf BSGE 57, 171 = SozR 3200 § 81 Nr 20; BSG SozR 3-3200 § 81 Nr 17; ähnlich zuvor bereits das Reichsversorgungsgericht in stRspr seit RVGE 2, 38). Stattdessen bedient sich der Staat eigenen medizinischen Personals und eigener Behandlungseinrichtungen. Sinn und Zweck des Versorgungsschutzes bei truppenärztlicher Behandlung ist es demzufolge, die Risiken abzudecken, die der Soldat bei freier Arztwahl hätte vermeiden können (vgl BSG Urteile vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 22 und vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 26/89 - USK 9149 = Juris RdNr 18). Auf diese Weise erhält dieser einen Ausgleich dafür, dass er im Regelfall darauf angewiesen ist, die freie Heilfürsorge gemäß § 30 Abs 1 SG iVm § 69 Abs 2 Bundesbesoldungsgesetz (BBesG) in Anspruch zu nehmen. Zudem dient die truppenärztliche Behandlung aber auch zur Einhaltung der gesteigerten soldatischen Pflicht zur Erhaltung oder Wiederherstellung seiner Gesundheit (§ 17 Abs 4 SG). In diesem Rahmen ist das Behandlungsverhältnis auch nach wie vor von dem wehrdiensteigentümlichen Über-/Unterordnungsverhältnis durch Befehl und Gehorsam geprägt (BSG Urteil vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 26/89 - USK 9149 = Juris RdNr 18). Der Truppenarzt ist Dienstvorgesetzter gegenüber den von ihm behandelten Soldaten. Demgegenüber ist ein ziviler Arzt zu jedem Zeitpunkt an die Vorgaben seines Patienten gebunden. Angesichts dieser rechtlichen Rahmenbedingungen ist es für die Beurteilung der Wehrdiensteigentümlichkeit - entgegen der Auffassung des LSG - ohne Belang, ob der Soldat sich der truppenärztlichen Behandlung "nur widerstrebend" unterzogen hat oder nicht. Dies mag allenfalls ein im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung verwertbares Indiz für einen abweichenden hypothetischen Geschehensablauf im zivilen Leben des Betroffenen sein (in diesem Sinne schon BSG Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 25).

21

Die Umstände des vorliegenden Falls und die Argumente des LSG geben dem Senat keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung, die auch in der Literatur durchweg Zustimmung gefunden hat (siehe nur Gelhausen, Soziales Entschädigungsrecht, 2. Aufl 1998, RdNr 597; Lilienfeld aaO § 81 RdNr 42 ff; Sailer in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, S 1079 f), abzuweichen. Die freie Heilfürsorge und der damit verbundene Ausschluss der freien Arztwahl gehören zu den markantesten Unterschieden, die den Soldaten von der Zivilbevölkerung unterscheiden. Hinzu kommt, dass dieser Umstand nicht nur die Dienstausübung betrifft, sondern einen der privatesten Lebensbereiche, die Aufrechterhaltung der Gesundheit.

22

Soweit das LSG seine gegenteilige Ansicht auf eine Parallele zu den Beschränkungen in der Arztwahl stützt, denen in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherte ausgesetzt sind, vermag dies den Senat nicht zu überzeugen. Zwar weist das LSG zu Recht darauf hin, dass Sachleistungen der Krankenkassen nur bei zugelassenen Leistungserbringern in Anspruch genommen werden können. Damit ist jedoch keine auch nur annähernd vergleichbare Einschränkung verbunden, wie sie der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung nach § 69 Abs 2 BBesG immanent ist.

23

Das LSG kann sich auch nicht auf die von ihm angeführte Entscheidung des 4b-Senats des BSG vom 24.3.1987 (Az 4b RV 13/86 - SozR 3200 § 81 Nr 27) stützen. Dort ist der Sachverhalt einer mit Einwilligung des Soldaten erfolgten Behandlung durch zivile Ärzte in einem zivilen Krankenhaus nicht als Fall einer truppenärztlichen Behandlung angesehen worden. Aus diesem Grund hat der 4b-Senat seinerzeit ausdrücklich von einer Stellungnahme zu der insoweit einschlägigen Rechtsprechung des Senats abgesehen. Dadurch handelt es sich um einen Sonderfall, der nicht der hier gegebenen Konstellation entspricht. Wollte man diesen Unterschied im Tatsächlichen nicht als tragend ansehen, wäre der Differenzierung des 4b-Senats die Grundlage entzogen und dessen (unter dieser Prämisse in einem Grenzbereich von der Rechtsprechung des Senats abweichende) Auffassung aufzugeben.

24

Demgegenüber vermengt der argumentative Lösungsansatz des LSG die objektive Tatbestandsvoraussetzung des Vorliegens wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse mit der haftungsbegründenden Kausalität. Dem Verständnis des erstgenannten Rechtsbegriffs wird im Berufungsurteil gewissermaßen eine abstrakt-generelle Kausalitätsprüfung unterlegt: Der Ausschluss der freien Arztwahl wird vom LSG als unzureichend für die Bejahung wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse angesehen, weil er nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht mit einem erhöhten Risiko gesundheitlicher Schädigungen einhergehe. Darauf kommt es allerdings rechtlich nicht an (ebenso bereits BSG Urteile vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 26/89 - USK 9149 = Juris RdNr 17 und vom 13.7.1988 - 9/9a RV 4/86 - SozR 3200 § 81 Nr 31 = Juris RdNr 17). Haftungsgrund der 3. Variante des § 81 Abs 1 SVG ist nicht die Schaffung besonderer Gefahren, die dem zivilen Leben fremd sind. Vielmehr gewährt der Staat - in Anerkennung eines besonderen Aufopferungsanspruchs - Versorgung, wenn eine Schädigung in einem engen inneren Zusammenhang zum Wehrdienst steht. Die Frage, ob eine truppenärztliche Behandlung zu den Eigentümlichkeiten des Wehrdienstes gehört, ist - rechtlich ebenso wie praktisch - von der Frage zu trennen, welche Folgen im Einzelfall ggf auf diese Besonderheit zurückzuführen sind.

25

Diese Abgrenzung ist auch keineswegs "lediglich akademischer Art", wie das LSG meint. Vielmehr hängt davon nach dem oben dargelegten Aufbau des Tatbestands von § 81 Abs 1 SVG das erforderliche Beweismaß ab. Während für Tatsachen, die für die Bejahung wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse relevant sind, der Vollbeweis erforderlich ist, genügt (auch) für die haftungsbegründende Kausalität die Wahrscheinlichkeit (BSG Urteile vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 16 und vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - SozR 3-3200 § 81 Nr 16 = Juris RdNr 14 ff mwN). Die Frage nach den Auswirkungen einer truppenärztlichen Behandlung im Einzelfall ist in der Senatsrechtsprechung aber stets als entscheidend angesehen worden (explizit etwa BSG Urteile vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 20 und vom 28.6.1968 - 9 RV 604/65 - BSGE 28, 145, 146 = SozR Nr 31 zu § 30 BVG = Juris RdNr 15). Indem das LSG dem Kläger die ihm durch § 81 SVG eröffnete Möglichkeit verwehrt, einen schädigenden Kausalverlauf (nur) wahrscheinlich machen zu müssen(zu den Anforderungen noch unter cc), verletzt das Berufungsurteil Bundesrecht.

26

Der Kläger befand sich zur Behandlung seines Hodentumors durchgehend in truppenärztlicher Behandlung. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die während des stationären Aufenthalts des Klägers im Bundeswehrzentralkrankenhaus K erfolgte Strahlenbehandlung nach den Feststellungen des LSG von zivilen Ärzten im Städtischen Krankenhaus K
durchgeführt worden ist (siehe zu einer solchen Konstellation schon BSG Urteil vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 26/89 - USK 9149 = Juris RdNr 18). Denn auch dieser Teil der Therapie erfolgte im Rahmen der dem Kläger von seinem Dienstherrn zugewandten freien Heilfürsorge. Die Überweisung erfolgte durch die behandelnden Militärärzte, ohne dass der Kläger - in Ausübung einer freien Arztwahl - darauf hätte Einfluss nehmen können. Die Gesamtbehandlung stand unter der medizinischen Verantwortung der Ärzte des Bundeswehrzentralkrankenhauses K, in dem der Kläger fortdauernd stationär behandelt wurde. Diese waren auch tatsächlich in der Lage, durch Weisungen Einfluss auf die streitgegenständliche Strahlentherapie zu nehmen.

27

Ebenso wenig steht dem Versorgungsschutz aufgrund der truppenärztlichen Behandlung entgegen, dass der seinerzeit therapierte Hodentumor des Klägers nach den Feststellungen des LSG eine schicksalhafte Erkrankung darstellte, die in keinem Zusammenhang mit dem Wehrdienst stand. Die Ursache eines Leidens spielt für die Inanspruchnahme der freien Heilfürsorge durch einen Soldaten keine Rolle. Deren nach dem oben Gesagten zu den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen zählende Besonderheiten betreffen jede Heilbehandlung durch Militärärzte. Wirken sie sich gesundheitsschädigend aus, wird dadurch ein Versorgungsanspruch begründet (siehe nur BSG Urteil vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 22/89 - BSGE 68, 128, 129 = SozR 3-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 11).

28

cc) Da das LSG - nach seiner Rechtsauffassung folgerichtig - weder festgestellt hat, ob es beim Kläger zu einer weiteren WDB iS des § 81 Abs 1 SVG gekommen ist, also einer (primären) gesundheitlichen Schädigung, die durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist, noch darüber befunden hat, ob seit Erlass des Bescheids vom 8.6.2001 durch den Beklagten (weitere) Gesundheitsstörungen iS des § 81 Abs 6 SVG aufgetreten sind, für die eine WDB oder darauf beruhende Schädigungsfolgen mit (hinreichender) Wahrscheinlichkeit ursächlich im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung gewesen ist, ist eine Zurückverweisung unumgänglich. Wahrscheinlich ist ein solcher Ursachenzusammenhang, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt jedoch nicht.

29

Daher ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die durchgeführte Behandlung an sich überhaupt mit Wahrscheinlichkeit conditio sine qua non für die eingetretene Gesundheitsschädigung ist, oder ob sich letztere wahrscheinlich auch ohne sie eingestellt hätte. Dabei handelt es sich um eine rein tatsächliche Frage, die aus der nachträglichen Sicht (ex post) nach dem jeweils neuesten anerkannten Stand des Fach- und Erfahrungswissens über Kausalbeziehungen (ggf unter Einholung von Sachverständigengutachten) beantwortet werden muss (dazu zuletzt BSG Urteil vom 26.6.2014 - B 2 U 4/13 R - Juris RdNr 25 mwN).

30

Sodann ist die reine Rechtsfrage nach der "Wesentlichkeit" der versorgungsrechtlich geschützten Ursache zu beantworten. Maßgebend für diese Zurechnung ist der Schutzzweck der Norm, hier also die Entschädigung eines Zustands, der "durch" die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist. Daher sind versorgungsrechtlich nicht alle (wahrscheinlichen) Folgen der beim Kläger erfolgten Strahlentherapie zu berücksichtigen, sondern nur solche Primärschäden und darauf beruhende spätere Gesundheitsstörungen, die gerade auf den Besonderheiten der truppenärztlichen Behandlung (also insbesondere der Behandlung durch Militärärzte in eigenen Einrichtungen im Rahmen eines Über-/Unterordnungsverhältnisses unter Ausschluss der freien Arztwahl) beruhen. Andernfalls käme es zu einer ungerechtfertigten Besserstellung von Soldaten, die im Rahmen der freien Heilfürsorge behandelt werden, gegenüber allen anderen Patienten, weil erstere auch einen Haftungsschuldner für unvermeidbare Nebenwirkungen einer unumgänglichen Therapie hätten. Die wehrdiensteigentümlichen Besonderheiten der truppenärztlichen Versorgung sind demnach keine wesentliche (Mit-)Ursache einer gesundheitlichen Schädigung eines Soldaten, die auch bei freier Arztwahl in jedem anderen Krankenhaus eingetreten wäre. Typische Fälle einer wesentlichen Schädigung sind demgegenüber Behandlungsfehler oder eine unzureichende Aufklärung über alle Behandlungsrisiken (siehe zum Ganzen BSG Urteile vom 12.4.2000 - B 9 VS 2/99 R - SozR 3-1750 § 411 Nr 1 = Juris RdNr 17 und vom 4.10.1984 - 9a/9 KLV 1/81 - BSGE 57, 171, 178 = SozR 3200 § 81 Nr 20 = Juris RdNr 20 ff). Der Senat hat jedoch auch schon einen Anspruch auf Versorgung zuerkannt, wenn die eingetretene Schädigung nicht auf einem schuldhaften Kunstfehler beruhte, der einen zivilen Schadensersatzanspruch begründen würde, sondern eine sachgerechte Behandlungsmethode lege artis durchgeführt wurde (Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 25). Um dem Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit gerecht zu werden, reicht es dann aber nicht aus, wenn nur nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei freier Arztwahl die konkrete Schädigung in dieser Form nicht eingetreten wäre (so aber noch BSG Urteil vom 30.1.1991 - 9a/9 RV 26/89 - USK 9149 = Juris RdNr 18). Vielmehr ist zu fordern, dass ein anderer Arzt (mit anderer Behandlungsmethode) wahrscheinlich einen besseren Heilerfolg erzielt hätte. Denn erst aus dem Vergleich des tatsächlichen und des hypothetischen Behandlungsergebnisses lässt sich ersehen, welche Folgen tatsächlich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Besonderheiten der truppenärztlichen Behandlung zurückzuführen sind (vgl BSG Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1 = Juris RdNr 22). Nur diese Risiken, die sich bei freier Arztwahl hätten vermeiden lassen, soll der Versorgungsschutz abdecken. Zur Beantwortung dieser Zurechnungsfrage wird das LSG alle maßgebenden Umstände des Einzelfalls festzustellen haben.

31

b) Mit seinem Bescheid vom 4.9.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.1.2009 hat der Beklagte eine Rücknahme seines Bescheids vom 8.6.2001 gemäß § 44 Abs 1 SGB X abgelehnt. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Das wäre ua der Fall, wenn bei dem Kläger bereits zum Zeitpunkt der bestandskräftig gewordenen Verwaltungsentscheidung des Beklagten vom 8.6.2001 eine weitere WDB-Folge festzustellen gewesen wäre.

32

Ausdrücklich hat der Beklagte die Anerkennung der 2001 bereits seit Jahren aufgetretenen und behandelten Rückenschmerzen abgelehnt. Die Frage, ob diese - wie vom Kläger angenommen - auf die 1988 durchgeführte Strahlentherapie zurückzuführen sind, kann der Senat nicht beantworten. Ebenso wie hinsichtlich der bereits während der aktiven Dienstzeit des Klägers röntgenologisch nachgewiesenen Strahlenfibrose fehlt es an den dazu nötigen Feststellungen des LSG zu deren Ursachen.

33

Allerdings ist gegen die Einschätzung des LSG, die (bloße) Aufrechterhaltung der Rückenschmerzen im Sinne der Senatsrechtsprechung zur Verursachung eines mangelnden Heilerfolgs durch fehlerhafte truppenärztliche Behandlung (Urteil vom 25.3.2004 - B 9 VS 1/02 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 1)könne im vorliegenden Fall nicht (mehr) berücksichtigt werden, revisionsrechtlich nichts einzuwenden. Nach dem oben unter 1. Gesagten zutreffend ist das LSG insoweit davon ausgegangen, dass der für das Überprüfungsverfahren gemäß § 44 SGB X relevante Zeitraum erst am 1.1.2002 beginnt. Das LSG ist aufgrund der zeitlichen Abläufe zu der Überzeugung gelangt, dass die Ende April 1997 beendete truppenärztliche Behandlung des Klägers in dieser Zeit nicht mehr im Sinne einer rechtlich wesentlichen (Mit-)Ursache nachgewirkt hat. Dagegen hat der Kläger keine durchgreifenden Verfahrensrügen erhoben.

34

Dagegen leidet die Ablehnung der Herbeiführung einer WDB durch dem Wehrdienst eigentümliche Verhältnisse durch das LSG bezüglich der bereits während der Dienstzeit des Klägers aufgetretenen Leiden (Rückenschmerzen, Strahlenfibrose) an demselben Rechtsfehler wie seine Entscheidung über die später aufgetretenen möglichen WDB-Folgen, die nach § 48 SGB X zu berücksichtigen wären. Insoweit kann auf das oben unter a) Gesagte verwiesen werden. Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch hier prüfen müssen, ob die Besonderheiten der truppenärztlichen Behandlung als wehrdiensteigentümliche Verhältnisse mit Wahrscheinlichkeit zur Entstehung der genannten Beeinträchtigungen geführt haben. Zu diesem Ursachenzusammenhang wird das LSG noch weitere tatsächliche Feststellungen zu treffen und ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.

2

Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.

3

Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.

4

Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.

5

Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.

6

Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.

7

Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.

8

Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.

9

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.

10

Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).

11

Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.

12

Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.

13

Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.

14

In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.

15

Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.

16

In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.

17

Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.

18

Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.

19

Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.

20

Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.

21

Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).

22

Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.

23

Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.

24

Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.

25

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.

26

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

27

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.

28

Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.

Entscheidungsgründe

29

1. Die Revision des Klägers ist zulässig.

30

a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.

31

Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.

32

b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.

33

2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.

34

a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).

35

           

b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:

Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 

4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,

eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

        

Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

        
36

aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).

37

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).

38

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

39

bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

40

           

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):

        

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

41

Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS , Einleitung zur VersMedV, S 5), sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.

42

cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

43

Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.

44

c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.

45

aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25 ) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.

46

Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".

47

Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.

48

bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.

49

           

aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:

So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.

50

           

Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

51

In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).

52

Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.

53

           

Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:

        

Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.

54

           

Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:

        

Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.

55

           

Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:

        

Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.

56

           

Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:

        

Geringe Lokalreaktion,

57

           

enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:

        

Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.

58

           

In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):

        

Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.

Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.

In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.

Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.

59

           

bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:

        

Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.

60

Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.

61

Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.

62

Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.

63

d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.

64

aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.

65

bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.

66

Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

67

aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.

68

Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.

69

Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.

70

bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.

71

ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.

72

e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

73

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 15. Juni 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Versorgung nach dem Impfschadensrecht gemäß §§ 60 ff. Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Die Klägerin, der ein Grad der Behinderung von 100 wegen einer geistigen Behinderung, eines Anfallsleidens und Autismus sowie die Merkzeichen B, G, H zuerkannt sind, wurde am Ende der 40. Schwangerschaftswoche am 30.11.1994 geboren. Der APGAR-Wert erreichte 10. Eine Fruchtwasserpunktion noch während der Schwangerschaft blieb unauffällig. Im Untersuchungsbefund der U2 vom 05.12.1994 ist von Dr. H. ein Opisthotonus vermerkt.

In der Karteikarte über die Klägerin ist beim damals behandelnden Kinderarzt A. am 03.01.1995 „öfter Opisthotonus“ und am 08.03.1995 „Hochtonrassel beidseits negativ, Klatschen links besser als rechts“ vermerkt. Wegen Verdachts auf Schwerhörigkeit seien die Eltern nach E-Stadt zur weiteren Diagnostik verwiesen worden. In der Uniklinik E-Stadt wurde im Rahmen der Anamnese am 14.05.1996 ein seit einem Alter von 3 Monaten wechselnder Verdacht auf Schwerhörigkeit angegeben.

Vom Gesundheitsamt F-Stadt befragt, gab der damals behandelnde Kinderarzt Herr A. zu den Untersuchungen U3 und U4 am 03.01.1995 und 06.03.1995 an, dass ihm bei der U3 eine gewisse Opisthotonushaltung aufgefallen sei. Da der Schädel aber okzipital betont gewesen sei, habe er dies damals nicht als eindeutig pathologisch eingestuft. Bei der U4 sei ihm aufgefallen, dass das Kind auf die Hochtonrassel nicht reagiert habe.

Die erste Impfung gegen Tetanus, Diphtherie und HiB und Polio erfolgte am 20.03.1995 durch die Ärztin Dr. K., die zweite diesbezügliche Impfung am 04.05.1995.

17 Tage nach der zweiten Impfung, am 21.05.1995, stellte sich bei der Klägerin ein tonischer Adversivkrampf während des Stillens ein. Im Rahmen des anschließenden Krankenhausaufenthalts im Klinikum B-Stadt wurde bei der entwicklungs-neurologischen Untersuchung ein grenzwertiger Befund mit Zeichen einer Entwicklungsretardierung um 1-2 Monate festgestellt und der Verdacht auf ein fokales Anfallsleiden geäußert. Eine Meldung der Erkrankung als Verdachtsfall einer unerwünschten Arzneimittelwirkung erfolgte nicht.

In der am 06.06.1995 durchgeführten craniellen Kernspintomographie zeigte sich eine diskrete Betonung der äußeren Liquorräume beidseits über der frontalen Konvexität sowie perisylvisch bis temporopolar ausgedehnt. Am 21.05.1996 erfolgte die dritte Impfung gegen Tetanus und Diphterie. Nach der Vorstellung in der Kinderarztpraxis am 13.06.1996 wurde der Verdacht auf eine Wahrnehmungsstörung mit autistischen Zügen geäußert. In der daraufhin veranlassten Vorstellung in der neuropädiatrischen Ambulanz der Uniklinik E-Stadt am 01.07.1996 ergab sich aber kein Befund.

Bei der U5 am 29.06.1995 wurden Krampfanfälle berichtet.

Am 08.07.1996 wurden eine Hib-Impfung und die dritte Polioimpfung durchgeführt.

Bei der U6 am 21.11.1995 wurden wieder Krampfanfälle berichtet.

Bei der U7 am 04.12.1996 wurde dann bei weiterhin auftretenden Krampfanfällen und einer Entwicklungsverzögerung eine allgemeine mentale Retardierung festgestellt.

Am 30.01.2001 wurde beim Amt für Versorgung und Familienförderung Bayreuth (Beklagter) ein Antrag auf Beschädigtenversorgung wegen eines Impfschadens gestellt, wobei die 2. Impfung am 04.05.1995 verantwortlich gemacht wurde. Im vorgelegten Impfausweis der Klägerin sind die Chargennummern nur für die Impfungen am 20.03.1995 und 21.05.1996, nicht aber für die Impfung am 04.05.1995, angegeben.

Am 11.03.2002 wurden die Eltern der Klägerin einvernommen. Diese sagten aus, dass sie nach der ersten Impfung keine Hautrötung oder Fieber hätten feststellen können. Im Nachhinein habe es aber bereits auch nach der ersten Impfung Verhaltensauffälligkeiten gegeben, wobei aufgrund des Zeitablaufes keine exakten Angaben mehr gemacht werden könnten. So könne nicht mehr gesagt werden, was in diesen Abstand von fünf Wochen falle und was erst nachher aufgetreten sei. Nach der ersten Impfung habe es Schwierigkeiten beim Trinken gegeben und der Blickkontakt sei nicht mehr so wie früher gewesen. Auch Schlafprobleme habe es bereits damals gegeben, dies könne aber zeitlich nicht mehr genau eingeordnet werden; deutlich auffällig sei dies erst nach der zweiten Impfung gewesen. Ein vermehrter Speichelfluss sei ihnen erst nach der zweiten Impfung aufgefallen, wobei sie nicht mehr genau sagen könnten, ob dies bereits schon nach der ersten Impfung der Fall gewesen sei. Auch nach der zweiten Impfung sei ihnen weder eine Hautrötung an der Impfstelle aufgefallen noch habe die Klägerin Fieber gehabt. Ein paar Tage nach der zweiten Impfung sei ihnen ein verändertes Trinkverhalten aufgefallen, der wechselnde Blickkontakt und Ähnliches. Die bemerkten Verhaltensänderungen hätten sie einmal zusammengestellt. Eine diesbezügliche Aufstellung würden sie zur Akte geben (auf Bl. 181 der Beklagtenakte wird insoweit hingewiesen). Die Verhaltensänderungen seien schleichend aufgetreten. Es sei nicht so extrem gewesen, dass ihnen dies sofort als abseits der Norm aufgefallen wäre und dass sie extra deswegen nach ärztlicher Hilfe nachgesucht hätten. Am 21.05.1995 sei es dann beim Stillen zu besagtem Krampfanfall gekommen.

Im versorgungsärztlichen Gutachten des Facharztes für Neurologie B. vom 07.08.2002 wurde das Vorliegen eines Impfschadens verneint. Die Versorgungsärzte Dr. K. und Dr. H. stimmten dieser Einschätzung zu. In einer weiteren Besprechung des Beklagten mit den Eltern am 20.03.2003 gaben diese auch der 1. Impfung am 20.03.1995 die Schuld am Gesundheitszustand ihrer Tochter.

Der Beklagte holte eine Stellungnahme des P.-E.-Instituts (PEI) ein, die am 02.04.2003 von Dr. K. H. erteilt wurde. Nach der Meldung der Eltern über den Verdachtsfall einer unerwünschten Arzneimittelwirkung sei der Fall dahingehend eingestuft worden, dass der Kausalzusammenhang zwischen der Impfung und dem klinischen Schädigungsbild möglich erscheine. Der Versorgungsarzt Dr. K. verneinte am 15.04.2003 das Vorliegen eines Impfschadens.

Mit Bescheid vom 08.05.2003 (Widerspruchsbescheid vom 11.11.2004) lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem IfSG ab. Dagegen hat die Klägerin am 09.12.2004 Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben.

Das SG hat ein mikrobiologisches Gutachten von Prof. Dr. J. vom 14.02.2008 eingeholt, der zu dem Ergebnis gekommen ist, dass das bei der Klägerin vorliegende Krankheitsbild mit autistischen Zügen, einer Epilepsie und einer schwerwiegenden Entwicklungsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Impffolge sei. Die von den Eltern angegebenen Funktionsstörungen nach der 1. und 2. Impfung könnten durchaus die üblichen Nebenwirkungen einer oder mehrerer der vier applizierten Impfungen gewesen sein. Offenbar seien sie im Fall der Klägerin auch nicht besonders schwerwiegend gewesen, denn sonst wäre die 2. Impfserie mit Sicherheit nicht vorgenommen worden. Ein wie auch immer gearteter Hinweis auf spätere Erkrankungen als Folge der Impfung ergebe sich daraus mit Sicherheit nicht. Andererseits hätte es möglicherweise bereits in den ersten Lebensmonaten der Klägerin diskrete Hinweise auf eine Entwicklungsstörung, so den Opisthotonus und den zweimal geäußerten Verdacht auf eine Hörstörung gegeben. Der weitere Verlauf lasse durchaus die Vermutung zu, dass hier schon die ersten Anzeichen der Erkrankung zu Tage getreten seien - also vor der 1. Impfung.

Der im Folgenden von der Klägerin gegen Prof. Dr. J. gestellte Antrag auf Besorgnis der Befangenheit ist mit Beschluss des SG vom 31.08.2010 als unbegründet abgelehnt worden (Az. S 4 SF 19/10).

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist im Folgenden ein Gutachten von Dr. H. vom 28.05.2009 und im Weiteren von diesem noch eine ergänzende Stellungnahme vom 05.12.2009 eingeholt worden. Dr. H. ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass der bei der Klägerin vorliegende schwere Hirnschaden wahrscheinlich durch die verabreichten Impfungen verursacht worden sei. Werte man die Verhaltensauffälligkeiten nach der ersten Impfung, die von den Eltern beobachtet und nicht vom Arzt dokumentiert worden seien, als Beginn der zerebralen Symptomatik, so könne sogar von einem gesicherten Zusammenhang bei positivem Re-Expositionsversuch ausgegangen werden. Der zeitliche Verlauf, neue Erkenntnisse über die Toxizität der verwendeten Impfstoffe und das Fehlen alternativer Ursachen sprächen im Falle der Klägerin für eine solche Einschätzung. Die Entwicklungsstörung des Gehirns der Klägerin gehe über das Maß einer üblichen Impfreaktion bei weitem hinaus und sei als seltene, aber bekannte Komplikation der inaktivierten Impfstoffe DT und HiB zu betrachten. Eine Anerkennung käme auch im Wege der Kann-Versorgung in Betracht, da der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über solche Impfkomplikationen wie bei der Klägerin mit Sicherheit noch lückenhaft sei. Im Einzelnen hat Dr. H. auf eine durch aktuelle experimentelle Untersuchungen belegte neurotoxische Wirkung sowohl von Thiomersal als auch von aluminiumhaltigen Adjuvantien der Impfstoffe hingewiesen, die bei vorhandener Disposition der Klägerin eine langsam einsetzende Störung der Hirnentwicklung bewirkt hätte. Von Beklagtenseite sind dagegen versorgungsärztliche Stellungnahmen von Dr. K. vom 31.07.2008, 29.08.2008, 17.07.2009, 08.01.2010 und von Dr. S. vom 10.02.2011 vorgelegt worden.

Im vor dem SG stattgefundenen Erörterungstermin am 28.10.2010 hat der Vater der Klägerin eine Kopie der Karteikarte der die Klägerin behandelnden Ärztin Dr. K. vorgelegt, auf der anlässlich der 1. Impfung am 20.03.1995 die Chargennummer für den Impfstoff 90064 vermerkt ist, der sich aus dem bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegten Impfausweis ebenso entnehmen lässt wie dem dort bereits vorgelegen Karteikartenauszug. Durchgeführte Ermittlungen des SG zu der im Rahmen der 2. Impfung verwandten Charge haben das Ergebnis erbracht, dass sich weder dem vorliegenden Impfbuch noch dem Karteikartenauszug die Chargennummer entnehmen lässt. Auf Nachfrage bei der damals impfenden Ärztin Dr. K. hat deren Sohn dem SG am 09.12.2010 mitgeteilt, dass Dr. K. seit einem Schlaganfall im Juli 2009 nicht mehr in der Lage sei, Auskünfte zu erteilen. Der Praxisnachfolger von Dr. K., Dr. F., hat auf Nachfrage des SG darauf hingewiesen, dass es bei den Vorgängerinnen seiner Praxis Usus gewesen sei, die Nummer bei Chargengleichheit nur einmal zu notieren.

Mit Schreiben vom 15.02.2011 hat das SG die Beteiligten zu der Absicht angehört, den Rechtstreit ohne mündliche Verhandlung per Gerichtsbescheid zu entscheiden, womit sich beide Beteiligten einverstanden erklärt haben. Mittels Gerichtsbescheid vom 15.06.2011 hat das SG die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass der Vollbeweis einer Impfkomplikation schon nicht erbracht sei. Der tonische Adversivkrampf während des Stillens am 21.05.1995 könne dafür nicht herangezogen werden; insoweit schließe sich das SG dem Gutachten von Dr. J. an.

Dagegen hat die Klägerin am 18.07.2011 Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt, die sie im Wesentlichen mit Kritik am Gutachten von Prof. Dr. J. begründet hat, und weiter die Einholung eines Obergutachtens bzw. eines weiteren Gutachtens nach § 106 SGG und/oder § 109 SGG beantragt.

Am 29.04.2013 hat vor dem damaligen Berichterstatter ein Erörterungstermin stattgefunden.

Der Senat hat Befundberichte von den behandelnden Ärzten der Klägerin eingeholt und Prof. Dr. C. mit der Erstellung eines Gutachtens nach § 106 SGG betreut. Dieser ist in seinem Gutachten vom 13.02.2016 sowie einer ergänzenden Stellungnahme vom 27.05.2016 zu dem Ergebnis gekommen, dass es nach den klägerischen Angaben schon an einer Impfkomplikation fehle. Nach den insoweit 1995 getätigten Angaben seien keine gesundheitlichen Schädigungen aufgetreten die über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgegangen seien. 2002 seien dann zwar Symptome beschrieben worden, die von den 1995 gemachten Angaben erheblich abweichen würden, gleichwohl aber nicht im Sinne eines Vollbeweises postvakzinaler Enzephalitis oder Ähnliches angesehen werden könnten. Im Übrigen fehle es an der Kausalität. Mit deutlich überwiegender Wahrscheinlichkeit seien der Krampfanfall am 21.05.1995 und das spätere Anfallsleiden als zu erwartende Glieder der angeborenen, bereits vor Beginn der Impfserie fassbar gewordenen zerebralen Funktionsstörung/Entwicklungsstörung einzuordnen. Insoweit handele es sich inklusive Anfallsleiden um ein angeborenes, progredientes Leiden. Auch eine Verschlimmerung durch die Impfungen lasse sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit belegen, was auch für die Impfzusatzstoffe gelte. Auch die Voraussetzungen zur Anwendung der so genannten Kannversorgung lägen nicht vor. Soweit Dr. H. in seinem Gutachten eine impfbedingte protrahierte Verursachung durch die Impfstoff-Beimischungen Thiomersal und Aluminiumverbindung sehe, sei zu sagen, dass der Nachweis solcher impfbedingter neuraler Schäden bei Menschen durch diese niedrig dosierte Beimischung fehle; es handele sich insoweit angesichts derzeitigen Wissensstandes um Spekulation.

Mit Schreiben vom 20.02.2016 hat die Klägerin nochmal zu einer von ihr behaupteten Befangenheit von Prof. Dr. J. vorgetragen und im Folgenden beantragt, die Verwertung dessen Gutachten zu untersagen (Schreiben vom 30.06.2016). Per Beschluss vom 22.02.2017 hat der Senat diesen Antrag als unzulässig verworfen (Az.: L 20 SF 209/16 AB).

Am 17.05.2016 hat sich der Schutzverband für Impfgeschädigte e.V. als Bevollmächtigter der Klägerin angezeigt. Mit Schreiben vom 24.05.2016, 15.06.2016, 26.07.2016, 28.09.2016, 07.11.2016 und 28.11.2016 hat das LSG den Schutzverband für Impfgeschädigte e.V. bzw. dessen Rechtsnachfolger, den, zur Prüfung dessen Vertretungsbefugnis nach § 73 SGG um Übersendung der Satzung, Stellungnahme zu § 73 Abs. 2 S. 2 Nr. 8 SGG und weitere Auskünfte gebeten bzw. erinnert. Die begehrten Auskünfte hat der Schutzverband für Impfgeschädigte e.V. bzw. der mit Schreiben vom 09.06.2016, 30.06.2016, 19.11.2016 und 09.01.2017 erteilt. Mit Beschluss vom 22.02.2017 hat der Senat den als Bevollmächtigten der Klägerin zurückgewiesen.

Mit weiteren Schreiben vom 30.06.2016, 11.05.2017, 14.05.2017 und 17.05.2017 hat die Klägerin beantragt, die Hebamme E. J. zum Termin zu laden, die die Klägerin in den ersten Monaten nach der Geburt zuhause betreut habe und über die Entwicklung und gesundheitliche Konstitution maßgeblich Auskunft geben könne, insbesondere darüber, dass die Klägerin sich normal entwickelt habe und keine gesundheitlichen Störungen vorgelegen hätten, was die gutachterlichen Ausführungen widerlege. Der Verdacht eines Opisthotonus habe sich zudem nach Durchführung eines so genannten Voita-Testes, einer weitreichenden neurologischen Grunduntersuchung, nicht erhärtet, so dass sich diese Verdachtsdiagnose des Dr. H. nicht bestätigt habe. Aus diesem Grund sei diesem Verdacht nicht weiter nachgegangen und entsprechend der Eintragung in der Untersuchung U3 auch dem weiteren Gesundheitsverlauf nicht mehr zugeschrieben worden, weder als Verdacht noch als Diagnosestellung. Weiter werde die Ladung des Sachverständigen Prof. Dr. C. beantragt, da die in seinem Gutachten ausgeführten Inhalte dem Akteninhalt widersprächen. Im Übrigen werde dessen Qualifikation als Gutachter in Fragen von Impfstoffen als nicht erwiesen angesehen. In keinem seiner Gutachten gebe es wissenschaftliche Quellen, die seine Einzelmeinung untermauern würden. Auch sei die fehlende ambulante Untersuchung durch Prof. Dr. C. zu monieren. Weiter werde die Ladung des Kinderarztes J. A. beantragt, der am 10.02.1995 die Voita-Untersuchung durchgeführt und sowohl Opisthotonus als auch ein cerebrales Leiden ausgeschlossen habe. Zudem werde die Ladung des HNO-Arztes Dr. M. K. beantragt, der am 30.11.1994 entgegen der Ausführungen im Gutachten eine Schwerhörigkeit ausgeschlossen habe. Eine Schwerhörigkeit liege auch bis zum heutigen Tage nicht vor. Die Ladung des Dr. H. werde beantragt, damit dieser darüber Auskunft gebe, dass die Verdachtsdiagnose Opisthotonushaltung nur ein Verdacht gewesen sei, die sich bis zur U3 als nicht gegeben erwiesen habe. Zudem seien noch weitere Unterlagen beizuziehen, wie - die im Individualfall wesentlichen Dokumente und Studien, aus denen die Wirkung und Nebenwirkungen ersichtlich seien; hierunter zählen Phase - II Studien, Unbedenklichkeitserklärungen der Hersteller, die Ergebnisse der Chargenprüfungen der streitgegenständlichen Chargenfreigabeprotokolle, das Zertifikat der Zulassungsbehörde(n), den Bescheid des PEI zur Freigabe der Chargen, die Zulassungsunterlagen des regulären Zulassungsverfahrens - Erstzulassung eventuell Rücknahme und erneute(n) Zulassung(en) und etwaigen Ergänzungen und aktuellen Ergänzungen, sowie die Ergebnisse physikalischer, chemischer, biologischer, mikrobiologischer Versuche ab Erstzulassung bis heute und die zur Entwicklung der streitgegenständlichen Impfstoff(e) angewandten Methoden (analytische Prüfung), nebst den Ergebnissen der pharmakologischen und toxikologischen Versuche, - sämtliche schwerwiegenden unerwünschten Ergebnisse SAEs (nach § 2 Nr. 5 MPSV), die im Zusammenhang der streitgegenständlichen Impfung(en) an das BfArM und PEI gemeldet worden seien, - sämtliche dem PEI bekannten und gemeldeten Einzelfallberichte (Kasuistiken) ab Erst- und Wiederzulassung der streitgegenständlichen Impfstoffe, sowie überprüfbare Daten aus klinischen Studien, epidemiologischen Untersuchungen, sowie aus den Post-Marketing-Beobachtungen.

Die Klägerin beantragt - so der Antrag in der mündlichen Verhandlung -,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 15.06.2011 sowie den Bescheid des Beklagten vom 08.05.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin ein Hirnkrampfleiden mit Entwicklungsretardierung als Impfschaden infolge der Impfungen vom 20.03.1995 und 04.05.1995 im Sinne des IfSG anzuerkennen und Versorgung zu gewähren,

hilfsweise den Sachverständigen Dr. H. wegen der Frage des Primärschadens erneut zu befragen und Herrn Dr. P. P. in Zusammenarbeit mit Herrn Dr. A. B. gutachtlich gemäß § 109 SGG zu hören.

Weitere Anträge hat die Klägerin nicht gestellt.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen, der beigezogenen Beklagtenakte, der beigezogenen Schwerbehindertenakte, der vom SG beigezogene Akte S 4 SF 19/10 und der Akten des LSG mit den Aktenzeichen L 20 SF 209/16 AB und L 20 VJ 4/17 RG Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG), aber nicht begründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 08.05.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2004, mit dem der Antrag auf Entschädigung wegen eines Impfschadens abgelehnt worden ist.

Die insoweit erhobene Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der angegriffene Bescheid ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 S. 1 IfSG liegen nicht vor, weil es vorliegend schon am Nachweis einer Impfkomplikation, aber auch an der Kausalität zwischen Impfung und gesundheitlicher Schädigung fehlt.

Das Begehren der Klägerin beurteilt sich dabei nach dem IfSG, weil der Antrag am 30.01.2001 und damit zu einem Zeitpunkt gestellt worden ist, als das - das BSeuchG ohne Übergangsvorschrift ablösende (siehe Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften vom 20.07.2000, BGBl. I, S. 1045) - IfSG (seit dem 01.01.2001) in Kraft war (siehe dazu auch Bundessozialgericht - BSG Urteil vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R, juris).

Nach § 60 Abs. 1 S. 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die 1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, 2. auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, 3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 4. auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

Nach § 61 S. 1 IfSG genügt zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 IfSG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 IfSG anerkannt werden, wobei die Zustimmung allgemein erteilt werden kann (vgl. § 61 S. 2 und 3 IfSG). Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Neben einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 S. 1 IfSG erfüllen müssen (1. Glied), muss damit auch eine „gesundheitliche Schädigung“ (2. Glied) als Primärschädigung (d.h. Impfkomplikation) ebenso wie der „Impfschaden“ (3. Glied, d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also der Folgeschaden) im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sein (vgl. BSG Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 38).

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen (BSG Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34). Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen (vgl. BSG Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34; BSG Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, juris). Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3b m.w.N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34 m.w.N.). Eine Tatsache ist damit bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. BSG Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34; vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3b m.w.N.), wenn also eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Für die Kausalität als haftungsbegründende (zwischen Impfung und gesundheitlicher Schädigung) und haftungsausfüllende (zwischen gesundheitlicher Schädigung und Impfschaden) gilt dagegen ein gegenüber dem Vollbeweis abgeschwächter Beweismaßstab - nämlich der der Wahrscheinlichkeit im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. auch § 1 Abs. 3 BVG; siehe auch BSG Urteil vom 29.04.2010, B 9 VS 2/09 R, juris Rn. 46; BSG Urteil vom 13.12.2000, B 9 VS 1/00 R, juris Rn. 22f.; BSG Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 38 und Bayerisches Landessozialgericht - BayLSG Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, juris Rn. 33 ff.). Gegenüber dem notwendigen Vollbeweis der o.g. drei Glieder reicht es für den zweifachen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesen aus, wenn dieser jeweils mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Die Beweisanforderung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung. Wahrscheinlichkeit bedeutet dabei, dass mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSG Urteil vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84, juris; BSG Urteil vom 26.06.1985, 9a RVi 3/83, juris; BSG Urteil vom 19.03.1986, 9a RVi 4/84, juris; BSG Urteil vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80, juris; BSG Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, juris; BSG Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 38). Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (BSG Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 38).

Wie auch sonst im Versorgungsrecht gilt für beide Kausalverläufe die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. dazu BSG Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 37; siehe zum Ganzen auch BayLSG Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, juris Rn. 34 ff.; dazu, dass auch nach Ablösung der entsprechenden Regelungen des BSeuchG durch §§ 60, 61 IfSG für beide Komponente der Kausalität der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit greift, siehe BayLSG Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, juris Rn. 34 ff.). Im Rahmen der Kausalität ist eine Ursache dann rechtlich wesentlich, wenn sie wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat.

In einer neueren Entscheidung (Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 6/13 R, juris) hat das BSG dies für den Fall, dass mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen haben, dahingehend präzisiert, dass diese rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen sind, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Danach ist, wenn neben einer Impfung mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen haben, die Impfung versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge dieser Impfung zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Impfung in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.

Gesichtspunkte für die Beurteilung der besonderen Beziehung einer Ursache zum Erfolg sind neben der Ursache bzw. dem Ereignis als solchem, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, die konkurrierende Ursache unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens (wobei eine Ursache nicht deswegen wesentlich ist, weil sie die letzte war), weiterhin Rückschlüsse aus dem Verhalten des Geschädigten nach der Impfung, aus den Befunden und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie aus der gesamten Krankengeschichte; ergänzend kann der Schutzzweck der Norm heranzuziehen sein.

Dabei sind auch generelle und allgemeine Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang zu berücksichtigen; die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wis-senschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen (vgl. BSG Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris Rn. 17).

Unter Anwendung dieser Grundsätze ist hier schon eine Impfkomplikation (gesundheitliche Schädigung, 2. Glied) nicht nachgewiesen. Es fehlt aber auch an der Kausalität zwischen den durchgeführten Impfungen und der gesundheitlichen Schädigung.

Der Senat stellt zunächst fest, dass die Klägerin am 04.05.1995 und 20.03.1995 jeweils eine Kombination von Injektion einer Ampulle DT-Impfstoff (im Impfling nicht vermehrungsfähige Antigene, Zusatz Thiomersal und Aluminimuhydroxid) plus Injektion einer Ampulle HiB-Impfstoff (nicht vermehrungsfähige Antigene, Zusatz Thiomersal) plus Impfung mit Polio-Schluckimpfung (alle drei Virus-Typen, abgeschwächt, aber lebend, im Impfling vermehrungsfähig, keine hier erwähnenswerten Zusätze) erhalten hat. Während es sich bei dem DT-Impfstoff und HiB-Impfstoff nach Auskunft der impfenden Ärztin gegenüber dem Landratsamt F-Stadt jeweils um Impfstoffe der Firma B. gehandelt hat, stammte der Impfstoff für die Polioimpfung von S.C.B …

Weiter ist festzustellen, dass bei der Klägerin eine zentralnervöse Funktionsstörung (Verarbeitungsstörung) mit zum Teil erheblichen Defiziten im Bereich der Hör-Verarbeitung, des Sprechens, der Kognition, der Intelligenz, des Verhaltens, der Feinmotorik und ein Anfallsleiden vorliegt.

Eine zeitnah nach der Impfung aufgetretene gesundheitliche Schädigung (d.h. die Impfkomplikation), die möglicherweise durch diese Impfungen bedingt sein könnte, ist hier aber nicht im notwendigen Vollbeweis nachgewiesen.

Aus den beigezogenen ärztlichen Unterlagen (insbesondere aus den Karteikartenauszügen der damals impfenden Ärztin) ergeben sich keine Angaben der Eltern der Klägerin zu einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (vgl. § 2 Nr. 11 IfSG).

Soweit die Eltern der Klägerin im Verwaltungsverfahren am 11.03.2002 gegenüber dem Beklagten insoweit erstmals nähere Angaben gemacht haben, haben sie selbst ausgeführt, dass es sowohl nach der Impfung am 20.03.1995 als auch am 04.05.1995 zu keiner Hautrötung an der Impfstelle oder zu Fieber gekommen sei.

Soweit die Eltern am 11.03.2002 weiter angegeben haben, dass es „Verhaltensauffälligkeiten“ wie auch „Schwierigkeiten beim Trinken“, einen veränderten Blickkontakt und vermehrten Speichelfluss gegeben habe, wobei aber aufgrund des Zeitablaufes keine exakten Angaben mehr gemacht werden könnten, sind diese Angaben zu vage, um im Vollbeweis den Nachweis einer Impfkomplikation erbringen zu können. Auch die insoweit von den Eltern verfasste Aufstellung der Verhaltensänderungen der Klägerin (Bl. 181 der Beklagtenakte) ist dafür nicht ausreichend, zumal dort auch keine zeitliche Zuordnung erfolgt. Auch haben die Eltern selbst vorgetragen, dass die Verhaltensänderungen nicht so extrem gewesen seien, dass ihnen dies sofort als abseits der Norm aufgefallen wäre und dass sie extra deswegen nach ärztlicher Hilfe nachgesucht hätten. Die von den Eltern insoweit beschriebenen Symptome nach den beiden Impfungen können - so auch zutreffend Prof. Dr. J. - daher noch durchaus als übliche Nebenwirkungen einer oder mehrerer der vier applizierten Impfungen angesehen werden.

Insoweit war auch nicht der in der mündlichen Verhandlung hilfsweise wegen der Frage des Primärschadens beantragten Befragung des Dr. H. Folge zu leisten. Zum Einen handelt es sich bzgl. dieser Frage nach dem Vorliegen eines Primärschadens, d.h. einer Impfkomplikation, um eine Frage, die unter Auswertung des vorliegenden Akteninhalts, d.h. den vorliegenden ärztlichen Befundberichten und Angaben der Eltern der Klägerin, auch von einem medizinischen Laien, d.h. dem Senat, vorgenommen werden kann. Zum Anderen hat sich Dr. H. in seinem Gutachten vom 28.05.2009 zur Frage des Vorliegens eines Primärschadens bereits - wenn auch ausweichend - geäußert, wenn er von den Eltern geschilderten (aber nicht ärztlich dokumentierten) Verhaltensauffälligkeiten spricht (s. Bl. 32 seines Gutachtens).

Aber auch soweit man dagegen - hilfsweise - den am 21.05.1995 (damit fast 2 Monate nach der 1. Impfung und 17 Tage nach der 2. Impfung) stattgefundenen Krampfanfall als Impfkomplikation sehen möchte, fehlt es insoweit an der Kausalität zwischen den Impfungen und einer solchen (unterstellten) Impfkomplikation (gesundheitlichen Schädigung). Der Senat schließt sich insoweit den überzeugenden Ausführungen des Prof. Dr. C. in seinem Gutachten und ergänzenden Stellungnahme an, was auch durch das Gutachten des Prof. Dr. J. bestätigt wird.

Gegen einen Zusammenhang zwischen den Impfungen am 20.03.1995 und 04.05.1995 und dem (als potentieller Impfkomplikation) am 21.05.1995 stattgefundenen Krampfanfall spricht, dass die - nach dem medizinischen Wissensstand maßgebliche - postvakzinale Inkubationszeit überschritten ist. Diese beträgt nach den hier verwandten Totimpfstoffen (Tetanus, Diphtherie oder HiB-Impfstoff) 1-3 Tage und nach dem verwandten Le-bendimpfstoff gegen Poliomyelitis 3-14 Tage. Der Krampfanfall fand hier aber erst am 21.05.1995, also am 17. postvakzinalen Tag nach der 2. Impfung, statt.

Gegen das Vorliegen einer Enzephalitis als Folge der Impfungen spricht weiter, dass die Klägerin weder Fieber gehabt hat noch andere klinische Symptome einer Enzephalitis wie Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Nackensteifigkeit, Bewusstseinsstörungen bestanden haben. Auch laborchemisch hat es keinen Hinweis auf einen entzündlichen Prozess gegeben.

Gegen einen Zusammenhang spricht weiter, dass der Beginn der ersten zweifelsfreien Symptome zentralnervöser Funktionsstörung und verminderten Hirnwachstums bereits vor Beginn der Impfungen festzustellen war. So sind bereits (vor den Impfungen) am 05.12.1994 ein Opisthotonus und am 06.03.1995 eine Hörstörung festgestellt worden. Dass sich weder ein Opisthotonus noch eine Schwerhörigkeit diagnostisch haben bestätigen lassen, ist nicht entscheidend. Denn bei der Klägerin ist es tatsächlich zu einer - sowohl von Dr. H. als auch Herrn A. festgestellten - für einen Opisthotonus typischen Symptomatik, nämlich einer krampfhaften Überstreckung des Körpers, der sich bogenartig nach hinten biegt, gekommen. Wie diese Symptomatik diagnostisch zu bezeichnen ist, ist nicht entscheidend. Auch die Tatsache, dass sich eine Schwerhörigkeit bei der Klägerin im Folgenden und bis zum heutigen Tag nicht bestätigt hat, ist nicht entscheidend, weil es nicht um die Frage einer Hörstörung im Sinne einer Störung des Hörapparats geht, sondern generell um eine Störung in der Reizverarbeitung. Dass bei der Klägerin aber erhebliche Defizite im Bereich der Hör-Verarbeitung bestehen, ist unstreitig. Hinzu kommt, dass die in der Akte dokumentierten Kopfumfangswerte ein gegenüber der Norm vermindertes Hirnwachstum, dargestellt mit einer harmonisch fortschreitend absteigenden Verlaufskurve des Kopfumfangs ab 06.03.1995, belegen. Ebenso hat auch das MRT im Juni 1995 leicht erweiterte äußere Liquorräume im Sinne verminderten Hirnwachstums gezeigt. Die zahlreichen EEG-Ableitungen, in denen Theta-Rhythmen nicht nur 1995 und 1998 erwähnt sind, sondern die über das einschlägige Alter hinaus persistierend und wiederholt zwischen 2001 und 2013 ausdrücklich genannt sind, zeigen zudem einen Befund, der als Hinweis auf eine genetische Anfallsdisposition gilt.

Gegen einen Zusammenhang spricht weiter, dass im Falle der Klägerin ein Leiden mit Progredienz vorliegt, während es sich bei postvakzinalen Enzephalitiden/Enzephalopathien um zeitlich umschriebene, nicht progrediente Schäden handelt.

Auch soweit eine Poliolebendimpfung, wenn auch in sehr seltenen Fällen, eine impfassoziierte Poliomyelitis auslösen kann und dieses Krankheitsbild durch das klinische Bild mit anhaltenden schlaffen Lähmungen, typischerweise der unteren Extremitäten, aber auch anderer Muskelgruppen, zu erkennen ist, lag eine derartige Symptomatik bei der Klägerin zu keinem Untersuchungszeitpunkt vor.

Auch wenn anzuerkennen ist, dass extrem seltene Einzelfälle nach Diphtheriebzw. Tetanusimpfung auf einer impfbedingten immunvermittelten Vaskulitis (Innenhautentzündung) und damit Zirkulationsstörung von Hirngefäßen sowie daraus folgender Hirnzellschädigung basieren und dementsprechend neurologisch ebenso wie per MRT eine Symptomatik vom Typ Infarkt („Schlaganfall“) zeigen, so war auch dies vorliegend nicht der Fall.

Gegen eine - von Dr. H. in seinem Gutachten nach § 109 SGG angenommene - Verursachung durch die im Impfstoff enthaltenen Zusatzstoffe Thiomersal und Aluminiumverbindungen spricht, dass nach der derzeit herrschenden medizinischen Lehrmeinung (siehe Bulletin der STIKO vom 22.06.2007) zu Thiomersal in großen einschlägigen Studien kein Nachweis toxischer Schädigung des Menschen mit den minimalen, den Impfstoffen beigegebenen Mengen erbracht werden konnte. Angesichts des derzeitigen medizinischen Wissensstandes handelt es sich bei den Ausführungen Dr. H.s insoweit um reine Spekulation (so auch Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Urteil vom 12.05.2016, L 4 VJ 1/14, juris Rn. 58; siehe dazu auch BayLSG Urteil vom 14.02.2012, L 15 VJ 3/08, juris Rn. 54ff. und BayLSG Urteil vom 28.07.2011, L 15 VJ 8/09, juris Rn. 44ff.).

Gleiches gilt bzgl. der Aluminiumverbindungen. Bei Zusatzstoffen, die Aluminium enthalten, handelt es sich um minimale Mengen. Impfbedingte neurologische Schadens-vermutungen beim Menschen sind (bisher) reine Spekulation (so auch Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Urteil vom 12.05.2016, L 4 VJ 1/14, juris Rn. 58; siehe dazu auch BayLSG Urteil vom 14.02.2012, L 15 VJ 3/08, juris Rn. 54ff. und BayLSG Urteil vom 28.07.2011, L 15 VJ 8/09, juris Rn. 44ff.). Im Vergleich zur Aufnahme über Trinkwasser, Lebensmittel oder Antazida ist die Aufnahme von Aluminium mit Adjuvantien in Impfstoffen gering. Sie liegt deutlich unter dem TDI-Wert (tolerable daily intake) für Aluminium, der Menge, die täglich ein Leben lang ohne gesundheitsschädliche Wirkung aufgenommen werden kann. Im Bulletin vom 22.06.2007 hat sich die Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert-Koch-Institut (RKI) mit einer möglichen Verursachung von Impfschäden durch Aluminiumverbindungen als Adjuvantien in Impfstoffen befasst und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass im Vergleich zur Exposition über Trinkwasser, Lebensmittel oder Medikamente (Antacida) die Aluminium-Exposition durch aluminiumhaltige Adjuvantien in Impfstoffen gering ist. So nimmt der Mensch allein aus Nahrung und Trinkwasser unter normalen Bedingungen 3-5 mg Aluminium pro Tag auf. Bei einer im Mittel beobachteten 1-prozentigen Resorptionsquote bedeutet dies eine systemisch (d.h. den ganzen Organismus betreffend) verfügbare Menge von 0,03-0,05 mg Aluminium pro Tag durch die Nahrung. Größere Mengen von Aluminium enthalten Kaugummis, Zahnpasta und aluminiumhaltige Antacida. Als TDI-Wert gibt der Lebensmittelausschuss der EU-Kommission die Aluminiummenge, die ohne gesundheitsschädliche Wirkungen täglich ein Jahr lang peroral (d.h. durch eine Aufnahme über den Mund durch Nahrung und Trinkwasser) aufgenommen werden kann, mit 1 mg/kg Körpergewicht/Tag an. Bei einem durchschnittlichen Gewicht von 70 kg entspricht dies einer Menge von 70 mg Aluminium/Tag, die für einen Menschen als unbedenklich angesehen werden kann. Nach der Monographie „Impfstoffe für den Menschen“ der Europäischen Pharmakopöe ist der Aluminiumgehalt auf 1,25 mg pro Dosis beschränkt. Auch die im PEI im Jahr 2005 untersuchten Impfstoffchargen enthielten 0,25-0,55 mg/Impfstoffdosis. Damit ist im Vergleich zur Aufnahme über Trinkwasser, Lebensmittel oder Antacida die Aufnahme von Aluminium mit Adjuvantien in Impfstoffen gering, auch bei einem Kleinkind wie der Klägerin zum Zeitpunkt der Impfung. Sie liegt deutlich unter diesem TDI-Wert für Aluminium, der Menge, die täglich ein Leben lang ohne gesundheitsschädliche Wirkung aufgenommen werden kann. Hinzu kommt, dass bei der Exposition mit Aluminium durch Impfstoffe - gegenüber der peroralen Aufnahme - eine parenterale (d.h. am Darm vorbei) Applikation von schwerlöslichen, mit Antigenen beladenen Aluminiumhydroxid- oder Aluminiumphosphat-Partikeln erfolgt. Bei der Applikation einer Impfstoffdosis wird daher keinesfalls das gesamte Aluminium im Körper unmittelbar systemisch verfügbar. Zu berücksichtigen ist die Resorptionsgeschwindigkeit aus dem Muskel ins Blut. Die als Adjuvans eingesetzten Aluminiumsalze sind sehr schlecht wasserlöslich und werden deshalb sehr langsam resorbiert, gelangen also nur protrahiert (d.h. verzögert) in sehr kleinen Mengen in den Blutkreislauf. Vergleicht man daher die systemisch verfügbaren Mengen, ist für die in den Blutkreislauf gelangenden Mengen Aluminium aus Impfstoffen ein systemisches Toxizitätsrisiko auszuschließen.

Der Klägerin sind auch hier 1995 pro Impfung am 20.03.1995 und 04.05.1995 jeweils lediglich 1,5 mg Aluminiumhydroxid mit dem Impfstoff verabreicht worden ist, was zwar zu etwas erhöhten Werten der Haaranalyse (neben allen anderen alltäglichen Quellen der Aufnahme von Aluminium) führen mag, nicht aber zu toxischen Werten. Auch die der Klägerin 1995 verabreichte Menge von Thiomersal mit insgesamt 0,15 mg liegt weit unterhalb bekannter toxischer Grenzen.

Insoweit scheitert die von Dr. H. angenommene impfbedingte protrahierte Verursachung durch die Impfstoff-Beimischungen Thiomersal und Aluminiumverbindung im Wege der Kann-Versorgung schon daran, dass es sich insoweit um keine „gute Möglichkeit“, sondern angesichts derzeitigen Wissensstandes um reine Spekulation handelt. Dr. H. selbst hat im Rahmen der seitens des Beklagten eingeholten Stellungnahme des PEI am 02.04.2003 auch selbst geäußert, dass ein Kausalzusammenhang zwischen den Impfungen und dem klinischen Schädigungsbild lediglich „möglich“ erscheine. Im Übrigen hat H. selbst auf eine durch aktuelle (lediglich) „experimentelle“ Untersuchungen belegte neurotoxische Wirkung sowohl von Thiomersal als auch von aluminiumhaltigen Adjuvantien der Impfstoffe hingewiesen, die bei vorhandener Disposition der Klägerin eine langsam einsetzende Störung der Hirnentwicklung bewirkt hätten. Soweit die Klägerin eine durch Prof. Dr. C. nicht durchgeführte ambulante Untersuchung bemängelt, kann sie daraus nichts herleiten. Insbesondere ist von einer ambulanten Untersuchung auch keine weitere Sachverhaltsaufklärung zu erwarten. Wie Prof. Dr. C. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27.05.2016 zur Frage der Notwendigkeit einer ambulanten Untersuchung zutreffend ausgeführt hat, erhebt eine ambulante Untersuchung anlässlich Begutachtung nur die „Symptomatik“ eines neuralen Spätschadensbildes; es gibt hierbei jedoch kein einziges neurales Spätschadensbild, aus dessen Symptomatik sich überwiegend oder gar zwingend auf impfbedingte Verursachung schließen lässt. Auch der beantragten Ladung Prof. Dr. K. war nicht nachzukommen. Warum dies erfolgen sollte, hat die Klägerin selber nicht weiter ausgeführt. Die pauschale Behauptung, dass die in seinem Gutachten ausgeführten Inhalte dem Akteninhalt widersprächen, ist dafür nicht ausreichend, im Übrigen auch nicht richtig. Auch die weitere klägerische Behauptung, dass sie dessen Qualifikation als Gutachter in Fragen von Impfstoffen als nicht erwiesen ansehe, beschränkt sich auf die Aussage, dass es in keinem seiner Gutachten wissenschaftliche Quellen gebe, die seine Einzelmeinung untermauern würden. Dies begründet weder eine Ladung Prof. Dr. K. zum Termin noch teilt der Senat diese Auffassung. Sowohl aufgrund seiner jahrzehntelangen praktischen kinderklinischen Tätigkeit, zuletzt als Direktor der Landeskinderklinik N.-K., einem akademischen Lehrkrankenhaus, als auch aufgrund seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Impfschadensgutachter in zahlreichen gerichtlichen Verfahren hat der Senat keine Zweifel an der fachlichen Kompetenz von Prof. Dr. C … Dass im Gutachten Prof. Dr. C. keine „wissenschaftliche Quellen“ genannt werden, genügt nicht, um dessen fachliche Kompetenz in Frage zu stellen. Soweit die Klägerin eine neue Begutachtung nach § 109 SGG begehrt, ist das Antragsrecht insoweit durch das erstinstanzlich von Dr. H. eingeholte Gutachten verbraucht (siehe dazu auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 109 Rn. 10b, 11b). Besondere Gründe, bei deren Vorliegen ausnahmsweise ein weiteres Gutachten nach § 109 SGG einzuholen wäre (vgl. Keller, a.a.O., Rn. 10b), liegen nicht vor.

Auch eine weitergehende Sachverhaltsaufklärung hatte nicht zu erfolgen. Die verwandten Impfstoffe sind bekannt und den Begutachtungen zugrunde gelegt worden, was auch die enthaltenen Impfzusatzstoffe betrifft. Dabei ist von den befassten Gutachtern Prof. Dr. C. und Prof. Dr. J. der neueste medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisstand zugrunde gelegt worden.

Der Beiziehung von Zulassungsunterlagen bedarf es schon deshalb nicht, weil Impfschadensversorgung nach § 60 IfSG für eine nach den dortigen Voraussetzungen durchgeführte Impfung mit einem in der Regel zugelassenen (siehe dazu auch BSG Urteil vom 02.10.2008, B 9/9a VJ 1/07 R, juris Rn. 18; BSG Urteil vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R, juris) Impfstoff gewährt werden kann. Warum die Zulassung erfolgt ist bzw. welche Nutzen-Lasten-Analyse dem zu Grunde lag, ist insoweit nicht von Relevanz bzw. deshalb im Falle eines Impfschadens ja gerade eine Versorgung nach dem IfSG zu leisten (siehe dazu auch BSG Urteil vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R, juris 36, weil dem Einzelnen insoweit ein Sonderopfer abverlangt wird). Eine Nutzen-Lasten-Analyse ist allein Teil des strengen Zulassungsverfahrens für Impfstoffe, aber nicht maßgebend für die hier streitige Frage der Kausalität im konkreten Einzelfall (so auch Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil vom 21.04.2015, L 6 VJ 1460/13, juris Rn. 83).

Gleiches gilt für den Antrag auf Beiziehung sämtlicher schwerwiegenden unerwünschten Ergebnisse nach § 2 Nr. 5 Verordnung über die Erfassung, Bewertung und Abwehr von Risiken bei Medizinprodukten (MPSV). Diese Verordnung regelt die Verfahren zur Erfassung, Bewertung und Abwehr von Risiken im Verkehr oder in Betrieb befindlicher Medizinprodukte (§ 1 MPSV) und begründet Meldepflichten Verantwortlicher (vgl. § 3 MPSV). Daraus kann die Klägerin für sich keine Rechte herleiten. Solange ein Impfstoff zugelassen ist, ist auch eine Versorgung nach § 60 IfSG möglich. Für die Beurteilung des insoweit maßgeblichen neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes werden in gerichtlichen Verfahren gerade Gutachten eingeholt, die auf dieser Grundlage gutachterliche Einschätzungen abgeben. Das gilt auch für die dem P.-E.-Institut gemeldeten Verdachtsfälle von Impfkomplikationen, die im Rahmen einer über das Internet öffentlich zugänglichen Datenbank auch den befassten Gutachtern zur Verfügung stehen, die aber auch nicht ohne Weiteres einen ursächlichen Zusammenhang belegen.

Auch weitere Zeugen waren nicht zu hören.

Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren vorgetragen hat, dass die Hebamme E. J. als Zeugin einzuvernehmen sei, kann diese - auch nach dem eigenen Vortrag der Klägerin - gerade nichts zu der hier fehlenden Impfkomplikation vortragen. Soweit weiter ausgeführt worden ist, dass diese über die Entwicklung und gesundheitliche Konstitution der Klägerin maßgeblich Auskunft geben könne, insbesondere darüber, dass die Klägerin sich normal entwickelt habe und keine gesundheitlichen Störungen vorgelegen hätten, widerspricht dies - abgesehen davon, dass die Eltern der Klägerin bei ihrer Einvernahme beim Beklagten am 11.03.2002 ohnehin nur angegeben haben, dass die Hebamme die Mutter der Klägerin nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nach der Geburt „etwa 10 Tage lang“ besucht habe, und damit durch die Hebamme ohnehin keine weitergehenden Aussagen zur Entwicklung der Klägerin möglich sein dürften - gerade dem Akteninhalt und dort enthaltenen ärztlichen Befunden, wo schon früh - nämlich bei der U2 am 05.12.1994 und damit durch einen Mediziner - bei der am 30.11.1994 geborenen Klägerin ein Opisthotonus erstmals beobachtet worden ist. Dabei ist dieser Verdacht nicht nur durch Dr. H., sondern in der Folgezeit auch durch den Arzt Herrn A. geäußert worden. Auch wenn sich dieser Verdacht im Weiteren nicht erhärtet hat, hat es in den ersten Lebensmonaten der Klägerin weitere Hinweise auf eine Entwicklungsstörung gegeben. So ist am 06.03.1995 wegen der dortigen Untersuchung beim Kinderarzt mit der Feststellung „Hochtonrassel beidseits negativ, Klatschen links besser als rechts“ der Verdacht auf Schwerhörigkeit geäußert worden, was zu einer weiteren diagnostischen Abklärung geführt hat. Im Rahmen der in der Uniklinik E-Stadt daraufhin erfolgten Untersuchung haben die Eltern der Klägerin im Rahmen der Anamnese am 14.05.1996 selbst einen seit einem Alter von 3 Monaten wechselnden Verdacht auf Schwerhörigkeit geäußert. Auch wenn sich eine Schwerhörigkeit bei der Klägerin im Folgenden und bis zum heutigen Tag nicht bestätigt hat, kommt es darauf nicht an, weil es nicht um die Frage einer Hörstörung im Sinne einer Störung des Hörapparats geht, sondern generell um eine gesundheitliche Störung. Aus diesem Grund war auch eine Zeugeneinvernahme des HNO-Arztes Dr. M. K. nicht angezeigt. Dass sich die Klägerin bis zu den Impfungen am 20.03.1995 und 04.05.1995 völlig normal entwickelt habe und keine gesundheitlichen Störungen vorgelegen hätten, ist auch durch die in der Akte dokumentierten Kopfumfangswerte widerlegt, die ein gegenüber der Norm vermindertes Hirnwachstum zeigen. Der weitere Verlauf hat dies, den Beginn der ersten Symptome zentralnervöser Funktionsstörung und verminderten Hirnwachstums bereits vor Beginn der Impfungen, bestätigt. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen (MRT im Juni 1995 mit leicht erweiterten äußeren Liquorräume im Sinne verminderten Hirnwachstums sowie die zahlreichen EEG-Ableitungen mit einem Befund als Hinweis auf eine genetische Anfallsdisposition).

Angesichts dessen sieht der Senat auch keine Veranlassung, die Hebamme J., die im Übrigen keine Ärztin ist, zu hören. Soweit die Klägerin weiter eine Zeugeneinvernahme der Ärzte J. A. und Dr. H. dazu angestrebt hat, dass diese einen Opisthotonus und ein cerebrales Leiden ausgeschlossen haben (Herr A.) bzw. die Verdachtsdiagnose Opisthotonushaltung nur ein Verdacht gewesen sei (Dr. H.), waren diese auch nicht als Zeugen zu hören. Denn die Frage, ob sich die Verdachtsdiagnose Opisthotonus bestätigt hat, ist vorliegend nicht entscheidend. Denn tatsächlich haben die damals behandelnden Ärzte - sowohl Dr. H. als auch Herr A. - bei der Klägerin eine für einen Opisthotonus typische Symptomatik, nämlich eine krampfhafte Überstreckung des Körpers, der sich bogenartig nach hinten biegt, gesehen. Wie diese Symptomatik diagnostisch zu bezeichnen ist, ist nicht entscheidend (siehe insoweit bereits oben).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 6. Dezember 2016 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung nach dem Impfschadensrecht gemäß §§ 60 ff. Infektionsschutzgesetz (IfSG) hat.

Die 1970 geborene Klägerin wurde vom Allgemeinarzt Dr. R. am 06.06.2005 gegen Frühsommer-Menigoencephalitis (FSME) mit dem Medikament FSME-immun(r) sowie gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus mit dem Kombinationsimpfstoff Revaxis(r) geimpft. Am 21.07.2005 erfolgte eine weitere FSME-Impfung mit dem gleichen Wirkstoff. Am 29.09.2005 wurde eine Impfung gegen Poliomyelitis mit IPV Merieux(r) und Diphtherie mit dem Diphtherie-Adsorbat-Impfstoff Behring für Erwachsene(r) durchgeführt. Im Jahr 2006 wurde bei ihr ein Guillain-Barre-Syndrom und danach eine chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie diagnostiziert.

Am 16.05.2013 beantragte sie beim Beklagten formlos Versorgung nach dem IfSG; sie habe eine Schädigung aufgrund einer FSME-Impfung erlitten. Mit Schreiben vom 28.05.2013 legte sie weitere Unterlagen zur Impfung vor und präzisierte ihren Antrag dahingehend, dass sie die bei ihr vorliegende chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie auf zwei FSME-Impfungen „am 06.06.2005 und 21.07.2005“ zurückführe.

In der Folge holte der Beklagte Unterlagen zu den medizinischen Behandlungen der Klägerin ein und befragte die behandelnden Ärzte. Dabei berichtete der Allgemeinarzt Dr. R., dass die Klägerin nach der Impfung am 06.06.2005 eine Lokalreaktion beschrieben habe, die beim Termin am 21.07.2005 bereits abgeklungen sei. Seinen Aufzeichnungen ist erst für den 13.02.2006 eine weitere Behandlung der Klägerin zu entnehmen, bei der eine Hypertonie und Parästhesien der Daumen und Füße bei seitengleich grober Kraft festgestellt worden seien. Die Orthopädin Dr. S. teilte am 27.08.2013 mit, dass die Klägerin am 20.02.2006 anamnestisch angegeben habe, dass „seit ca. zwei Wochen“ beide Großzehen wie taub seien und sie nicht mehr richtig gehen könne. Die Klägerin habe auch Parästhesien der Hände seit zwei bis drei Wochen sowie erhebliche Kopfschmerzen angegeben. In dem in einem früheren schwerbehindertenrechtlichen Verfahren der Klägerin erstellten Bericht des Nervenarztes R. wurde am 23.11.2006 darauf hingewiesen, dass sich die Klägerin erstmals am 22.02.2006 vorgestellt und angegeben habe, dass sie „seit etwa sechs Wochen“ unter einer Schwäche und Parästhesien beider Füße und zusätzlich der Hände leide. Einem Abschlussbericht des Krankenhauses H.W. vom 15.03.2006 ist zu entnehmen, dass die Klägerin dort stationär vom 01.03.2006 bis 15.03.2006 behandelt worden ist. Die Klägerin sei - so der Bericht - wegen „seit mehreren Wochen“ bestehenden sensomotorischen Paresen der Beine und Hände eingewiesen worden. U.a. wurde die Diagnose eines Guillain-Barre-Syndroms gestellt. Dem Abschlussbericht vom 22.05.2006 über den medizinischen Rehaaufenthalt der Klägerin in der A.-Klinik S-Stadt vom 20.03.2006 bis zum 16.05.2006 ist zu entnehmen, dass die Klägerin im Rahmen der Eigenanamnese über Schmerzen in den Beinen aufgrund von Fersensporn seit etlichen Jahren berichtet habe. „Im November“ habe das aktuelle Krankheitsgeschehen begonnen mit Einschlafen der Großzehen. Zunehmend habe sie die Kraft in den Beinen verloren. Das Ganze sei anschließend auf die Hände übergegangen. Es wurde u.a. die Verdachtsdiagnose einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie (Differenzialdiagnose: Verschlechterung des bekannten Guillain-Barre-Syndroms) gestellt. In einem in einem schwerbehindertenrechtlichen Verfahren erstellten Befundbericht gab der Facharzt für Neurologie Dr. F. am 17.05.2008 an, dass er die Klägerin seit dem 20.08.2006 wegen der Diagnose einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie behandle. „Seit Februar 2006“ lägen eine Schwäche und Gefühlsstörungen zunächst nur in den Beinen, später auch in den Armen vor. Dem Abschlussbericht der neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums B-Stadt vom 24.10.2007 über eine zweitägige Behandlung im Oktober 2007 ist zu entnehmen, dass die Klägerin dort ein erstmaliges Auftreten eines Taubheitsgefühls der Unterschenkel mit leichter Schwäche im November 2005 beschrieben habe. Im Bericht der Deutschen Klinik für Diagnostik, Neurologie, vom 13.02.2008 wird darüber berichtet, dass die Klägerin vom 18.12.2007 bis zum 04.02.2008 tagesklinisch behandelt worden sei. Die Klägerin habe angegeben, „vor etwas mehr als 2 Jahren (11/05)“ zunächst eine Taubheit der Füße bemerkt zu haben. Als Diagnosen wurden genannt eine chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie und differenzialdiagnostisch ein Guillain-Barre-Syndrom.

Anschließend wurde die Klägerin versorgungsärztlich durch den Neurologen und Sozialmediziner B. im Rahmen einer ambulanten Untersuchung am 07.11.2013 begutachtet (Gutachten vom 11.11.2013). Die Klägerin habe dabei berichtet, dass es im September 2005 zu einer Erkrankung mit Erschöpfung und Gliederschmerzen gekommen sei. Im November 2005 sei es dann beim Spazierengehen mit den Hunden bei kalten Außentemperaturen zu einer Schwäche in beiden Beinen gekommen. Im Januar 2006 sei sie bei ihrem damaligen Hausarzt vorstellig gewesen, der eine verschleppte Grippe und einen sehr hohen Blutdruck festgestellt habe. Während der sich anschließenden Krankschreibung sei sie bei der Orthopädin Dr. S. und dem Nervenarzt R. gewesen; dort sei der Verdacht auf eine Polyradikulitis gestellt worden. Der Sachverständige wies darauf hin, dass sich aus den vorliegenden Unterlagen keine abnormen Impfreaktionen ableiten lassen würden. Die Angaben der Klägerin zu den Ersterscheinungen im November 2005 stünden in deutlichem Widerspruch zu den früheren Angaben der Klägerin. Es sei von Ersterscheinungen im Januar 2006 und somit einer Inkubationszeit von einigen Monaten auszugehen, was gegen einen Zusammenhang der FSME-Impfungen mit der chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie der Klägerin spreche.

Der Neurologe und Psychiater Dr. K. stimmte in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 28.11.2013 dieser Einschätzung zu. Nach den zeitnahen Unterlagen sei eine angegebene Lokalreaktion nach der Impfung bei der nachfolgenden ärztlichen Vorstellung wieder abgeklungen gewesen. Die Symptomatik einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie habe sich erst Anfang 2006, also mehrere Monate nach den FSME-Impfungen vom 06.06.2005 und 21.07.2005 entwickelt. Damit ergebe sich kein enger zeitlicher Zusammenhang. Dies spreche gegen eine Auslösung der chronisch-entzündlichen Erkrankung durch die Impfungen.

Auch die Versorgungsärztin Dr. L. hat am 23.12.2013 der Beurteilung zugestimmt.

Mit Bescheid vom 16.01.2014 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem IfSG ab. Die Klägerin führe ihre Erkrankung auf die Impfungen am 06.06.2005 und 21.07.2005 zurück. Die geltend gemachte Gesundheitsstörung einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie könne aber nicht als Folge einer Schädigung im Sinne des IfSG anerkannt werden, da der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Gesundheitsstörung nicht ausreichend wahrscheinlich sei.

Mit Schreiben vom 27.01.2014 legte die Klägerin Widerspruch ein. Folgende bei ihr aufgetretenen Impfreaktionen hat sie beschrieben:

- Impfung am 06.06.2005: „Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Einstichstelle war heiß und geschwollen. Anmerkung des Arztes: ist normal.“

- Impfung am 21.07.2005: „Gelenkschmerzen, Schlappheit, Kopfschmerzen. Arzt: keine Reaktion.“

Ihr Gesundheitszustand habe sich von Anfang Juni 2005 bis Februar 2006 schleichend verschlechtert. Die anfänglichen Gelenkschmerzen seien in ein Kribbeln und Taubheitsgefühl übergegangen, die Schlappheit sei geblieben und durch ständige Müdigkeit ergänzt worden, die Kopfschmerzen seien permanent geworden. Im Februar 2006 sei die Situation eskaliert und sie habe wegen extrem hohen Blutdrucks und Schwindels zum Hausarzt müssen. Der habe sie aber wieder nur wegen einer Erkältung krankgeschrieben. Aufgrund eines Termins beim Orthopäden sei sie wegen des Verdachts auf ein Guillain-Barre-Syndrom ins Krankenhaus H.W. eingewiesen worden. In vielen Ländern seien FSME-Impfungen aufgrund schwerer Komplikationen zurückgenommen worden. Langzeitstudien würden völlig fehlen. Gravierend sei die Schwächung des Immunsystems, wie z.B. das Guillain-Barre-Syndrom. Im Arzneimitteltelegramm sei 1995 gemeldet worden, dass die Impfung Schübe von Autoimmunerkrankungen auslösen könne.

Auf Nachfrage des Beklagten übersandte Dr. R. Kopien seiner Behandlungsunterlagen und erläuterte seinen Eintrag vom 21.07.2005 (Tag der zweiten Impfung) wie folgt: „Die erste Impfung (FSME und Revaxis) erfolgte am 6.6.2005. Bei der zweiten Impfung am 21.7.2005 berichtete die Patientin, daß sie nach der Erstimpfung an einem der Oberarme eine Impfreaktion (lokale Schwellung und Rötung) bemerkt habe. Diese war am 21.07.2005 wieder abgeklungen.“ Den übersandten Unterlagen ist weiter zu entnehmen, dass der nächste Arzttermin, bei dem auch eine Impfung gegen Poliomyelitis und Diphtherie erfolgte, am 29.09.2005 stattfand. Dabei wurde u.a. wegen Parästhesien der linken Hand der Verdacht auf ein Karpaltunnelsyndrom geäußert und eine Handgelenksbandage verordnet. Die nächste Behandlung fand im Februar 2016 statt; dabei berichtete die Klägerin über Parästhesien in den Daumen beidseits und den Füßen, wobei die grobe Kraft nach den Aufzeichnungen von Dr. R. seitengleich war.

Die Fachärztin für Neurologie B. wies in der anschließend eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahme von 25.04.2014 darauf hin, dass die von der Klägerin für die Zeit ab Juni 2005 angegebene Symptomatik sehr unspezifisch sei und nicht als spezifische Impffolge angesehen werden könne. Der behandelnde Allgemeinarzt habe berichtet, dass es nach den Angaben der Klägerin eine Lokalreaktion gegeben habe, die beim Termin am 21.07.2005 abgeklungen gewesen sei. Das Auftreten einer vorübergehenden Lokalreaktion könne nicht belegen, dass die Monate später aufgetretene Symptomatik eines Guillain-Barre-Syndroms hiermit in ursächlichem Zusammenhang stehe. Ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie und den im Sommer 2005 erfolgten Impfungen könne nicht hergestellt werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.05.2014 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Ein Zusammenhang mit den FSME-Impfungen am 06.06.2005 und 21.07.2005 könne nicht hergestellt werden.

Am 12.06.2014 haben die Bevollmächtigten der Klägerin Klage zum Sozialgericht (SG) Bayreuth erhoben.

Mit Schreiben vom 24.09.2014 ist die Klage wie folgt begründet worden:

Die bei der Klägerin vorliegende chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie stelle einen Impfschaden dar. Die Klägerin möchte noch einmal ausführen, dass bereits nach der ersten Impfung ihr Arm geschwollen gewesen sei und sie Ermüdungserscheinungen gehabt habe. Nach der zweiten Impfung seien Grippeerscheinungen aufgetreten und neben der Müdigkeit auch vermehrt Kopfschmerzen. Eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustands sei schließlich im November erfolgt, hier habe die Klägerin über Gangunsicherheiten geklagt. Die Klägerin habe diese Symptome jedoch im Zusammenhang mit den Grippeerscheinungen gesehen. Einen Arzt habe sie somit erst Anfang 2006 aufgesucht. Da die Diagnose nicht von Anfang an eindeutig gestellt habe werden können, habe dies einige Zeit in Anspruch genommen, bis die Diagnose einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie festgestanden habe. Dass aufgrund der zeitlichen Verzögerung die Erkrankung nicht mehr als Folge der Impfung anerkannt werden solle, könne die Klägerin unter keinen Umständen nachvollziehen. Entsprechend den öffentlich zugänglichen Informationen über die Erkrankung entwickle sich diese schleichend, was dazu führe, dass eine Diagnose nur erschwert möglich sei. Dies sei auch bei der Klägerin der Fall gewesen. Durch den schleichenden Prozess sei auch die zeitliche Diskrepanz zu erklären; nach Angaben des Klinikums der Universität M-Stadt erreiche die Erkrankung das Maximum acht Wochen oder später nach Symptombeginn. Die zeitliche Verzögerung dürfe nicht dazu führen, dass ein Kausalzusammenhang verneint werde.

Anschließend hat das SG ärztliche Unterlagen eingeholt. Einem Gutachten des Neurologen Dr. W. für die deutsche Rentenversicherung vom 25.08.2010 ist zu entnehmen, dass die Klägerin im Rahmen der Eigenanamnese dort berichtet habe, dass sie „Ende 2005, November/Dezember,“ beim Spazierengehen mit den Hunden und beim Treppensteigen ein Schwächegefühl in den Beinen bemerkt habe. Im Februar 2006 sei sie zufälligerweise wegen Gliederschmerzen beim Orthopäden gewesen, der dann die Einweisung in eine neurologische Klinik veranlasst habe.

Im Auftrag des SG hat der Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie Prof. Dr. J. am 01.12.2015 ein Gutachten erstellt. Er ist darin zu der Einschätzung gekommen, dass die bei der Klägerin vorliegenden Impfreaktionen nach den Impfungen am 06.06.2005 (lokale Reaktion an der Impfstelle - Schwellung und Rötung -, die bei der zweiten Impfung bereits wieder abgeklungen gewesen sei) und 27.07.2005 (keine Angaben des impfenden Arztes über eventuelle Nebenwirkungen; die Klägerin habe Grippeerscheinungen und vermehrte Müdigkeit und Kopfschmerz angegeben) Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff seien. Es handle sich um übliche Reaktionen, die zweifellos durch die Impfungen bedingt seien. Impfkomplikationen lägen daher nicht vor. Im Übrigen sprächen sowohl die gegenwärtigen Kenntnisse über die Pathogenese einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie als auch der zeitliche Verlauf bzw. der große zeitliche Abstand zwischen Impfung und dem ersten Auftreten von Symptomen gegen einen kausalen Zusammenhang.

Mit Schreiben vom 15.04.2016 haben sich die Bevollmächtigten der Klägerin zum Gutachten geäußert und zudem beantragt, Dr. H. gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu hören.

Dr. H. ist in seinem am 19.08.2016 erstellten Gutachten zu der Einschätzung gekommen, dass die bei der Klägerin vorliegende chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie mit Wahrscheinlichkeit durch die verabreichte Impfserie im Jahr 2005 ausgelöst worden sei und alternative Ursachen nicht erkennbar seien. Er hat Folgendes ausgeführt:

Nach dem ersten Impftermin am 06.06.2005 sei es zu einer Schwellung der Injektionsstelle und Gelenkschmerzen, Mattigkeit und Kopfschmerzen gekommen. Wie lange diese Beschwerden genau angehalten hätten, bleibe unklar. Nach der Beschreibung der Klägerin könne auch gefolgert werden, dass es nicht zum völligen Verschwinden dieser Symptomatik gekommen sei. Ein ähnliches Bild habe sich nach der zweiten FSME-Impfung am 21.07.2005 ergeben. Wieder seien Beschwerden an der Impfstelle, Müdigkeit und Gelenkschmerzen aufgetreten. Nach den Schilderungen der Klägerin seien diese Gelenkbeschwerden in ein Kribbeln übergegangen. Im September 2005 habe ein reduzierter Gesundheitszustand mit abnormer Müdigkeit vorgelegen. Über akute Beschwerden nach der IPV/Diphtherie-Impfung am 29.09.2005 sei nicht berichtet worden, vermutlich sei der Gesundheitszustand aber zum Zeitpunkt dieser Impfung noch reduziert gewesen. Ab November 2005 sei es zu motorischen Störungen beim Laufen gekommen. In der Folge sei dann im Januar/Februar 2006 die Diagnose einer entzündlichen Erkrankung des peripheren Nervensystems gestellt worden.

Bei den lokalen Reaktionen an der Injektionsstelle und den zeitgleich auftretenden systemischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen und Mattigkeit handle es sich um bekannte und häufige Impfreaktionen. Die Grenze zur Impfkomplikation werde bei der Klägerin durch die lange Dauer dieser Beschwerden, den Übergang der Gelenkschmerzen in Missempfindungen, die lang anhaltende abnorme Mattigkeit und schließlich mit der Diagnosestellung der chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie überschritten. Die chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie sei eine bekannte und schwerwiegende Impfkomplikation und könne im Fall der Klägerin durch die zwei FSME-Impfungen, die Revaxis-Impfung und die Diphtherie-Impfung bzw. die Kombination aller dieser Impfungen ausgelöst worden sein.

Zu den am 06.06.2005, 21.07.2005 und 29.09.2005 verwendeten Impfstoffen hat Dr. H. auf Folgendes hingewiesen:

- Bei dem FSME-Impfstoff handle es sich um einen sogenannten inaktivierten adjuvantierten Impfstoff. Um eine gute Immunreaktion zu erzeugen, seien die Virusbestandteile an 1 mg Aluminiumhydroxid als Immunverstärker (Adjuvans) adsorbiert. In der Fachinformation zum Impfstoff werde darauf hingewiesen, dass in (sehr) seltenen Fällen Nervenentzündungen bzw. entzündliche Reaktionen des Gehirns auftreten könnten.

- Der Impfstoff Revaxis sei ein inaktivierter Kombinationsimpfstoff gegen Tetanus, der Aluminiumhydroxid als Adjuvans in einer Menge von 0,35 mg enthalte. In klinischen Studien sei am häufigsten über lokale Nebenwirkungen an der Injektionsstelle berichtet worden. Diese würden in der Regel innerhalb von 48 Stunden nach der Impfung auftreten und ein bis zwei Tage anhalten. In der Fachinformation werde darauf hingewiesen, dass als sehr seltene Nebenwirkung Erkrankungen des Nervensystems, u.a. das Guillain-Barre-Syndrom, auftreten könnten.

- Der Diphtherie-Impfstoff (Impfung am 29.09.2005) enthalte ebenfalls Aluminiumhydroxid als Adjuvans und zusätzlich Thiomersal. Die Fachinformation von 2006 weise u.a. in Einzelfällen auf Erkrankungen des zentralen oder peripheren Nervensystems (u.a.. Guillain-Barre-Syndrom) und Entzündungen des peripheren Nervensystems als unerwünschte Nebenwirkungen hin. In der Fachinformation zum Diphtherie-Impfstoff werde auf unerwünschte Wirkungen des Nervensystems hingewiesen, u.a. auf vorübergehende leichte Parästhesien.

Diese Ausführungen würden klar zeigen, dass eine autoimmunvermittelte Polyneuritits, wie sie bei der Klägerin vorliege, als seltene Impfkomplikation der Adjuvantien der Impfstoffe (im Fall der Klägerin: FSME-Impfstoff, Revaxis und der Diphtherie-Impfstoff) bekannt und in den Fachinformation aller Produkte als seltene Komplikation auch beschrieben sei. In der Folge hat Dr. H. auf medizinische Veröffentlichungen hingewiesen, wonach das Adjuvans das Risiko der Entstehung einer Autoimmunerkrankung erhöhe. Sein Fazit sei, dass nach FSME-Impfungen Autoimmunerkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems bei disponierten Personen auftreten würden. Auch Thiomersal sei als Auslöser autoimmuner Reaktionen bekannt.

Zur Bewertung des kausalen Zusammenhangs zwischen den verabreichten Impfungen im Jahr 2005 und der chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie der Klägerin hat der Sachverständige Folgendes ausgeführt:

Von entscheidender Bedeutung sei die Frage nach dem ersten Auftreten von Symptomen der Erkrankung. Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der ersten Impfung mit dem FSME-Impfstoff und Revaxis sei im Bereich der FSME-Impfstelle eine Schwellung aufgetreten und es sei zu einer Impfreaktion mit Kopfschmerzen und Gelenkschmerzen gekommen. Die Klägerin habe die folgende Zeit als eine beschrieben, in der sich ihr Gesundheitszustand schleichend verschlechtert habe. Die Gelenkschmerzen seien in Kribbeln und Taubheitsgefühl übergegangen, ohne dass sich der Zeitpunkt des Beginns exakt festlegen lasse. Nach der zweiten FSME-Impfung am 21.07.2005 sei es wieder zu Gelenkschmerzen, Schlappheit und Kopfschmerzen gekommen. Am 29.09.2005 seien dann mit dem IPV-Impfstoff und dem Diphtherie-Impfstoff die letzten Impfungen verabreicht worden. Ab November 2005 sei in mehreren ärztlichen Berichten erstmals die muskuläre Schwäche beim Spazierengehen beschrieben worden. Somit liege ein dokumentierter Beginn der Erkrankung wenige Wochen nach der Diphtherie-Impfung vor. Die Beschreibung der Erkrankung durch die Klägerin lege einen früheren Beginn mit schleichendem Verlauf und ohne diesbezügliche ärztliche Konsultation nahe. Eine chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie sei eine Erkrankung, bis zu deren Diagnosestellung oft mehrere Monate vergehen würden. Im September 2005 habe nach dem Bericht von Herrn B. eine Episode mit unklaren Gliederschmerzen und unnatürlicher Erschöpfung vorgelegen. Für demyelinisierende Erkrankungen des peripheren und zentralen Nervensystems durch eine autoimmune Attacke werde für einen Zusammenhang mit einer verabreichten Impfung derzeit ein plausibles Zeitintervall von bis zu 42 Tagen angesehen. Da man die genauen immunologischen Abläufe nicht kenne, orientiere man sich an empirischen Daten. Shoenfeld et alt. seien sogar der Ansicht, dass für Autoimmunerkrankungen nach Impfungen auch Intervalle von mehreren Monaten nicht unplausibel seien. Die unerwünschte Reaktion einer immunologisch vermittelten Entzündung des peripheren Nervensystems im Sinne einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie nach der FSME-Impfung, der Diphtherie-Monoimpfung und der Kombinationsimpfung mit Revaxis sei als bekannt zu betrachten. Besonderes Potenzial bezüglich der Auslösung autoimmuner Komplikationen komme im Fall der Klägerin sicherlich der verwendeten Diphtherie-Impfung zu, die mit dem Konservierungsmittel Thiomersal eine zusätzliche Komponente mit autoimmunem Auslösepotenzial beinhalte. Alternative Ursachen im Sinn von nachgewiesenen Infektionen oder anderen immunmodulationen Ereignissen seien in den Akten nicht dokumentiert. Das Kriterium des gesicherten Zusammenhangs im WHO-Algorithmus verlange einen positiven Expositionsversuch, der in Anbetracht der Schwere der Erkrankung bei der Klägerin nicht vertretbar sei. Somit seien im Fall der Klägerin die Kriterien erfüllt, die von der WHO für die Feststellung eines wahrscheinlichen Zusammenhangs gefordert würden, welche seien:

  • 1.plausibles zeitliches Intervall,

  • 2.plausible Hypothese zur Pathophysiologie und Bekanntheit der Reaktion und

  • 3.keine anderen möglichen Auslöser einer Autoimmunreaktion im plausiblen Zeitintervall.

Zu der nach deutschem Impfschadensrecht erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs hat sich der Sachverständige kritisch geäußert. Eine Kausalitätsbewertung dahingehend, dass die Kausalität dann wahrscheinlich sei, wenn wenigstens mehr für als gegen sie spreche, sei durchaus problematisch und bei vielen komplexen Verdachtsfällen von unerwünschten Wirkungen von Impfstoffen nicht wirklich anwendbar. Wenn man sich wissenschaftlich wirklich mit den Abläufen einer Impfkomplikation befasse, sei die Forderung nach einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion sehr problematisch und entspreche keinesfalls dem aktuellen Kenntnisstand über immunologisch vermittelte Impfkomplikationen. Gerade die von Shoenfeld et alt. etablierten Fälle würden eben keine unmittelbar erkennbare Primärschädigung vermitteln, sondern nach einem symptomfreien Zeitintervall mit schleichendem Beginn einer schweren Erkrankung, bis zu deren Diagnosestellung dann wieder einige Zeit vergehe, verlaufen.

Die Vorgutachten hat Dr. H. wie folgt gewürdigt:

- Herr B. habe im versorgungsärztlichen Gutachten nur die FSME-Impfung diskutiert, nicht aber die weiteren verabreichten Impfungen. Aktuelle Forschung zu Impfungen und Autoimmunerkrankungen werde nicht vorgestellt. Die Stellungnahme sei daher nicht geeignet, eine korrekte Bewertung der Abläufe im Fall der Kläger zu ermöglichen.

- Der sozialgerichtliche Gutachter Prof. Dr. J. habe in seinem Gutachten Arbeiten nicht erwähnt, die schwere unerwünschte neurologische Wirkungen der FSME-Impfung belegen würden. Große Vorsicht sei bei der Interpretation der von Prof. Dr. J. zitierten Studien der Hersteller geboten, da diese Studien nur veröffentlicht würden, wenn sich die Hersteller hiervon einen Vorteil versprächen. Prof. Dr. J. behaupte, die Arbeiten von Shoenfeld et alt. zur Autoimmunität und Adjuvantien in Impfstoffen würden lediglich eine Hypothese darstellen, die bis heute nicht wirklich bewiesen worden sei. Allerdings unternehme der Gutachter auch nicht den Versuch, diese Hypothese kritisch zu prüfen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Aufgrund der dargelegten Schwächen sei das Gutachten von Prof. Dr. J. ungeeignet, den Fall korrekt zu bewerten.

Der Beklagte hat mit einer 13-seitigen versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 16.09.2016 durch den Neurologen Dr. K. erläutert, warum dem Gutachten des Dr. H. aus seiner Sicht nicht zu folgen sei. Der Symptombeginn der Erkrankung der Klägerin könne nicht vor Januar 2006 datiert werden. Die später gemachten Ausführungen der Klägerin zu einem deutlich früheren Symptombeginn seien erst im Verlauf des IfSG-Verfahrens getätigt worden, während die zeitnah dokumentierten Befunde andere Informationen liefern würden. Im Hinblick auf die angeschuldigten Impfungen bestehe somit ein Zeitintervall von ca. sieben bzw. fünfeinhalb Monaten von der Impfung bis zum Krankheitsbeginn der chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie. Die Entwicklung einer autoimmunologisch bedingten Polyneuritis mit einem derartigen zeitlichen Abstand zu einer eventuellen Antigenpräsentation im Rahmen einer Impfung sei jedoch bereits aus pathophysiologischen Gründen nicht plausibel. Bei Fällen eines Guillain-Barre-Syndroms, in denen eine vorauslaufende Infektion dokumentiert sei, würden diese Infektionen den ersten Symptomen der neurologischen Krankheit um nicht länger als vier Wochen vorausgehen. Zudem müsse berücksichtigt werden, dass Evidenzen für das Auftreten einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie als Folge einer Impfung nicht vorlägen. Fälle einer zeitlichen Assoziation einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie mit einer Impfung gegen FSME seien bislang überhaupt nicht beschrieben. Die Ausführungen von Dr. H. zur Toxizität von in Impfstoffen enthaltenen Aluminiumverbindungen entsprächen nicht dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft. Abschließend hat Dr. K. darauf hingewiesen, dass Nebenwirkungen in den vor dem Jahr 2001 verwendeten FSME-Impfstoffen noch verhältnismäßig häufig gewesen seien, seitdem aber der Impfstoff als sicher betrachtet werden könne. Unabhängige Postmarketingsanalysen mit Beobachtung von mehr als 5 Millionen Impfdosen hätten kein potentielles Impfrisiko erkennen lassen.

Mit Urteil vom 06.12.2016 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klageabweisung hat das SG damit begründet, dass eine Impfkomplikation im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung nicht nachgewiesen sei. Die Rötung an der Stelle der Impfung gehe über das Ausmaß einer normalen Impfreaktion nicht hinaus. Auf Unstimmigkeiten bei der Schilderung der Klägerin über Art und Ausmaß der Komplikationen hat das SG hingewiesen. Das SG hat auch keinen wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen Impfung und Erkrankung der Klägerin gesehen.

Gegen das am 20.12.2016 zugestellte Urteil haben die Bevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 03.01.2016 Berufung beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt.

Mit Schreiben vom 28.03.2017 haben sie den gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. J. wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und zudem die Berufung wie folgt begründet:

Im Urteil des SG fehle der Hinweis auf die Impfung vom 29.09.2005. Die Aussage im Tatbestand des Urteils, die Klägerin habe bei der Untersuchung durch die Orthopädin Dr. S. am 20.02.2006 angegeben, seit 2 bis 3 Wochen Parästhesien in den Händen zu haben, sei so nicht richtig. Sie habe bereits beim Hausarzt Dr. R. am 21.07.2005 derartige Beschwerden (linke Hand) vorgebracht. Wenn der Klägerin bei der Untersuchung durch den Gutachter im Verwaltungsverfahren zur Last gelegt werde, dass ihre Angaben im Widerspruch zu denen im Rahmen der Untersuchung bei der ersten Behandlung im Krankenhaus H.W. stünden, sei dies falsch. Die Aussage, dass Ersterscheinungen erst im Jahr 2006 aufgetreten seien, sei bereits durch die vorher gemachten Untersuchungen und Arzttermine widerlegt. Eine chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie entwickle sich langsam und erreiche ihr Maximum definitionsgemäß acht Wochen oder später nach Symptombeginn. U.a. komme es zu symmetrischen Lähmungen und Sensibilitätsstörungen. Wenn der Hausarzt für den 21.07.2005 berichtet habe, dass die Impfreaktion wieder abgeklungen gewesen sei, sei demgegenüber darauf hinzuweisen, dass bereits am 21.07.2005 die auftretende Parese dokumentiert sei. Dr. H. habe aus den Unterlagen ablesen können, dass die Beschwerden eindeutig ab dem 21.07.2005 beschrieben und dokumentiert seien. Die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. K. sei unrichtig. Beispielsweise ergebe sich aus Studien, dass Aluminium in Impfstoffen das Autismus-Risiko erhöhe. Impfungen würden zudem das Risiko für Autoimmunerkrankungen erhöhen, was auch darin seine Bestätigung finde, dass impfbedingte Autoimmunerkrankungen nunmehr unter der Bezeichnung „ASIA“ zusammengefasst würden. Unerwünschte Nebenwirkung der FSME-Impfung sei u.a. das Guillain-Barre-Syndrom, dessen chronische Verlaufsform die chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie sei. Sofern im Urteil des SG davon ausgegangen worden sei, dass Unstimmigkeiten in den Ausführungen der Klägerin hinsichtlich einer Impfkomplikation gegeben seien, entspreche dies nicht der Wahrheit. Tatsächlich hätten die Paresen in der linken Hand begonnen und sich im Laufe der Zeit bis zum 29.09.2005 auf beide Hände ausgebreitet. Es werde angeregt, im Rahmen der Ermittlungen von Amts wegen ein weiteres Gutachten einzuholen.

Den Befangenheitsantrag gegen den erstinstanzlichen Sachverständigen Prof. Dr. J. hat der Senat mit Beschluss vom 05.05.2017 als unzulässig verworfen und ergänzend darauf hingewiesen, dass der Befangenheitsantrag auch in der Sache keinen Erfolg haben könnte.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Urteils vom 06.12.2016 sowie des Bescheids vom 16.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.05.2014 den Beklagten zu verurteilen, die chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie als Impfschädigung anzuerkennen und ab 01.05.2013 Versorgung nach einem GdS von 80 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen worden sind die Akten des SG sowie die Verwaltungsakten des Beklagten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

Der Beklagte hat es zu Recht, wie es auch das SG bestätigt hat, abgelehnt, bei der Klägerin einen Impfschaden anzuerkennen und Versorgung zuzusprechen.

Der Bescheid vom 16.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2014 ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG liegen nicht vor, weil es vorliegend schon am Nachweis des Primärschadens, also einer Impfkomplikation, fehlt.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 16.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.05.2014, mit dem der Antrag auf Entschädigung wegen eines Impfschadens infolge der Impfungen am 06.06.2005 (gegen Frühsommer-Menigoencephalitis (FSME) mit dem Impfstoff FSME-immun(r) sowie gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus mit dem Kombinationsimpfstoff Revaxis(r)) und am 21.07.2005 (FSME-Impfung mit dem Impfstoff FSME-immun(r)) abgelehnt worden ist. Die Impfung am 29.09.2005 ist hingegen nicht Streitgegenstand, da dazu der Beklagte - dem Antrag der Klägerin folgend - in den angefochtenen Bescheiden keine Regelung getroffen hat.

Das Begehren der Klägerin beurteilt sich nach dem IfSG, weil der Antrag vom 16.05.2013 zu einem Zeitpunkt gestellt worden ist, als das - das BSeuchG ohne Übergangsvorschrift ablösende (vgl. Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften vom 20.07.2000, BGBl. I, S. 1045) - IfSG (seit dem 01.01.2001) in Kraft war (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R).

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

  • 1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

  • 2.auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

  • 3.gesetzlich vorgeschrieben war oder

  • 4.auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.

Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Die Anerkennung als Impfschaden setzt eine dreigliedrige Kausalkette voraus (ständige Rspr., vgl. zum gleichgelagerten Recht der Soldatenversorgung: BSG, Urteile vom 25.03.2004, B 9 VS 1/02 R, und vom 16.12.2014, B 9 V 3/13 R): Ein schädigender Vorgang in Form einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), muss zu einer „gesundheitlichen Schädigung“ (2. Glied), also einem Primärschaden (d.h. einer Impfkomplikation) geführt haben, die wiederum den „Impfschaden“, d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also den Folgeschaden (3. Glied) bedingt.

Neben einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), müssen die „gesundheitliche Schädigung“ (2. Glied) als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, und der „Impfschaden“ (3. Glied), d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also der Folgeschaden, vorliegen. Diese drei Glieder der Kausalkette müssen - auch im Impfschadensrecht - im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteile vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R; Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2014, L 1 VE 12/09; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.2016, L 13 VJ 19/15). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92).

Sofern demgegenüber der 15. Senat des Bayer. LSG in seinem Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, zur Frage des Primärschadens ausgeführt hat

"Der Betroffene muss zweitens eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben (auch wenn diese vielleicht nicht eindeutig zu identifizieren und zeitlich zu fixieren sein mag); dabei muss es im haftungsbegründenden Tatbestand unabdingbar zu einer gesundheitlichen Schädigung (= Primärschädigung) gekommen sein, rein wirtschaftliche Nachteile genügen insoweit nicht. Zum haftungsbegründenden Tatbestand gehört auch, dass die Primärschädigung im Sinn von § 2 Nr. 11 IfSG über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgeht."

und weiter

„Es wäre allerdings realitätsfremd, in jedem impfschadensrechtlichen Fall zu verlangen, es müsse eine deutlich wahrnehmbare und fixierbare Primärschädigung festgestellt werden. Allgemein dient die Dreigliedrigkeit dazu, bestimmte Geschehnisabläufe bereits auf einer Vorstufe der Prüfung “auszusondern„und das Fehlen kausaler Zusammenhänge leichter erkennen zu können. Je mehr sich die Kausalitätsprüfung in gedankliche Zwischenschritte “zerlegen„lässt, desto objektivierbarer kann der Geschehnisablauf rechtlich aufgearbeitet werden (vgl. Kunze, Kausalität in der gesetzlichen Unfallversicherung, VSSR 2005, S. 299 <302>). Diese Differenzierung ist aber dann nicht möglich, wenn die Schädigung, also der (erste) Eingriff in das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, nicht deutlich zu Tage tritt, sondern wie hier im Verborgenen erfolgt (a.A. wohl Meßling in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 60 IfSG, Rn. 62). Zweifellos ist in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung schwieriger, weil sich der Verursachungspfad nicht klar abzeichnet. Dennoch darf nicht per se wegen der Nichterkennbarkeit einer Primärschädigung am Rechtsgut der körperlichen Gesundheit die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs negiert werden. Vielmehr muss der Zusammenhang zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen “Etappe„beurteilt werden (vgl. LSG Bayern, Breithaupt 2012, S. 51 <56>).“, kann der Senat dem nicht folgen. Denn damit verzichtet der 15. Senat auf das Erfordernis des Vollbeweises beim Primärschaden. Wenn der 15. Senat die Anforderungen an den Nachweis des Vollbeweises in der vorgenannten Entscheidung durch den Hinweis

„Sehr wichtige “Mosaiksteine„sind dabei die mehr oder weniger zeitnah zur Impfung beim Kläger beobachtete Symptomatik, das allgemein auftretende Bild eines Impfschadens mit einer Beteiligung eines peripheren Nerven, die Ätiologie des beim Kläger vorhandenen Krankheitsbilds, die Pathogenese in Bezug auf mögliche Alternativursachen.“

relativiert und letztlich in Frage stellt, steht dies nicht in Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben und der klaren obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung. Ob der 15. Senat dieser Entscheidung auch heute noch folgen würde, steht im Übrigen in Frage (vgl. Urteil des 15. Senats vom 11.07.2017, L 15 VJ 6/14, in dem die Frage ausdrücklich offen gelassen worden ist, inwiefern der Primärschaden nachgewiesen sein muss).

So geht das BSG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der Primärschaden im Vollbeweis nachgewiesen sein muss. Es hat im Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, Folgendes ausgeführt:

"Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr. 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm. 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind."

Genauso ist die Rechtsprechung im wesensverwandten Rechtsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung. Auch dort ist der Nachweis des unmittelbar nach dem schädigenden Vorgang vorliegenden Gesundheitsschadens, dort auch „Erstschaden“ genannt, im Vollbeweis zu führen. So hat das BSG in zwei Urteilen vom 24.07.2012, B 2 U 9/11 R und B 2 U 23/11 R, jeweils formuliert:

„Die den Versicherungsschutz in der jeweiligen Versicherung begründende “Verrichtung„, die (möglicherweise dadurch verursachte) “Einwirkung„und der (möglicherweise dadurch verursachte) “Erstschaden„müssen (vom Richter im Überzeugungsgrad des Vollbeweises) festgestellt sein.“

Eine irgendwie geartete Beweiserleichterung beim Primärschaden, wie es der 15. Senat des Bayer. LSG im oben aufgezeigten Urteil mit der Beurteilung „des Zusammenhangs zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen Etappe“ anhand von „Mosaiksteinen“, die den Nachweis des Primärschadens im Vollbeweis als „realitätsfremd“ und damit verzichtbar erscheinen lassen sollen, getan hat, ist damit nicht vereinbar. Soweit die Entscheidung des 15. Senats offenbar von dem Unbehagen getragen worden ist, „bestimmte Geschehnisabläufe bereits auf einer Vorstufe der Prüfung“ - gemeint ist vor der Prüfung der Kausalität - „auszusondern“, kann der Senat dieses Unbehagen auch in der Sache nicht nachvollziehen. Gerade im Bereich des Impfschadensrechts stehen oft Erkrankungen im Raum, die in einem mehr oder weniger weiten zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung aufgetreten sind, für die es aber schwer ist, eine Erklärung zu finden, entweder weil die Ursache der Erkrankung an sich schwer oder kaum zu klären ist oder weil für die Auslösung der Erkrankung auch andere Ursachen außerhalb der Impfung denkbar sind; denn eine Impfung ist typischerweise nicht mit einem massiven Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verbunden, sondern stellt regelmäßig eine Belastung dar, wie sie auch im täglichen Leben vorkommen kann, ohne dass dies dem Betroffenen als besonders belastend auffallen würde. Würde angesichts des aufgezeigten Dilemmas auf den Nachweis des Primärschadens, der zumindest plausibel belegt, dass der Körper auf die Impfung unüblich stark reagiert hat und daher eine impfuntypische Beeinflussung des Gesundheitszustands naheliegt, verzichtet, würde damit die vom Gesetzgeber verlangte Nachweisführung massiv erleichtert und zu Gunsten kranker Menschen eine Entschädigung ermöglicht, die der Gesetzgeber lediglich für Fälle vorgesehen hat, in denen der Zusammenhang nur unter vergleichsweise strengen, so aber vom Gesetzgeber gewollten Voraussetzungen festgestellt werden kann. Sollte der Gesetzgeber die Anerkennung eines Impfschadens auch unter reduzierten Beweisanforderungen zulassen wollen, müsste er die gesetzlichen Vorgaben ändern. Eine Korrektur im Wege der Rechtsprechung hingegen würde gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz verstoßen.

Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Regeln der Beweislast zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs auf ihr Vorliegen stützt.

Demgegenüber reicht es für den zweifachen ursächlichen Zusammenhang der drei Glieder der Kausalkette nach § 61 Satz 1 IfSG aus, wenn dieser jeweils mit Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Die Beweisanforderung der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R - in Aufgabe der früheren Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 24.09.1992, 9a RV 31/90, die für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität noch den Vollbeweis vorausgesetzt hat) als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.

Eine potentielle, versorgungsrechtlich geschützte Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977, 10 RV 15/77), also mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSG, Urteile vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80, vom 26.06.1985, 9a RVi 3/83, vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84, vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort „hinreichend“ nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./ Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rdnr. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 26.11.1968, 9 RV 610/66, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R).

Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der versorgungsrechtlichen Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 08.08.1974, 10 RV 209/73) rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Während die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (vgl. z.B. BSG, Urteile vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, und vom 30.01.2007, B 2 U 8/06 R) demgegenüber den Begriff der „annähernden Gleichwertigkeit“ für nicht geeignet zur Abgrenzung hält, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich ansieht, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von überragender Bedeutung ist, hat der für das soziale Entschädigungsrecht zuständige 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 6/13 R, zur annähernden Gleichwertigkeit Folgendes ausgeführt:

„Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.“

Von einer annähernden Gleichwertigkeit einer versorgungs- und damit auch impfschadensrechtlich geschützten Ursache kann daher - im Gegensatz zu der für den Betroffenen günstigeren unfallversicherungsrechtlichen Rechtsprechung - nur dann ausgegangen werden, wenn ihre Bedeutung gleich viel oder mehr Gewicht hat als die der andere(n) Ursache(n) (zusammen).

Die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinn als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, ist im jeweiligen Einzelfall aus der Auffassung des praktischen Lebens abzuleiten (vgl. BSG, Urteil vom 12.06.2001, B 9 V 5/00 R).

Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsschäden zu erfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R).

Kann eine Aussage zu einem (hinreichend) wahrscheinlichen Zusammenhang nur deshalb nicht getroffen werden, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kommt die sogenannte Kannversorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG in Betracht. Von Ungewissheit ist dann auszugehen, wenn es keine einheitliche, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG von der Beurteilung auf dem Boden der „Schulmedizin“ (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R). Aber auch bei der Kannversorgung reicht allein die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das BSG spricht hier auch von der „guten Möglichkeit“ eines Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 12.12.1995, 9 RV 17/94, und vom 17.07.2008, B 9/9a VS 5/06). In einem solchen Fall liegt eine Schädigungsfolge dann vor, wenn bei Zugrundelegung der wenigstens einen wissenschaftlichen Lehrmeinung nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nachgewiesen ist (vgl. Bayer. LSG, Urteile vom 19.11.2014, L 15 VS 19/11, vom 21.04.2015, L 15 VH 1/12, vom 15.12.2015, L 15 VS 19/09, und vom 26.01.2016, L 15 VK 1/12). Existiert eine solche Meinung überhaupt nicht, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein, dass ein Zusammenhang nicht hergestellt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.1993, 9/9a RV 41/92).

Lässt sich der Zusammenhang nicht (hinreichend) wahrscheinlich machen und auch nicht über die Kannversorgung herstellen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf das Vorliegen des Zusammenhangs stützen möchte, also des Anspruchsstellers.

Unter Anwendung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall schon eine Impfkomplikation (Primärschaden, 2. Glied der Kausalkette) nach den Impfungen vom 06.06.2005 und 21.07.2005 nicht nachgewiesen. Dabei stützt sich der Senat auf die vorliegenden ärztlichen Berichte und Aufzeichnungen, insbesondere des impfenden Hausarztes, und die Einschätzungen sämtlicher Sachverständiger und Versorgungsärzte, die sich mit dieser Frage im Laufe des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens befasst haben.

Nach der ersten Impfung am 06.06.2005 hat es bei der Klägerin nur eine lokale Impfreaktion gegeben, die dem entspricht, was bei einer derartigen Impfung üblich und zu erwarten ist. Nach den eigenen Angaben der Klägerin gegenüber ihrem Hausarzt am 21.07.2005 war diese typische Impfreaktion bis zum 21.07.2005 wieder abgeklungen. Dr. R. hat am 21.07.2005 weder atypische Befunde erhoben noch Angaben der Klägerin vermerkt, die auf eine atypische Impfreaktion hindeuten würden.

Auch nach der zweiten Impfung am 21.07.2005 sind nach den vorliegenden Arzt- und Klinikberichten keine Befunde erhoben worden, die auf eine unübliche Impfreaktion der Klägerin hinweisen würden.

Wenn die Klägerin erst während des Verfahrens nach dem IfSG, also viele Jahren nach den Impfungen, behauptet, sie hätte sowohl nach der ersten als auch nach der zweiten Impfung erhebliche und anhaltende Nebenwirkungen verspürt und zudem eine schleichende Verschlechterung des Gesundheitszustands bemerkt, sind dies Behauptungen der Klägerin, die durch keinerlei objektiven Tatsachen oder Befunde gestützt werden; sie sind offensichtlich unter dem Eindruck des impfschadensrechtlichen Verfahrens erfolgt und stehen zudem in Widerspruch zu zeitnahen Angaben der Klägerin. Der Senat kann den Angaben der Klägerin, sie habe nach den Impfungen erhebliche und anhaltende Nebenwirkungen verspürt und zudem eine schleichende Verschlechterung des Gesundheitszustands beobachtet, keinen Glauben schenken. Es ist auffällig, dass die Klägerin ihre Angaben zum Beschwerdebeginn im Laufe des Verfahrens immer mehr hin zu einem immer früheren Beginn, wie er für die Geltendmachung ihres Begehrens hilfreich sein könnte, angepasst hat. Dass diese im Laufe des Verfahrens modifizierten Angaben der Klägerin nicht den Tatsachen entsprechen oder sich zumindest nicht nachweisen lassen, ergibt sich für den Senat aus den ersten und damit zu den Impfungen zeitlich am nächsten erfolgten Angaben der Klägerin im Februar 2006. So hat sie bei den 20.02.2006 bzw. 22.02.2006 stattgefundenen Behandlungen lediglich von Beschwerden berichtet, die vor etwa zwei bzw. sechs Wochen begonnen hätten. Ein Auftreten von Gesundheitsstörungen, die über eine übliche Impfreaktion hinausgehen würde, noch im Jahr 2005, geschweige denn zeitnah nach den beiden Impfungen im Juni und Juli 2005, ist damit für den Senat nicht im Vollbeweis nachgewiesen. Wenn die Klägerin später anderes behauptet, erscheint dies nicht glaubhaft.

Sofern die Klägerin zuletzt in der Berufungsbegründung und auch wieder in der mündlichen Verhandlung die Behauptung aufgestellt hat, dass bei der zweiten Impfung am 21.07.2005 bereits eine Parese und damit aus ihrer Sicht eine Impfkomplikation vorgelegen habe und dies der von ihr benannte Gutachter Dr. H. auch so als belegt angesehen habe, ist diese Behauptung durch nichts nachgewiesen und findet auch im Gutachten des Dr. H. keine Bestätigung. Die Behandlungsunterlagen des Hausarztes enthalten lediglich den Hinweis darauf, dass die Klägerin am 29.09.2005, nicht schon am 21.07.2005, eine Parästhesie der linken Hand angegeben habe, dafür die Diagnose z.B. eines Karpaltunnelsyndroms gestellt und ihr eine Handgelenksbandagen verordnet worden sei. Eine von der Klägerin behauptete Parästhesie der linken Hand schon am 21.07.2005 und eine Ausdehnung auf beide Hände bis zum 29.09.2005 stehen daher in Widerspruch zu den ärztlichen Aufzeichnungen des behandelnden Arztes Dr. R.. Obwohl die am 29.09.2005 erfolgten Angaben zu einer Parästhesie der linken Hand allen Gutachtern bekannt waren, hat keiner der Sachverständigen darin eine (potentielle) Impfkomplikation gesehen, auch nicht der von der Klägerin gemäß § 109 SGG benannte Dr. H. Weitere ärztliche Befunde, die im Jahr 2005 potentielle Impfreaktionen belegen würden, gibt es nicht. Die Klägerin begab sich erst im Februar 2006 wieder in ärztliche Behandlung. Es spricht daher alles dafür, dass die von der Klägerin am 29.09.2005 geschilderte Parästhesie einer Hand lediglich eine vorübergehende Erscheinung war, die mit einer Handbandage adäquat behandelt worden ist mit der Folge, dass die Beschwerden vollständig, zumindest aber weitgehend wieder verschwunden sind. Dass diese Gefühlsstörung an der linken Hand im September 2005 nicht im Zusammenhang mit den Impfungen und dem später diagnostizierten Guillain-Barre-Syndrom bzw. der chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie steht, wovon ersichtlich auch die beiden gerichtlichen Gutachter ausgegangen sind, ergibt sich schon daraus, dass es sich nur um eine einseitige, nicht aber symmetrische, also beide Hände betreffende Gefühlsstörung gehandelt hat, wie sie typisch für das Guillain-Barre-Syndrom und danach eine chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie wäre. Zudem ergibt sich auch aus den eigenen Angaben der Klägerin, dass sich diese Gefühlsstörung wieder vollständig zurückgebildet hat. So hat die Klägerin bei späteren ärztlichen Untersuchungen wiederholt angegeben, dass die Gefühlsstörungen zuerst in den Füßen und dann in den Händen aufgetreten seien. Die einmalig diagnostizierte einseitige Gefühlsstörung in der linken Hand im September 2005 muss sich daher wieder vollständig oder zumindest weitestgehend zurückgebildet haben. Eine schleichende Verschlimmerung, wie sie die Klägerin später behauptet hat, ist daher durch ihre eigenen Angaben widerlegt. Eine Impfkomplikation sieht der Senat in Übereinstimmung mit den Sachverständigen nicht.

Wenn der von der Klägerin benannte Gutachter Dr. H. demgegenüber wegen des ihm von der Klägerin geschilderten, nicht aber durch objektive Befunde belegten Verlaufs der Erkrankung vom Nachweis einer entsprechenden Primärschädigung ausgeht, ist dies nicht nachvollziehbar. Dr. H. hat selbst darauf hingewiesen, dass nach den streitgegenständlichen Impfungen lediglich übliche Impfreaktionen aufgetreten seien. Nach seinem eigenen Vortrag kann daher nicht von einer Impfkomplikation, wie sie Voraussetzung für die Herstellung des 2. Glieds der impfschadensrechtlichen Kausalkette ist, ausgegangen werden. Ganz offensichtlich hat er sich, wenn er dann gleichwohl einen Impfschaden annimmt, allein auf die späteren - unbewiesenen und mit den zeitnahen Angaben der Klägerin nicht kompatiblen - Angaben der Klägerin gestützt. Sofern die Klägerin demgegenüber meint, Dr. H. habe in den Unterlagen objektive Befunde als Bestätigung des von ihr behaupteten Verlaufs gefunden, irrt sie. Dr. H. hat lediglich die Angaben wiederholt, die die Klägerin gemacht hat, ohne dass die Richtigkeit dieser Angaben bewiesen wäre. Wenn Dr. H. auf S. 19 seines Gutachtens ausführt, „im September 2005 lag nach dem Bericht von Herrn B. eine Episode mit unklaren Gliederschmerzen und unnatürlicher Erschöpfung vor“, stellt diese Feststellung eine eklatante Verdrehung der Tatsachen dar und kann nur als eindeutiger Beleg für ein nicht nur unwissenschaftliches, sondern sogar unseriöses Vorgehen des Dr. H. gewertet werden. Denn im Gutachten des Versorgungsarztes B. vom 07.11.2013 weist dieser auf S. 5 ausdrücklich darauf hin, dass die Klägerin bei seiner Untersuchung „berichtet“ habe, im September 2005 einen Erschöpfungstatbestand entwickelt zu haben, diese Angabe aber „in deutlichem Widerspruch“ zu den Angaben der Klägerin bei zeitnahen Behandlungen stehe - so Herr B. nur 7 Zeilen weiter unten! Für den Senat lässt sich diese - für die Klägerin vermeintlich hilfreiche - Verdrehung der Tatsachen nicht mit einer Nachlässigkeit des Gutachters erklären, sondern kann nur als Beleg für eine bewusst-manipulative Gutachtenserstellung gewertet werden, die eine Verwertbarkeit von Gutachten dieses Arztes grundsätzlich in Frage stellt. Diese Bedenken gegenüber der gutachtlichen Arbeitsweise des Dr. H. werden noch dadurch verstärkt, das Dr. H. - dem geschilderten Schema folgend - die (unrichtige) Feststellung trifft, dass erstmals im November 2005 in mehreren ärztlichen Berichten eine muskuläre Schwäche der Klägerin beim Gehen beschrieben worden sei. Tatsächlich gibt es aber keinen einzigen ärztlichen Bericht, in dem eine solche Schwäche bereits im November 2005 beschrieben worden wäre. Vielmehr gibt es nur ärztliche Berichte aus dem Jahr 2006 und später darüber, dass die Klägerin angegeben habe, im November 2005 unter einer solchen Schwäche gelitten zu haben. Auch hier stellt sich wieder die Frage, ob nicht von einem bewusst manipulativen Vorgehen des Dr. H. ausgegangen werden muss. Von einem dokumentierten Beginn der Erkrankung wenige Wochen nach der (zudem nicht streitgegenständlichen) Impfung vom 29.09.2005 kann daher entgegen den anders lautenden Ausführungen des Dr. H. keine Rede sein.

Auch kann die Argumentation des Dr. H. nicht überzeugen, wenn dieser versucht, eine Impfkomplikation daraus herzuleiten, dass eine impftypische Reaktion länger als normal angehalten habe und daher eine Impfkomplikation vorliege. Ganz abgesehen davon, dass die Annahme, dass sich aus einer üblichen Impfreaktion eine Impfkomplikation allein durch Zeitablauf entwickeln könne, für den Senat so nicht nachvollziehbar ist, beruht die Annahme des Dr. H. auch darauf, dass er nicht nachgewiesene und für den Senat sogar widerlegte Tatsachen als gegeben zu Grunde legt. Denn die Annahme des Dr. H., dass sich die üblichen Impfreaktionen nicht zurückgebildet, sondern im Laufe der Zeit immer mehr verschlimmert hätten, ist durch keinen einzigen ärztlichen Befund belegt. Vielmehr ist durch die Angaben der Klägerin am Tag der zweiten Impfung (21.07.2005), wie sie ihr behandelnder Arzt dokumentiert hat, sogar widerlegt, dass sich die übliche Impfreaktion nicht zurückgebildet hätte. So hat Dr. R. ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Klägerin zwar über eine lokale Schwellung und Rötung nach der ersten Impfung berichtet habe, diese aber am 21.07.2005, also bei der zweiten Impfung, bereits wieder abgeklungen gewesen seien. Insofern sind die Angaben der Klägerin, die sie im Laufe des Verfahrens und insbesondere auch bei der Begutachtung durch Dr. H. gemacht hat, als unrichtig widerlegt. Dafür, dass der Beschwerdeverlauf nach der zweiten Impfung anders gewesen wäre als der nach der ersten Impfung, bei der eine übliche Impfreaktion aufgetreten und - ebenso wie üblich - wieder abgeklungen ist, gibt es keine Belege. Einzig die Klägerin hat im Laufe des Verfahrens ihre Angaben dahingehend angepasst und modifiziert. Ein derartiger Verlauf würde auch in Widerspruch stehen zu den ersten, auch schon modifizierten Angaben der Klägerin, wie sie diese im Laufe des Jahres 2006 aufgestellt hat. So hat sie nach den Behandlungen durch den Nervenarzt R. und die Orthopädin Dr. S. angegeben, dass der Beschwerdebeginn im November 2005 erfolgt sei. Die zuletzt auch bei Dr. H. erfolgte Modifikation des Beschwerdeverlaufs dahingehend, dass sich bereits ab den Impfungen durchgehend eine Verschlechterung eingestellt hätte, ist damit schon durch die zuvor von der Klägerin bereits modifizierten Angaben widerlegt. Insgesamt ist der Senat zu der Einschätzung gekommen, dass den Angaben der Klägerin mit umso größeren Vorbehalten zu begegnen ist, umso später diese gemacht worden sind.

Sofern die Klägerin zuletzt in der mündlichen Verhandlung versucht hat, dem Senat einen früheren Beginn des Krankheitsverlaufs dadurch zu suggerieren, dass sie angegeben hat, sie gehe grundsätzlich kaum zum Arzt und sei im Februar 2006 erst dann zum Arzt gegangen, als sie kaum noch hätte laufen können, sind auch diese Angaben der Klägerin durch die vorliegenden ärztlichen Berichte widerlegt. So ist den Behandlungsunterlagen des Dr. R. zu entnehmen, dass die Klägerin - erstmals nach dem Behandlungstermin am 29.09.2005 - am 13.02.2006 bei ihm in der Praxis war und dort Parästhesien beider Daumen und der Füße sowie eine Kraftlosigkeit angegeben habe. Dr. R. hat dabei aber eine seitengleich grobe Kraft festgestellt und keinerlei Befunde beschrieben, die an ein massiv eingeschränktes Gehvermögen denken lassen könnten.

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die Anerkennung eines Impfschadens schon daran scheitert, dass sich eine Impfkomplikation nicht im Vollbeweis nachweisen lässt.

Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass auch dann, wenn auf das Erfordernis des Primärschadens verzichtet würde, was der Senat aus Rechtsgründen nicht für vertretbar hält (vgl. oben), eine Anerkennung als Impfschaden aus Kausalitätsgründen scheitern würde. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Gutachten des Prof. Dr. J., sondern auch aus dem Gutachten des von der Klägerin benannten Sachverständigen Dr. H.:

- Der im erstinstanzlichen Verfahren gehörte Gutachter Prof. Dr. J. hat ausführlich und überzeugend und unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstands erläutert, dass das bei der Klägerin vorliegende Krankheitsgeschehen unabhängig von den Impfungen ist. Sowohl die aktuellen Kenntnisse über die Pathogenese der chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie als auch das Wissen über Verträglichkeit und mögliche Komplikationen nach den durchgeführten Impfungen und schließlich der große zeitliche Abstand zwischen Impfung und dem ersten Auftreten von Symptomen eines Guillain-Barre-Syndroms bzw. einer chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie sprechen ganz klar gegen einen kausalen Zusammenhang zwischen den Impfungen und der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung. Diese Ausführungen des Sachverständigen kann sich der Senat vorbehaltslos zu eigen machen.

- Aber auch nach den Feststellungen im Gutachten des von der Klägerin gemäß § 109 SGG benannten Sachverständigen Dr. H., das nicht nur den bereits aufgezeigten Bedenken begegnet, sondern auch unter massiven Mängel leidet - beispielsweise legt er nicht den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu Impfzusatzstoffen zugrunde (vgl. ausführlich Urteil des Senats vom 18.05.2017, L 20 VJ 5/11 - m.w.N.) und führt seine Beurteilung nicht nach den Maßgaben des deutschen Impfschadensrechts durch, weil er diese Vorgaben für falsch hält -, müsste der für die Anerkennung eines Impfschadens erforderliche kausale Zusammenhang verneint werden. Zum einen legt Dr. H. selbst zu Grunde, dass sich nach den impfschadensrechtlichen Anforderungen im deutschen Recht, wie sie ihm auch im Gutachtensauftrag aufgezeigt worden sind, ein Zusammenhang im vorliegenden Fall nicht herstellen lässt. Er weicht daher auf Kriterien der WHO aus, die aber nach deutschem Impfschadensrecht unmaßgeblich sind. Zudem - auch dies zeigt er auf - dürfte auch bei Zugrundelegung der WHO-Anforderungen ein kausaler Zusammenhang nicht bejaht werden, weil der nach den WHO-Kriterien erforderliche erfolgreiche Expositionsversuch nicht durchgeführt worden ist. Dass aus Rücksicht auf die Gesundheit der Klägerin von einem derartigen Expositionsversuch im Rahmen der Begutachtung durch Dr. H. abgesehen worden ist, ist für den Senat zwar verständlich. Gleichwohl kann der Senat nicht nachvollziehen, warum Dr. H. wiederum von den von ihm selbst als maßgeblich bezeichneten WHO-Kriterien abweicht und trotz nicht vollständiger Erfüllung der von ihm selbst als erforderlich aufgezeigten Voraussetzungen einen Kausalzusammenhang bejaht. Schließlich weist Dr. H. selbst darauf hin, dass von einem plausiblen Zeitintervall für den Beginn einer demyelinisierenden Erkrankung des peripheren und zentralen Nervensystems nach einer Impfung nur dann auszugehen sei, wenn dieses nicht mehr als 42 Tage betrage. Dieses Zeitintervall war nach den Impfungen am 06.06.2005 und 21.07.2005 auch dann weit überschritten, wenn von den - nicht belegten - verhältnismäßig zeitnah zu den Impfungen gemachten Angaben der Klägerin ausgegangen würde, dass sie im November 2005 erste Gefühlsstörungen an Füßen und Händen gehabt hätte.

Die Berufung kann daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 8. Juni 2015 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Impfschadensrecht gemäß §§ 60 ff. Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Am 03.11.2009 wurde der im Jahr 1965 geborene Kläger bei den Ärzten Dres. E. gegen den Influenza A Virus (H1N1 - Schweinegrippevirus) mit dem Impfstoff Pandemrix (Lot A81CA062A) geimpft.

In der Nacht zum 10.11.2009 erlitt der Kläger einen Hirninfarkt. Anschließend wurde er im H. in A-Stadt bis zum 10.12.2009 intensivmedizinisch behandelt, wobei am 12.11.2009 eine Dekompressionskraniektomie durchgeführt wurde. Als Diagnosen wurden u.a. ein Hirninfarkt und eine „Dissektion bzw. thrombembolischer Verschluss der distalen interkraniellen Arteria carotis li.“ sowie eine benigne essentielle Hypertonie mit Angabe einer hypertensiven Krise genannt. Es wurden diverse, auch bildgebende Untersuchungsverfahren durchgeführt. Bei einer CT-Angiographie der hirnversorgenden Arterien vom 10.11.2009 ist folgender Befund festgehalten: „Hochgradig stenosierende, wohl embolische KM-Aussparungen in der linken A. carotis … Keine weiteren Gefäßstenosen oder Verschlüsse.“

Anschließend befand sich der Kläger bis zum 07.04.2010 und anschließend bis 09.06.2010 in stationärer neurologischer Rehabilitationsbehandlung bzw. stationärer Anschlussheilbehandlung. Eine Dopplersonographie vom 20.02.2010 hatte dabei eine unauffällige Gefäßwandmorphologie ergeben.

Derzeit ist wegen der aus dem Hirninfarkt resultierenden Halbseitenlähmung ein Grad der Behinderung von 70 festgestellt.

Mit Schreiben vom 22.02.2012 beantragte der Kläger Versorgung nach dem IfSG; den Hirninfarkt führe er auf die Impfung vom 03.11.2009 zurück.

Nach Beiziehung umfangreicher medizinischer Unterlagen erstellte am 11.07.2012 der Dr. K. eine versorgungsärztliche Stellungnahme. Darin kam er zu der Einschätzung, dass es sich bei dem Hirninfarkt mit deutlich überwiegender Wahrscheinlichkeit um eine rein zufällige, zeitlich relativ nahe beieinanderliegende Koinzidenz einer Impfung mit einer schicksalshaften Erkrankung handle. Carotisdissektionen seien nicht als Nebenwirkung einer Pandemrix-Impfung beschrieben. Eine Anerkennung nach dem IfSG könne nicht empfohlen werden.

Diese Einschätzung bestätigte der und Psychiater Dr. K. in einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 02.10.2012. Ein Hirninfarkt werde als Nebenwirkung des Influenza-Impfstoffs nicht beschrieben. In sehr seltenen Fällen werde eine Vaskulitis angegeben. Die Entzündungswerte des Klägers seien jedoch erst am 15.11.2009, also fünf Tage nach dem Hirninfarkt angestiegen. Als Ursache dafür seien Erreger nachgewiesen worden und mit antibiotischer Therapie erfolgreich behandelt worden. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Dissektion der Arteria carotis mit dem nachfolgenden Hirninfarkt einerseits und der eine Woche zuvor durchgeführten Impfung andererseits sei als unwahrscheinlich anzusehen.

Mit Bescheid vom 23.10.2012 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab.

Mit Schreiben vom 07.11.2012 legte der Kläger Widerspruch ein. Es werde verkannt, dass der Hirninfarkt eine unübliche Impfreaktion sei. Bei der Impfung sei er vollkommen gesund gewesen. Ob ein Hirninfarkt als Nebenwirkung des Impfstoffes beschrieben werde, sei für die Kausalitätsfrage unbedeutend. In der Datenbank des P.-E.-Instituts zu Verdachtsfällen von Impfkomplikationen seien 16 Fälle von Hirninfarkt im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen verzeichnet. Somit sei diese Impfreaktion bekannt. Der Beklagte gehe von einer schädigungsunabhängigen Erkrankung aus. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast trage der Leistungsträger die Beweislast für diejenigen Tatsachen, aus denen er die Ablehnung des kausalen Zusammenhangs ableite.

Nachdem der Kläger Akteneinsicht genommen hatte, ergänzte er seinen Widerspruch mit Schreiben vom 08.01.2013. Auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen Impfung und Hirninfarkt wies er hin. Über das Risiko der Impfung sei er weder mündlich noch schriftlich aufgeklärt worden; die Impfung sei daher nicht rechtskonform erfolgt. Mangels Kenntnis des Impfrisikos sei jedenfalls die Aufklärung nicht wirksam. Auf Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wies er hin. Er forderte den Beklagten auf, ihm mitzuteilen, aufgrund welcher medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs abgelehnt werde.

Der und Psychiater Dr. K. äußerte sich zum Vorbringen des Klägers in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 04.02.2013. Er wies darauf hin, dass im Epidemiologischen Bulletin Nr. 25/2007 als Komplikationen der Grippeschutzimpfung allergische Sofortreaktionen und sehr selten eine Vaskulitis berichtet worden seien. Im vorliegenden Fall seien aber keine derartigen Reaktionen aufgetreten. Vielmehr handle es sich um einen Hirninfarkt bei Dissektion bzw. einen thromboembolischen Verschluss der Arteria carotis, die als Komplikationen nach einer Grippeschutzimpfung nicht genannt würden. Zudem sei der Gefäßverschluss nicht unmittelbar nach der Impfung, sondern erst eine Woche später aufgetreten; Fieber habe sich erst danach entwickelt. Im Übrigen werde in der Datenbank des P.-E.-Instituts zu den Verdachtsfällen darauf hingewiesen, dass dies nicht ohne weiteres bedeute, dass ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Arzneimittel existiere. Bisher sei keine Bewertung des P.-E.-Instituts oder des Robert-Koch-Instituts bekannt, die von einer kausalen Verursachung eines Schlaganfalls durch die Grippeschutzimpfung ausgehe.

Darauf gestützt wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.02.2013 den Widerspruch zurück.

Mit Schriftsatz vom 11.03.2013 haben die Bevollmächtigten des Klägers Klage zum Sozialgericht (SG) Bayreuth erhoben.

Zur Klagebegründung haben sie Folgendes vorgetragen: Die Behauptung des Beklagten, dass ein Hirninfarkt als Nebenwirkung des Impfstoffes Pandemrix nicht beschrieben und somit als unwahrscheinlich anzusehen sei, sei falsch. Mangels Erfassungssystems und wegen unzureichender Impfstoffprüfung vor der Impfempfehlung gebe es schon keine hinreichenden Studien. Zudem sei die Wesentlichkeit einer Bedingung nach der Wirkung der besonderen Umstände auf die Einzelpersönlichkeit zu beurteilen. Die Kausalität einer Erkrankung könne schon aus diesem Grund nicht von der Anzahl einer bestimmten Zahl von impfbedingten Erkrankungsfällen abhängig sein. Zudem weise die Liste des P.-E.-Instituts 16 Meldungen „Hirninfarkt“ nach Impfungen aus auf, davon allein vier Fälle aufgrund der Pandemrix-Impfung. Dies sei eine auffallende, statistisch signifikante Zahl. Auch würden in der Fachinformation von Pandemrix als sehr seltene Nebenwirkungen neurologische Erkrankungen erwähnt. Die Risiken des staatlich empfohlenen Schweinegrippe-Impfstoffes seien nicht hinreichend gegen den Nutzen abgewogen worden. Regierungsbeamte und Bundeswehrsoldaten seien daher auch mit einem anderen Impfstoff ohne Adjuvantien geimpft worden. Wegen der unzureichenden Testung der Impfstoffe habe sich der Hersteller durch die Regierung von der Haftung freistellen lassen. Auch nach der Impfstoffzulassung seien keine umfassende wissenschaftliche Erfassung und Bewertung der Verdachtsfälle erfolgt. Von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei vorgesehen, dass eine Nutzen-Lasten-Analyse Voraussetzung für die Impfempfehlung sei. Diese sei hier grobfehlerhaft und unzureichend durchgeführt worden. Sofern der Beklagte bemängele, dass die Erkrankung nicht unmittelbar nach der Impfung, sondern erst eine Woche später aufgetreten sei, sei diese Aussage geradezu skandalös, da medizinisch seit Jahrzehnten von einer Inkubationszeit von mehreren Wochen ausgegangen werde. Dies ergebe sich auch aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wonach ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Auftreten der neurologischen Symptomatik anzunehmen sei, wenn sich die Symptomatik in einem Zeitraum von innerhalb einer Stunde bis zu einem Monat nach der Impfung manifestiert habe. Eine Impfreaktion nach sieben Tage stehe absolut noch im zeitlichen Zusammenhang mit der zuvor erfolgten Impfung. Wegen des zeitlichen Zusammenhangs und fehlender andere Ursachen für den beim Kläger eingetretenen Hirninfarkt sei vorliegend die Wahrscheinlichkeit der Ursächlichkeit der Impfung für den Infarkt gegeben.

Nach der Beiziehung medizinischer Unterlagen erstellte der Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie Prof. Dr. J. am 14.08.2014 im Auftrag des SG ein Gutachten. Darin führte er Folgendes aus:

Der Kläger habe einen Schlaganfall durch den Verschluss eines Blutgefäßes im Gehirn (Arteria cerebri media) erlitten. Ein solcher Hirninfarkt führe zum Absterben eines mehr oder weniger großen Bereichs des Gehirns. Ursache dafür sei im vorliegenden Fall die Dissektion der Arteria carotis interna, einer der Hauptschlagadern des Gehirns gewesen. Bei diesem seltenen Krankheitsbild komme es durch Einrisse in der inneren Wandschicht der Arterie zu einer Blutung in die Gefäßwand, die zu einem Bluterguss innerhalb der Wand, zu einer Vorwölbung in das Gefäßlumen und damit zu einer Einengung des Gefäßes führe. Dieses Ereignis könne zunächst klinisch stumm bleiben oder sich durch einseitige Gesichts- oder Halsschmerzen oder Augenstörungen bemerkbar machen. Nach einer Latenzzeit von Minuten bis Wochen würden aber Zeichen einer Mangeldurchblutung des Gehirns auftreten. Durch Thrombosierung, also der Bildung von Blutgerinnseln, komme ist zur weiteren Einengung oder sogar zum Verschluss des Gefäßes und letztlich zum Hirninfarkt, der sich klinisch als Schlaganfall äußere. Eine Dissektion einer Halsarterie könne durch schwere Schädel-, Hals- oder Thoraxverletzungen hervorgerufen werden, die Ursachen für die Entstehung einer sogenannten spontanen, also nicht durch schwere Traumen verursachten Dissektion der Arteria carotis - wie im vorliegenden Fall - seien unklar. Man nehme strukturelle Defekte der arteriellen Wand an, für die genetische Faktoren eine Rolle zu spielen scheinen würden. Auslösende Faktoren könnten Bagatelltraumen durch heftiges Schnäuzen, Husten, Erbrechen oder sportliche Betätigung sein, aber auch Infekte und erhöhter Blutdruck. Eine Dissektion trete eher bei jüngeren Menschen auf, der Häufigkeitsgipfel liege bei 46 Jahren. Zudem sei eine saisonale Abhängigkeit mit einer Zunahme der Fälle im Herbst und Winter zu beobachten.

Der beim Kläger verwendete Impfstoff habe nur Bestandteile eines einzigen Influenzastammes sowie das erstmals in einem zugelassenen Impfstoff benutzte Adjuvans AS03 enthalten. Dieser Wirkverstärker, der in der Öffentlichkeit vielfach kritisiert worden sei, sei aber keineswegs so neu gewesen, wie dies behauptet werde. Bereits ein früher im Rahmen einer Studie mit 12.000 Teilnehmern erprobte Impfstoff habe dieses Adjuvans enthalten, ein seit 1997 zugelassener Grippeimpfstoff enthalte ein sehr ähnliches Adjuvans. Die Verträglichkeit von Pandemrix sei gut, allerdings seien vor allem lokalen Reaktionen (Rötung, Schwellung, Schmerz an der Injektionsstelle) häufiger und stärker ausgeprägt als bei dem normalen saisonalen Impfstoff beschrieben worden. Vorübergehend könne es zu Allgemeinsymptomen wie bei einer Erkältung kommen, wobei diese Beschwerden in der Regel innerhalb von ein bis zwei Tagen wieder folgenlos abklängen. Spezifisch nach Pandemrix seien gelegentlich vorübergehende Sensibilitätsstörungen beobachtet worden. Weitere, durch die Impfung nachgewiesenermaßen oder höchstwahrscheinlich hervorgerufene Komplikationen seien den bisher genannten gegenüber extrem selten. Nur in Einzelfällen seien nach Pandemrix anaphylaktische und allergische Reaktionen aufgetreten, allerdings häufiger als bei den nicht adjuvantierten saisonalen Vakzinen. Die nach der saisonalen Impfung beobachteten Fälle von Guillain-Barre-Syndrom, die sehr selten, aber statistisch gesichert seien, seien nach der Impfung mit Pandemrix auf knapp das Doppelte angestiegen. Sehr wahrscheinlich werde durch die Impfung auch die Rate an Fällen von Narkolepsie bei geimpften Kindern deutlich erhöht, wobei die genaue Klärung dieses Zusammenhangs noch ausstehe.

Auf die gerichtliche Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen der Impfung mit Pandemrix und Schlaganfällen, Hirninfarkten oder Dissektion von Halsarterien hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass gerade im Fall der Massenimpfung gegen die Influenza der Jahre 2009/2010, bei der allein in Europa mit Pandemrix bereits über 30 Mio. Menschen geimpft worden seien, zeitliche Zusammenhänge zwischen Impfung und Erkrankung auftreten würden, die häufig als kausale Assoziation fehlgedeutet würden, worauf auch schon eine Gruppe von Experten in einer bemerkenswerten Publikation hingewiesen habe. In der medizinischen Literatur gebe es einige Einzelfallberichte zu Schlaganfällen nach Impfungen, aber bislang keinen Beleg für einen gesicherten Zusammenhang zwischen einer Impfung und dem Auftreten eines Schlaganfalls. In einer Studie, in der an 19.063 Personen mit einem Schlaganfall nach einem möglichen Zusammenhang mit Infektionen und Impfungen gesucht worden sei, habe sich kein Hinweis auf eine möglicherweise kausale Rolle von Influenza- und anderen Impfungen gefunden, wohl aber ein Zusammenhang mit akuten Atemwegs- und Harnwegsinfekten. Eine ausgedehnte Literatursuche zu Impfungen, speziell gegen Influenza, und Dissektionen der Arteria carotis interna habe kein positives Ergebnis gebracht. Zwar sei der Impfstoff Pandemrix nur in einer Saison zum Einsatz gekommen. Die aufgezeigten Fälle von extrem seltenen impfinduzierten Nebenwirkungen nach einer Impfung mit Pandemrix würden aber zeigen, dass in den Ländern, in denen Pandemrix zum Einsatz gekommen sei, Folgereaktionen sehr sorgfältig dokumentiert und analysiert worden seien. Wenn unter diesen Umständen bei insgesamt 30,5 Mio. in Europa mit Pandemrix geimpften Menschen Schlaganfälle oder Hirninfarkte nicht registriert worden seien, könne man davon ausgehen, dass nichts auf einen Zusammenhang hinweise.

Zu der Frage, ob sich ein Zusammenhang zwischen Impfung und einer arteriellen Dissektion pathophysiologisch erklären lasse, hat der Sachverständige Folgendes ausgeführt: Die Genese einer spontanen Dissektion der Arteria carotis interna sei unklar. Die meisten Autoren nähmen eine angeborene Wandschwäche der Arterien an. Verschiedene Faktoren könnten in diesem Fall die Entstehung einer Dissektion auslösen. Häufig würden Bagatelltraumen genannt, aber auch Infekte und erhöhter Blutdruck. Ursache der Dissektion sei eine Blutung in die Arterienwand, wobei den die Gefäßwand versorgenden Blutgefäßen eine besondere Bedeutung zuzukommen scheine. Entzündliche Prozesse, etwa im Rahmen von Infekten, könnten möglicherweise durch die Freisetzung von Zytokinen eine Schädigung dieser Gefäße bewirken, die dann zur Blutung führe. Auf ähnliche Weise könnte eine Impfung mit Pandemrix, die durch das Adjuvans AS03 eine starke Zytokinausschüttung induzieren könne, einen derartigen Prozess begünstigen und damit eine Dissektion triggern. Eine Impfung komme also sicher nicht als Ursache einer Dissektion infrage, könnte aber unter Umständen einen auslösenden Faktor darstellen. Experimentelle oder epidemiologische Belege für diese Hypothese gebe es derzeit allerdings nicht.

Nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft dürfte die beim Kläger aufgetretene spontane Dissektion der Arteria carotis interna und der dadurch bedingte Hirninfarkt auf dem Boden einer vorbestehenden, wahrscheinlich genetisch bedingten Wandschwäche der Arterie durch ein auslösendes Ereignis verursacht worden sein. Auslösende Ereignisse würden in der Regel als normale, wenn auch etwas heftigere Bewegungen des Halses wie eine stärkere Überstreckung des Kopfes beim Trinken, beim Haarewaschen oder bei Yogaübungen, oder Drucksteigerungen im Halsbereich, wie sie bei heftigem Schnäuzen, Husten oder Erbrechen auftreten könnten, beschrieben, also Vorkommnisse, die sich im normalen Leben immer wieder ereignen würden und denen in der Regel auch keine besondere Beachtung geschenkt werde. Daneben würden auch vorausgegangene Infekte als mögliche Trigger einer Dissektion angeführt, Impfungen würden in der Literatur hingegen niemals erwähnt. Auf dem Boden des heutigen medizinischen Wissensstandes sei der Fall des Klägers in gewisser Weise typisch. Er habe mit 44 Jahren zum Zeitpunkt des Geschehens genau das Alter, in dem die meisten der spontanen Dissektionen vorkämen, und das Ereignis habe im Spätherbst stattgefunden, in dem sich derartige Vorkommnisse häufen würden. Dass in der Krankengeschichte kein auslösendes Ereignis vermerkt sei, sei nicht ungewöhnlich, da es sich in den allermeisten Fällen um Vorkommnisse durchaus noch im Bereich des Normalen handle.

Aufgrund theoretischer Überlegungen könnte als auslösendes Ereignis die Impfung mit Pandemrix diskutiert werden. Wenn man allerdings eine derartige Möglichkeit überhaupt in Erwägung ziehe, müsse man davon ausgehen, dass es sich um ein extrem seltenes Ereignis handle, nicht zuletzt deshalb, weil Hinweise auf ein solches Geschehen in der medizinischen Literatur vollständig fehlen würden.

Die Beweisfragen des SG hat der Sachverständige wie folgt beantwortet: Die beim Kläger vorliegende Gesundheitsstörung sei als Zustand nach Schlaganfall mit Sprachstörung und Halbseitenlähmung als Folge einer Dissektion (Anmerkung des Senats: Der Sachverständige schreibt hier von einer „Dissoziation“, wobei sich um einen offensichtlichen Schreibfehler handelt.) der Arteria carotis interna zu bezeichnen. Bei der Dissektion der Arteria carotis interna handle es sich sehr wahrscheinlich nicht um eine Impfkomplikation, die Möglichkeit könne aber nicht ausgeschlossen werden. Eine Kausalität zwischen der Impfung mit dem Impfstoff Pandemrix und einer Dissektion der Arteria carotis interna (im Sinne eines auslösenden Faktors) sei wissenschaftlich nicht belegt, aber theoretisch in Einzelfällen denkbar. Der Schlaganfall sei unmittelbare Folge einer Dissektion der Arteria carotis interna.

Der Beklagte hat sich zum Gutachten mit einer versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 28.08.2014 wie folgt geäußert: Für einen kausalen Zusammenhang der Dissektion mit der Impfung reiche nach der Kausalitätsbeurteilung eine Möglichkeit nicht aus; hierfür werde eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gefordert. Bei 30 Mio. Impfungen und den vom Sachverständigen angeführten Studien habe sich kein Hinweis auf das Auftreten von Dissektionen durch eine Impfung mit Pandemrix ergeben. Dies spreche mit Wahrscheinlichkeit gegen einen ursächlichen Zusammenhang. Aufgrund der theoretischen Überlegungen zur vermehrten Zytokinausschüttung durch das Adjuvans AS03 werde noch eine ergänzende Stellungnahme vorgeschlagen.

Anschließend hat das SG den Internisten Dr. W. mit einer ergänzenden sachverständigen Bewertung beauftragt. Dieser hat in seiner Stellungnahme vom 23.10.2014 darauf hingewiesen, dass eine Ausschüttung von Zytokinen, wie es auch das Adjuvans AS03 verursache, bezogen auf die Gefäße eine im weitesten Sinne als Schädigung zu interpretierende Veränderung auslösen könne. Denn Zytokine seien kleine Proteine, die zuständig für das Wachstum und die Differenzierung von Zellen seien. Sie würden also auch die Immunantwort steuern. Wenn nicht von einer traumatischen Dissektion auszugehen sei, liege selbstverständlich bei der Gefäßschädigung dieser Art immer ein zytokingesteuerter Prozess vor. Inwieweit tatsächlich die isoliert von dem Adjuvans ausgehende Zytokinausschüttung ursächlich für die folgende Dissektion gewesen sei, sei nicht sicher zu klären. In Anbetracht der Abwägung bekannter kardiovaskulärer Risikofaktoren und genetischer Faktoren, die natürlich auch eine Schwäche der arteriellen Wand vordergründig bestimmen würden, sei aber festzustellen, dass eben andere Gründe bei der Entstehung deutlich führend gewesen seien. Zudem sei zu betonen, dass ein zytokinvermittelter Prozess auch durch eine Infektion ganz anderer Ursache angestoßen sein könnte. In Abwägung der einzelnen Parameter sei die überwiegende Wahrscheinlichkeit anderer Risikofaktoren mit Sicherheit entscheidend für den Hirninfarkt gewesen.

Zu den sachverständigen Beurteilungen haben sich die Bevollmächtigten des Klägers mit Schriftsatz vom 22.12.2014 wie folgt geäußert: Sofern der Sachverständige ausgeführt habe, dass bislang kein Beleg für einen gesicherten Zusammenhang zwischen Impfung und Auftreten eines Schlaganfalls vorhanden sei, sei darauf hinzuweisen, dass ein gesicherter Zusammenhang nicht erforderlich sei, da die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs ausreiche. Wenn der Sachverständige ausgeführt habe, dass bei 30,5 Mio. geimpfter Menschen Schlaganfälle oder Hirninfarkte nicht registriert worden seien und daher davon auszugehen sei, dass nichts auf einen Zusammenhang hinweise, sei anzumerken, dass es nicht darauf ankomme, wie Menschen im Durchschnitt reagieren würden, sondern wie gerade der zu beurteilende Mensch reagiert habe. Zu berücksichtigen sei auch, dass der Kläger bei der Impfung vollkommen gesund gewesen sei und die schwerwiegenden Symptome sieben Tage nach der Impfung aufgetreten seien, also in einem durchaus anerkannten Zeitrahmen für Erkrankungen. Allein schon der zeitliche Zusammenhang zwischen der Impfung eines komplett gesunden Menschen und dem Auftreten der schwerwiegenden Erkrankung sei ein gewichtiges Indiz für die Verursachung des Schadens durch die Impfung im Sinne der vom Gesetzgeber geforderten Wahrscheinlichkeit. Sofern der Sachverständige ausgeführt habe, dass sich ein Impfschaden niemals mit „überwiegender“ Wahrscheinlichkeit nachweisen lassen werde, sei auszuführen, dass es nicht auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit ankomme, sondern auf die Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs. Der Gutachter sei aufgefordert gewesen, Alternativursachen darzulegen. Der Sachverständige habe dazu aber nur allgemeine und nicht auf den Einzelfall bezogene Ausführungen gemacht. Im Fall des Klägers seien keinerlei negative genetische Anlagen vorhanden, die ein erhöhtes Schlaganfallrisiko begründen könnten. Der Kläger sei auch Nichtraucher und habe kein sonstiges erhöhtes Infarktrisiko. Das Vorgehen des Gutachters überzeuge nicht. Er selbst habe ausgeführt, dass das im Impfstoff enthaltene Adjuvans durchaus ein auslösender Faktor für die Dissektion sein könne. Es könne nicht sein, dass bei Nichtvorliegen jeglicher genetischer Ursachen und bei Nichtvorliegen sonstiger Risikofaktoren der Gutachter gleichwohl eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dieser Faktoren annehme. Schon aufgrund der fehlenden, vom Gutachter selbst genannten anderweitigen Risikofaktoren im Falle des Klägers sei gerade eine Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs gegeben. Dies gelte umso mehr, als es sich um einen neuen, im Wesentlichen ungetesteten Impfstoff gehandelt habe. Gerade weil der Impfstoff zuvor nie angewendet worden sei, müsse es bei der Wahrscheinlichkeitsbeurteilung mitentscheidend auf die Frage ankommen, ob es genetische Risikofaktoren gegeben habe. Dies gelte besonders auch vor dem Aspekt, dass für die Zivilbevölkerung ein anderer, deutlich belastenderer Impfstoff eingesetzt worden sei als für die Regierung, Beamte und Bundeswehrsoldaten, die einen Impfstoff ohne Adjuvantien erhalten hätten. Zudem sei der Sachverständige Prof. Dr. J. als langjähriges Mitglied der ständigen Impfkommission ein großer Befürworter von Impfungen, was seine Neutralität infrage stellen könnte (, wobei dieser Befangenheitsantrag vom SG mit Beschluss vom 13.03.2015 als unzulässig abgelehnt worden ist). Sofern der Sachverständige Dr. W. andere Gründe für die Entstehung der Erkrankung für deutlich führend gehalten habe, ohne dies jedoch auch nur ansatzweise zu erläutern, sei dies nicht nachvollziehbar. Es sei nicht ersichtlich, woher der Sachverständige seine entsprechende Erkenntnis nehme. Beim Kläger lägen keine kardiovaskulären Risikofaktoren und genetischen Faktoren vor, die die Schwäche der arteriellen Wand hätten bestimmen können. Es werde beantragt, Dr. W. ergänzend zu befragen, welche anderen Gründe dies im Fall des Klägers sein könnten. Auch insoweit gelte wieder, dass schon der enge zeitliche Zusammenhang und das Fehlen jeglicher Risikofaktoren beim Kläger eine Wahrscheinlichkeit durch die vorgenommene Impfung belege. Dr. W. habe ausgeführt, dass das verwendete Adjuvans einen Gefäßschaden nach sich ziehen könne. Damit sei unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls bereits die Wahrscheinlichkeit für den Impfschaden nachgewiesen, zumal es keine anderen auslösenden Faktoren gebe.

Der Beklagte hat sich anschließend mit einer nervenärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 26.01.2015 dahingehend geäußert, dass, auch wenn im aktuellen Schreiben der Bevollmächtigten des Klägers mit dem Fehlen von Risikofaktoren argumentiert werde und der Kläger auf einige Fälle von Hirninfarkten in der Datenbank des P.-E.-Instituts hingewiesen habe, das spontane Auftreten von Gefäßrupturen um ein Vielfaches höher liege als die Meldungen von Ereignissen nach der Impfung. Ein vermehrtes Auftreten von Hirninfarkten nach der Impfung werde nicht berichtet. Gefäßdissektionen seien deshalb nicht in die Literatur über unerwünschte Nebenwirkungen eingegangen, die bei der Kausalitätsbeurteilung zu berücksichtigen seien. Auch habe sich im vorliegenden Fall in den ersten sieben Tagen bis zum Hirninfarkt auch keine Impfreaktion gezeigt, die für eine allergische Reaktion oder eine andere Unverträglichkeit gesprochen hätte.

Nach mit gerichtlichem Schreiben vom 30.03.2015 erfolgter Anhörung zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 08.06.2015 die Klage abgewiesen und dies damit begründet, dass weder eine Impfkomplikation noch die notwendige Kausalität dahingehend festgestellt werden könne, dass der Hirninfarkt neben anderen Mitursachen zumindest mit annähernd gleichwertiger Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Impfung zurückzuführen sei.

Gegen den ihnen am 12.06.2015 zugestellten Gerichtsbescheid haben die Bevollmächtigten des Klägers am 10.07.2015 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt.

Begründet worden ist die Berufung mit Schriftsatz vom 30.09.2015. Zu Unrecht - so die Bevollmächtigten - gehe das SG davon aus, dass die Impfung mit Pandemrix am 03.11.2009 zu keinem Impfschaden geführt habe, weil es zu keiner Impfkomplikation gekommen sei und der Hirninfarkt nicht mit annähernd gleichwertiger Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Impfung zurückzuführen sei. Zwar sei es richtig, dass die erstinstanzlichen Gutachter eine Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne verneint hätten. Die erstellten Gutachten seien aber nicht ausreichend gewesen bzw. hätten nicht zur Ablehnung des klägerischen Anspruchs herangezogen werden dürfen. Der Gutachter Prof. Dr. J. habe in keiner Weise konkrete Alternativursachen gerade für die Person des Klägers dargestellt, sondern nur allgemeine Ausführungen gemacht. Beim Kläger gebe es keine genetischen Ursachen. Soweit das SG - völlig überraschend - auf angebliche gesundheitliche Vorerkrankungen des Klägers hingewiesen habe, sei auszuführen, dass diese entweder nicht bestünden oder aber jedenfalls nicht als wahrscheinlichere Ursache für den Hirninfarkt als die Impfung angesehen werden könnten. Soweit dem Kläger (vom SG) unterstellt werde, er habe Ernährungsprobleme und es sei eine unsachgemäße Ernährung diagnostiziert worden, sei dies dem Kläger neu. Beides sei nicht der Fall. Es werde beantragt, eine gutachterliche Stellungnahme dazu einzuholen, dass die vom SG angeführten angeblichen gesundheitlichen Probleme beim Kläger, die er nicht kenne, mit größerer Wahrscheinlichkeit kausal für den Schlaganfall des Klägers gewesen seien als die Impfung. Der Kläger habe auch vor dem Schlaganfall keinen Infekt gehabt. Wahrscheinlicher Auslöser für den Schlaganfall sei das im Impfstoff enthaltene Adjuvans gewesen. Das SG habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt, weil es den Sachverständigen Dr. W. nicht zu den angeblich deutlich führenden Gründen für die Dissektion befragt habe. Einem Zeitungsartikel sei zu entnehmen, dass das im September 2009 in der EU zugelassene Pandemrix aufgrund der vielfältigen Probleme jetzt nicht mehr eingesetzt werde, was ebenfalls für die notwendige Wahrscheinlichkeit der Kausalität spreche. Soweit das SG ausgeführt habe, dass es der Auffassung des Versorgungsarztes Dr. K. folge, dass für das spontane Auftreten von Gefäßrupturen eine um Vielfaches höhere Wahrscheinlichkeit bestehe als bei Meldungen von Ereignissen nach der Impfung, sei dies ein Zirkelschluss. Es gehe doch gerade um die Frage, ob im Falle des Klägers und nicht etwa allgemein im Rahmen einer Durchschnittsbetrachtung die Wahrscheinlichkeit des Schlaganfalls infolge der Impfung höher sei als die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls aus anderen Gründen. Gerade der zeitliche Zusammenhang zwischen Impfung und Schlaganfall spreche für eine höhere Wahrscheinlichkeit durch die Impfung. Es werde eine erneute gutachtliche Stellungnahme beantragt; ein Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bleibe vorbehalten. Der Kläger bestreite, dass irgendeine Vorschädigung vorhanden gewesen sei; Ärzte hätten nie auf Derartiges hingewiesen (Schriftsatz vom 30.09.2015).

Der Beklagte hat mit einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13.11.2015 ausgeführt, dass hinsichtlich des Vorwurfs, dass in keiner Weise konkrete Alternativursachen dargestellt worden seien, aus kardiologischer Sicht anzumerken sei, dass sich in den Unterlagen keine Abklärung der kardialen Situation als mögliche Emboliequelle finde, obwohl neben einer Dissektion auch ein thromboembolischer Verschluss als Ursache des Hirninfarkts diskutiert worden sei. Zu diskutieren sei an sich die Möglichkeit einer Thromboembolie bei offenem Foramen ovale oder auch bei intermittierendem Vorhofflimmern. Im Bericht vom 25.02.2010 sei auch die Angabe einer hypertensiven Krise erwähnt.

Auf Nachfrage des Senats haben die Bevollmächtigten des Klägers mitgeteilt, dass er sich bei keinem Arzt wegen kardiologischer Themen in Behandlung befunden habe.

Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen hat im Auftrag des Senats PD Dr. C. am 27.12.2016 ein neurologisches Gutachten erstellt. Er hat darin Folgendes ausgeführt:

Die jetzt noch vorliegenden klinischen Funktionsausfälle und Störungen seien im Vollbeweis als Folge des am 10.11.2009 eingetretenen Hirninfarkts zu sehen. Als Auslöser für den Infarkt würden im Arztbrief der Neurologischen Klinik A-Stadt eine Dissektion bzw. ein thromboembolischer Verschluss der distalen intrakraniellen Arteria carotis links beschrieben. Aus dem schriftlichen Befund einer MR-Angiographie vom 11.11.2009 gehe nicht hervor, dass die MRtypischen Veränderungen einer Dissektion (Nachweis eines Wandhämatoms) zur Darstellung gebracht worden seien. Zusammenfassend könne aus den vorliegenden Daten nur der Schluss gezogen werden, dass es zu einem distalen Verschluss der Arteria carotis interna gekommen sei, deren Ursache möglicherweise eine distalen Dissektion, möglicherweise aber auch ein Embolus gewesen sei, der einer anderen Emboliequelle entstammt habe. Ob eine Abklärung einer möglichen kardialen Emboliequelle, wie sie im Entlassungsbericht des Klinikums A-Stadt empfohlen worden sei, durchgeführt worden sei, sei aus den vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich.

Zur Diskussion der vom Senat gestellten Frage nach der Primärschädigung als unübliche Impfreaktion sei zunächst festzustellen, dass sich weder anamnestisch noch in den Aktenlagen dokumentiert unmittelbare Reaktionen auf die Impfung vom 03.11.2009 feststellen lassen würden. Im Zuge einer Kausalitätsermittlung in Bezug auf eine Primärschädigung müssten somit zwei Szenarien gegenübergestellt werden. Entweder habe eine Dissektion vorgelegen, die sich nicht klar aus den Unterlagen ergebe, retrospektiv aber auf andere Art eindeutig nachgewiesen werden könne, oder es sei von einer Embolie auszugehen, die nicht auf eine Dissektion zurückgeführt werden könne.

Zum Szenario einer Dissektion hat der Sachverständige Folgendes erläutert: Ein großes arterielles Gefäß habe einen dreiseitigen Aufbau. Komme es zu einem Einriss der inneren Schicht, dringe Blut zwischen die lockere Verbindung zwischen muskulärer Schicht und Intima und führe zu einer Einengung des Lumens, das für den Restblutfluss zur Verfügung stehe. Dennoch seien es nur selten hämodynamische Ursachen, die zu einer Ischämie führen würden, weil der gedrosselte Blutfluss durch den sogenannten Circulus vitiosus an der Schädelbasis über collateral verlaufende Arterien ausgeglichen werde. Der Einriss führe vielmehr zur Freisetzung von thromboseinduzierenden Substanzen, welche zur lokalen Koagulation und zur Thrombozytenadhäsion und somit zur Bildung von lokalen Blutgerinnseln führen würden. Von diesen Gerinseln könnten sich Fragmente (Embolien) lösen, die mit dem Blutstrom mitgerissen würden und die klinische Symptomatik verursachen würden.

Ein Einriss der Gefäßwand der Arteria carotis gehe häufig mit einer lokalen Schmerzhaftigkeit einher und es komme zu einer einseitig verengten Pupille mit leichtem Hängen des Lids. Beides sei beim Kläger nicht beschrieben worden. Bei einer Studie mit Untersuchung von insgesamt 50 Patienten mit Carotis- und Vertebralisdissektionen seien lediglich drei Patienten asymptomatisch gewesen.

Dissektionen würden in einer Häufigkeit von etwa 3,5 pro 100.000 Einwohner auftreten und würden somit etwa 2,5% aller Schlaganfälle ausmachen. Bei 70% der Fälle liege das Erkrankungsalter zwischen dem 35. und dem 50. Lebensjahr.

Bezüglich der Ursache für Dissektionen werde zwischen spontanen und symptomatischen Dissektionen unterschieden. Risikofaktoren seien eine angeborene Bindegewebsschwäche oder bestimmte sehr seltene Erkrankungen. Zeichen einer Bindegewebsschwäche im Sinne einer fibromuskulären Dysplasie seien beim Kläger nicht beschrieben worden. Traumata oder Manipulationen seien in etwa 40% der Fälle bei den Patienten eruierbar. Subsumiert würden darunter sportliche Aktivitäten mit plötzlicher Kopfdrehung, Autounfälle mit Halswirbelsäulendistorsionstraumata, Stürze auf den Kopf, aber auch Überkopfarbeiten mit nach hinten geneigtem Kopf über Stunden. Ein solches Trauma oder eine chiropraktische Behandlung des Klägers sei in einem Bereich von einigen Wochen vor dem Ereignis nicht dokumentiert und werde auch jetzt anamnestisch nicht angegeben.

Es gebe auch andere vaskuläre Risikofaktoren, z.B. sei bei 40% der Patienten eine Hypercholesterinämie, ein Hypertonus oder ein Nikotinabusus feststellbar. Beim Kläger sei vor dem Ereignis keiner der aufgeführten Risikofaktoren bekannt, im Entlassungsbericht der Klinik A-Stadt sei ein Cholesterinwert nicht erwähnt. Zusammengefasst würden sich daher beim Kläger retrospektiv keine Faktoren erkennen lassen, die auf ein erhöhtes Risiko einer spontanen Dissektion hindeuten würden.

Zum Szenario, dass der Schlaganfall auf einer Embolie andere Ätiologie beruhe, hat der Sachverständige Folgendes erläutert: Bei einem Schlaganfall handele es sich um ein Ereignis, bei dem ein Hirngefäß plötzlich durch ein Blutgerinnsel verschlossen werde. Embolien seien in aller Regel Teil eines wandständigen Thrombus, dessen Entstehungsort entweder im Herz oder in den großen Gefäßen liege. Ein Sonderfall sei der einer Beinvenenthrombose. Die häufigste Ursache kardialer Embolien sei die absolute Arrhythmie mit Vorhofflimmern. Seltenere Ursachen seien Veränderungen der Herzklappen. Die im Entlassungsbericht des Klinikums A-Stadt empfohlene Echokardiographie sei nach den vorliegenden Dokumenten nicht durchgeführt worden, so dass hierzu keine Aussage gemacht werden könne. Andere Emboliequellen seien die Aorta und die Carotiden. Letzteres könne aber aufgrund des Ultraschallbefundes der Rehaklinik Staffelstein weitgehend ausgeschlossen werden, da sich hier eine völlig normale Gefäßmorphologie gezeigt habe. Gehe man von einem embolischen Verschluss der distalen Arteria carotis interna aus, wäre ein großer Embolus kardiogenen Ursprungs am wahrscheinlichsten.

Eine neuerliche Literaturrecherche habe keine Berichte über das gehäufte Auftreten von Schlaganfällen (und auch einer Dissektion der Arteria carotis) nach einer Impfung mit Pandemrix ergeben. Zwischenzeitlich sei lediglich über ein gehäuftes Auftreten von Narkolepsie nach Pandemrix-Impfungen berichtet worden. Hieraus ergebe sich zwar, dass ein deutlich erhöhtes Risiko für das Auftreten eines cerebro-vaskulären Ereignisses nicht erkennbar sei, wobei methodische Probleme einer exakten Beurteilung im Wege stünden. Genauere Vergleichsstudien (Case-Control-Studien) lägen für Pandemrix in Bezug auf einen Schlaganfall nicht vor. Sofern Prof. Dr. J. ausgeführt habe, dass eine mögliche Ursache einer spontanen Dissektion ein entzündlicher Prozess der Gefäßwand sein könne, sei darauf hinzuweisen, dass es einige wenige Publikationen gebe, die eine primärentzündliche Ursache einer spontanen Arteria carotis-Dissektion postulieren würden, was aber bisher nicht als allgemein akzeptierter Mechanismus anerkannt sei.

Zur Frage der Primärschädigung hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass sich der genaue Mechanismus des Schlaganfalls nicht feststellen lasse. Als Alternativmöglichkeiten stünden entweder eine spontane Dissektion der Arteria carotis oder eine Embolie anderer Ursache, die nicht auf eine Dissektion zurückzuführen sei, im Raum. Da sich hieraus möglicherweise unterschiedliche Aspekte zur Kausalität im Sinne einer Kannversorgung ergeben könnten, könne die Frage der Primärschädigung im Vollbeweis nicht ausreichend beantwortet werden. Es werde empfohlen, ein neuroradiologisches Gutachten zur Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Dissektion der Arteria carotis einzuholen. Ein wahrscheinlicher Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Primärschaden bestehe aber für beide Alternativen nicht. Diese Einschätzung eines fehlenden Kausalzusammenhangs sei deshalb nicht gegeben, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit bestehe. Auf die Frage, ob die gute Möglichkeit bestehe, dass die vorliegende Gesundheitsstörung die Folge der Impfung vom 03.11.2009 sei, hat der Sachverständige ausgeführt, dass er für beide Möglichkeiten „prinzipiell“ eine solche gute Möglichkeit sehe.

Der Beklagte hat sich zu dem Gutachten mit versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 13.02.2017 dahingehend geäußert, dass der Sachverständige erneut bestätigt habe, dass die genaue Ursache des abgelaufenen Hirninfarkts nicht sicher geklärt sei. Auch eine Aktualisierung der Bildgebung würde hier wahrscheinlich keine neuen Aspekte mehr liefern. Interessanter wäre eher eine Nachbefundung der damals erzeugten Bilder. Wegen der Lokalisation des Gefäßprozesses sei es aber nicht unwahrscheinlich, dass sich auch bei Nachbefundung der Ultraschallbilder keine Informationen zur Morphologie des betroffenen Gefäßabschnitts finden lassen würden, da dieser sonographisch naturgemäß kaum zugänglich sei. Zudem sei die Frage, ob eine Dissektion oder ein kardiologisch-embolisches Hirninfarktmechanismus eine Rolle gespielt habe, für die Kausalitätsbewertung von nachgeordneter Bedeutung. Denn wie auch dem Gutachten des PD Dr. C. zu entnehmen sei, bestehe für keinen der beiden Mechanismen eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs mit der Impfung. Auch für die Anerkennung im Sinne der Kannversorgung ergebe sich aus versorgungsärztlicher Sicht keine Grundlage.

Der gerichtliche Gutachter PD Dr. C. hat sich dazu ergänzend in einer Stellungnahme vom 04.04.2017 wie folgt geäußert:

Es sei zwar zutreffend, dass es keine ausreichenden epidemiologischen Daten gebe, die ein erhöhtes Risiko einer Dissektion oder einer kardialen Embolie nach Impfung mit Pandemrix belegen würden. In gleicher Weise gebe es aber keinerlei Daten, die eine Alternativursache wahrscheinlicher machen würden. Insofern bestehe aufgrund der aktuellen Datenlage statistisch eine gleiche Wahrscheinlichkeit für eine Verursachung durch die Impfung bzw. Nichtverursachung durch die Impfung, was einen Zusammenhang natürlich nicht begründen würde. Konkret komme beim Kläger nach den aktuellen Informationen ein Alternativauslöser nicht in Betracht. Der Einschätzung des Versorgungsarztes, dass es keine gute Möglichkeit eines Zusammenhangs gebe, widerspreche er. Es gebe bestimmte Risikofaktoren für das Auftreten einer Dissektion. Eine gesicherte einheitliche Lehrmeinung über den Pathomechanismus gebe es hingegen nicht. Sofern der Versorgungsarzt (mit Blick auf die Kannversorgung) darauf hinweise, dass ein ursächlicher Einfluss der im Einzelfall vorliegenden Umstände in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen werden müsse, möchte er nochmals auf das Gutachten des Prof. Dr. J. eingehen. Dieser habe ausgeführt, dass eine mögliche Ursache einer spontanen Dissektion ein entzündlicher Prozess der Gefäßwand sein könne und es vorstellbar sei, dass infolge einer Impfung mit Pandemrix durch die starke Freisetzung von Zytokinen ein entzündlicher Prozess begünstigt worden sei, ohne dass es dazu experimentelle oder epidemiologische Daten gebe. Dies bedeute, dass der ursächliche Einfluss zumindest als Hypothese in Erwägung gezogen werden könne. Diese Einschätzung werde durch die in seinem Gutachten erwähnten dokumentierten Angaben zu berichteten wahrscheinlichen bzw. möglichen Impfkomplikationen bestätigt, nämlich akut entzündliche Reaktionen bzw. ein erhöhtes Auftreten von Narkolepsie. Auch eine immunologische Reaktion könne zugrunde liegen. Bei dem zeitlichen Abstand zwischen der Impfung am 03.11.2009 und dem Schlaganfall am 08.bzw. 09.11.2009 handele es sich um den üblichen Zeitraum von allgemeinen Impfkomplikationen, insbesondere von entzündlichen Begleitreaktionen. Zusammenfassend sei er der Ansicht, dass zumindest eine Nachbeurteilung des damaligen Bildmaterials eine Klärung der Pathophysiologie herbeiführen könnte und die Chance bieten würde, eventuell doch vorhandene und bislang nicht bekannte Faktoren aufzudecken, die einen Zusammenhang dann als unwahrscheinlich erscheinen lassen würden.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 01.08.2017 wurde der Sachverständige um ergänzende Stellungnahme u.a. zur Kannversorgung gebeten.

Am 30.10.2017 nahm der Sachverständige zu den ergänzenden Beweisfragen vom 01.08.2017 wie folgt Stellung:

1. Zu der Frage, ob es beim Kläger im Vollbeweis zu einer Dissektion gekommen sei:

Seiner Einschätzung nach sei es nicht zu einer Dissektion gekommen, die nach den Kriterien des Vollbeweises als gesichert angesehen werden könne. Im Vollbeweis gesichert sei beim Kläger ein Hirninfarkt sowie ein sich aus der Diagnostik der Neurologischen Klinik A-Stadt ergebender Verschluss der distalen intrakraniellen Arteria carotis links; die CT-Angiographie am 10.11.2009 habe eine „hochgradig stenosierende, wohl embolische Kontrastmittelaussparung in der linken A. carotis interna im distalen zervikalen Abschnitt und dem Canalis caroticus“ gezeigt. Befunde, die die positiven Kriterien einer Dissektion (Nachweis eines Wandhämatoms, trichterförmige Lumeneinengung, klinische Korrelate wie lokale Schmerzen oder ein Horner-Syndrom) erfüllen würden, lägen nicht vor. Auch könnten die im weiteren Verlauf erhobenen Befunde die Diagnose einer Dissektion nicht bestätigen. Eine im Rahmen der Reha-Behandlung im Klinikum S. durchgeführte Dopplersonographie am 25.02.2010 habe eine unauffällige Gefäßwandmorphologie und unauffällige Strömungsprofile gezeigt. Auch aus der Literatur ergebe sich ein differenziertes Bild. Bei einer - vom Gutachter näher genannten - Untersuchung an 249 Patienten mit einer Dissektion der carotis hätten 124 einen kompletten Verschluss gezeigt, von denen sich nach einer Nachbeobachtungszeit von bis zwölf Monaten gerade etwa 45% komplett zurückgebildet hätten, während in 55% noch leichte bis schwere Stenosen nachweisbar gewesen seien. Die Rekanalisation habe in einem Zeitraum von sechs Monaten stattgefunden, in 50% der Fälle sei sie allerdings nach drei Monaten erkennbar gewesen. Hieraus ergebe sich, dass eine Dissektion zwar möglich sei, nicht jedoch in solcher Weise als gesichert angesehen werden könne, dass z.B. eine kardiale Embolie nicht auch in gleicher Weise vorstellbar sei.

2. Zu der Frage, ob über die allgemeine Ursache des Entstehungsgrundes einer Dissektion in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit bestehe:

Der Großteil der Dissektionen trete spontan bzw. sporadisch auf und eine Ursache sei nicht klar erkennbar, d.h. die Frage einer wissenschaftlichen Ungewissheit sei zu bejahen.

3. Zu der Frage, ob es wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung gebe, die -theoretisch - die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs zwischen einer Dissektion und der hier erfolgten Impfung mit Pandemrix vertrete:

Ein epidemiologisch erhöhtes Risiko einer Dissektion nach einer Impfung mit Pandemrix sei nicht belegt, was u.a. mit methodischen Problemen zusammenhängen könne. Begebe man sich auf das Feld theoretischer Überlegungen, so sei es mittlerweile als gesichert anzusehen, dass es nach Impfung mit Pandemrix zu einer erhöhten Inzidenz der Erkrankung Narkolepsie gekommen sei. Ursache sei ein Untergang von Zellen im Gehirn, die ein bestimmtes wachheitsförderndes Hormon bilden würden. Es sei bekannt, dass diese Zelldegeneration immunologisch, d.h. entzündlich bedingt sei. An derartigen immunologischen Prozessen seien Zytokine beteiligt, die letztlich auch die positive Wirkung einer Impfung, nämlich die Ausschaltung von immunpathologischen Agentien bedingen würden. Eine Entgleisung einer solchen immunologische Reaktion bzw. ein erhöhtes Auftreten von Zytokinen könne z.B. Einfluss auf die kardiale Funktion nehmen bzw. am Auftreten von kardialen und auch Gefäßerkrankungen beteiligt seien. Somit ergeben sich durchaus theoretisch gut begründbare mögliche pathophysiologische Zusammenhänge zwischen dem Schlaganfall und der Impfung beim Kläger.

Der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten hat zu dieser ergänzenden Stellungnahme am 27.12.2017 u.a. darauf hingewiesen, dass eine Gefäßdissektion der Arteria carotis als Primärschaden nicht belegt sei. Auch sei vom Sachverständigen bestätigt worden, dass sich in der wissenschaftlichen Literatur keine Arbeiten finden würden, die Hinweise auf ein erhöhtes Risiko einer Gefäßdissektion nach einer Impfung zeigen würden. Der Vergleich mit der Krankheit Narkolepsie könne in der Diskussion des vorliegenden Falls keinen Beitrag leisten. Es handle sich um ein vollständig anderes Krankheitsbild mit einem anderen Pathomechanismus. Hinweise darauf, dass eine Gefäßdissektion in relevantem Zusammenhang mit Autoimmunprozessen stehe, seien aktuell nicht bekannt. Aus einem rein zeitlichen Zusammenhang und der bloßen theoretischen Möglichkeit, dass eine durch eine Impfung induzierte Ausschüttung von Zytokinen einen Einfluss auf die Herz-Gefäß- oder Kreislauffunktion haben könnte, ergebe sich keine Grundlage für die Anerkennung der Gesundheitsstörung als Impfschaden.

Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schreiben vom 26.01.2018 ihre Ansicht geäußert, dass mehr für als gegen eine Kausalität der Impfung für den Schlaganfall spreche. Der Gutachter habe gut begründbare pathophysiologische Zusammenhänge zwischen Schlaganfall und Impfung bestätigt und auch der zeitliche Zusammenhang sei gegeben. Zudem habe der Gutachter ausgeführt, dass nach den aktuellen Informationen kein Alternativauslöser beim Kläger in Betracht komme. Weiter haben sie auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 21.06.2017 hingewiesen, welches sich mit einem französischen Fall eines Impfschadens im Bereich der Produkthaftung befasst habe. Auch in dem dort entschiedenen Fall habe es eine zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung des Impfstoffes und dem Auftreten der Erkrankung gegeben, aufgrund derer es das Gericht als ausreichend angesehen habe, dass nur gewisse Umstände auf den Impfstoff als Schadensursache hingedeutet hätten.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid vom 08.06.2015 aufzuheben und unter Aufhebung des Bescheids vom 23.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2013 den Hirninfarkt des Klägers mit den daraus resultierenden gesundheitlichen Einschränkungen als Impfschaden infolge der Impfung vom 03.11.2009 anzuerkennen und ihm Versorgung zu leisten.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen worden sind die Akten des SG sowie die Verwaltungsakte des Beklagten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG), aber nicht begründet.

Der Beklagte hat es zu Recht, wie es auch das SG bestätigt hat, abgelehnt, beim Kläger einen Impfschaden anzuerkennen und Versorgung zuzusprechen. Der angegriffene Bescheid vom 23.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2013 ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG liegen nicht vor, weil es vorliegend schon am Nachweis einer Impfkomplikation (Primärschaden) fehlt. Aber selbst dann, wenn der nicht im dafür erforderlichen Vollbeweis nachgewiesene potentielle Primärschaden als nachgewiesen betrachtet würde, würde es an der Kausalität zwischen der Impfung und der Primärschaden fehlen.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

  • 1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

  • 2.auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

  • 3.gesetzlich vorgeschrieben war oder

  • 4.auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.

Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Die Anerkennung als Impfschaden setzt eine (mindestens) dreigliedrige Kausalkette voraus (ständige Rspr., vgl. zum gleichgelagerten Recht der Soldatenversorgung: BSG, Urteile vom 25.03.2004, B 9 VS 1/02 R, und vom 16.12.2014, B 9 V 3/13 R): Ein schädigender Vorgang in Form einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), muss zu einer „gesundheitlichen Schädigung“ (2. Glied), also einem Primärschaden (d.h. einer Impfkomplikation) geführt haben, die wiederum den „Impfschaden“, d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also den Folgeschaden (3. Glied) bedingt. Zwischen Primärschaden und Folgeschaden können, abhängig von der jeweiligen Fallkonstellation noch weitere Zwischenstufen von Gesundheitsschäden liegen. Anstelle einer dreigliedrigen Kausalkette kann daher im Einzelfall auch eine mehr als dreigliedrige Kette der Beurteilung des Versorgungsanspruchs zugrunde zu legen sein, wobei dann alle Stufen und die dazwischen liegende Kausalität im jeweils erforderlichen Beweismaßstab nachgewiesen sein müssen (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92 - zum Gesichtspunkt des Todesleidens).

Neben einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), müssen die „gesundheitliche Schädigung“ (2. Glied) als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, und der „Impfschaden“ (3. Glied), d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also der Folgeschaden, vorliegen. Diese drei, ggf. auch mehr (vgl. oben vorstehender Absatz) Glieder der Kausalkette müssen - auch im Impfschadensrecht - im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteile vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R; Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2014, L 1 VE 12/09; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.2016, L 13 VJ 19/15). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92).

Dass die gesundheitliche Schädigung als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, neben der Impfung und dem Impfschaden, d.h. der dauerhaften gesundheitlichen Schädigung, im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein muss und eine irgendwie geartete Beweiserleichterung beim Primärschaden, wie es der 15. Senat des Bayer. LSG im Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, mit der Beurteilung „des Zusammenhangs zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen Etappe“ anhand von „Mosaiksteinen“, die den Nachweis des Primärschadens im Vollbeweis als „realitätsfremd“ und damit verzichtbar erscheinen lassen sollen, getan hat, damit nicht vereinbar ist, hat der erkennende Senat in seinem rechtskräftigen (vgl. BSG, Beschluss vom 29.11.2017, B 9 V 48/17 B) Urteil vom 25.07.2017, L 20 VJ 1/17, bereits deutlich zum Ausdruck gebracht. Eine andere Sichtweise steht - wie der Senat in der genannten Entscheidung bereits ausgeführt hat - nicht in Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben und der klaren obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. auch Bayer. LSG, Urteile vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, und vom 06.12.2017, L 20 VJ 3/05). Dies hat im Übrigen das BSG erneut mit Beschluss vom 29.01.2018, B 9 V 39/17 B, bestätigt und dort ausgeführt:

„Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis „nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen“ nicht ausreichen.“

Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Regeln der Beweislast zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs auf ihr Vorliegen stützt, also des Antragstellers.

Demgegenüber gilt für den (mindestens) zweifachen ursächlichen Zusammenhang der (mindestens) drei Glieder der Kausalkette nach § 61 Satz 1 IfSG ein gegenüber dem Vollbeweis abgeschwächter Beweismaßstab - nämlich der der Wahrscheinlichkeit im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. auch § 1 Abs. 3 BVG; siehe auch BSG, Urteile vom 13.12.2000, B 9 VS 1/00 R, vom 29.04.2010, B 9 VS 2/09 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R; Bayer. LSG, Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09). Der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R - in Aufgabe der früheren Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 24.09.1992, 9a RV 31/90, die für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität noch den Vollbeweis vorausgesetzt hat) als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.

Eine potentielle, versorgungsrechtlich geschützte Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977, 10 RV 15/77), also mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSG, Urteile vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80, vom 26.06.1985, 9a RVi 3/83, vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84, vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als „überwiegende“ (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 14.10.2015, B 9 V 43/15 B) oder „hinreichende“ (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 18.02.2009, B 9 VJ 7/08 B) Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei dieser Zusatz nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rdnr. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 26.11.1968, 9 RV 610/66, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R).

Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der versorgungsrechtlichen Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 08.08.1974, 10 RV 209/73) rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Während die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (vgl. z.B. BSG, Urteile vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, und vom 30.01.2007, B 2 U 8/06 R) demgegenüber den Begriff der „annähernden Gleichwertigkeit“ für nicht geeignet zur Abgrenzung hält, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich ansieht, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von überragender Bedeutung ist, hat der für das soziale Entschädigungsrecht zuständige 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 6/13 R, zur annähernden Gleichwertigkeit Folgendes ausgeführt:

„Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.“

Von einer annähernden Gleichwertigkeit einer versorgungs- und damit auch impfschadensrechtlich geschützten Ursache kann daher - im Gegensatz zu der für den Betroffenen günstigeren unfallversicherungsrechtlichen Rechtsprechung - nur dann ausgegangen werden, wenn ihre Bedeutung gleich viel oder mehr Gewicht hat als die der andere(n) Ursache(n) (zusammen).

Die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinn als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, ist im jeweiligen Einzelfall aus der Auffassung des praktischen Lebens abzuleiten (vgl. BSG, Urteil vom 12.06.2001, B 9 V 5/00 R).

Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsschäden zu erfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R).

Kann eine Aussage zu einem (hinreichend) wahrscheinlichen Zusammenhang nur deshalb nicht getroffen werden, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kommt die sogenannte Kannversorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG in Betracht. Von Ungewissheit ist dann auszugehen, wenn es keine einheitliche, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG von der Beurteilung auf dem Boden der „Schulmedizin“ (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R). Aber auch bei der Kannversorgung reicht allein die bloße Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das BSG spricht hier auch von der „guten Möglichkeit“ eines Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 12.12.1995, 9 RV 17/94, und vom 17.07.2008, B 9/9a VS 5/06). In einem solchen Fall liegt eine Schädigungsfolge dann vor, wenn bei Zugrundelegung der wenigstens einen wissenschaftlichen Lehrmeinung nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nachgewiesen ist (vgl. Bayer. LSG, Urteile vom 19.11.2014, L 15 VS 19/11, vom 21.04.2015, L 15 VH 1/12, vom 15.12.2015, L 15 VS 19/09, vom 26.01.2016, L 15 VK 1/12, und vom 25.07.2017, L 20 VJ 1/17). Existiert eine solche Meinung überhaupt nicht, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein, dass ein Zusammenhang nicht hergestellt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.1993, 9/9a RV 41/92).

Lässt sich der Zusammenhang nicht (hinreichend) wahrscheinlich machen und auch nicht über das Institut der Kannversorgung herstellen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf das Vorliegen des Zusammenhangs stützen möchte, also des Antragstellers (ständige Rspr., vgl. beispielhaft BSG, Urteil vom 03.02.1999, B 9 V 33/97 R, und Beschluss vom 05.04.2018, B 5 RS 19/17 B).

Unter Anwendung dieser Grundsätze ist vorliegend schon eine Impfkomplikation (gesundheitliche Schädigung/Primärschaden, 2. Glied der oben aufgezeigten Kausalkette) nicht nachgewiesen. Es fehlt aber auch an der Kausalität zwischen der durchgeführten Impfung und der potentiellen, nicht im Vollbeweis nachgewiesenen Primärschädigung im Sinne einer Impfkomplikation.

1. Feststellungen

Der Senat stellt zunächst fest, dass der Kläger am 03.11.2009 eine Impfung gegen den Influenza A Virus (H1N1 - Schweinegrippevirus) mit dem Impfstoff Pandemrix (Lot A81CA062A) erhalten hat. Dieser Impfstoff enthielt das Adjuvans AS03. Bei dieser Impfung hat es sich um eine zum damaligen Zeitpunkt öffentlich empfohlene Schutzimpfung gehandelt (vgl. Bekanntmachung des Bayer. Staatsministeriums für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz vom 18.04.2007, 33a-G8360.82-206/1-3 - Allgemeines Ministerialblatt 2007, S. 224).

Weiter ist festzustellen, dass der Kläger in der Nacht vom 09. auf den 10.11.2009 einen Hirninfarkt erlitten hat, aus dem bis heute massive neurologische Schäden resultieren.

Der Hirninfarkt ist auf einen distalen Verschluss der Arteria carotis interna und damit auf eine reduzierte Versorgung des Gehirns zurückzuführen, wobei der Verschluss nach den Feststellungen des Sachverständigen PD Dr. C., dessen überzeugende Feststellungen sich der Senat zu eigen macht und der die alternativen Geschehnisse detailliert und allgemeinverständlich dargestellt hat, und den ärztlichen Berichten über die umfangreiche Behandlung des Klägers entweder auf einer distalen Dissektion oder einem thromboembolischen Verschluss der genannten Arterie, der aus einer nicht mit der Dissektion in Zusammenhang stehenden, z.B. kardialen Emboliequelle herrührt, beruht. Sofern der erstinstanzliche Gutachter Prof. Dr. J. im Rahmen seiner Diskussion nur auf eine Dissektion eingeht und in der Beantwortung der Beweisfragen eine „Dissoziation“ (Anmerkung des Senats: Dabei handelt sich um einen offensichtlichen Schreibfehler; gemeint ist offenkundig eine Dissektion.) der Arteria carotis interna zugrunde legt, ist damit für den Senat nicht belegt, dass nicht auch eine Embolie mit anderem Hintergrund als mögliche Ursache für den Hirninfarkt infrage kommt. Denn der Sachverständige Prof. Dr. J. hat selbst auf S. 1 und 3 seines Gutachtens festgehalten, dass als Diagnosen der erstbehandelnden Klinik nicht nur eine Dissektion, sondern alternativ auch ein thromboembolischer Verschluss der Arterie genannt worden sind. Warum er dann gleichwohl in der Folge von einer Dissektion und nicht auch der alternativen Möglichkeit einer Embolie mit anderem Hintergrund ausgegangen ist, hat er nicht ansatzweise begründet und ist für den Senat auch nicht nachvollziehbar.

Die für den Nachweis eines Impfschadens erforderliche Kausalkette stellt sich daher vorliegend wie folgt dar: Impfung - Verschluss der Arteria carotis interna entweder in Form einer distalen Dissektion oder eines thromboembolischen Verschlusses anderer Ursache - Hirninfarkt - Dauerschaden.

2. Kein Primärschaden

Eine zeitnah nach der Impfung aufgetretene gesundheitliche Schädigung, die möglicherweise durch die Impfung mit Pandemrix bedingt sein könnte, d.h. eine potentielle Impfkomplikation als Primärschaden, ist nicht in dem dafür notwendigen Vollbeweis nachgewiesen.

Als Primärschaden zu diskutieren sind eine Dissektion der genannten Arteria carotis oder ein thromboembolischer Verschluss dieser Arterie, wobei die Thrombose nicht auf eine Dissektion der genannten Arterie zurückzuführen ist. Andere atypische Impfreaktionen sind nicht dokumentiert und auch vom Kläger nicht vorgetragen worden.

Eine im Raum stehende, aber nicht zweifelsfrei, d.h. nicht im Vollbeweis nachgewiesene Dissektion der Arteria carotis, bei der zumindest die theoretische Möglichkeit eines Zusammenhangs mit der Impfung besteht (dazu siehe unten Ziff. 3), ist nicht im Vollbeweis nachgewiesen (vgl. unten Ziff. 2.1.). Ein alternativ im Raum stehender, aber ebenfalls nicht zweifelsfrei, d.h. nicht im Vollbeweis nachgewiesener thromboembolischer Verschluss der Arteria carotis, wobei die Thrombose nicht auf eine Dissektion der genannten Arterie zurückzuführen ist, kommt als Primärschaden nicht in Betracht, da er in keinem Zusammenhang mit der Impfung zu sehen ist (vgl. unten Ziff. 2.2.). Dies ist übereinstimmende Einschätzung aller Gutachter und Versorgungsärzte, die sich insofern mit der Zusammenhangsfrage befasst haben. Eine Wahlfeststellung unter Zugrundelegung der beiden vorgenannten Alternativen kommt nicht in Betracht, weil nicht bei beiden Alternativen ein Zusammenhang mit der Impfung denkbar ist (vgl. unten Ziff. 2.3.).

2.1. Eine Dissektion der Arteria carotis, bei der die gerichtlichen Sachverständigen zumindest die Möglichkeit eines Zusammenhangs mit der Impfung diskutieren und die daher als Primärschädigung nicht bereits von vornherein auszuschließen ist, da die Frage der Kausalität zumindest einer näheren Prüfung bedarf, ist nicht in dem dafür erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen. Dabei stützt sich der Senat auf die vorliegenden ärztlichen Berichte, das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten und die versorgungsärztlichen Ausführungen. Alle Ärzte sind übereinstimmend zu der Einschätzung gekommen, dass nicht zweifelsfrei feststeht, dass beim Kläger eine Dissektion der Arteria carotis erfolgt ist und nicht ein thromboembolischer Verschluss auf anderer Grundlage, z.B. kardiogener Ursache, vorgelegen hat. Dies hat sowohl der im Berufungsverfahren gehörte Sachverständige ausführlich erläutert als auch die Versorgungsärzte des Beklagten so festgestellt. Warum der Sachverständige Prof. Dr. J. im Rahmen der Diskussion des Zusammenhangs von einer Dissektion ausgegangen ist, obwohl er selbst zuvor darauf hingewiesen hat, dass als alternative Diagnose zu einer Dissektion auch ein thromboembolischer Verschluss der Arterie im Raum steht, ist dies den Senat nicht nachvollziehbar (vgl. oben Ziff. 1.).

Sofern in Klinik- oder Arztberichten die Diagnose eine Dissektion der Arteria carotis genannt ist, ohne diese Diagnose als Verdachtsdiagnose zu bezeichnen, ändert dies an der Beurteilung nichts. Denn diese Diagnose ist ersichtlich nicht in Form einer sicheren Diagnose, sondern als Verdachtsdiagnose verwendet worden. So wurde beispielsweise im Bericht der Sozialstiftung A-Stadt vom 09.12.2009 die Diagnose „Dissektion der Arteria carotis“ genannt. Dass dies nur eine Verdachtsdiagnose gewesen sein kann, ergibt sich schon daraus, dass unter den Diagnosen auch ein „Hirninfarkt durch nicht näher bezeichneten Verschluss oder Stenose zerebraler Arterien“ genannt worden ist. Zudem wurde im ausführlicheren Bericht der Sozialstiftung A-Stadt vom 25.02.2010 die Diagnose explizit als „Dissektion bzw. thrombembolischer Verschluss der distalen intrakraniellen Arteria carotis li.“ bezeichnet, was belegt, dass zwei verschiedene Diagnosen in Betracht gezogen worden sind, und zusammenfassend darauf hingewiesen, dass noch der sonographische Ausschluss einer kardialen Emboliequelle erfolgen solle, was wiederum belegt, dass es sich bei der Diagnose einer Dissektion nur um eine Verdachtsdiagnose gehandelt haben kann. Auch aus den aufgelisteten bildgebenden Befunden ist zu entnehmen, dass „wohl“ von einem embolischen Verschluss auszugehen ist (CT-Angiographie vom 10.11.2009). Schließlich bedingen es auch die Kodiervorgaben der Diagnosen, dass Diagnosen genannt werden, ohne zu kennzeichnen, ob dies Verdachtsdiagnosen sind oder nicht. So heißt es in den Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) seit jeher in D008b:

„Verdachtsdiagnosen im Sinne dieser Kodierrichtlinie sind Diagnosen, die am Ende eines stationären Aufenthaltes weder sicher bestätigt noch sicher ausgeschlossen sind. Verdachtsdiagnosen werden unterschiedlich kodiert, abhängig davon, ob der Patient nach Hause entlassen oder in ein anderes Krankenhaus verlegt wurde

… Wenn eine Behandlung eingeleitet wurde und die Untersuchungsergebnisse nicht eindeutig waren, ist die Verdachtsdiagnose zu kodieren.“

Zu einer weiteren Aufklärung, insbesondere einer erneuten Befundung der zeitnah nach dem Hirninfarkt durchgeführten bildgebenden Verfahren, aber auch zu einer aktuellen Durchführung entsprechender Verfahren, sieht sich der Senat nicht veranlasst.

Zwar hat der vom Senat beauftragte Sachverständige zunächst eine Neubefundung der zeitnah nach dem Hirninfarkt durchgeführten bildgebenden Verfahren angeregt. Es bestehen aber insofern für den Senat schon erhebliche Zweifel, ob sich daraus überhaupt weitergehende Erkenntnisse ergeben könnten. Diese Zweifel stützt der Senat zum einen auf die Hinweise in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13.02.2017, wonach der für die Beurteilung relevante Bereich bei bildgebenden Verfahren vermutlich nicht ausreichend genau abgebildet sein dürfte, um daraus detailliertere Bewertungen treffen zu können. Zum anderen, und dies ist der für den Senat entscheidende Gesichtspunkt, hat der gerichtliche Sachverständige PD Dr. C. zuletzt in seiner Stellungnahme vom 30.10.2017 eine derartige Nachbefundung nicht mehr für nötig erachtet. Vielmehr hat er aufgrund einer Würdigung der vorliegenden Befunde darauf hingewiesen, dass keine Befunde vorliegen, die die positiven Kriterien einer Dissektion (Nachweis eines Wandhämatoms, trichterförmige Lumeneinengung, klinische Korrelate wie lokale Schmerzen oder ein Horner-Syndrom) erfüllen. Gegen eine Dissektion spricht, dass für die Zeit vor dem Hirninfarkt keine typischen Beschwerden dokumentiert und auch später nicht vom Kläger beschrieben worden sind, wie sie regelmäßig in Form einer lokalen Schmerzhaftigkeit oder einer einseitig verengten Pupille mit leicht hängendem Augenlid zu erwarten sind, worauf der Sachverständige PD Dr. C. schon in seinem Gutachten vom 27.12.2016 hingewiesen hat (Nach der vom Sachverständigen angeführten Studie mit 50 Patienten seien lediglich drei Patienten asymptomatisch gewesen.). Zudem, auch darauf hat der Sachverständige hingewiesen, haben die im weiteren Verlauf erhobenen Befunde die Verdachtsdiagnose einer Dissektion nicht bestätigt. So hat eine im Rahmen der Reha-Behandlung im Klinikum S. durchgeführte Dopplersonographie am 25.02.2010 eine unauffällige Gefäßwandmorphologie und unauffällige Strömungsprofile gezeigt. Dass bei einer Nachbeurteilung des damaligen Bildmaterials keine weitergehenden positiven Erkenntnisse für die Feststellung einer Dissektion zu erwarten sind, ist auch der Stellungnahme des gerichtlichen Sachverständigen PD Dr. C. vom 04.04.2017 zu entnehmen, wenn dieser dort darauf hinweist, dass „eine Nachbeurteilung … die Chance [bietet], evtl. doch vorhandene und bislang nicht bekannte Faktoren aufzudecken, die einen Zusammenhang dann als unwahrscheinlich erscheinen lassen würden.“ Der Gutachter sieht also in einer Nachbefundung nur die Chance, eine Dissektion (und damit die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs) definitiv ausschließen zu können. Die Frage, ob ein Impfschaden zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, ist aber für die impfschadensrechtliche Bewertung ohne Bedeutung. Entscheidungserheblich ist allein die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen Impfung und Gesundheitsschaden hinreichend wahrscheinlich nachgewiesen werden kann. Die Beantwortung dieser - allein entscheidungserheblichen - Frage ist aber nicht davon abhängig, dass der Zusammenhang nachgewiesenermaßen unwahrscheinlich ist oder sich positiv eine andere Ursache feststellen lässt. Mit einer Nachbefundung der durchgeführten bildgebenden Verfahren wäre daher für das Verfahren kein rechtlich maßgeblicher Erkenntnisgewinn verbunden, sondern allenfalls eine im Sinne des Betroffenen wünschenswerte weitergehende Aufklärung bei ihm vorliegender impfunabhängiger Risikoquellen verbunden. Eine solche Aufklärung hat aber nicht in einem impfschadensrechtlichen Gerichtsverfahren stattzufinden.

Jedenfalls ist eine Neubefundung der zeitnah nach dem Hirninfarkt durchgeführten bildgebenden Verfahren auch deshalb nicht angezeigt, da selbst dann, wenn sich damit eine Dissektion zweifelsfrei nachweisen lassen würde, sich ein Impfschaden beim Kläger nicht nachweisen lassen würde. Denn der rechtlich wesentliche Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Dissektion würde sich auch dann nicht herstellen lassen (siehe dazu unten Ziff. 3).

Von einer jetzt neu anzufertigenden Bildgebung würden sich für den maßgeblichen Zeitpunkt des Hirninfarkts im Jahre 2009 keine Rückschlüsse mehr ziehen lassen, da damals vorliegende morphologische Veränderungen heute mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr erkennbar sind. So haben sich auch bei einer im Rahmen der Reha-Behandlung im Klinikum S. durchgeführten Dopplersonographie am 25.02.2010 eine unauffällige Gefäßwandmorphologie und unauffällige Strömungsprofile gezeigt. Im Übrigen hat der Sachverständige PD Dr. C. eine derartige Bildgebung auch nur unter dem - rechtlich unmaßgeblichen - Gesichtspunkt als hilfreich erachtet, dass damit die Unwahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs positiv nachgewiesen werden könnte (vgl. oben, vorletzter Absatz). Im Übrigen gilt das Gleiche wie bei einer Neubefundung des alten Bildmaterials (vgl. vorstehender Absatz) - auch bei Nachweis einer Dissektion lässt sich ein Impfschaden nicht nachweisen (siehe dazu unten Ziff. 3).

2.2. Ein - nicht im Vollbeweis nachgewiesener - thromboembolischer Verschluss, der seine Ursache nicht in der Dissektion der Arteria carotis hat, wäre nach einheitlicher Ansicht der Sachverständigen nicht im Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Impfung zu sehen und kann daher schon wegen fehlender Kausalität keine Primärschädigung darstellen.

Sofern der Gutachter PD Dr. C. im Rahmen seines Gutachtens vom 27.12.2016 im Rahmen der Beantwortung der Beweisfragen noch äußerst missverständlich auch für die Variante eines thromboembolischen Verschlusses „prinzipiell“ die gute Möglichkeiten eines Zusammenhangs mit der Impfung formuliert hat, hat er diese Annahme in seinen weiteren Ausführungen nicht mehr wiederholt, sondern eine solche Möglichkeit nicht mehr angenommen. Letzteres steht auch in Einklang mit seinen gesamten sachverständigen Ausführungen, in denen er an keiner einzigen Stelle eine medizinische Lehrmeinung benannt hat, die einen solchen Zusammenhang kennt. Raum für eine Kannversorgung ist daher insofern nicht eröffnet.

2.3. Keine Wahlfeststellung

Ein Rückgriff auf das Institut der Wahlfeststellung scheitert daran, dass nicht beide in Betracht kommenden Tatbestandsvarianten zur Bejahung der Frage, ob ein Primärschaden vorliegt, führen.

Das Institut der Wahlfeststellung ist auch im Sozialrecht anerkannt (vgl. z.B. die Urteile des BSG zu den Rechtsbereichen des Versorgungsrechts vom 30.08.1960, 8 RV 245/58, und 05.05.1993, 9/9a RV 1/92, sowie der gesetzlichen Unfallversicherung vom 24.01.1992, 2 RU 32/91). Dabei kann der im Rahmen der Wahlfeststellung geltend gemachte Anspruch nur dann zugesprochen werden, wenn jede der in Betracht kommenden Tatbestandsvarianten zur gleichen Leistung führen muss (vgl. BSG, Urteil vom 26.03.1986, 2 RU 10/85). Dies bedeutet wiederum, dass eine Wahlfeststellung bereits dann ausgeschlossen ist, wenn nur eine der der Wahlfeststellung zugrunde zu legenden Tatbestandsalternativen einer Leistung entgegenstehen würde.

Im vorliegenden Fall kann aber - wenn überhaupt - eine Primärschädigung nur für die Tatbestandsvariante in Betracht gezogen werden, dass eine Dissektion der Arteria carotis vorgelegen hat, nicht aber für die Tatbestandsalternative eines thromboembolischen Verschlusses, der seine Ursache nicht in der Dissektion der Arteria carotis findet (vgl. oben Ziff. 2.2.).

3. Auch bei Annahme einer Dissektion keine Kausalität zwischen Impfung und Primärschaden

Aber auch soweit man entgegen den obigen Feststellungen und Ausführungen davon ausgehen würde, dass eine Dissektion der Arteria carotis im Vollbeweis nachgewiesen wäre, würde es insoweit an der Kausalität zwischen der Impfung und der unterstellten Impfkomplikation (Primärschaden) in Form einer Dissektion der Arteria carotis fehlen.

3.1. Kein Zusammenhang im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit

Ein hinreichend wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der beim Kläger durchgeführten Impfung und einer Dissektion der Arteria carotis lässt sich nicht feststellen; das ist unter allen Sachverständigen und Versorgungsärzten unstreitig. Der Senat sieht insofern von weiteren Ausführungen ab und verweist auf die ausführlich begründeten Gutachten, gutachtlichen Stellungnahmen und versorgungsärztlichen Äußerungen.

3.2. Kein Zusammenhang im Sinne der Kannversorgung

Die Herstellung eines Zusammenhangs im Sinne der Kannversorgung scheitert schon daran, dass zwar in der medizinischen Wissenschaft über die Ursache einer (spontanen) Dissektion Ungewissheit besteht, es aber schon keine verschiedenen ärztlichen Lehrmeinungen mit abschließenden Erklärungen zur Ursächlichkeit bei einer Dissektion gibt. Jedenfalls existiert keine einzelne ärztlich-wissenschaftliche Lehrmeinung, nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen einer Impfung mit Pandemrix (und einer damit verbundenen erhöhten Zytokinausschüttung) und einer Dissektion der Arteria carotis gegeben wäre. Dabei stützt sich der Senat auf die Feststellungen aller im Verfahren gehörten Sachverständigen und Versorgungsärzte.

Von verschiedenen, untereinander differierenden ärztlichen Lehrmeinungen zur Ursächlichkeit einer Dissektion kann nicht ausgegangen werden. Vielmehr lässt sich - den Hinweisen der Sachverständigen und Versorgungsärzte folgend - nur für einen Teil der stattgehabten Dissektionen eine medizinische Erklärung finden, ohne dass sich daraus bereits eine herrschende medizinische Meinung herausgebildet hätte. Der andere Teil der Dissektionen hingegen ist in seiner Ursächlichkeit offenbar völlig ungeklärt, so dass auch insofern nicht von einzelnen wissenschaftlichen Lehrmeinungen ausgegangen werden kann, die sich noch nicht zur herrschenden Meinung verdichtet haben.

Jedenfalls gibt es keine einzige wissenschaftliche Lehrmeinung, die einen Zusammenhang zwischen einer Impfung mit Pandemrix und einer Dissektion der Arteria carotis unter bestimmten Voraussetzungen annehmen würde.

So hat der Sachverständige Prof. Dr. J. in seinem Gutachten vom 14.08.2014 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine ausgedehnte Literatursuche zu Impfungen, speziell gegen Influenza und Dissektionen der Arteria carotis interna, kein positives Ergebnis gebracht habe, es für die Hypothese einer zytokinverursachten Dissektion weder experimentelle noch epidemiologische Belege gebe und Impfungen als mögliche Trigger einer Dissektion in der Literatur niemals erwähnt worden seien.

Dies hat auch der Gutachter PD Dr. C. bestätigt und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 04.04.2017 festgehalten, dass es keine ausreichenden epidemiologischen Daten gebe, die ein erhöhtes Risiko einer Dissektion nach Impfung mit Pandemrix belegen würden. Dass infolge einer Impfung mit Pandemrix durch die starke Freisetzung von Zytokinen ein entzündlicher Prozess mit der potentiellen Folge einer Dissektion begünstigt werden könnte, sei eine (bloße) Hypothese, für die es keine experimentellen oder epidemiologischen Daten gebe. Ergänzt hat dies der Gutachter PD Dr. C. nach ausdrücklicher Befragung durch das Gericht und exakter Erläuterung der Voraussetzungen der Kannversorgung in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30.10.2017 und nochmals erläutert, dass kein epidemiologisch erhöhtes Risiko einer Dissektion nach einer Impfung mit Pandemrix belegt sei. Für die Frage eines Zusammenhangs zwischen einer Impfung mit Pandemrix und einer Dissektion der Arteria carotis hat der Sachverständige keine einzige medizinische Lehrmeinung aufgezeigt, die von einem Zusammenhang im Sinne der Kannversorgung ausgehen würde. Der Sachverständige hat - wie auch zuvor Prof. Dr. J. vor der Einholung des ergänzenden internistischen Gutachtens - lediglich ein theoretisches Gedankenmodell aufgezeigt, das einen Zusammenhang zwischen Impfung und Dissektion erklären könnte. Ein derartiges Gedankenmodell ist jedoch auch für die Kannversorgung unbehelflich, da damit nur die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen Impfung und Primärschädigung aufgezeigt wird, was aber für die Kannversorgung nicht ausreicht. Denn damit würde, ohne dass die Beurteilung bei fehlender herrschender medizinischer Meinung auf zumindest eine wissenschaftlich anerkannte Lehrmeinung gestützt werden könnte, der Anwendungsbereich der Kannversorgung dahingehend erweitert, dass schon die bloße - und nicht nur, um mit den Worten des BSG zu sprechen, „gute“ - Möglichkeit eines Zusammenhangs als ausreichend erachtet würde. Dies würde den vom Gesetzgeber gesetzten Rahmen für die Zusammenhangsbeurteilung überschreiten.

Sofern der Sachverständige PD Dr. C. im Gutachten vom 27.12.2016 noch - anders als später im Rahmen der ergänzenden Stellungnahme - die „gute Möglichkeit“ eines Zusammenhangs bejaht hat, ist dies offensichtlich unter Verkennung der rechtlichen Voraussetzungen des zugegebenermaßen missverständlichen Begriffs der „guten Möglichkeit“ erfolgt. Dies ergibt sich auch daraus, dass er in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30.10.2017, nachdem nunmehr die rechtlichen Voraussetzungen der Kannversorgung verständlicher mit Gutachtensauftrag vom 01.08.2017 erläutert worden waren, keine medizinische Lehrmeinung benannt hat, auf die die Kannversorgung gestützt werden könnte, sondern nur von einem theoretisch gut begründbaren möglichen Zusammenhang gesprochen hat.

Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat ergänzend darauf hin, dass auch im Wege der Wahlfeststellung ein Zusammenhang zwischen Impfung und den zwei als Primärschaden bei weitester Betrachtung infrage kommenden Gesundheitsstörungen einer Dissektion der Arteria carotis einerseits und eines thromboembolischen, am ehesten auf kardiogener Ursache beruhenden Verschlusses andererseits nicht möglich wäre. Sofern der Sachverständige PD Dr. C. in seinem Gutachten vom 27.12.2016 noch für beide Möglichkeiten „prinzipiell eine solche „gute Möglichkeit“" gesehen hat, hat er diese offensichtlich mit Blick auf die Begrifflichkeiten irrige Annahme später nicht mehr aufrechterhalten (vgl. auch oben Ziff. 2.2.). Im Übrigen geht auch aus dem Gutachten vom 27.12.2016 selbst hervor, dass der Sachverständige für die Tatbestandsalternative eines thromboembolischen Verschlusses (vermutlich kardialer Ursache) keine „gute Möglichkeit“ eines Zusammenhangs gesehen hat. Denn anders wäre es nicht zu erklären, dass der Sachverständige zu den beiden Alternativmöglichkeiten „sich hieraus [ergebende] möglicherweise unterschiedliche Aspekte zur Kausalität (im Sinne einer „Kannversorgung“)" gesehen hat. Der Sachverständige ist also offensichtlich davon ausgegangen, dass die Kausalität im Sinne der Kannversorgung unterschiedlich zu bewerten ist, je nachdem, ob von einer Dissektion, für die er zu diesem Zeitpunkt noch die Möglichkeit der Kannversorgung gesehen hat, oder einem thromboembolischen Verschluss auszugehen ist.

Zu den vom Kläger erhobenen Einwänden, soweit sie nicht bereits oben abgehandelt sind, weist der Senat abschließend auf Folgendes hin:

Der Kläger hat zur Widerspruchsbegründung darauf hingewiesen, dass in der Datenbank des P.-E.-Instituts zu Verdachtsfällen von Impfkomplikationen 16 Fälle von Hirninfarkt im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen verzeichnet seien und damit ein Hirninfarkt als Impfreaktion bekannt sei. Dabei verkennt der Kläger den Charakter von Meldungen als Verdachtsfall an das P.-E.-Institut. Eine derartige Meldung bedeutet lediglich, dass aus Sicht des behandelnden Arztes ein potentieller Zusammenhang mit einer Impfung nicht auszuschließen ist und er daher seiner Meldepflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IfSG („Namentlich ist zu melden: … 3. der Verdacht einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung“) nachkommen will. Nicht belegt ist aber mit einer derartigen Meldung, dass sich ein impfschadensrechtlicher Zusammenhang auch nach dem aktuellen Kenntnisstand der Medizin herstellen lässt. Der Senat verweist insofern auch auf den Internetauftritt des P.-E.-Instituts, in dem auf Folgendes hingewiesen wird:

„Impfstoffe sind, wie alle anderen wirksamen Arzneimittel auch, nicht völlig frei von Nebenwirkungen. Die Anforderungen an die Sicherheit von Impfstoffen sind höher als etwa an Arzneimittel zur Behandlung schwer erkrankter Personen. Denn es sind in der Regel gesunde Kinder, Jugendliche und Erwachsene, welche geimpft werden. In äußerst seltenen Fällen können Impfstoffe zu Gesundheitsstörungen und Erkrankungen führen. Ein zeitlicher Zusammenhang von Impfung und einer Erkrankung begründet einen Verdacht, ist aber noch kein Beweis dafür, dass eine Impfung die Krankheit verursacht hat.

Für Verdachtsfälle von Impfreaktionen, die über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehen, besteht nach Infektionsschutzgesetz eine Verpflichtung für den impfenden Arzt, dies an das zuständige Gesundheitsamt zu melden. Von dort erhält das P.-E.-Institut die Daten in anonymisierter Form. Die Experten des Referats Arzneimittelsicherheit prüfen jede Meldung und beurteilen aufgrund der gemeldeten und ggf. recherchierten Informationen, ob ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung als gesichert, wahrscheinlich, möglich, unwahrscheinlich oder auch wegen fehlender Daten nicht zu beurteilen ist. Ziel dieser Bewertungen ist es, mögliche Risikosignale bei einem Impfstoff frühzeitig zu erkennen um Maßnahmen zur Risikominimierung ergreifen zu können. Sehr seltene, aber vielleicht schwerwiegende Nebenwirkungen können auch in großen klinischen Prüfungen nicht entdeckt werden, sondern erst dann, wenn sehr viele Menschen den betreffenden Impfstoff erhalten haben. Daher ist die Beobachtung, Meldung und Bewertung von Verdachtsfällen auf Impfkomplikationen äußerst wichtig.“

(https://www...de/DE/arzneimittel/impfstoff-impfstoffe-fuer-den-menschen/informationen-zu-impfstoffen-impfungen-impfen.html - Stand 11.07.2018)

Im Rahmen der Widerspruchsbegründung hat der Kläger beanstandet, dass er über das Risiko der Impfung weder mündlich noch schriftlich aufgeklärt worden und daher die Impfung nicht rechtskonform erfolgt sei. Jedenfalls hätte er auf das Impfrisiko hingewiesen werden müssen, so dass schon deshalb die Aufklärung nicht wirksam sei. Dies ergebe sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Dabei verkennt der Kläger, dass sich die versorgungsrechtliche Beurteilung, ob ein Impfschaden vorliegt, nicht nach zivilrechtlichen Grundsätzen und den im Zivilrecht geltenden Beweislastregeln beurteilt, sondern nach den im Sozialrecht geltenden Vorgaben. Dabei ist es für die Beurteilung, ob ein Impfschaden vorliegt, ohne rechtliche Bedeutung, ob der Geimpfte - im zivilrechtlichen und ggf. strafrechtlichen Sinne - ordnungsgemäß aufgeklärt worden ist oder nicht.

Im Rahmen der Klagebegründung haben die Bevollmächtigten des Klägers ihre Ansicht geäußert, dass von der Rechtsprechung des BSG vorgesehen sei, dass eine Nutzen-Lasten-Analyse Voraussetzung für die Impfempfehlung und diese grobfehlerhaft und unzureichend durchgeführt worden sei. Diese Ansicht findet jedoch in der Rechtsprechung des BSG keine Stütze. Ob und wie es zu der öffentlichen Impfempfehlung gekommen ist, ist für die Beurteilung nach dem IfSG ohne rechtliche Bedeutung.

Der Senat weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die Beiziehung von arzneimittelrechtlichen Zulassungsunterlagen, in denen auch eine Nutzen-Lasten-Analyse des Impfstoffs enthalten sein dürfte, im impfschadensrechtlichen Verfahren grundsätzlich nicht erforderlich ist. Denn eine Impfschadensversorgung nach § 60 IfSG setzt nur eine nach den dort genannten Voraussetzungen durchgeführte Impfung mit einem in der Regel zugelassenen (siehe dazu auch BSG, Urteile vom 02.10.2008, B 9/9a VJ 1/07 R, und vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R) Impfstoff voraus. Warum die Zulassung erfolgt ist bzw. welche Nutzen-Lasten-Analyse dem zu Grunde lag, ist insoweit nicht von Relevanz bzw. deshalb im Falle eines Impfschadens ja gerade eine Versorgung nach dem IfSG zu leisten (vgl. auch BSG, Urteil vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R), weil dem Einzelnen insoweit ein Sonderopfer abverlangt wird. Eine Nutzen-Lasten-Analyse ist daher allein Teil des strengen Zulassungsverfahrens für Impfstoffe, nicht aber maßgebend für die Frage der Kausalität im konkreten Einzelfall (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.04.2015, L 6 VJ 1460/13, Bayer. LSG, Urteil vom 18.05.2017, L 20 VJ 5/11).

Sofern es die Bevollmächtigten des Klägers dem Beklagten als „geradezu skandalös“ vorhalten, dass dieser einem Zusammenhang entgegenhalte, dass die Erkrankung nicht unmittelbar nach der Impfung, sondern erst eine Woche später aufgetreten sei, weil - so die Bevollmächtigten - medizinisch seit Jahrzehnten von einer Inkubationszeit von bis zu mehreren Wochen ausgegangen werde, ist dieser Vorwurf nicht haltbar. Es verbietet sich, pauschal, undifferenziert und unabhängig von der Impfung und einer potentiellen Primärschädigung von einer Inkubationszeit von bis zu mehreren Wochen auszugehen. Im Übrigen verkennen die Bevollmächtigten bei ihrem Hinweis auf (nicht näher genannte) wissenschaftliche Veröffentlichungen, wonach ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Auftreten der neurologischen Symptomatik anzunehmen sei, wenn sich die Symptomatik in einem Zeitraum von innerhalb einer Stunde bis zu einem Monat nach der Impfung manifestiert habe, auch, dass die zwar jetzt beim Kläger auf neurologischem Gebiet vorliegende Erkrankung keine direkte neurologische Ursache hat, sondern ein vermutlich nicht neurologisch bedingter Verschluss einer Arterie durch die Mangelversorgung des Gehirns zu einem neurologischen Schaden geführt hat.

Der Kläger stützt seine Vermutung eines Zusammenhangs zwischen Impfung und Hirninfarkt wesentlich darauf, dass er einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Hirninfarkt sieht und genetische Ursachen und sonstige Risikofaktoren für einen Hirninfarkt als nicht gegeben erachtet. Bei dieser, für einen juristischen Laien durchaus nachvollziehbaren Argumentation übersieht der Kläger aber, dass eine Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Impfschaden nach dem IfSG nicht schon dann in Betracht kommt, wenn andere Ursachen für den Hirninfarkt nicht nachgewiesen sind. Vielmehr muss ein Zusammenhang hinreichend wahrscheinlich oder zumindest im Sinne der Kannversorgung „gut möglich“ sein. Gelingt dieser Nachweis nicht, ist aufgrund der im Sozialrecht geltenden Vorgaben der objektiven Beweislast eine Anerkennung als Impfschaden nicht möglich. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass ein Nachweis von Alternativursachen in den Fällen schon regelmäßig scheitern würde, in denen - wie hier - über die potentiellen Ursachen einer Gesundheitsschädigung in der medizinischen Wissenschaft weitgehend Unklarheit herrscht.

Es mag zutreffen, dass der im September 2009 in der EU zugelassene Impfstoff Pandemrix jetzt nicht mehr eingesetzt wird, weil bei seiner Anwendung überdurchschnittlich häufig Komplikationen aufgetreten sind, und auch während des Zeitraums, in dem mit ihm geimpft worden ist, ein Alternativimpfstoff zur Verfügung gestanden hat, der - wie dies der Kläger ausführt - bei Bundeswehrsoldaten und Regierungsbeamten zur Anwendung gekommen ist. Dies macht aber einen Zusammenhang zwischen der beim Kläger durchgeführten Impfung mit Pandemrix und dem bei ihm aufgetretenen Hirninfarkt nicht wahrscheinlich, zumal trotz der mit über 30 Mio. sehr oft erfolgten Impfung mit Pandemrix Hirninfarkte auch statistisch betrachtet nicht überdurchschnittlich häufig aufgetreten sind. Jedenfalls liegen keinerlei medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse dahingehend vor, dass eine Impfung mit Pandemrix im Zusammenhang mit einem Hirninfarkt stehen könnte.

Wenn die Bevollmächtigten auf ein Urteil des EuGH vom 21.06.2017 hinweisen, welches sich mit einem französischen Fall eines Impfschadens im Bereich der Produkthaftung befasst hat, und daraus für den Kläger günstige Rückschlüsse ziehen wollen, verkennen sie, dass sich der hier zu entscheidende Fall nach deutschem Impfschadensrecht und nicht nach französischem (zivilrechtlichen) Produkthaftungsrecht beurteilt. Die Entscheidung des EuGH kann daher vorliegend keine Auswirkungen haben.

Die Berufung bleibt deshalb ohne Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 14.02.2017 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Anerkennung eines Impfschadens und die Gewährung von Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) wegen einer am 30.01.2014 durchgeführten Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis (Impfstoff: Boostrix(r)).

Die Klägerin ist im Jahr 1965 geboren. Bei ihr liegt ein Zustand nach akuter Querschnittsmyelitis mit einer leichtgradigen rechtsbetonten überwiegend sensiblen Querschnittssymptomatik vor. Es ist ein Grad der Behinderung von 50 anerkannt (Bescheid vom 12.10.2015.)

Mit Formblattantrag vom 25.08.2014 beantragte die Klägerin, eine Myelitis transversa als Impfschaden infolge einer durch den Kinderarzt Dr. T. durchgeführten Boostrix(r)-Impfung am 30.01.2014 anzuerkennen.

Dem Antrag waren beigelegt:

- ein Arztbrief der Sozialstiftung B-Stadt vom 24.04.2014, wonach die Klägerin dort stationär vom 16.04.2014 bis zum 24.04.2014 wegen einer Querschnittsmyelitis BWK 7, Differenzialdiagnose Gliom mit sensiblem Querschnitt rechtsbetont ab Dermatom TH 12 und Vitaminmangel behandelt worden sei. Die Klägerin sei wegen eines seit ca. 14 Tagen bestehenden Pelzigkeitsgefühls unterhalb des Bauchnabels eingewiesen worden. Das Pelzigkeitsgefühl sei nach Angaben der Klägerin langsam progredient, habe an den Füßen begonnen und steige nun auf. Bei einer Lumbalpunktion habe sich - so der Bericht des Krankenhauses - kein Hinweis auf eine akut-entzündliche ZNS-Erkrankung bei unauffälligen Liquorstatus ergeben. Eine MRT der HWS/BWS habe eine Läsion auf Höhe des BWK 7 von ca. 3 cm Länge gezeigt. Bei einer Kortisonstoßtherapie sei die Querschnittssymptomatik kaum rückläufig gewesen. Wegen des Nichtansprechens auf Kortison und nur einem isolierten Herd im MRT sei nicht von einer akuten oder chronischen-entzündlichen ZNS-Erkrankung, sondern eher von einer tumorösen Raumforderung auszugehen, am ehesten einem Gliom.

- ein Arztbrief des Universitätsklinikums E-Stadt vom 14.05.2014 über einen stationären Aufenthalt vom 28.04.2014 bis zum 14.05.2014. Als Diagnosen wurden dort genannt der Verdacht auf Querschnittsmyelitis BWK 7, Differenzialdiagnose Gliom mit sensiblem Querschnitt sowie ein Vitamin B12-Mangel, bezüglich dessen eine Substitution begonnen und eine Fortsetzung empfohlen worden sei. Bei der Aufnahme habe die Klägerin angegeben, seit 4 bis 6 Wochen an zunehmenden Gefühlsstörungen beider Beine zu leiden, welche sich in den letzten drei Wochen deutlich verschlechtert hätten. Eine Erregerdiagnostik sei - so der Bericht - unauffällig gewesen, so dass gegenwärtig nicht von einer paraeinfektiösen Genese auszugehen sei. Eine Analyse des Liquors sei ebenfalls unauffällig gewesen. Auffällig sei ein Vitamin B12-Mangel gewesen, so dass die intramuskuläre Substitution begonnen worden sei. Klinisch habe sich eine leichtgradige Besserung der Sensibilitätsstörungen gezeigt.

- ein Arztbrief der neuroimmunologischen Ambulanz des Universitätsklinikums E-Stadt vom 14.07.2014, in der sich die Klägerin am 18.06.2014 vorgestellt hatte: Die Klägerin habe berichtet, dass sie, nachdem am 30.01.2014 eine Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis durchgeführt worden sei, im Verlauf der nächsten 2 bis 3 Wochen erstmalig Sensibilitätsstörungen im Bereich der Fußsohle bemerkt habe. Im weiteren Verlauf seien diese Sensibilitätsstörungen teilweise zum Rippenbogen aufgestiegen. Zusätzlich sei sie dann im Februar nicht mehr in der Lage gewesen, sicher zu gehen. In der Kernspintomographie habe sich - so der Bericht - auf Höhe des BWK 7 eine Signalalteration nachweisen lassen, die zum einen gut zu einer Myelitis gepasst habe. Differenzialdiagnostisch sei allerdings auch das Vorliegen eines Glioms diskutiert worden. In Zusammenschau der Befunde sei nunmehr von einer entzündlichen Genese der Myelonläsion auszugehen. Es sei zu diskutieren, ob es sich nicht um eine monophasisch verlaufende Myelitis handle. Auffällig sei, dass die ersten Symptome nach Durchführung einer Impfung im Januar aufgetreten seien, so dass eine kausale Assoziation nicht ausgeschlossen werden könne.

In der Folge holte der Beklagte weitere Informationen ein:

- Der impfende Arzt Dr. T. berichtete dem Beklagten auf Nachfrage, dass er die Klägerin nur am 30.01.2014 geimpft und seither keine weiteren Behandlungen durchgeführt habe.

- Auf Nachfrage stellte das Landratsamt B-Stadt dem Beklagten eine Kopie des vom impfenden Arzt Dr. T. erstellten Berichts über den Verdacht auf Impfkomplikation vom 08.08.2014 an das Paul-Ehrlich-Institut, in dem ein Krankheitsbeginn am 12.02.2014 angegeben wurde sowie die Antwort des Paul-Ehrlich-Instituts vom 29.09.2014, in der darauf hingewiesen wurde, dass es allgemein anerkannt sei, dass eine Myelitis transversa in einem Zeitraum von 5 bis 21 Tagen nach einem immunologischen Ereignis (Infektion oder möglicherweise auch Impfung) auftreten könne, zur Verfügung.

- Der Allgemeinarzt B. berichtete dem Beklagten am 12.11.2014, dass die Klägerin erstmalig am 08.04.2014 wegen Taubheitsgefühls der unteren Extremität, betont am rechten Bein, bei ihm vorstellig gewesen sei.

- Im Entlassungsbericht über eine neurologische stationäre Rehabilitation der Klägerin vom 25.09.2014 bis zum 29.10.2014 wurde darauf hingewiesen, dass die Klägerin im Rahmen der Anamnese angegeben habe, dass das Querschnittssyndrom im Februar 2014 begonnen habe, ab Mitte April deutlich progredient und in den letzten Wochen wieder regredient gewesen sei. Zum Zeitpunkt der Abschlussuntersuchung habe sich weiterhin eine Hypästhesie und Hypalgesie sowie ein eingeschränktes Temperaturempfinden des rechten Beins bis oberhalb des Kniegelenks gezeigt. Die Klägerin sei als voll arbeitsfähig für eine vollschichtige Tätigkeit als Bürokauffrau entlassen worden.

- Im Bericht zur MRT der HWS/BWS vom 18.06.2014 wird über eine Myelonläsion auf Höhe BWK 7 mit deutlich regredienter Schrankenstörung berichtet. Der Befund sei im zeitlichen Verhalten am ehesten als (post-)entzündlich zu werten.

Am 18.12.2014 wurde die Klägerin versorgungsärztlich durch den Neurologen B. begutachtet. Der Sachverständige beschrieb eine bei der Klägerin vorliegende noch leichtgradige, rechtsbetonte, überwiegend sensible Querschnittssymptomatik. Er wies darauf hin, dass die Angaben der Klägerin zum Zeitpunkt der klinischen Manifestation der Erkrankung stark wechselnd seien. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und Querschnittsmyelitis sei zwar möglich, aber wenig wahrscheinlich. Das Zeitfenster zwischen der Impfung und dem Auftreten der ersten klinischen Erscheinungen der Querschnittsmyelitis, die Entwicklung der Symptomatik im Verlauf, die deutlich geringere Inzidenz der Impfschäden bei der angeschuldigten Impfung gegenüber der Inzidenz von Querschnittsmyelitiden andere Genese sprächen gegen eine impfassoziierte Erkrankung.

Ebenfalls zu der Einschätzung, dass sich ein wahrscheinlicher Zusammenhang der Impfung mit der Querschnittsmyelitis nicht nachweisen lasse, kam der Neurologe und Psychiater Dr. K. vom versorgungsärztlichen Dienst des Beklagten in seiner Stellungnahme vom 16.01.2015. Nach den zeitnahen Angaben der Klägerin sei die Entwicklung der Symptomatik einer Querschnittsmyelitis Anfang April 2014 erfolgt, also etwa zwei Monate nach der Impfung. Dies liege deutlich außerhalb eines Zeitraums von 5 bis 21 Tagen nach der Impfung, in dem ein Zusammenhang in Betracht komme.

Bei einer Kontrolluntersuchung der Klägerin in der neuroimmunologischen Ambulanz des Universitätsklinikums E-Stadt am 16.12.2014 zeigte sich eine rückläufige neurologische Ausfallsymptomatik (Arztbrief vom 20.01.2015). Nach dem bildgebenden Befund sei von einer (post-)entzündlichen Veränderung auszugehen.

Dr. K. wies in einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage am 05.03.2015 darauf hin, dass sich aufgrund des Befundberichts vom 20.01.2015 keine Änderung der Einschätzung ergebe und dass weder beim Robert-Koch-Institut noch bei den Fachinformationen eine Querschnittsmyelitis nach der Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis als Nebenwirkung genannt werde.

Mit Bescheid vom 24.03.2015 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung wegen der Impfung am 30.01.2014 ab. Er begründete dies mit dem zeitlichen Ablauf ab dem Auftreten der ersten klinischen Erscheinungen der Querschnittsmyelitis und der Entwicklung der Symptomatik im Verlauf. Eine Querschnittsmyelitis werde nicht bei den bekannten Nebenwirkungen der bei der Klägerin durchgeführten Impfung aufgeführt. Ein kausaler Zusammenhang sei zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich.

Mit Schreiben vom 07.04.2015 erhob die Klägerin Widerspruch. Den Ausführungen zum zeitlichen Ablauf müsse sie ausdrücklich widersprechen. Sie habe bereits „sofort nach der Impfung Symptome“ gehabt, die bei jedem Arzt protokolliert worden seien.

Auf Nachfrage des Beklagten trug die Klägerin mit Schreiben vom 30.04.2015 zum zeitlichen Ablauf vor, dass sie „bereits in der ersten Februarwoche 2014 … ein seltsames Gefühl an beiden Fußsohlen“ verspürt habe. Diese hätten gekribbelt und sie habe nicht richtig einordnen können, ob die Füße kalt oder gefühlsgestört seien. Sie habe im Büro ihre Füße immer auf warme Kirschkernsäckchen gestellt. In den folgenden Wochen seien auch die Unterschenkel bis zu den Knien pelzig geworden. Dies sei alles auszuhalten und für sie persönlich noch kein Grund gewesen, einen Arzt zu konsultieren. Am 26.02.2014 habe sie ein Arbeitsessen in einer B-Stadter Gaststätte ca. 500 m vom Büro entfernt gehabt. Sie erinnere sich, dass sie hier schon Probleme gehabt habe, über das Kopfsteinpflaster am Dom zu laufen, sich bei einer Arbeitskollegin am Arm eingehängt und auch die anderen Kollegen gebeten habe, nicht zu schnell zu laufen. Sie habe einfach den Ernst der Lage nicht erkannt. Sie habe auch in der Zukunft noch einige Renovierungsarbeiten zuhause geplant gehabt, sei aber zu der Zeit immer müde und auch von kleinen Anstrengungen völlig ausgelaugt und erschöpft gewesen. Mitte März, als die Symptome nicht besser geworden seien, habe sie auch kurzzeitig an einen Bandscheibenvorfall gedacht. Diese Gedanken habe sie aber beiseitegeschoben, da sie zu keiner Zeit irgendwelche Schmerzen in der Wirbelsäule verspürt habe. Als das Taubheitsgefühl die Oberschenkel erreicht gehabt habe, habe sie einer Freundin versprechen müssen, noch in derselben Woche einen Arzt aufzusuchen, was sie dann auch am 08.04.2014 getan habe. Am 12.04.2014 habe sie plötzlich in der Früh beim Duschen gemerkt, dass sie ihren Körper ab Bauchnabel abwärts nicht mehr spüre und alles taub sei. Zu diesem Zeitpunkt habe sie auch nicht mehr richtig auf die Toilette gehen können. Während ihres Aufenthalts in der E. Uniklinik habe sie die Oberärztin gefragt, ob sie wohl zu lange gewartet habe, bis sie einen Arzt aufgesucht habe. Diese habe ihr zur Antwort gegeben, dass sogar sie als Ärztin selbst wegen dieser Symptome nicht gleich zum Arzt gegangen wäre.

In seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 22.05.2015 wies Dr. K. nochmals darauf hin, dass in den Arztbriefen des Klinikums B-Stadt vom 24.04.2014 und im ersten Arztbrief des Universitätsklinikums E-Stadt vom 14.05.2014 die Entwicklung der Symptomatik einer Querschnittsmyelitis beschrieben worden sei, deren Beginn auf etwa zwei Monate nach der Impfung vom 30.01.2014 zu datieren sei. Erst später sei ein früherer Beginn angegeben worden. Aus den zeitnahen Arztbriefen ergebe sich daher ein Beginn der Symptomatik erst einige Zeit nach einem infrage kommenden Zeitraum von 5 bis 21 Tagen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.06.2015 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Nach den zeitnächsten ärztlichen Unterlagen sei von einem Beginn der Symptomatik etwa Anfang April 2014 auszugehen. Sofern die Klägerin im Schreiben vom 30.04.2015 nunmehr von ersten Beschwerden im Februar 2014 berichte, könne dies nicht als gesicherter Hinweis auf einen früheren Beginn der Erkrankung angesehen werden.

Am 01.07.2015 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht (SG) Bayreuth erhoben.

Mit 11-seitigem Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 07.09.2015 ist die Klage wie folgt begründet worden:

Die Klägerin sei (nach einer FSME-Impfung am 26.11.2013) am 30.01.2014 ohne die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erforderliche ärztliche Aufklärung über das Impfrisiko gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis geimpft worden. Beide Impfungen würden als Adjuvans Aluminiumhydroxid enthalten. Bereits vor dem 26.02.2014 (Tag des Arbeitsessens) seien bei der Klägerin erste neurologische Beschwerden und Ausfallerscheinungen in Form von Kältegefühl in den Beinen bis hin zum Bauchnabel aufsteigend, Kribbeln in den Füßen und Beinen und Gehbeschwerden aufgetreten. Am 26.02.2014 habe die Klägerin den Weg von ihrem nicht einmal 1 km entfernten Arbeitsplatz bis zum Restaurant kaum und nur sehr langsam zurücklegen können. Die Klägerin habe von Arbeitskollegen gestützt werden müssen. Diese neurologischen Ausfallerscheinungen, die sich in der Folgezeit immer mehr gesteigert hätten, seien auch noch heute vorhanden, allerdings hätten sie sich etwas gebessert.

Diese neurologischen Ausfallerscheinungen der Klägerin hätten ihre Ursache in einer Überempfindlichkeitsreaktion entweder auf den Impfstoff selbst und/oder dessen Impfzusatzstoffe. Es spreche alles dafür, dass die Klägerin den Impfzusatzstoff Aluminiumhydroxid nicht zeitnah wieder über den Magen-Darm-Trakt habe ausscheiden können, wie dies an sich von den Immunologen geplant sei. Durch Impfungen würden Nanokristalle an Aluminium durch intramuskuläre Spritzen in den Oberarmmuskel gelangen. Von dort aus würde sich das Aluminiumhydroxid im Muskel- und Nervengewebe ausbreiten und u.a. auch ins Gehirn gelangen. Aluminiumhydroxid habe bekanntlich giftige Eigenschaften. Es könne das Gleichgewicht des Immunsystems stören und dadurch eine Infektanfälligkeit und die Entstehung allergischer und wahrscheinlich auch autoimmuner Krankheiten begünstigen. Wenn der Körper nicht wie geplant das Aluminium wieder rasch ausscheiden könne, lägen die mit dem Aluminiumkristall angereicherten Fresszellen im Muskelgewebe, Organen und im Gehirn verteilt. Das Immunsystem bleibe dauerhaft alarmiert. Dies führe zu Schmerzen, Missempfindungen, Schwäche und Erschöpfung. Neue Studien würden sogar auf eine direkte Verbindung zwischen Aluminiumhydroxid in Impfstoffen und Symptomen von Lateralsklerose hindeuten. Der für das Golfkriegssyndrom verantwortliche Stoff sei das Aluminiumhydroxid, wie eine Studie ergeben habe. Untersuchungen an Mäusen hätten dies bestätigt. Was das Aluminiumhydroxid verursachen könne, wenn es direkt in den Muskel gespritzt werde, wisse man bis heute nicht ganz genau. Man gehe aber davon aus, dass dadurch die schützende Schicht der Nerven geschädigt werde, wodurch die Nervenleitgeschwindigkeit beeinträchtigt werde. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die immense, aber leider unspezifische Steigerung des Immunsystems allein schon die intolerabel große Gefahr der Induktion von Autoimmunität impliziere. Das unspezifisch wild gemachte Immunsystem attackiere körpereigene Zellen. Bei Erwachsenen lägen mittlerweile viele Publikationen vor, jedoch leider nur in Bezug auf die lokale Wirkung von Aluminium in Form der Muskelzerstörung. Es sei eine umfangreiche epidemiologische Verlaufskontrolle zur Etablierung eines möglichen kausalen Zusammenhangs zwischen postvakzinalen fokalen MMF-Läsionen und der Verwendung von Aluminiumhydroxid erforderlich, die ihrem Wissen nach bis heute nicht erhoben worden sei.

Im Falle der Klägerin liege nach Meinung der medizinischen Berater der Bevollmächtigten das Problem darin, dass die Klägerin in geringen zeitlichen Abständen sehr viele Impfungen erhalten habe, die als Wirksamkeitsverstärker Aluminiumhydroxid enthalten hätten, so dass sich zu viel Aluminiumhydroxid im Körper der Klägerin summiert und dort Autoimmunreaktionen verursacht habe.

Es sei lange Zeit Taktik der Versorgungsämter und Sozialgerichte gewesen, in Impfschadensfällen entweder solche Gutachter zu beauftragen, die über keine impfschadensrechtliche Spezialkenntnisse verfügen würden, oder solche Gutachter auszuwählen, bei denen man sich möglichst sicher darauf verlassen könne, dass sie negative Gutachten erstellen würden. Da sie, die Bevollmächtigte, in der Vergangenheit diesen Gutachten jedoch viel Material über ausländische, von der Pharmaindustrie unabhängige Impfforschung zur Verfügung gestellt habe, habe diese Taktik in der Vergangenheit immer seltener zum Erfolg geführt. Vielmehr seien sich immer mehr Schulmediziner bewusst geworden, dass es in Deutschland eklatante Defizite in der Impfforschung und der Impfschadensforschung gebe.

In einer Dissertation aus dem Jahr 2014 rüge (der Arzt) Benedikt Jordan Missstände bei der Auswahl von Gerichtsgutachtern und deutliche Signale der Richter hinsichtlich des gewünschten Ergebnisses der von den Gerichten in Auftrag gegebenen Gutachten. Auch ihr, der Bevollmächtigten, hätten einige Impfschadensgutachter quasi unter der Hand gesagt, dass auch sie bereits solche Signale erhalten hätten.

Bei der Meldung von Impfschadensverdachtsfällen bestehe eine hohe Dunkelziffer von ca. 95%, weil die Ärzte die Meldung entweder aus ideologischen Gründen nicht durchführen oder weil sie unnötigen Papierkrieg fürchten würden. Aktuell tue sich unglaublich viel in der unabhängigen deutschen Impfrisikoforschung. Selbst der Verband der Lebensmittelchemiker des Saarlandes habe am 03.10.2014 auf das Risikopotenzial von Aluminium in Lebensmitteln hingewiesen. Allmählich würden immer häufiger weitere unabhängige Forschungen zum Risikopotenzial des Impfzusatzstoffs Aluminiumhydroxid verlangt. Von einer raschen und unbürokratischen Impfschadensregulierung, wie sie der Vorsitzende der ständigen Impfkommission behaupte, habe sie in den rund 40 Jahren, in denen sie, die Bevollmächtigte, schwerpunktmäßig im Impfschadensrecht tätig sei, leider noch nichts gehört. Nach Meinung ihrer ärztlichen Berater spreche im vorliegenden Fall deutlich mehr für als gegen eine Impfschädigung.

Mit Schriftsatz vom 14.09.2015 hat die Bevollmächtigte der Klägerin zwei im Schriftbild mit Ausnahme der Unterschriften identische und in den Formulierungen sehr ähnliche eidesstattliche Erklärungen von Kollegen der Klägerin vorgelegt, wonach die Klägerin schon Ende Januar/Anfang Februar 2014 von einem komischen Gefühl an den Fußsohlen bzw. kalten Füßen berichtet und Gehschwierigkeiten am 26.02.2014 bei einem Arbeitsessen gezeigt habe.

Anschließend hat das SG ärztliche Unterlagen beim Allgemeinarzt B. angefordert. Dieser hat am 05.01.2016 berichtet, dass er die Klägerin am 08.04.2014 behandelt habe. Es liege eine Myelitis mit spinaler Querschnittssymptomatik vor. Zudem hat er angegeben, dass bei der Klägerin seit 2004 eine „psychovegetative Erschöpfung, Angststörung und Anpassungsstörung mit bisher leichter depressiver Symptomatik“ vorliege.

Der Facharzt für medizinische Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie Prof. Dr. J. (Leiter des Bereichs Klinische Virologie und Infektionsimmunologie am Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Universität R-Stadt) hat am 12.08.2016 im Auftrag des SG ein 30-seitiges Gutachten zur Frage eines Impfschadens erstellt. Er ist darin zu der Einschätzung gekommen, dass ein Impfschaden nicht vorliege. Im Einzelnen hat er Folgendes ausgeführt:

Der Begriff einer Querschnittsmyelitis (Myelitis transversa) beschreibe eine Gruppe entzündlicher Erkrankungen des Rückenmarks, die meist im thorakalen Bereich aufträten. Die Symptomatik erkläre sich durch die Unterbrechung der Nervenbahnen und bestehe in motorischen Ausfallerscheinungen und sensiblen Störungen bzw. Ausfallerscheinungen. Meist seien auch Vorgänge wie die Blasen- und Darmfunktion beeinträchtigt. Die Erkrankung nehme in der Regel einen akuten bis subakuten Verlauf. Die Schwere der Symptomatik nehme in der Regel kontinuierlich in einem Zeitraum von 4 bis 21 Tagen zu. In mehr als 80% der Fälle würden die klinischen Erscheinungen ihren Höhepunkt innerhalb von zehn Tagen nach Beginn der Erkrankung erreichen. Bei 75 bis 90% aller Patienten verlaufe die idiopathische Querschnittsmyelitis monophasisch. Die Progredienz der Symptomatik sistiere nach 2 bis 3 Wochen und bilde sich dann allmählich zurück. Die Erkrankung könne vielfältige Ursachen haben. In den meisten Fällen dürften Autoimmunphänomene eine Rolle spielen. Als auslösende Ereignisse kämen Infekte infrage, aber auch vorausgegangene Impfungen würden immer wieder angeschuldigt. Weitere Ursachen seien direkte Infektionen, systemische Autoimmunerkrankungen oder Erkrankungen wie Multiple Sklerose. In 15 bis 30% aller Fälle lasse sich eine auslösende Ursache nicht finden. Alle Fälle, die nicht gleichzeitig mit einer bekannten entzündlichen Erkrankung (z.B. multiple Sklerose) einhergehen würden, würden als idiopathische bezeichnet. Die von manchen Autoren davon abgegrenzten postinfektiösen oder postvakzinalen Fälle würden den gleichen klinischen Verlauf wie die idiopathischen Erkrankungen zeigen. Alle drei Formen würden in der Regel monophasisch verlaufen, während die im Rahmen einer anderen demyelinisierenden Erkrankung (z.B. multiple Sklerose) auftretenden Myelitis zu Rückfällen neigen würden. Die Inzidenz der Erkrankung werde neueren Untersuchungen zufolge mit 3,1 pro 100.000 in den USA bzw. 2,46 pro 100.000 in Neuseeland angegeben. Relativ häufig seien Fälle mit späterer Multipler Sklerose. Die Inzidenz der wesentlich selteneren Fälle von idiopathischer Myelitis transversa hätten die Autoren mit 6,2 pro Million errechnet, was mit früheren Studien übereinstimme, in denen eine Inzidenz der idiopathischen Form von 1,3 bis 8 pro Million gefunden worden sei.

Der bei der Klägerin verwendete Kombinationsimpfstoff Boostrix(r) werde zur Auffrischungsimpfung bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingesetzt. Als Komplikationen würden in den Hinweisen der Ständigen Impfkommission neben möglichen allergischen Reaktionen in Einzelfällen Komplikationen des peripheren Nervensystems (Neuritiden, Neuropathie, Guillain-Barré-Syndrom) oder vorübergehende Thrombozytopenien als nicht ausschließbar bezeichnet, seien aber bisher nicht beobachtet worden. Die Fachinformation des Impfstoffes führe auch einige neurologische Nebenwirkungen bzw. Komplikationen (Kopfschmerzen, Schwindel, gelegentlich Synkopen) auf. Die gemeldeten Komplikationen würden Krampfanfälle betreffen. Im Bericht des amerikanischen Institute of Medicine zu Impfnebenwirkungen sei auch die Querschnittsmyelitis aufgeführt, wobei die zitierten Einzelfallberichte über möglicherweise mit der Impfung assoziierte Fälle nach Meinung der Autoren keine Aussage darüber zulassen würden, ob ein Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Myelitis transversa bestehe.

In der Fachliteratur fänden sich eine Reihe von Einzelfallberichten über Querschnittsmyelitiden und Impfungen. Eine Veröffentlichung von 2009 habe 37 derartige Berichte zusammengefasst, wobei es sich um zwischen 1971 und 2007 publizierte Fälle gehandelt habe, bei denen es nach Impfungen mit den verschiedensten Impfstoffen zum Auftreten einer Querschnittsmyelitis gekommen sei. Die Autoren dieser Veröffentlichung hätten aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs (28 der 37 Fälle hätten sich innerhalb von vier Wochen nach der Impfung ereignet) die Impfungen als wahrscheinliche Ursache für das Auftreten der Querschnittsmyelitis vermutet. Dem habe die Vorstellung zu Grunde gelegen, dass ein allen verwendeten Impfstoffen gemeinsamer Faktor, wie etwa ein Adjuvans, dieses Syndrom auslösen könne. Allerdings hätten die Autoren auch darauf hingewiesen, dass nur in drei Fällen einer Impfung mit einem Polio-Lebendimpfstoff ein Kausalzusammenhang nachgewiesen worden sei. Es habe sich dabei um persistierende Infektionen mit dem Impfvirus gehandelt, das offensichtlich die Rückenmarksläsion verursacht habe. Eine kritische Analyse der in dieser Arbeit vorgestellten Daten führe allerdings zu dem Schluss, dass abgesehen von den drei Poliofällen außer dem zeitlichen Zusammenhang nichts für einen Kausalzusammenhang spreche. Die Erkrankung sei nach 14 verschiedenen Impfungen beobachtet worden, wobei nahezu alle Arten von Impfstoffen eingesetzt worden seien. Wenn die Autoren die Vermutung äußern würden, dass als den Impfstoffen gemeinsamer Faktor das Adjuvans in Frage komme, das für die Querschnittsmyelitis verantwortlich sein könnte, müsse angemerkt werden, dass von den 34 Impfungen nur 19 mit Impfstoffen mit Adjuvans erfolgt seien. Davon sei in drei Fällen die Querschnittsmyelitis erst nach 3, 5 und mehr als 6 Monaten aufgetreten, so dass nicht mehr von einem engen zeitlichen Zusammenhang gesprochen werden könne. Damit treffe die von den Autoren geäußerte Vermutung des Adjuvans als möglicher Auslöser der Querschnittsmyelitis nur in höchstens der Hälfte der Fälle zu, der Rest der Fälle lasse sich kaum durch ein gemeinsames auslösendes Agens erklären. Dass durch Adjuvantien, speziell die am häufigsten in Impfstoffen enthaltenen Aluminiumverbindungen, Autoimmunphänomene ausgelöst würden, werde von der für diese Publikation verantwortlichen Arbeitsgruppe immer wieder ins Feld geführt. Shoenfeld u.a. (2011) würden insofern die Existenz eines Syndroms postulieren, dass sie als ASIA bezeichnen würden und das als Folge einer Impfung mit adjuvantierten Impfstoffen die Auslösung von Autoimmunphänomenen nach sich ziehe. Allerdings beruhe die Annahme eines solchen Syndroms nur auf Hypothesen. Studien, die die Existenz dieses Syndroms belegen würden, gebe es nicht. Im Endeffekt könne daher auch aus einer im Jahr 2015 veröffentlichten Arbeit zu ASIA (Pellegrino u.a.) nicht der Schluss gezogen werden, dass in den beschriebenen Fällen ein Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Auftreten einer Querschnittsmyelitis bestehe. Auch die Zahl der aufgeführten Fallberichte sei nicht dazu geeignet, da sich die 37 Fälle über einen Zeitraum von 37 Jahren verteilt ereignet hätten. Unter Zugrundelegung einer Spontaninzidenz von etwa drei Fällen auf 100.000 Bewohner eines Landes für alle Formen einer Querschnittsmyelitis seien bei 1.000.000 Geimpfter 3 Fälle von Querschnittsmyelitis innerhalb eines 6-Wochen-Zeitraums (als maximales Zeitfenster für impfbedingte Komplikationen) zu erwarten, ohne dass man daraus auf die Impfung als Auslöser schließen dürfe. In einer weiteren Metaanalyse seien nach Impfungen aufgetretene entzündliche Erkrankungen des zentralen Nervensystems untersucht worden, darunter auch Myelitiden (Karussis und Petrou 2014). Dazu seien alle entsprechenden Publikationen der Jahre 1979 bis 2013 analysiert werden. Unter den ausgewerteten Fällen hätten sich auch 24 verschiedene Formen einer Myelitis befunden. Wie in der oben zitierten Untersuchung seien die Erkrankungen nach einer Vielzahl verschiedener Impfungen aufgetreten. Auch in dieser Studie hätten keine eindeutigen Hinweise auf einen Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Erkrankung gefunden werden können. Die Autoren seien zu dem Schluss gekommen, die Analyse der Daten aller epidemiologischen Studien spreche gegen einen eindeutigen kausalen Zusammenhang zwischen Impfungen generell und dem Auftreten einer multiplen Sklerose oder anderer demyelisierender Erkrankungen.

Wenn auch in den angeführten Untersuchungen kein Beweis für einen Kausalzusammenhang zwischen einer Impfung und dem Auftreten einer Querschnittsmyelitis habe erbracht werden können, spreche das nicht prinzipiell gegen eine solche Möglichkeit. Nach gegenwärtigem Verständnis seien die meisten Querschnittsmyelitiden die Folge von Autoimmunreaktionen, würden also Autoimmunkrankheiten darstellen. Die Ätiologie von Autoimmunkrankheiten sei aber auch heute noch Gegenstand intensiver Untersuchungen und werde immer noch nur bruchstückhaft verstanden. Auch für die Querschnittsmyelitis würden u.a. vorausgegangene Infektionen als ursächlich angenommen, immer wieder würden auch Impfungen als auslösende Faktoren angeschuldigt, ohne dass es Beweise für eine Kausalität gebe (West u.a. 2012). Bewiesen sei die Auslösung einer Autoimmunerkrankung durch eine Masern-Mumps-Röteln-Impfung, wo es in etwa einem Fall auf 30.000 Impfungen zu einer Thrombozytopenie komme sowie für einen 1976/77 eingesetzten Impfstoff gegen Schweinegrippe. Daneben sei aber auch der normale saisonale Grippeimpfstoff in der Lage, ein Guillain-Barré-Syndrom hervorzurufen. Man müsse also davon ausgehen, dass die Induktion von Autoimmunvorgängen durch Impfungen prinzipiell möglich sei. Da es sich dabei aber um ein multifaktorielles Geschehen handle, bei dem neben dem Impfstoff auch weitere Umstände (Umweltfaktoren, immunologische Eigenschaften des Geimpften, genetische Faktoren) eine Rolle spielen würden, dürften solche Ereignisse als eindeutige Impffolge, wenn sie denn überhaupt vorkämen, extrem selten auftreten. Aus vorliegenden Untersuchungen lasse sich ableiten, dass impfbedingte Autoimmunphänomene, wenn sie denn tatsächlich vorkämen, extrem selten seien. Das grundlegende Problem sei, im Einzelfall zu beweisen, dass eine sehr seltene Autoimmunkrankheit durch eine Impfung induziert worden sei oder eine solche Schädigung auch nur mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf eine Impfung zurückzuführen sei. Am Beispiel eines nach einer Influenzaimpfung aufgetreten Guillain-Barré-Syndroms hat der Sachverständige in der Folge erläutert, dass die Wahrscheinlichkeit eines spontan auftretenden Guillain-Barré-Syndroms immer höher als die Wahrscheinlichkeit eines impfinduzierten Guillain-Barré-Syndroms sei, obwohl in einigen wenigen Einzelfällen die Influenzaimpfung für die Erkrankung tatsächlich verantwortlich sei. Im vorliegenden Fall der Klägerin sei die Situation noch komplizierter. Die Spontaninzidenz einer idiopathischen Querschnittsmyelitis sei mit etwa sechs Fällen pro Million und Jahr extrem niedrig. Bislang habe keine Studie eine erhöhte Inzidenz einer Querschnittsmyelitis bei Geimpften gezeigt (West u.a. 2012). Wenn tatsächlich impfinduzierte Myelitiden vorkommen sollten, sollte also ihre Häufigkeit vergleichbar oder niedriger als die Häufigkeit der spontan auftretenden Fälle sein. Die Wahrscheinlichkeit einer spontan auftretenden Querschnittsmyelitis dürfte aber höher sein als die Wahrscheinlichkeit einer impfinduzierten Erkrankung.

Eine im Jahr 2015 publizierte Schrift des Paul-Ehrlich-Instituts „Sicherheitsbewertung von Aluminium in Impfstoffen“ (Weisser) habe den derzeitigen Kenntnisstand zu Aluminium in Impfstoffen dahingehend zusammengefasst, dass es aus klinischen Studien und aus der Spontanerfassung von Nebenwirkungen in Deutschland kein Signal zu einer aluminiumbedingten Toxizität nach Impfungen gebe. Der Beitrag von Impfungen zur geschätzten lebenslangen Nettoakkumulation von Aluminium im Organismus sei im Vergleich zur kontinuierlichen Aufnahme von Aluminium aus anderen Quellen gering. Es seien keine wissenschaftlichen Analysen bekannt, die eine Gefährdung von Kindern oder Erwachsenen durch Impfungen mit aluminiumhaltigen Adjuvantien zeigen würden.

Sofern die Bevollmächtigte der Klägerin der Meinung sei, der impfende Arzt hätte die Klägerin über ein besonderes Risiko aufgrund der neun Wochen zuvor durchgeführten FSME-Impfung aufklären müssen, weil beide Impfstoffe das Adjuvans Aluminiumhydroxid enthalten würden, irre sie. Es gebe keinen glaubwürdigen Hinweis darauf, dass die gleichzeitige oder in kürzeren Abständen erfolgte Verabreichung von zwei oder auch mehreren Impfstoffen, die das Adjuvans Aluminiumhydroxid oder Aluminiumphosphat enthalten würden, ein besonderes Risiko darstellen würde. Dies ergebe sich schon daraus, dass die meisten mit Aluminiumverbindungen adjuvantierten Totimpfstoffe zur Grundimmunisierung mehrere Dosen benötigen würden, wobei die ersten beiden üblicherweise im Abstand von vier Wochen gegeben würden.

Wenn die Bevollmächtigte annehme, dass die Klägerin das Aluminiumhydroxid nicht zeitnah über den Magen-Darm-Trakt wieder habe ausscheiden können, unterliege sie zwei Irrtümern. Zum einen werde das Aluminium nur langsam freigesetzt und ausschließlich über die Nieren ausgeschieden. Zum anderen sei nicht einzusehen, warum die Klägerin jetzt Probleme mit Aluminiumhydroxid haben sollte. Wie ihrer Impfpass-Kopie zu entnehmen sei, sei sie zwischen 1968 und 1985 sechsmal mit Impfstoffen geimpft worden, die Aluminiumverbindungen als Adjuvans enthalten hätten, darunter zweimal auch in Abständen von vier bzw. nur zwei Wochen, dies offensichtlich ohne irgendwelche negativen Effekte. Eine genetische Komponente, wie sie die Bevollmächtigte offensichtlich vermute, könne hier also keine Rolle spielen.

Die Induktion von Autoimmunkrankheiten durch aluminiumhaltige Adjuvantien, wie sie Shoenfeld zu ASIA postuliere, sei nur eine Hypothese.

Wenn die Bevollmächtigte auf Publikationen von Shaw Bezug nehme, habe dies nur indirekt mit dem hier zu beurteilenden Fall zu tun. Dessen Publikationen, in denen er aluminiumhaltige Adjuvantien als Ursache für frühkindlichen Autismus sehe, hätten heftigsten Widerspruch einer Expertengruppe der Weltgesundheitsorganisation hervorgerufen, die ihm schwere Fehler in Statistik und Epidemiologie vorgeworfen hätten. Das Golfkriegssyndrom, das er allein auf aluminiumhaltige Adjuvantien zurückführe, werde heute als Vergiftung mit einer Reihe von neurotoxischen Substanzen (Organophosphate, Sarin, Pyridostigminbromid) aufgefasst. Der Einfluss verschiedener Impfstoffe könne zwar nicht ausgeschlossen werden, aber die genannten Substanzen würden als die wahrscheinlichsten Verursacher gelten Die Aussage der Bevollmächtigten, dass die schützende Isolierung der Nerven durch das in Impfstoffen enthaltenen Aluminiumhydroxid geschädigt werde, sei wissenschaftlich nicht haltbar.

Sofern die Bevollmächtigte der Klägerin das Problem darin sehe, dass die Klägerin in geringem zeitlichem Abständen „sehr viele Impfungen“ enthalten habe, die als Adjuvans Aluminiumhydroxid enthalten hätten, so dass sich zu viel Aluminium im Körper der Klägerin summiert und dort eine Autoimmunreaktion verursacht habe, sei einiges richtigzustellen. Die Klägerin habe im Abstand von 9 Wochen zwei Impfungen, also nicht „viele“ erhalten. Die dabei verabreichte Menge Aluminium habe 0,85 mg betragen. Die Ständige Impfkommission empfehle für Säuglinge im dritten, vierten und fünften Monat insgesamt fünf Einzelimpfungen mit einem Aluminiumgehalt von zusammen 2,7 mg, also der mehr als dreifachen Menge. Die Klägerin habe im Jahr 1971 zwei Impfungen innerhalb von vier Wochen und 1985 zwei Impfungen im Abstand von 14 Tagen erhalten mit jeweils 0,3 bis 1,25 mg Aluminium pro Dosis. Es könne also keine Rede davon sein, dass sich durch die 2013 und 2014 applizierten Impfstoffe zu viel Aluminiumhydroxid im Körper der Klägerin summiert habe. Ob es bei der Klägerin durch die Impfung zu einer Autoimmunreaktion gekommen sein könne, müsse diskutiert werden, habe aber sehr wahrscheinlich nichts mit einem zu viel an Aluminiumhydroxid zu tun.

Außer der Annahme, dass die Erkrankung der Klägerin bereits wenige Tage nach der Impfung begonnen habe, bleibe also von den Argumenten der Bevollmächtigten nicht viel übrig, was für eine impfbedingte Schädigung angeführt werden könnte.

Zusammenfassend hat der Sachverständige Folgendes festgehalten:

- In der wissenschaftlichen Literatur gebe es keinen Beweis dafür, dass eine Impfung, insbesondere die gegen Tetanus, Diphtherie und Pertussis, eine Querschnittsmyelitis auslösen könne, auch wenn eine solche Möglichkeit durchaus angesprochen werde.

- Wissenschaftlich sei es durchaus vertretbar, anzunehmen, dass Impfungen prinzipiell in der Lage seien, Autoimmunerkrankungen auszulösen. Auch die bei der Klägerin diagnostizierte Querschnittsmyelitis dürfte autoimmunologisch bedingt gewesen sein, wofür vor allem das prompte Ansprechen auf die Plasmapheresetherapie spreche, bei der für den Erkrankungsprozess möglicherweise verantwortliche Autoantikörper entfernt würden. Auf diese Weise könnte eine Querschnittsmyelitis in einigen wenigen Fällen durch eine Impfung verursacht werden. Da Querschnittsmyelitiden insgesamt aber sehr selten seien, wäre es denkbar, dass ein solcher Zusammenhang bisher einfach nur nicht gefunden worden sei.

- Für den Fall, dass bei der Klägerin eine impfbedingte Querschnittsmyelitis angenommen werde, müssten bestimmte Bedingungen erfüllt sein. So müsse die Erkrankung in einem bestimmten zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung stehen, der in der Regel mit Tagen bis wenigen Wochen angenommen werde. Die ersten dokumentierten klinischen Erscheinungen würden sich bei der Klägerin aber erst Mitte April 2014, also fast 11 Wochen nach der Impfung finden. Die Klägerin habe während des ersten Klinikaufenthalts angegeben, seit ca. 14 Tagen stärkere und zunehmende Beschwerden zu haben, was für einen Beginn der ausgeprägten Symptomatik Ende März 2014 spreche. In der Uniklinik E-Stadt habe sie am 28.04.2014 berichtet, seit 4 bis 6 Wochen Beschwerden zu haben. Demnach hätten die Beschwerden 6 bis 8 Wochen nach der Impfung bekommen. In beiden Fällen würde dieser späte Beginn der Beschwerden eher gegen einen Kausalzusammenhang der Erkrankung mit der Impfung sprechen. Wenn die Klägerin später ausführe, dass die Sensibilitätsstörungen bereits Anfang Februar aufgetreten seien, also wenige Tage nach der Impfung - die erst spät eingetretene Erinnerung könnte dafür sprechen, dass die anfänglichen Beschwerden bis zur akuten Verschlechterung Ende März verhältnismäßig blande gewesen seien -, würden diese Angaben eventuell Einiges über den Verlauf der Erkrankung aussagen, die offensichtlich über etliche Wochen relativ mild verlaufen sei, um sich dann plötzlich, gegen Ende März, rapide zu verschlechtern. Dies wiederum passe aber nicht zum typischen Verlauf einer idiopathischen Querschnittsmyelitis, bei der die Schwere der Symptomatik in der Regel kontinuierlich in einem Zeitraum von 4 bis 21 Tagen zunehme und in mehr als 80% der Fälle die klinischen Erscheinungen ihren Höhepunkt sogar innerhalb von zehn Tagen erreichen würden. Hier liege es nun nahe, den diagnostizierten Vitamin B12-Mangel als Mitursache der Erkrankung in Erwägung zu ziehen. Die in der Frühphase der Erkrankung von der Klägerin geschilderte Symptomatik entspreche ziemlich genau den neurologischen Symptomen eines Vitamin B12-Mangels, wie sie z.B. in einem Übersichtsartikel zum Vitamin B12-Mangel von Kisters (2015) genannt würden: „Parästhesien (Kribbeln bzw. Ameisenlaufen in Armen und Beinen), Sensibilitätsstörungen (z.B. pelziges Taubheitsgefühl), Gangunsicherheit (Gehen wie auf Watte), erhöhte Sturzneigung“. Es sei also nicht auszuschließen, dass zwei verschiedene Faktoren an der Entstehung der Erkrankung der Klägerin beteiligt gewesen seien, nämlich der Vitamin B12-Mangel, der die initiale Symptomatik erklären könne, und ein deutlich später einsetzender Autoimmunprozess. Damit ergebe sich als mögliche Erklärung der Erkrankung der Klägerin eine sich (zufällig) wenige Tage nach der Impfung manifestierende neurologische Symptomatik auf der Basis eines nachgewiesenen Vitamin B12-Mangels sowie eine erst 6 bis 8 Wochen nach der Impfung auftretende idiopathische monophasische Querschnittsmyelitis, die aufgrund der späten Beginns ätiologisch höchstwahrscheinlich in keinem Zusammenhang mit der vorausgegangenen Impfung stehe. Nehme man andererseits an, dass die Querschnittsmyelitis bereits unmittelbar nach der Impfung bekommen habe, liege ein sehr untypischer Verlauf der Erkrankung vor, deren Höhepunkt statt nach 4 bis 21 Tagen erst nach elf Wochen erreicht sei.

- Die aufgezeigten Überlegungen sprächen eher dagegen, dass die Impfung verantwortlich für die Erkrankung der Klägerin sei. Berücksichtige man noch, dass es keinen eindeutig bewiesenen Fall einer impfinduzierten Querschnittsmyelitis gebe und auch aus epidemiologischer Sicht kein Hinweis auf eine erhöhte Inzidenz von Querschnittsmyelitiden nach Impfungen existiere, müsse man zu dem Schluss kommen, dass im vorliegenden Fall ein Kausalzusammenhang der bei der Klägerin am 30.01.2014 durchgeführten Impfung und der bei ihr aufgetretenen Querschnittsmyelitis prinzipiell zwar möglich, aber wenig wahrscheinlich sei.

- Abschließend hat der Sachverständige nochmals auf das in derartigen Fällen immer wieder auftretende Dilemma hingewiesen, dass bei seltenen Erkrankungen aufgrund der noch selteneren impfbedingten Erkrankungen die Spontaninzidenz der Erkrankung u.U. höher als die Inzidenz der durch eine Impfung verursachten Erkrankung sei und sich daraus ergebe, dass ein Impfschaden immer weniger wahrscheinlich sein werde als eine spontan auftretende Erkrankung, damit aber auch der tatsächlich Betroffene leer ausgehen würde.

Die Bevollmächtigte der Klägerin hat sich zum Gutachten mit Schriftsatz vom 25.10.2016 wie folgt geäußert: Der Sachverständige sei zwar ein international angesehener Mikrobiologe, jedoch kein Neurologe. Trotzdem habe er unter Überschreitung der Grenzen seines Fachgebiets umfangreiche neurologische Ausführungen gemacht. Es werde daher beantragt, ein immunologisches, neurologisches und neuropathisches Zusatzgutachten erstellen zu lassen. Die Beschwerden, unter denen die Klägerin in einem für einen Impfschaden typischen zeitlichen Abstand erstmals gelitten habe, seien nicht durch einen Vitamin B12-Mangel verursacht. Der Vitamin B12-Wert sei grenzwertig normal, allenfalls geringfügig niedrig gewesen. Die bei der Klägerin in einem zeitlichen Abstand von sechs Wochen erstmals aufgetretenen und durch Zeugenaussagen beweisbaren neurologischen Ausfallerscheinungen würden sich dadurch keinesfalls erklären lassen. Keiner der behandelnden Ärzte hätte jemals in Betracht gezogen, dass die bei der Klägerin vorliegenden Ausfallerscheinungen in einem Zusammenhang mit dem Vitaminmangel stehen könnten. Vor der Impfung hätte die Klägerin niemals Depressionen, Müdigkeit, Muskelschwäche, Gedächtnisstörungen oder sonstige Anzeichen gehabt, die auf einen schweren Vitamin B12-Mangel hätten schließen lassen. Vor der streitgegenständlichen FSME-Impfung sei die Klägerin gesund gewesen und habe nie über eine Pelzigkeit der Beine oder Müdigkeit geklagt. Auf das Gutachten des Sachverständigen könne eine Entscheidung auch deshalb nicht gestützt werden, weil er sein Gutachten unter Nichtbeachtung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erstellt habe. Soweit der Gutachter das Fehlen ärztlicher Unterlagen zum Beweis für die Impfkomplikation der Klägerin innerhalb der 6-Wochen-Frist nach der FSME-Impfung beanstandet habe, widerspreche dies der Rechtsprechung des BSG. Danach würden alle üblichen Beweismittel für den Nachweis in Betracht kommen.

Die Bevollmächtigte hat ihrem Schriftsatz weitere Unterlagen beigelegt,

- ein ärztliches Attest des Allgemeinarztes B. vom 10.10.2016, wonach sich die Klägerin erstmals am 08.04.2014 „wegen neurologischer Ausfälle an der unteren Extremität“ in seiner Sprechstunde vorgestellt habe; die Beschwerden hätten „seit einigen Wochen mit zunehmender Tendenz“ bestanden. Vorher seien solche Symptome oder auch andere Erschöpfungszustände nicht aufgetreten. Bei der Bestimmung des Vitamin B12-Wertes am 08.04.2014 habe sich ein geringfügig erniedrigter Wert gezeigt, der aus seiner Sicht nicht mit den Beschwerden in Verbindung gebracht werden könne.

- einen Befundschein vom 30.04.2014 über eine serologische Untersuchung und Begutachtung, wonach die Serologie für eine zurückliegende FSME-Virus-Infektion oder einen Zustand nach FSME-Impfung spreche. Die Liquorserologie sei unauffällig.

Die Neurologin und Psychiaterin B. vom versorgungsärztlichen Dienst des Beklagten hat sich am 30.11.2016 in einer Stellungnahme dahingehend geäußert, dass der nachgewiesene Vitamin B12-Mangel aus ihrer Sicht eine wesentliche erklärende Kausalität darstelle. Er erklärte die beschriebenen Sensibilitätsstörungen ausreichend. Wenn die Bevollmächtigte der Klägerin behaupte, ein Vitamin B12-Mangel habe nicht vorgelegen, sei dies durch die vorliegenden Unterlagen widerlegt. Im Bericht aus dem Universitätsklinikum E-Stadt sei der für eine Therapie entscheidende Holo-Transcobalamin-Wert mit 38,1 bei einem Normalwert von über 50 festgestellt worden.

Nachdem zur mündlichen Verhandlung geladen worden war, hat die Bevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 25.01.2017 die Einholung diverser weiterer Gutachten (neurologisch, toxikologisch, internistisch, zu Autoimmunkrankheiten) beantragt und nochmals wiederholt, dass die Klägerin vor den streitgegenständlichen Impfungen keinerlei auf einen Vitamin B12-Mangel hindeutenden Symptome oder Therapiebedarf gehabt habe. Die bei der Klägerin aufgetretenen Symptome seien einer Autoimmunerkrankung zuzurechnen; vielen Nervenerkrankungen liege ein Autoimmunprozess zu Grunde. Die Stellungnahme der Versorgungsärztin sei ein bloßer Parteivortrag.

Mit Urteil vom 14.02.2017 ist die Klage abgewiesen worden; es liege weder eine Impfkomplikation noch die notwendige Kausalität dahingehend vor, dass die Querschnittsmyelitis neben anderen Mitursachen zumindest mit annähernd gleichwertiger Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Impfung zurückzuführen sei.

Mit Schriftsatz vom 22.02.2017 hat die Bevollmächtigte der Klägerin Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Das SG habe es - so die Bevollmächtigte - abgelehnt, ein neurologisches Gutachten einzuholen und sich stattdessen auf ein neurologisches Gutachten eines Mitarbeiters des Beklagten gestützt.

Mit 12-seitigem Schriftsatz vom 11.04.2017 ist die Berufung „kursorisch“ wie folgt begründet worden: Das SG sei seiner Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen. Es habe sich auf der Grundlage des Gutachtens des Mikrobiologen Prof. Dr. J. vorschnell eine Meinung gebildet. Obwohl die Klägerin vom zuständigen Gesundheitsamt, dem Impfarzt und auch dem behandelnden Arzt den Rat erhalten habe, wegen ihrer in einem für einen Impfschaden typischen zeitlichen Abstand erstmals aufgetretenen Beschwerden einen Antrag auf Impfschadens anerkennen zu stellen, sei der Fall für den Vorsitzenden Richter des SG von vornherein klar gewesen. Nach seiner vorgefassten Meinung liege kein Impfschaden vor. Der Vorsitzende Richter des SG lehne in bewährter Kooperation mit dem Mikrobiologen Prof. Dr. J. Impfschäden ab, wenn diese nicht typisch oder epidemiologisch, d.h. statistisch signifikant nachweisbar seien. Epidemiologische Studien würden jedoch bei seltenen Impfschäden versagen. Der Richter habe eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung zur Kausalitätsbeurteilung, die in einem Verfahren vor dem SG Darmstadt abgegeben worden sei, missachtet, in der es heiße, dass epidemiologische Studien im Hinblick auf die Seltenheit von Impfschäden schon aus methodischen Gründen nicht geeignet zur Beurteilung seien. Diese Arbeitsweise dürfe im Interesse der Impfmoral nicht Schule machen. Bei vorhandenen genetischen Schwachstellen wie bei der Klägerin gebe es auch atypische Impfschadensfälle, die mit Methoden der Statistik nicht nachweisbar seien. Im Interesse der Impfrisikoforschung sei bei zeitnah zu einer Impfung aufgetretenen Erkrankungen eine sorgfältigere Kausalitätsprüfung anzustellen, als dies das SG gemacht habe. Auf das Risikopotenzial des Impfzusatzstoffes Aluminiumhydroxid sei das SG nicht eingegangen, sondern habe in erster Linie nach möglichen anderen Ursachen gesucht. Andere, bestrittene Ursachen dürften aber nicht in die Kausalitätsüberlegungen Eingang finden, da sie nicht sicher nachgewiesen seien. Bei der Klägerin sei in einem für einen Impfschaden typischen zeitlichen Abstand nach den streitgegenständlichen Impfungen vom 26.11.2013 und 30.01.2014 eine Myelitis aufgetreten, die überwiegend wahrscheinlich auf eine Überempfindlichkeitsreaktion auf den streitgegenständlichen Impfstoff oder seine Impfzusatzstoffe zurückzuführen sei. Bei der Klägerin liege möglicherweise eine genetische Schwachstelle vor, die diese Überempfindlichkeitsreaktionen erkläre. Sie beantrage, das Urteil des SG aufzuheben und den Fall zur Entlastung der überlasteten zweiten Instanz zurückzuverweisen. Das SG hätte sich gedrängt fühlen müssen, ein neurologisches Zusatzgutachten einzuholen. Für eine durch die streitgegenständlichen Impfungen verursachte Entzündung als Ursache der neurologischen Ausfallerscheinungen spreche auch die Tatsache, dass die neurologischen Ausfallerscheinungen unverändert seit ca. zwei Jahren anhalten würden, weil der Körper der Klägerin das als Wirksamkeitsverstärker beigefügte Aluminiumhydroxid nicht wieder vollständig über den Magen-Darm-Trakt habe ausscheiden können, sondern es im Körper eingelagert habe, wo es weithin als Entzündungsherd wirke. Wäre ein Rückenmarkstumor der Grund für die neurologischen Ausfallerscheinungen, wären Nachuntersuchungen angeordnet worden. Dies sei doch zu keinem Zeitpunkt der Fall gewesen. Nach alledem spreche alles dafür, dass das als Wirksamkeitsverstärker im Impfstoff enthaltene Aluminiumhydroxid mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit aufgrund einer genetischen Schwachstelle der Klägerin nicht zeitnah wieder vollständig ausgeschieden worden sei und daher die Ursache einer noch immer anhaltenden Entzündung sei. Die bei der Klägerin noch bestehende leichte Ermüdbarkeit sei ein Indiz für eine durch den Impfzusatzstoff verursachte Entzündung im Körper der Klägerin, die immer noch bestehe. Da keine andere Ursache als die streitgegenständlichen Impfungen mit ihren unzureichend erforschten Impfzusatzstoffen als Ursache der neurologischen Ausfallerscheinungen der Klägerin sicher nachgewiesen worden sei, seien mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die streitgegenständlichen Impfungen Ursache der neurologischen Ausfallerscheinungen. Die Behauptung, bei der Klägerin liege ein Vitamin B12-Mangel als Ursache der neurologischen Ausfallerscheinungen vor, sei eine reine Hypothese und dürfe nach der Rechtsprechung des BSG nicht Eingang in die Überlegungen finden. Ganz abgesehen davon, dass ein Vitamin B12-Mangel bei der Klägerin nie korrekt nachgewiesen worden sei, könne der menschliche Körper selbst einen schweren Vitamin B12-Mangel lange Zeit ohne neurologische Ausfallerscheinungen kompensieren. Hilfsweise beantrage sie die Versorgung in Form der Kannversorgung gemäß § 60 Satz 2 IfSG. Nach Meinung ihrer ärztlichen Berater bestehe über die Entstehung von neurologischen Ausfallerscheinungen nach Impfungen keine durch Forschung und Erfahrung wissenschaftlich gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Auffassung. In der Literatur fänden sich allerdings zahlreiche Hinweise darauf, dass Impfungen in sehr seltenen Einzelfällen zu neurologischen Ausfallerscheinungen und sonstigen Impfschäden führen könnten. Es sei auf Lücken der medizinischen Wissenschaft zurückzuführen, dass im vorliegenden Fall die Ursache der neurologischen Ausfallerscheinungen nicht so nicht sicher nachgewiesen werden könne. Ein ursächlicher Einfluss werde in wissenschaftlichen Arbeitshypothesen zumindest als theoretisch begründet in Erwägung gezogen. Es bestehe ein für einen Impfschaden plausibler zeitlicher Abstand. Andere Ursachen für die neurologischen Ausfallerscheinungen würden von der Klägerin bestritten und seien nicht sicher nachgewiesen. Aluminium könne die Funktionsweise des Immunsystems dauerhaft verändern. Sie verweise insofern auf den israelischen Autoimmunitätsforscher Shoenfeld, der dafür das Kürzel „ASIA“ (= autoimmune/entzündliche Syndrome induziert durch Adjuvantien) entwickelt habe. Unter dem Schirm von ASIA sei eine ganze Menge an Krankheiten versammelt, die heute weder heilbar noch ausreichend verstanden würde. Vom chronischen Müdigkeitssyndrom bis hin zum Golfkriegssyndrom seien zahlreiche dieser Phänomene mit aluminiumhaltigen Impfstoffen verknüpft. Die Wissenschaft stehe zwar insofern angeblich vor einem unerklärlichen Rätsel, man frage sich aber, ob die Wissenschaft dieses Rätsel überhaupt lösen wolle. In Deutschland gebe es leider keine von der Pharmaindustrie und deren Lobby unabhängige Impfrisikoforschung im erforderlichen Umfang. Das Paul-Ehrlich-Institut als oberste Bundesbehörde für Impfstoffsicherheit teile regelmäßig mit, dass das Risikopotenzial dieser Impfzusatzstoffe nicht wissenschaftlich gesichert sei. Da es pathobiologisch zumindest plausibel sei, dass das Aluminiumhydroxid die Ursache der neurologischen Ausfallerscheinungen der Klägerin sei, seien Impfschäden zumindest in Form der Kannversorgung anzuerkennen.

Dazu ist die Bevollmächtigte der Klägerin mit gerichtlichem Schreiben vom 24.05.2017 darauf hingewiesen worden, dass es nicht überzeugend erscheine, die Relevanz epidemiologischer Studien grundsätzlich infrage zu stellen. Betreffend den Impfzusatzstoff Aluminiumhydroxid sei in zahlreichen vergleichsweise aktuellen gerichtlichen Entscheidungen erläutert worden, dass es keine Erkenntnisse in der medizinischen Wissenschaft dahingehend gebe, dass ein Zusammenhang zwischen einer Impfung und einem später aufgetretenen Gesundheitsstand bestehe. Sofern die Bevollmächtigte über neuere Studien verfüge, solle sie diese vorlegen.

Mit Schriftsatz vom 09.06.2017 hat die Bevollmächtigte mitgeteilt, dass ihr entsprechende medizinische Veröffentlichungen nur in englischer Sprache vorlägen, es aber nicht ihre Aufgabe sei, diese auf Deutsch übersetzt vorzulegen. Veröffentlichungen vorgelegt hat sie nicht.

Am 13.07.2017 hat die Bevollmächtigte ihren Vortrag dahingehend ergänzt, dass bei der Klägerin eine durch den Impfzusatzstoff Aluminiumhydroxid verursachte Myelitis vorliege und Impfstoffzusätze als potentielle Auslöser für Autoimmunerkrankungen gelten würden, darunter auch Aluminium. Auch könne die erwünschte Aktivierung des Immunsystems durch die Impfung zu einer Überreaktion des Immunsystems und damit zu einer Autoimmunerkrankung führen. Zudem hat sie ein „Kurzgutachten“ des Facharztes für diagnostische Radiologie Dr. U. vom 05.07.2017 vorgelegt, das für die Klägerin erstellt worden ist. Dort ist ausgeführt, dass die Schwellung der Klägerin im Rückenmark ein Entzündungsphänomen sei, das später abgeheilt sei und zu einer Vernarbung geführt habe. Bei einer Myelitis transversa handle es sich um ein Geschehen, das im Rahmen einer Infektion, aber auch einer Impfung auftreten könne, aber auch ohne besonderen Grund. Der zeitliche Zusammenhang des Krankheitsbildes der Klägerin mit einer kurz zuvor stattgefundenen Impfung ohne weitere erkennbare Einflussfaktoren sei mit hoher Wahrscheinlichkeit kausal für die Erkrankung. Weiter hat die Bevollmächtigte vorgetragen, dass ein - bestrittener - Vitamin B12-Mangel keinesfalls Ursache der Myelitis transversa sein könne, da der menschliche Körper Vitamin B12-Mangelzustände sehr lange Zeit kompensieren könne.

Der Beklagte hat sich mit einer 8-seitigen versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. K. vom 10.08.2017 zum Vorbringen der Klägerin geäußert und darauf hingewiesen, dass bei der Klägerin zum Zeitpunkt der Manifestation neurologischer Symptome ein manifester Vitamin B12-Mangel vorgelegen habe. Das würden die Laborbefunde eindeutig belegen. Nachdem zunächst erniedrigte Werte festgestellt worden seien, sei eine weitere Abklärung durchgeführt worden. Dazu sei der Laborwert Holo-Transcobalamin bestimmt worden. Dabei sei ein Wert von 38,1 pmol/l (Normwert über 50) festgestellt worden. Dieser eindeutig erniedrigte Wert belege einen metabolisch relevanten Vitamin B12-Mangel und damit eine Erschöpfung des Vitamin B12-Speichers des Körpers. Dieser Mangel sei von den Behandlern in E-Stadt als klinisch relevant eingeschätzt und entsprechend substituiert worden. Im Hinblick auf das Krankheitsbild der Myelitis transversa und den immer wieder postulierten kausalen Zusammenhang mit Impfungen sei im Dezember 2016 eine große Untersuchung von Baxter veröffentlicht worden. Dafür seien Daten von fast 64 Mio. Impfdosen ausgewertet worden. Als plausibles Zeitfenster der Entwicklung einer Myelitis transversa nach einer Impfung werde ein Fenster von 5 bis 28 Tagen gesehen. Bei den sieben identifizierten Fällen von Patienten, die eine Myelitis transversa in diesem Zeitraum nach einer Impfung entwickelt hätten, habe sich im Vergleich zur Kontrollgruppe kein erhöhtes Risiko für die Entwicklung dieser Gesundheitsstörung gezeigt. Daraus hätten die Autoren gefolgert, dass eine Assoziation zwischen einer Myelitis transversa und einer vorhergehenden Impfung nicht gefunden werden könne. Es sprächen also auch die aktuellsten Daten dafür, dass Impfungen nicht geeignet seien, das Risiko für die Erkrankung an einer Myelitis transversa zu erhöhen bzw. diese auszulösen. Problematisch im vorliegenden Fall sei zudem, dass im Laufe der Ermittlungen bzw. des Verfahrens von der Klägerin selbst sehr unterschiedliche Angaben zum Manifestationszeitpunkt der neurologischen Symptome gemacht worden seien. Die Aussage des gerichtlichen Sachverständigen, dass bei der Annahme eines frühen Beginns der Symptomatik bereits im Februar 2014 der klinische Verlauf nicht zu dem einer Myelitis transversa passe, sondern zunächst Ausdruck eines Vitamin B12-Mangels gewesen sei, sei aus neurologischer Sicht nachvollziehbar.

Hinsichtlich der von der Bevollmächtigten angegebenen Literatur hat der Versorgungsarzt darauf hingewiesen, dass die Arbeiten aus der Arbeitsgruppe von Shoenfeld in der Wissenschaft umstrittene Hypothesen beinhalten würden, die keinesfalls als derzeit gültige wissenschaftliche Lehrmeinung betrachtet werden könnten. Im Übrigen würden die weiteren Arbeiten weitgehend andere Fragen betreffen und seien daher für den Fall der Klägerin nicht aussagekräftig. Abschließend hat er nochmals darauf hingewiesen, dass insbesondere die aktuellste wissenschaftliche Literatur (Baxter) gezeigt habe, dass keine Hinweise darauf bestünden, dass eine Myelitis transversa als Folge einer Impfung anzusehen sei, zumal der Vitamin B12-Mangel mit neurologischen Symptomen ohnehin impfunabhängig sei.

Mit Schriftsatz vom 22.09.2017 hat sich die Bevollmächtigte der Klägerin dagegen verwahrt, dass die Angaben der Klägerin zum Beginn der neurologischen Ausfallerscheinungen unglaubwürdig seien. Vielmehr sei die Anamnese nicht in einer für die Kausalitätsbeurteilung erforderlichen und hilfreichen Weise erhoben worden. Eine Anamnese müsse erfragt werden, was Bestandteil der ärztlichen Kunst sei. Die Klägerin sei ärztlicherseits nie gefragt worden, wann nach der Impfung die ersten neurologischen Ausfallerscheinungen aufgetreten seien. In den Krankenakten lägen leider Dokumentationsversäumnisse vor. Bei korrektem ärztlichem Vorgehen hätte der zeitliche Ablauf konkret erfragt werden müssen. Dies hätte dokumentiert werden müssen. Die Klägerin sei bei der Erstuntersuchung am 08.04.2014 und am 11.04.2014 sowie am 15./16.04.2014 nur gefragt worden, wie lange sie „diese Beschwerden“ habe. Nicht dokumentiert worden seien aber der vorherige Verlauf und die Entstehung des Ganzen, obwohl die Klägerin hiervon berichtet habe. Bei der Klägerin sei eine Entzündung nachgewiesen, welche die Ursache der neurologischen Ausfallerscheinungen sei. Diese sei durch Aluminiumhydroxid verursacht. Ein Vitamin B12-Mangel verursache keine Entzündungen. Es sei lange Zeit Taktik der Versorgungsämter und Sozialgerichte gewesen, in Impfschadensfällen entweder Gutachter ohne entsprechende Kenntnisse zu beauftragen oder solche Gutachter auszuwählen, bei denen man sich möglichst sicher darauf verlassen könne, dass sie negative Gutachten erstellen würden. Auch ihr hätten einige Impfschadensgutachter, die allerdings nicht genannt werden möchten, quasi unter der Hand gesagt, dass auch sie bereits solche Signale erhalten hätten. Bei Aluminium handle es sich um ein Summationsgift mit einem Risikopotenzial. Bei Aluminium in Lebensmitteln werde der Großteil des aufgenommenen Aluminiums wieder zeitnah über den Magen-Darm-Trakt ausgeschieden, bei eingesetzten Impfstoffen seien jedoch 100% des eingesetzten Aluminiumhydroxids sofort bioverfügbar. Nach Meinung vieler Wissenschaftler sei im Impfschadensrecht in Deutschland die Zeit reif für eine Gesetzesänderung wie in den USA. Dort müssten Impfstoffhersteller in einen Fond zur Regulierung von Impfschäden einzahlen, aus dem Impfopfer ausbezahlt würden. Die Versorgungsverwaltung möge bei den zuständigen Ministerien auf eine Gesetzesänderung hinwirken. Es sei erforderlich, ein pharmakologisches Zusatzgutachten einzuholen.

Unter dem Datum des 30.04.2018 hat der Arbeitsmediziner Dr. C. auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten erstellt. Er ist darin zu der Einschätzung gekommen, dass als Impfschaden ein Residualzustand nach Myelitis transversa vorliege. Er hat Folgendes ausgeführt:

Die Situation nach der Impfung und den weiteren Verlauf habe die Klägerin dahingehend beschrieben, dass in der ersten Februarwoche, also wenige Tage nach der Impfung, erstmalig ein Kribbelgefühl an den Fußsohlen aufgetreten sei. Dieses Kribbelgefühl habe sich in den folgenden Wochen auf die Unterschenkel bis zu den Kniegelenken ausgebreitet. Allerdings seien diese Störungen der Sensibilität für die Klägerin noch nicht gravierend genug gewesen, um sich beim Arzt vorzustellen. Am 26.02.2014 habe die Klägerin von Problemen beim Laufen auf Kopfsteinpflaster berichtet. Auch sei es in dieser Zeit zu einer ungewohnten Leistungsminderung, ständiger Erschöpfung und Müdigkeit gekommen. Im März habe sich die Sensibilitätsstörung auf die Oberschenkel ausgebreitet. Von Bekannten gedrängt habe sich die Klägerin am 08.04.2014 beim Hausarzt vorgestellt. Jetzt sei es zu einer dramatischen Verstärkung der Symptomatik mit einer vollständigen Taubheit der unteren Körperhälfte und einer Störung beim Wasserlassen gekommen. Mit dieser Symptomatik habe sich die Klägerin dann am 16.04.2014 in der neurologischen Abteilung des Klinikums B-Stadt vorgestellt.

Die Diagnose einer monophasischen Myelitis transversa sei aufgrund der dokumentierten Befunde unstrittig. Dabei handle es sich um eine neurologische Erkrankung, die durch eine autoimmune Entzündung des Rückenmarks verursacht werde. Die Häufigkeit in Deutschland werde auf wenigstens 1 bis 5 Fälle pro 1 Mio. Menschen und Jahr geschätzt. Die Symptome würden sich im Laufe von wenigen Stunden bis hin zu einigen Wochen entwickeln. Es handle sich um eine Autoimmunerkrankung. Analog zu Überlegungen zu Infektionserregern wie Viren oder Bakterien müssten auch Impfungen als mögliche entscheidende Umweltfaktoren in die Überlegungen zur Entstehung dieser Krankheit einbezogen werden. Solche Impfkomplikationen seien zwar selten, würden aber nach Anwendung verschiedener Impfstoffe bei hierzu disponierten Menschen auftreten. Oft brauche es einige Zeit, bis sich die Zusammenhänge (wissenschaftlich) klären lassen würden.

Sehr selten sei nach Impfungen mit Boostrix(r) über Erkrankungen des zentralen oder peripheren Nervensystems berichtet worden. Dies entspreche auch den Erkenntnissen, die er, der Gutachter, in langjähriger Arbeit im Referat für Arzneimittelsicherheit im Paul-Ehrlich-Institut gewonnen habe. Auch hier habe es immer wieder Einzelfallberichte von Myelitiden nach verschiedenen Impfstoffen gegeben, u.a. auch nach Tetanus-Diphtherie-Impfstoffen. Der derzeitige wissenschaftliche Kenntnisstand zur Pathophysiologie solcher Autoimmunerkrankungen nach Impfungen werde in der aktuellen Publikation von Shoenfeld aus dem Jahr 2015 zusammengefasst. Die Immunologen sprächen von einem entzündlichen Kontext, an dessen Entstehung eine Vielzahl von Faktoren beteiligt seien und dessen Abläufe bis heute nicht im Detail aufgeklärt seien. Bei inaktivierten Impfstoffen müssten meist Substanzen (Adjuvantien) beigefügt werden, die das erforderliche Umfeld schaffen würden, in dem die für eine Impfung erforderliche Immunreaktion stattfinden könne. Solche Adjuvantien seien in der Regel Aluminiumverbindungen. Ende des Jahres 2010 sei nochmals Bewegung in die Diskussion um schwere unerwünschte Wirkungen der Adjuvantien gekommen. Einer der renommiertesten Wissenschaftler auf dem Feld der Autoimmunerkrankungen, Shoenfeld, habe eine Arbeit über ein neues Syndrom veröffentlicht, das bislang rätselhafte Erkrankungen wie das Golfkriegssyndrom, die Silikonose und andere Autoimmunerkrankungen nach adjuvantierten Impfungen zum ASIA-Syndrom zusammenfasse. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe um Shoenfeld würden zwar immer wieder kritisiert, sein aber aufgrund der breit aufgestellten Methodik sicher nicht als Einzelmeinung zu bezeichnen, sondern würden ganz wesentlich zum gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstand über unerwünschte Wirkungen von Impfstoffen beitragen.

Nach den Vorgaben der WHO bedürfe es folgender Kriterien zur Feststellung eines wahrscheinlichen Zusammenhangs:

1. plausibles zeitliches Intervall

2. Bekanntheit der unerwünschten Reaktion aus Literatur und Spontanerfassung

3. plausible Hypothese zur Pathophysiologie (für Autoimmunerkrankungen nach adjuvantierten Impfungen)

4. keine anderen plausiblen Ursachen.

Zur Bewertung des kausalen Zusammenhangs im Falle der Klägerin hat der Sachverständige Folgendes erläutert:

- Am 30.01.2014 sei die Klägerin geimpft worden. Mit dem Beginn der neurologischen Symptomatik wenige Tage später und der Diagnosestellung eine Myelitis transversa im April 2014 sei der zeitliche Zusammenhang plausibel für eine Impfkomplikation.

- Als alternative Ursache der anfänglich ab Februar 2014 aufgetretenen Sensibilitätsstörungen werde auch ein erniedrigter Vitamin B12-Spiegel diskutiert, der nebenbefundlich in der Universitätsklinik in E-Stadt aufgefallen sei. Ein eklatanter Vitamin B12-Mangel habe aber bei der Klägerin aufgrund der damals festgestellten Werte nicht vorgelegen. Somit erscheine es sehr unwahrscheinlich, dass die Frühphase der Erkrankung der Klägerin durch einen Vitamin B12-Mangel verursacht worden sei.

Somit sei nach der Einzelfallanalyse mittels des Bewertungsalgorithmus der WHO im Fall der Klägerin ein Impfschaden wahrscheinlich.

Zu den zuvor erstellten Gutachten bzw. versorgungsärztlichen Stellungnahmen hat Dr. C. Folgendes ausgeführt:

- Prof. Dr. J. habe die übliche Kritik an den Arbeiten von Shoenfeld mit dem üblichen Hinweis begründet, dass es sich hierbei um nicht bewiesene Hypothesen handle. Hierzu sei anzumerken, dass die Ursache von Autoimmunerkrankungen bislang nicht bekannt seien und es sich somit insgesamt bei allen Betrachtungen zu Ursachen dieser Erkrankungen um Hypothesen handle. Prof. Dr. J. benenne dann auch das Problem, einen eindeutigen Beweis für das Vorliegen einer durch eine Impfung verursachten Autoimmunerkrankung zu erbringen. Dazu wären sehr große, teure und unabhängige Studien erforderlich, die bisher nicht durchgeführt würden. Manchmal würden aber auch kleinere Projekte genügen, um solche Zusammenhänge nachzuweisen, wie bei Pandemrix und Narkolepsie. Wenn Prof. Dr. J. die zeitnah zu der Impfung aufgetretenen Symptome als durch einen Vitamin B12-Mangel verursacht halte, sei dies bei den gemessenen Laborparametern nicht zutreffend. Die bei der Klägerin bestimmten Werte lägen im unteren Normbereich. Deutlich wahrscheinlicher sei ein langsamer Erkrankungsbeginn der Myelitis im Februar 2014. Auch der Vorgutachter habe darauf hingewiesen, dass die Begutachtung derartiger Impfschadensverdachtsfälle aufgrund der Seltenheit sehr schwer sei.

- In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 10.08.2017 habe Dr. K. auf eine Veröffentlichung von Baxter hingewiesen. Diese Untersuchung sei wegen deutlicher Mängel in der Methodik zu Recht als unbrauchbar und einseitig kritisiert worden, wie sich aus einer Veröffentlichung von Shoenfeld ergebe. Die Untersuchung von Baxter stamme aus einer Firma, die große Datenbestände von krankenversicherten US-Amerikanern meist im Auftrag der pharmazeutischen Industrie zu epidemiologischen Untersuchungen nutze. Auch gebe der Hauptautor Baxter Interessenkonflikte durch Zuwendungen eines Arzneimittelherstellers an.

Die Beweisfragen des Gerichts hat der Sachverständige wie folgt beantwortet:

- Bei der Klägerin liege ein Residualschaden nach Ablauf einer immunvermittelten entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems, einer sogenannten Myelitis transversa vor.

- Die unerwünschte Wirkung der Impfung habe mit Sensibilitätsstörungen einige Tage nach der angeschuldigten Impfung in den Füßen begonnen. Von diesem Zeitpunkt an sei die Störung progredient verlaufen.

- Bei der abgelaufenen Myelitis transversa handele es sich um eine schwerwiegende, über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehende Komplikation der Boostrix(r)-Impfung.

- Es bestehe ein wahrscheinlicher kausaler Zusammenhang zwischen der Impfung und der Myelitis. Die nebenbefundlich festgestellten niedrigen Werte für Vitamin B12 und Holo-Transcobalamin seien aufgrund der immer noch bestehenden Höhe der gemessenen Werte sehr wahrscheinlich nicht Auslöser der Beschwerden. Weitere mögliche alternative Ursachen seien nicht feststellbar.

- Die abgelaufenen Myelitis transversa sei als Impfkomplikation und das noch bestehende Krankheitsbild als Residualschaden dieser Erkrankung zu betrachten.

- Der Grad der Schädigungsfolgen sei ab Antragstellung mit 50 zu bemessen.

Mit Schriftsatz vom 07.06.2018 hat sich die Bevollmächtigte der Klägerin zum Gutachten geäußert. Der Sachverständige sei der Prototyp dessen, was man wohl einen Whistleblower nennen würde, einen Insider, der aus Gewissensgründen nicht mehr über die Machenschaften seines Arbeitgebers schweigen könne. Heute sei er ein begehrter Gutachter für Impfschäden. Es bleibe zu hoffen, dass die Offenlegung der Zustände im deutschen Impfwesen durch einen absoluten Insider letztlich zu einer Neuorientierung der Präventionspolitik führen werde. Es dürfe nicht sein, dass unabhängige Impfrisikoforschung nicht in ausreichendem Umfang betrieben werde. Aus Sicht ihrer ärztlichen Berater entscheide die Fähigkeit zu Innovationen über das Schicksal des Impfens. Dem Impfgedanken sei durch unzureichende Impfrisikoforschung und gefälschte Impfstudien ein immenser Schaden zugefügt worden. Sie sei sich sicher, dass nur dann die Beschränkung der Impfrisikoforschung auf epidemiologische Studien (reine Statistik) ein Ende hätte, wenn in der BRD eine hochstehende Persönlichkeit einen Impfschaden erleiden würde.

Mit Schreiben vom 25.06.2018 hat der Beklagte zum einen darauf hingewiesen, dass die Klägerin die Symptomatik immer näher an den Impfzeitpunkt herandatiert habe. Zum anderen sind zwei versorgungsärztliche Stellungnahmen vom 06.06.2018 und vom 21.06.2018 vorgelegt worden, wonach dem Gutachten des Dr. C. nicht gefolgt werden könne:

- In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 06.06.2018 hat der Neurologe Dr. K. Folgendes erläutert: Die Diskussion um die von der Arbeitsgruppe um Shoenfeld postulierten pathophysiologischen Modelle im Hinblick auf die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen als Folge einer Aluminiumexposition durch Impfstoffe sei bereits im Gutachten des Prof. Dr. J. ausführlich dargestellt worden; die von Shoenfeld vertretenen Hypothesen im Hinblick auf die Gefahren von Aluminium in Impfstoffen seien hoch umstritten und nicht belegt. Bereits Prof. Dr. J. habe darauf hingewiesen, dass es sich hier nicht um die allgemein akzeptierte wissenschaftliche Meinung handele, sondern um eine Einzelmeinung dieser Arbeitsgruppe. Das Gutachten des Dr. C. erbringe insofern keine neuen Gesichtspunkte. Der zeitliche Verlauf der bei der Klägerin zu Tage getretenen neurologischen Symptomatik sei bereits ausführlich dargestellt worden, auch die Problematik der diesbezüglich unterschiedlichen Angaben. Dass zudem auch ein klinisch manifester Vitamin B12-Mangel eine Rolle spiele, würden neben den versorgungsärztlichen Stellungnahmen und dem Gutachten des Prof. Dr. J. auch der Behandlungsbericht der neurologischen Universitätsklinik E-Stadt zeigen, wo ein Vitamin B12-Mangel als Behandlungsdiagnose angegeben und auch eine entsprechende Therapie durchgeführt worden sei. Der von Dr. C. angesprochene potentielle Interessenkonflikt der in der letzten versorgungsärztlichen Stellungnahme zitierten Studie (von Baxter) sei von den Autoren im Anhang der Arbeit dahingehend angegeben worden, dass die Autoren von verschiedenen Pharmafirmen Forschungsgelder für Studien erhalten hätten, die unabhängig von dem in der Arbeit behandelten Thema gewesen seien. Diese Tatsache sei nicht geeignet, die Methodik oder die Aussagen der Veröffentlichung infrage zu stellen. Auch sei nicht erkennbar, dass im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion Zweifel an der Methodik oder den Ergebnissen der Arbeit geäußert worden seien. Sofern Dr. C. eine Arbeit von Shaw zitiert habe, beschäftige sich diese mit einem anderen Impfstoff und liefere keine weiteren Informationen zur Sachaufklärung. Neue Gesichtspunkte hätten sich nicht ergeben.

- In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 21.06.2018 hat Dr. K. zum Schriftsatz der Bevollmächtigten vom 07.06.2018 darauf hingewiesen, dass auf der Webseite des Paul-Ehrlich-Instituts die aktuellsten Informationen zur Sicherheitsbewertung von Aluminium in Impfstoffen mit Stand 2016 zu finden seien, wobei sich seither keine publikationswürdigen Erkenntnisse ergeben hätten. Der Stellenwert der Veröffentlichungen der Arbeitsgruppe um Shoenfeld sei bereits umfassend gewürdigt werden worden; es handle sich hier um eine wissenschaftliche Einzelmeinung.

Die Bevollmächtigte hat mit Schriftsatz vom 31.07.2018 der Einschätzung des versorgungsärztlichen Dienstes widersprochen und ihre Ansicht hinsichtlich einer Gefährlichkeit von Aluminiumhydroxid in Impfstoffen wiederholt. Prof. Shaw von der Universität Vancouver habe das Fazit gezogen, dass unterlassene Sicherheitsstandards beabsichtigt seien, und geäußert, dass es keine Studie zur Sicherheit von Aluminiumhydroxid in Impfstoffen gebe, in der die Probanden über die ersten Wochen nach Verabreichung der Impfung hinaus untersucht worden seien. Prof. Shoenfeld habe nachgewiesen, dass Aluminium die Funktionsweise des Immunsystems dauerhaft verändern könne und dafür ein eigenes Krankheitsbild namens „ASIA“ eingeführt Wesentliche Teile des Immunsystems würden plötzlich beginnen, verrückt zu spielen. Dendritische Zellen würden in der Einschätzung von Antigenen irren und über ihre Botenstoffe zum Sturmangriff auf körpereigene Organe blasen. Die Folgen seien dramatisch: Typ 1-Diabetikern würden über keine eigene Insulinproduktion mehr verfügen, stark gefährdet sei auch die Schilddrüse, weitere beliebte Ziele seien die Myelinscheiden der Nervenzellen sowie der Darm. Die Wissenschaft stehe angeblich vor einem unerklärlichen Rätsel. Wissenschaftler würden vermuten, dass Genschäden die Ursache von autoimmunen Reaktionen, wie sie bei der Klägerin aufgetreten seien, seien. Genschäden seien aber in den seltensten Fällen die unmittelbare Ursache von Krankheiten. Es verdichte sich die These, dass dazu Umwelteinflüsse erforderlich seien, wozu Aluminium zu zählen sei. Die finnische Gesundheitsbehörde habe daher vorsichtshalber angeordnet, auf weitere Impfungen mit dem Aluminiumhydroxid enthaltenden Impfstoff Pandemrix bei Kindern zu verzichten. Dies bestätige die Verbindung zwischen Impfstoffen und Autoimmunreaktionen als seltene Impfkomplikation. Auch die Narkolepsie sei ein plausibel durch die Wirkung des Adjuvans Aluminiumhydroxid ausgelöstes Autoimmungeschehen im Sinne des ASIA-Syndroms. Epidemiologische Studien würden im Fall von sehr seltenen Nebenwirkungen versagen.

Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,

Prof. J. zur Erläuterung seines Gutachtens mündlich anzuhören und das Gutachten des Dr. C. dem Mikrobiologen und Universitätsprofessor Dr. J. zur Stellungnahme hierzu zuzuleiten.

Weiter wird klägerseits beantragt gemäß § 75 Abs. 2 Satz. 2 SGG die Beiladung der BRD vertreten durch das Bundesministerium für Gesundheit zu dem vorliegenden Rechtsstreit mit der Aufforderung, dem Rechtstreit auf Seiten der Klägerin beizutreten, und die Erholung eines Gutachtens von Herrn Prof. Dr. M., B-Allee, B-Stadt, zum Beweis dafür zu erholen, dass die wenige Tage nach der streitgegenständlichen Impfung aufgetretenen neurologischen Ausfallerscheinungen der Klägerin eine durch den Impfstoff verursachte Primärschädigung darstellen.

Die Bevollmächtigte beantragt weiter,

das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 14.02.2017 sowie den Bescheid vom 24.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2015 aufzuheben und bei der Klägerin ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt, mindestens ab Antragstellung anzuerkennen und zu versorgen: Residualschaden nach Ablauf einer immunvermittelten entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems auf der Basis eines Grades der Schädigung von 50%.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen worden sind die Akte des SG sowie die Verwaltungsakte des Beklagten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG), aber nicht begründet.

Der Beklagte hat es zu Recht, wie es auch das SG zutreffend bestätigt hat, abgelehnt, bei der Klägerin einen Impfschaden wegen der am 30.01.2014 erfolgten Impfung mit Boostrix(r) anzuerkennen und Versorgung zuzusprechen. Der angegriffene Bescheid vom 24.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2015 ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG liegen nicht vor, weil es vorliegend schon am Nachweis einer Impfkomplikation (Primärschaden) fehlt.

1. Streitgegenstand

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 24.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2015, mit dem der Antrag der Klägerin vom 25.08.2014 auf Versorgung wegen eines infolge der am 30.01.2014 durchgeführten Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis mit dem Impfstoff: Boostrix(r) eingetretenen Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11, 1. Alt. IfSG abgelehnt worden ist.

Nicht Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der bei der Klägerin vorliegende Gesundheitsschaden möglicherweise auf eine im November 2013 durchgeführte FSME-Impfung zurückzuführen ist. Auf diese Impfung hat sich der beim Beklagten gestellte Antrag der Klägerin auf Anerkennung eines Impfschadens nicht bezogen; dem Antrag entsprechend hat dazu der Beklagte auch keine Entscheidung getroffen. Sofern die Bevollmächtigte der Klägerin, beispielsweise im Schriftsatz vom 25.10.2016, den Gesundheitsschaden der Klägerin (auch) auf diese Impfung zurückzuführen scheint, ist dies nicht Gegenstand des Verfahrens und daher vom Gericht nicht zu prüfen.

2. Voraussetzungen für die Anerkennung eines Impfschadens - allgemein

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

  • 1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

  • 2.auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

  • 3.gesetzlich vorgeschrieben war oder

  • 4.auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.

Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Die Anerkennung als Impfschaden setzt eine (mindestens) dreigliedrige Kausalkette voraus (ständige Rspr., vgl. BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R; zum gleichgelagerten Recht der Soldatenversorgung: vgl. BSG, Urteile vom 25.03.2004, B 9 VS 1/02 R, und vom 16.12.2014, B 9 V 3/13 R): Ein schädigender Vorgang in Form einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), muss zu einer „gesundheitlichen Schädigung“ (2. Glied), also einem Primärschaden (d.h. einer Impfkomplikation) geführt haben, die wiederum den „Impfschaden“, d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also den Folgeschaden (3. Glied) bedingt. Zwischen Primärschaden und Folgeschaden können, abhängig von der jeweiligen Fallkonstellation noch weitere Zwischenstufen von Gesundheitsschäden liegen. Anstelle einer dreigliedrigen Kausalkette kann daher im Einzelfall auch eine mehr als dreigliedrige Kette der Beurteilung des Versorgungsanspruchs zugrunde zu legen sein, wobei dann alle Stufen und die dazwischen liegende Kausalität im jeweils erforderlichen Beweismaßstab nachgewiesen sein müssen (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92 - zum Gesichtspunkt des Todesleidens; Bayer. LSG, Urteile vom 11.07.2018, L 20 VJ 7/15, und vom 06.12.2018, L 20 VS 12/15).

Neben einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), müssen die „gesundheitliche Schädigung“ (2. Glied) als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, und der „Impfschaden“ (3. Glied), d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also der Folgeschaden, vorliegen. Diese drei, ggf. auch mehr (vgl. oben vorstehender Absatz) Glieder der Kausalkette müssen - auch im Impfschadensrecht - im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteile vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84, vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R; Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2014, L 1 VE 12/09; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.2016, L 13 VJ 19/15). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92).

Dass die gesundheitliche Schädigung als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, neben der Impfung und dem Impfschaden, d.h. der dauerhaften gesundheitlichen Schädigung, im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein muss und eine irgendwie geartete Beweiserleichterung beim Primärschaden, wie es der 15. Senat des Bayer. LSG im Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, mit der Beurteilung „des Zusammenhangs zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen Etappe“ anhand von „Mosaiksteinen“, die den Nachweis des Primärschadens im Vollbeweis als „realitätsfremd“ und damit verzichtbar erscheinen lassen sollen, getan hat, damit nicht vereinbar ist, hat der erkennende Senat in seinem rechtskräftigen (vgl. BSG, Beschluss vom 29.11.2017, B 9 V 48/17 B) Urteil vom 25.07.2017, L 20 VJ 1/17, bereits deutlich zum Ausdruck gebracht. Eine andere Sichtweise steht - wie der Senat in der genannten Entscheidung bereits ausgeführt hat - nicht in Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben und der klaren obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. auch BSG, Urteil vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84, Bayer. LSG, Urteile vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, und vom 06.12.2017, L 20 VJ 3/05). Dies hat im Übrigen das BSG erneut und wiederholt nicht nur mit Beschluss vom 18.06.2018, B 9 V 1/18 B, sondern auch mit Beschluss vom 29.01.2018, B 9 V 39/17 B, bestätigt und dort ausgeführt:

„Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis „nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen“ nicht ausreichen.“

Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Regeln der Beweislast zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs auf ihr Vorliegen stützt, also des Antragstellers.

Demgegenüber gilt für den (mindestens) zweifachen ursächlichen Zusammenhang der (mindestens) drei Glieder der Kausalkette nach § 61 Satz 1 IfSG ein gegenüber dem Vollbeweis abgeschwächter Beweismaßstab - nämlich der der Wahrscheinlichkeit im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. auch § 1 Abs. 3 BVG; siehe auch BSG, Urteile vom 13.12.2000, B 9 VS 1/00 R, vom 29.04.2010, B 9 VS 2/09 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R; Bayer. LSG, Urteile vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, und vom 06.12.2017, L 20 VJ 3/05). Der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R - in Aufgabe der früheren Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 24.09.1992, 9a RV 31/90, die für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität noch den Vollbeweis vorausgesetzt hat) als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.

Eine potentielle, versorgungsrechtlich geschützte Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977, 10 RV 15/77), also mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSG, Urteile vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80, vom 26.06.1985, 9a RVi 3/83, vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84, vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als „überwiegende“ (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 14.10.2015, B 9 V 43/15 B) oder „hinreichende“ (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 18.02.2009, B 9 VJ 7/08 B) Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei dieser Zusatz nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rdnr. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 26.11.1968, 9 RV 610/66, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R).

Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der versorgungsrechtlichen Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 08.08.1974, 10 RV 209/73) rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Während die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (vgl. z.B. BSG, Urteile vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, und vom 30.01.2007, B 2 U 8/06 R) demgegenüber den Begriff der „annähernden Gleichwertigkeit“ für nicht geeignet zur Abgrenzung hält, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich ansieht, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von überragender Bedeutung ist, hat der für das soziale Entschädigungsrecht zuständige 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 6/13 R, zur annähernden Gleichwertigkeit Folgendes ausgeführt:

„Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.“

Von einer annähernden Gleichwertigkeit einer versorgungs- und damit auch impfschadensrechtlich geschützten Ursache kann daher - im Gegensatz zu der für den Betroffenen günstigeren unfallversicherungsrechtlichen Rechtsprechung - nur dann ausgegangen werden, wenn ihre Bedeutung gleich viel oder mehr Gewicht hat als die der andere(n) Ursache(n) (zusammen).

Die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinn als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, ist im jeweiligen Einzelfall aus der Auffassung des praktischen Lebens abzuleiten (vgl. BSG, Urteil vom 12.06.2001, B 9 V 5/00 R).

Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen, also neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsschäden zu erfolgen (vgl. BSG, Urteile vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, sowie Beschluss vom 18.06.2018, B 9 V 1/18 B).

Kann eine Aussage zu einem (hinreichend) wahrscheinlichen Zusammenhang nur deshalb nicht getroffen werden, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kommt die sogenannte Kannversorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG in Betracht. Von Ungewissheit ist dann auszugehen, wenn es keine einheitliche, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG von der Beurteilung auf dem Boden der „Schulmedizin“ (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R). Aber auch bei der Kannversorgung reicht allein die bloße Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das BSG spricht hier auch von der „guten Möglichkeit“ eines Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 12.12.1995, 9 RV 17/94, und vom 17.07.2008, B 9/9a VS 5/06). In einem solchen Fall liegt eine Schädigungsfolge dann vor, wenn bei Zugrundelegung der wenigstens einen wissenschaftlichen Lehrmeinung nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nachgewiesen ist (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.1993, 9/9a RV 41/92; Bayer. LSG, Urteile vom 19.11.2014, L 15 VS 19/11, vom 21.04.2015, L 15 VH 1/12, vom 15.12.2015, L 15 VS 19/09, vom 26.01.2016, L 15 VK 1/12, vom 25.07.2017, L 20 VJ 1/17, und vom 28.08.2018, L 20 VG 24/16). Existiert eine solche Meinung überhaupt nicht, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein, dass ein Zusammenhang nicht hergestellt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.1993, 9/9a RV 41/92).

Sofern Börsel (vgl. diess., RdLH 2018, 45 - nach Juris) in ihren Anmerkungen zum Urteil des Bayer. LSG vom 11.7.2017, L 15 VJ 6/14, die Ansicht äußert, dass der dort entschiedene Fall deutlich mache, „wie schwer es sei, die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit für die Verursachung der Schädigung durch die Impfung zu belegen“, und die Forderung aufstellt, dass „im Hinblick auf den Zweck des Impfschadensrechts … die Gerichte mit der Kann-Versorgung großzügiger sein [sollten]“, offenbart dies eine eklatante Rechtsunkenntnis und ein erschreckendes Unverständnis sowohl der gesetzlichen Vorgaben als auch der Aufgabe der Gerichte. Börsel verkennt schon, dass „die Verursachung der Schädigung durch die Impfung“ nicht im Vollbeweis - dem entspricht die von Börsel verwendete Formulierung „an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ - erwiesen sein muss, sondern dafür die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit ausreicht. Eine im Sinne potentieller Impfschadensbetroffener liegende weitere Reduzierung der Anforderungen an die Kausalität bei der Anerkennung eines Impfschadens würde zudem dem Gleichbehandlungsgrundsatz zuwider laufen, da der Gesetzgeber im Impfschadensrecht für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs die gleichen Maßstäbe wie in allen anderen Fällen des Versorgungsrechts vorgegeben hat (vgl. BSG, Urteile vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80 - mit Hinweisen auf die Gesetzesmaterialien, und vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R). Im Übrigen könnte eine Absenkung der Beweisanforderungen wegen des Gewaltenteilungsgrundsatzes des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 Grundgesetz nicht durch die Gerichte erfolgen. Eine Änderung wäre einzig und allein dem Gesetzgeber im Rahmen seines gesetzgeberischen Tätigwerdens möglich.

Lässt sich der Zusammenhang nicht (hinreichend) wahrscheinlich machen und auch nicht über das Institut der Kannversorgung herstellen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf das Vorliegen des Zusammenhangs stützen möchte, also des Antragstellers (ständige Rspr., vgl. beispielhaft BSG, Urteil vom 03.02.1999, B 9 V 33/97 R, und Beschluss vom 05.04.2018, B 5 RS 19/17 B).

Dass irgendwie geartete Beweiserleichterungen bis hin zu einer Beweislastumkehr wegen der besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher Art, wie sie im Impfschadensrecht möglicherweise häufiger anzutreffen sind als in anderen Gebieten des Versorgungsrechts, im Impfschadensrecht grundsätzlich nicht zu Anwendung kommen können, entspricht im Übrigen der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. z.B. Urteile vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80, und vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, Beschluss vom 04.06.2018, B 9 V 61/17 B)

3. Prüfung der Voraussetzungen im vorliegenden Fall Unter Anwendung dieser Grundsätze ist vorliegend schon eine Impfkomplikation (gesundheitliche Schädigung/Primärschaden/2. Glied der oben aufgezeigten Kausalkette) nicht nachgewiesen. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob der Erkrankungsbeginn nicht vor Mitte März/Anfang April 2014 stattgefunden hat (vgl. unten Ziff. 3.1.) oder schon auf einen Zeitpunkt kurz nach der Impfung datiert werden kann (vgl. unten Ziff. 3.2.).

Bei seiner Entscheidung stützt sich der Senat auf die zahlreich erhobenen medizinischen Befunde, die eigenen Angaben der Klägerin und auf das Gutachten des Prof. Dr. J., der sich mit sämtlichen im Raum stehenden Frage sehr eingehend und fundiert auseinandergesetzt hat. Sofern die Bevollmächtigte der Klägerin die Verwertbarkeit dieses Gutachtens mit dem rein formalen Argument in Frage stellen will, dass es vorliegend um die Beurteilung einer neurologischen Erkrankung gehe, der gerichtliche Sachverständige aber kein Facharzt für Neurologie sei, ist dieser Ansatz nicht haltbar. Denn es gibt keinen Grundsatz dahingehend, dass eine Begutachtung von Leiden nur einem Arzt gestattet wäre, der auch über die dem Leiden entsprechende Facharztqualifikation verfügt. Denn ein Arzt ist bereits kraft seiner Approbation gemäß § 407 Abs. 1, 3. Alt. Zivilprozessordnung zur ärztlichen Begutachtung zugelassen, wobei es wegen der umfassenden Approbation keine formale gesetzliche Beschränkung der gutachterlichen Tätigkeit auf bestimmte Gebiete analog der ärztlichen Weiterbildungsordnungen gibt. Ob einem Gutachter die Fähigkeit zur Beurteilung spezifischer Krankheiten fehlt, kann daher nicht schon primär und formal damit begründet werden, dass er die entsprechende Facharztbezeichnung nicht führt. Vielmehr ist entscheidend, ob sich den Ausführungen eines Arztes entnehmen lässt, ob er über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügt. Auch wenn das Vorliegen einer Facharztbezeichnung positiv auf das Vorhandensein entsprechender Kenntnisse schließen lässt, so kann gleichwohl aus der fehlenden Berechtigung zum Führen einer Facharztbezeichnung nicht der negative Rückschluss auf das Fehlen entsprechender Kenntnisse im Rahmen einer Begutachtung gezogen werden (vgl. Bayer. LSG, Urteile vom 18.03.2013, L 15 VK 11/11, letzteres vom BSG bestätigt mit Beschluss vom 31.07.2013, B 9 V 31/13 B, und folgenden Worten: „Die Vorinstanz hat sich an der Rechtsprechung des BSG orientiert.“, und vom 06.12.2017, L 20 VJ 3/05). An der Qualifikation zur Beurteilung von potentiellen Impfschäden, auch wenn diese dem neurologischen Fachgebiet zuzurechnen sind, durch Prof. Dr. J., der nicht Facharzt für Neurologie ist, bestehen für den Senat nicht die geringsten Zweifel. Die gesamten Ausführungen des Sachverständigen belegen eine ausnehmend große Fachkenntnis zur Beurteilung von potentiellen Auswirkungen von Impfungen; seine Ausführungen sind Ausdruck einer unzweifelhaft vorliegenden Kompetenz zu Beurteilung potentieller Impfschäden unabhängig davon, auf welchem Fachgebiet sich die Erkrankung manifestiert hat. Die Kompetenz und Kenntnis des Sachverständigen kommt schließlich auch in dem Umstand zum Ausdruck, dass er von 1998 bis 2011 Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut gewesen ist.

Als (potentieller) Impfschaden infolge der Impfung vom 30.01.2014 gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis, die eine öffentlich empfohlene Schutzimpfung darstellt, mit dem Impfstoff Boostrix(r), der das Adjuvans Aluminiumhydroxid enthalten hat, wird von der Klägerin ein Residualschaden nach Ablauf einer immunvermittelten entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems, konkret einer sogenannten Myelitis transversa, wie dies auch der von ihr gemäß § 109 SGG benannten Sachverständige angenommen hat, geltend gemacht. Die Kausalkette würde sich in diesem Fall wie folgt darstellen:

- Impfung am 30.01.2014 gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis,

- Myelitis transversa als Primärschaden/Impfkomplikation und

- Residualzustand nach Ablauf einer Myelitis transversa als Impfschaden.

Der Nachweis eines Impfschadens in Form der vorgenannten Erkrankung (Residualzustand nach Ablauf einer Myelitis transversa) lässt sich aber vorliegend nicht führen. Die Anerkennung eines Impfschadens im Rahmen der Kausalkette scheitert schon daran, dass sich ein mit der Impfung in Zusammenhang stehender Primärschaden, also eine Myelitis transversa als Impfkomplikation, nicht nachweisen lässt. Dies ist unabhängig davon, von welcher der beiden, im Folgenden näher dargestellten Sachverhaltsalternativen, die sich aus den ärztlichen Berichten und den dort wiedergegebenen Angaben der Klägerin, die diese im Rahmen der Anamnesen gemacht hat, ergeben, ausgegangen wird.

Die Angaben zum Krankheitsfall der Klägerin sind widersprüchlich; im Laufe der Zeit hat sich der von der Klägerin angegebene Erkrankungsbeginn zeitlich immer näher an den Impfzeitpunkt vorverlagert:

- Ausgehend von den Erstangaben der Klägerin, wie sie diese in der Klinik Sozialstiftung B-Stadt im Rahmen ihres Aufenthalts vom 16.04.2014 bis zum 24.04.2014 bzw. bei ihrem anschließenden Aufenthalt in der Universitätsklinik E-Stadt vom 28.04.2014 bis zum 14.05.2014 gemacht hat, ist von einem Beginn der Erkrankung Anfang April 2014 bzw. frühestens Mitte März 2014 auszugehen, also mindestens sechs Wochen nach der streitgegenständlichen Impfung.

- Werden jedoch die Angaben der Klägerin, wie sie sie später, insbesondere nach der bescheidmäßigen Ablehnung der Anerkennung eines Impfschadens, gemacht hat, zu Grunde gelegt, ist von einem Symptombeginn bereits Anfang Februar auszugehen, also zeitnah nach der Impfung.

Letztlich kann es dahingestellt bleiben, wann von einem im Sinne des Vollbeweises nachgewiesenen Beginn der von der Klägerin angegebenen neurologischen Beschwerden, also des potentiellen Primärschadens, ausgegangen wird. Denn selbst dann, wenn zu Gunsten der Klägerin von der Richtigkeit ihrer erst im Laufe des Verfahrens abgeänderten Angaben zu einem früheren Erkrankungsbeginn ausgegangen wird, lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der jetzt vorliegenden Gesundheitsstörung nicht herstellen, weil sich eine Impfkomplikation nicht nachweisen lässt.

Für die beiden Konstellationen des Beginns neurologischer Störungen, also des potentiellen Primärschadens, - einerseits erstmals frühestens Mitte März/Anfang April 2014 (vgl. unten Ziff. 3.1.), andererseits bereits Anfang Februar 2014 (vgl. unten Ziff. 3.2.) - stellt sich die Beurteilung wie folgt dar, wobei der Krankheitsverlauf ab Mitte März/Anfang April 2014 unstrittig und in beiden Konstellationen der selbe ist.

3.1. Erste Alternative: Beginn der Symptome frühestens Mitte März/Anfang April 2014 Eine Impfkomplikation als Primärschaden ist nicht nachgewiesen.

3.1.1. Zu Grunde zu legender Krankheitsverlauf

Werden die Angaben der Klägerin bei den stationären Aufenthalten in der Sozialstiftung B-Stadt und im Universitätsklinikum E-Stadt zu Grunde gelegt, stellt sich die Entwicklung der Gesundheitsstörungen nach der Impfung wie folgt dar:

Die Gesundheitsstörungen der Klägerin haben mit einem Pelzigkeitsgefühl unterhalb des Bauchnabels und Gefühlstörungen in den Beinen frühestens Mitte März/Anfang April 2014 begonnen und sich dann im April schnell und massiv verschlechtert.

3.1.2. Rechtliche Bewertung

Der zu Grunde liegende Krankheitsverlauf entspricht nach unbestrittener Auffassung aller behandelnden Ärzte, Sachverständigen und Versorgungsärzte dem einer Myelitis transversa. Die Diagnose einer Myelitis transversa ist im Vollbeweis gesichert; anfängliche differenzialdiagnostische Überlegungen (V.a. Gliom) haben sich nicht bestätigt.

Dass diese Myelitis transversa eine Impfkomplikation der am 30.01.2014 durchgeführten Impfung ist, lässt sich aber nicht hinreichend wahrscheinlich machen.

Unter Zugrundelegung der sehr ausführlichen und überzeugenden Ausführungen des vom SG beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. J. ist bereits zweifelhaft, ob die streitgegenständliche Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis mit dem mit Aluminiumhydroxid als Adjuvans versehenen Impfstoff Boostrix(r) überhaupt geeignet ist, eine Myelitis transversa - entweder in Form der hinreichenden Wahrscheinlichkeit gemäß § 61 Satz 1 IfSG oder der Kannversorgung im Sinne des § 61 Satz 2 IfSG - kausal auszulösen. Bei diesem Zweifel stützt sich der Senat darauf, dass

- nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. J., die insofern auch nicht von dem gemäß § 109 SGG benannten Sachverständigen Dr. C. angezweifelt, sondern vielmehr sogar bestätigt werden, keinerlei epidemiologische Daten dazu vorliegen, die einen Zusammenhang zwischen der streitgegenständlichen Impfung und einer Myelitis transversa bestätigen könnten. Daraus ergibt sich, dass nach den bisher vorliegenden Daten keine Erhöhung des Risikos, an einer Myelitis transversa zu erkranken, durch eine Impfung gegeben ist, so dass das - theoretisch nicht auszuschließende - Risiko einer impfbedingten Entstehung dieser Erkrankung nicht abgrenzbar ist von dem allgemeinen bestehenden Risiko einer solchen Erkrankung.

- die von der Bevollmächtigten der Klägerin sowie dem gemäß § 109 SGG benannten Sachverständigen Dr. C. postulierte Annahme eines Zusammenhangs zwischen dem Adjuvans Aluminiumhydroxid und einer dadurch verursachten Myelitis als Autoimmunerkrankung eine bloße Hypothese der Arbeitsgruppe um Shoenfeld darstellt, die sich aber nach den überzeugenden Hinweisen des Prof. Dr. J. und auch des versorgungsärztlichen Dienstes des Beklagten, insbesondere in Person des Dr. K., noch nicht zu einer anerkannten medizinischen Lehrmeinung verdichtet hat, wie dies für eine Anerkennung im Rahmen der Kannversorgung erforderlich wäre, sondern eine wissenschaftliche nicht anerkannte Einzel- und Außenseitermeinung darstellt.

- der Sachverständige Prof. Dr. J. nach überzeugender Auswertung der den neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand - dies ist der der Beurteilung zugrunde zu legende medizinwissenschaftliche Stand (vgl. BSG, Urteil vom 7.4.2011, B 9 VJ 1/10 R, und Beschluss vom 18.06.2018, B 9 V 1/18 B) - wiedergebenden Veröffentlichungen darauf hingewiesen hat, dass eine Verursachung der Myelitis durch das Adjuvans Aluminiumhydroxid in der Wissenschaft als bloße Hypothese oder Möglichkeit diskutiert werde, ohne dass sich insofern ein verdichteter Kenntnisstand gebildet hat, was für eine Herstellung des Zusammenhangs im Sinne der Kannversorgung (vgl. BSG, Urteil vom 26.11.1968, 9 RV 610/66, und vom 10.11.1993, 9/9a RV 41/92) und erst recht im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit nicht ausreichend ist.

- die Verursachung von Impfkomplikationen an sich, also nicht nur bei der streitgegenständlichen Impfung, und daraus resultierend eines Impfschadens durch Adjuvantien in Impfstoffen, insbesondere durch Aluminiumhydroxid, wissenschaftlich und empirisch nicht belegt ist (vgl. Weisser u.a., Sicherheitsbewertung von Aluminium in Impfstoffen, in: Bulletin zur Arzneimittelsicherheit, Informationen aus BfArM und PEI, Ausgabe 3, September 2015, S. 6 ff.; ähnlich: Reaktionen und Nebenwirkungen nach Impfungen, Erläuterungen und Definitionen in Ergänzung zum österreichischen Impfplan, Bundesministerium für Gesundheit, 12/2013, S. 5, i.V.m. der im Internet (http://goo.gl/EUMpV7) abrufbaren Tabelle, dort S. 5 zur adjuvantierten Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis).

- nach Baxter u.a. in ihrer Veröffentlichung vom Jahr 2016 (vgl. ders., Acute Demyelinating Events Following Vaccines: A Case-Centered Analysis, in: Clinical Infectious Diseases, 2016, S. 1456 ff.), der eine Auswertung von fast 64 Mio. Impfdosen zugrunde liegt, bei denen in einem von Baxter als plausibel angenommenen Zeitfenster der Entwicklung einer Myelitis transversa nach einer Impfung von 5 bis 28 Tagen nur sieben Fälle einer derartigen Erkrankung erfasst worden seien, was belege, dass im Vergleich zur Kontrollgruppe kein erhöhtes Risiko für die Entwicklung dieser Gesundheitsstörung gegeben sei, und damit auch die aktuellsten Daten dafür sprechen, dass mit Aluminiumverbindungen adjuvantierte Impfungen nicht geeignet sind, das Risiko der Erkrankung an einer Myelitis transversa zu erhöhen bzw. eine solche Erkrankung auszulösen.

- die Argumentation des nach § 109 SGG benannten Sachverständigen Dr. C. bereits aus zahlreichen Verfahren bekannt und in gerichtlichen Entscheidungen wiederholt als nicht nachvollziehbar und nicht haltbar abgelehnt worden ist. Beispielhaft verweist der Senat nur auf das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 12.05.2016, L 4 VJ 1/14, und das Urteil des Bayer. LSG vom 18.05.2017, L 20 VJ 5/11. In letzterem Urteil ist mit Blick auf Aluminiumverbindungen als Adjuvans eines Impfstoffs Folgendes ausgeführt worden:

„Gleiches“ - zuvor war im genannten Urteil ausgeführt worden, dass in großen einschlägigen Studien kein Nachweis einer toxischen Schädigung des Menschen mit den minimalen, den Impfstoffen beigegebenen Mengen des Adjuvans Thiomersal habe erbracht werden können und dass es sich angesichts des derzeitigen medizinischen Wissensstandes bei den Ausführungen des auch dort nach § 109 SGG benannten Sachverständigen Dr. C. insoweit um reine Spekulation handle - „gilt bzgl. der Aluminiumverbindungen. Bei Zusatzstoffen, die Aluminium enthalten, handelt es sich um minimale Mengen. Impfbedingte neurologische Schadensvermutungen beim Menschen sind (bisher) reine Spekulation (so auch Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Urteil vom 12.05.2016, L 4 VJ 1/14, juris Rn. 58; siehe dazu auch BayLSG Urteil vom 14.02.2012, L 15 VJ 3/08, juris Rn. 54ff. und BayLSG Urteil vom 28.07.2011, L 15 VJ 8/09, juris Rn. 44ff.). Im Vergleich zur Aufnahme über Trinkwasser, Lebensmittel oder Antazida ist die Aufnahme von Aluminium mit Adjuvantien in Impfstoffen gering. Sie liegt deutlich unter dem TDI-Wert (tolerable daily intake) für Aluminium, der Menge, die täglich ein Leben lang ohne gesundheitsschädliche Wirkung aufgenommen werden kann. Im Bulletin vom 22.06.2007 hat sich die Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert-Koch-Institut (RKI) mit einer möglichen Verursachung von Impfschäden durch Aluminiumverbindungen als Adjuvantien in Impfstoffen befasst und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass im Vergleich zur Exposition über Trinkwasser, Lebensmittel oder Medikamente (Antacida) die Aluminium-Exposition durch aluminiumhaltige Adjuvantien in Impfstoffen gering ist. So nimmt der Mensch allein aus Nahrung und Trinkwasser unter normalen Bedingungen 3-5 mg Aluminium pro Tag auf. Bei einer im Mittel beobachteten 1-prozentigen Resorptionsquote bedeutet dies eine systemisch (d.h. den ganzen Organismus betreffend) verfügbare Menge von 0,03-0,05 mg Aluminium pro Tag durch die Nahrung. Größere Mengen von Aluminium enthalten Kaugummis, Zahnpasta und aluminiumhaltige Antacida. Als TDI-Wert gibt der Lebensmittelausschuss der EU-Kommission die Aluminiummenge, die ohne gesundheitsschädliche Wirkungen täglich ein Jahr lang peroral (d.h. durch eine Aufnahme über den Mund durch Nahrung und Trinkwasser) aufgenommen werden kann, mit 1 mg/kg Körpergewicht/Tag an. Bei einem durchschnittlichen Gewicht von 70 kg entspricht dies einer Menge von 70 mg Aluminium/Tag, die für einen Menschen als unbedenklich angesehen werden kann. Nach der Monographie „Impfstoffe für den Menschen“ der Europäischen Pharmakopöe ist der Aluminiumgehalt auf 1,25 mg pro Dosis beschränkt. Auch die im PEI im Jahr 2005 untersuchten Impfstoffchargen enthielten 0,25-0,55 mg/Impfstoffdosis. Damit ist im Vergleich zur Aufnahme über Trinkwasser, Lebensmittel oder Antacida die Aufnahme von Aluminium mit Adjuvantien in Impfstoffen gering, auch bei einem Kleinkind wie der Klägerin zum Zeitpunkt der Impfung. Sie liegt deutlich unter diesem TDI-Wert für Aluminium, der Menge, die täglich ein Leben lang ohne gesundheitsschädliche Wirkung aufgenommen werden kann. Hinzu kommt, dass bei der Exposition mit Aluminium durch Impfstoffe - gegenüber der peroralen Aufnahme - eine parenterale (d.h. am Darm vorbei) Applikation von schwerlöslichen, mit Antigenen beladenen Aluminiumhydroxid- oder Aluminiumphosphat-Partikeln erfolgt. Bei der Applikation einer Impfstoffdosis wird daher keinesfalls das gesamte Aluminium im Körper unmittelbar systemisch verfügbar. Zu berücksichtigen ist die Resorptionsgeschwindigkeit aus dem Muskel ins Blut. Die als Adjuvans eingesetzten Aluminiumsalze sind sehr schlecht wasserlöslich und werden deshalb sehr langsam resorbiert, gelangen also nur protrahiert (d.h. verzögert) in sehr kleinen Mengen in den Blutkreislauf. Vergleicht man daher die systemisch verfügbaren Mengen, ist für die in den Blutkreislauf gelangenden Mengen Aluminium aus Impfstoffen ein systemisches Toxizitätsrisiko auszuschließen.“

- auch die Ausführungen des Dr. C., der in seinem Gutachten einen Zusammenhang zwischen Impfung und Myelitis transversa annimmt, ohne dass klar wird, ob er dabei von einem hinreichend wahrscheinlichen Zusammenhang oder der Kannversorgung ausgeht, tatsächlich nicht einmal einen Zusammenhang im Sinne der Kannversorgung tragen. Denn wenn Dr. C. dem Gutachten des Prof. Dr. J. entgegen halten will, dass zwar die Ergebnisse der Arbeitsgruppe um Shoenfeld immer wieder kritisiert würden, sie aber aufgrund der angeblich breit aufgestellten Methodik nicht als Einzelmeinung zu bezeichnen seien, sondern ganz wesentlich zum gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstand über unerwünschte Wirkungen von Impfstoffen beitragen würden, steht dies in Widerspruch zu seinen eigenen weiteren Ausführungen. Dort weist nämlich Dr. C. darauf hin, dass die Ursache einer Autoimmunerkrankung wie der bei der Klägerin bislang nicht bekannt sei und es sich somit insgesamt bei allen Betrachtungen zu Ursachen derartiger Erkrankungen um Hypothesen handle. Dies entspricht aber nicht einem medizinischen Kenntnisstand, bei dem zumindest nach einer anerkannten einzelnen medizinischen Lehrmeinung der Zusammenhang zwischen Impfung und Myelitis transversa als wahrscheinlich erachtet werden könnte.

Diese Bedenken, die, wenn ihnen gefolgt würde, dazu führen würden, dass eine Myelitis transversa überhaupt nicht als Primärschaden in Betracht gezogen werden dürfte, weil sich ein Zusammenhang mit der Impfung ohne jeden Zweifel nicht hinreichend wahrscheinlich machen oder im Sinne der Kannversorgung herstellen lässt, können jedoch dahingestellt bleiben. Denn auch wenn zugunsten der Klägerin die Annahme zugrunde gelegt wird, dass sich bei einem plausiblen zeitlichen Abstand zwischen Impfung und Erkrankung an einer Myelitis transversa ein Zusammenhang (entweder im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit oder im Sinne der Kannversorgung) möglicherweise herstellen lassen kann, kann im vorliegenden Fall ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang nicht hergestellt werden, weil es an einer im Vollbeweis nachzuweisenden Impfkomplikation, also dem Primärschaden, fehlt.

Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. J., die sich der Senat zu eigen macht, kann ein Zusammenhang zwischen einer Impfung und einer Myelitis transversa allenfalls dann diskutiert werden, wenn ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Erkrankungsbeginn besteht. Von einem derartigen plausiblen zeitlichen Zusammenhang kann nur dann ausgegangen werden, wenn zwischen Impfung und Erkrankungsbeginn eine Zeitraum von keinesfalls mehr als 28 Tagen liegt (Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 29.09.2014: 5 bis 21 Tage; versorgungsärztlicher Dienst des Beklagten z.B. in der Stellungnahme vom 16.01.2015: 5 bis 21 Tage, bzw. 5 bis 28 Tage in der Stellungnahme vom 1008.2017 mit Bezugnahme auf die Studie von Baxter; Prof. Dr. J. im Gutachten vom 12.08.2016: Tage bis wenige Wochen, jedenfalls weniger als 6 Wochen; Dr. C. im Gutachten gemäß § 109 SGG vom 30.04.2018, der mit Blick auf die WHO-Vorgaben einen „plausiblen“ zeitlichen Abstand fordert, den er bei den von ihm angenommenen Krankheitsbeginn wenige Tage nach der Impfung bejaht, ohne den Begriff eines plausiblen zeitlichen Abstands näher zu quantifizieren).

Ausgehend von einem im Vollbeweis nachgewiesenen Erkrankungsbeginn frühestens Mitte März/Anfang April 2014 hätten die Beschwerden mehr als 6 bis 8 Wochen nach der Impfung begonnen, was es nicht zulässt, einen Kausalzusammenhang der Erkrankung mit der Impfung herzustellen.

Damit ist es ausgeschlossen, die Myelitis transversa als Impfkomplikation der am 30.10.2014 durchgeführten Impfung zu betrachten. Ein Primärschaden, der einen Zustand nach Myelitis transversa als Impfschaden nach sich ziehen könnte, ist nicht nachgewiesen.

3.2. Zweite Alternative: Beginn der Symptome bereits kurz nach der Impfung

Eine Impfkomplikation als Primärschaden ist nicht nachgewiesen.

3.2.1. Zu Grunde zu legender Krankheitsverlauf

Werden die später gemachten Angaben der Klägerin und die von der Klägerin vorgelegten Erklärungen ihrer Arbeitskollegen zu Grunde gelegt, stellt sich die Entwicklung der Gesundheitsstörungen nach der Impfung folgt dar:

Die Gesundheitsstörungen der Klägerin haben mit sensiblen Störungen und kalten Füßen schleichend im Februar 2014 begonnen, wobei dann im April 2014 eine schnelle und massive („dramatisch“ - so die Formulierung im Gutachten gemäß § 109 SGG) Verschlechterung eingetreten ist.

3.2.2. Rechtliche Bewertung

Mit dem zu Grunde zu legenden Krankheitsverlauf ist der Nachweis einer Myelitis transversa zu Beginn der Beschwerden, also Anfang Februar nicht im Vollbeweis erfolgt (vgl. unten Ziff. 3.2.2.1.). Ohne den sicheren Nachweis einer Myelitis transversa lässt sich ein Zusammenhang der Erkrankung der Klägerin mit der Impfung nicht herstellen (vgl. unten Ziff. 3.2.2.2.).

3.2.2.1. Erhebliche Zweifel am Vorliegen einer Myelitis transversa schon im Februar 2014

Wie der Sachverständige Prof. Dr. J. überzeugend ausgeführt hat, wäre ein Erkrankungsverlauf, wie er sich aus den Angaben der Klägerin ergibt, untypisch für eine Myelitis transversa. Eine Myelitis transversa ist daher zeitnah nach der Impfung nicht zweifelsfrei, d.h. im Vollbeweis nachgewiesen. Diese Zweifel werden noch dadurch verstärkt, dass die zeitnah nach der Impfung beginnende neurologische Symptomatik auch mit dem Vitamin B12-Mangel der Klägerin erklärt werden kann.

Der typische Krankheitsverlauf einer Myelitis transversa stellt sich, wie der Sachverständige Prof. Dr. J. ausführlich dargestellt hat, wie folgt dar: Eine Myelitis transversa nimmt in der Regel einen akuten bis subakuten Verlauf. Die Schwere der Symptomatik nimmt typischerweise kontinuierlich in einem Zeitraum von 4 bis 21 Tagen ab Krankheitsbeginn zu. In mehr als 80% der Fälle erreichen die klinischen Erscheinungen ihren Höhepunkt innerhalb von 10 Tagen nach Beginn der Erkrankung. Die Progredienz der Symptomatik sistiert nach 2 bis 3 Wochen und bildet sich dann allmählich zurück.

Der bei der Klägerin vorliegende Erkrankungsverlauf - schleichender Beginn von sensiblen Störungen und kalten Füßen im Februar 2014 mit anschließend sehr langsamer Verschlechterung und dann im April 2014 dramatischer Verschlechterung - stellt sich als völlig atypisch für eine Myelitis transversa (als einzige Erkrankung) dar (vgl. auch Berlit, Klinische Neurologie, 1999, S. 487 f.: „Postinfektiöse und postvakzinale Myelitiden verlaufen monophasisch und häufig relativ rasch.“), sodass schon deshalb erhebliche Zweifel daran angezeigt sind, dass ab Februar - und nicht erst seit Ende März/Anfang April - 2014 eine Myelitis transversa vorgelegen haben könnte. Erst ab Anfang April 2014 liegt ein Erkrankungsverlauf vor, der zwanglos mit einer Myelitis transversa zu vereinbaren ist und auf einen Beginn der Myelitis transversa auch erst nicht vor Ende März/Anfang April 2014 hindeutet.

Bestätigt und verstärkt werden die Zweifel an einem Beginn der Myelitis vor Ende März/Anfang April 2014 zusätzlich dadurch, dass die von der Klägerin angegebene Symptomatik ab Februar bis Ende März/Anfang April 2014 durch den Vitamin B12-Mangel der Klägerin erklärt werden kann. Die für Februar bis zumindest Mitte März von der Klägerin geschilderte Symptomatik entspricht, wie dies Prof. Dr. J. eingehend und überzeugend erläutert hat, ziemlich genau den neurologischen Symptomen eines Vitamin B12-Mangels, wie sie in der Literatur beschrieben werden. Der Sachverständige hat insofern z.B. auf einen Übersichtsartikel zum Vitamin B12-Mangel von Kisters (2015) hingewiesen, in dem als Symptome eines Vitamin B12-Mangels Parästhesien (Kribbeln bzw. Ameisenlaufen in Armen und Beinen), Sensibilitätsstörungen (z.B. pelziges Taubheitsgefühl), Gangunsicherheit (Gehen wie auf Watte) und erhöhte Sturzneigung genannt werden, also Erscheinungen, wie sie von der Klägerin bis zu der unstrittig vorliegenden schnellen und massiven Verschlechterung ihre Gesundheitszustands ab Ende März/Anfang April 2014 angegeben worden sind.

Wenn dem die Bevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz von 25.10.2016 zweierlei entgegen hält, nämlich zum einen, dass keiner der behandelnden Ärzte jemals in Betracht gezogen habe, dass die bei der Klägerin vorliegenden Ausfallerscheinungen in einem Zusammenhang mit einem Vitaminmangel stehen könnten, und zum anderen, dass die Klägerin vor der Impfung niemals Depressionen, Müdigkeit, Muskelschwäche, Gedächtnisstörungen oder sonstige Anzeichen gehabt habe, die auf einen schweren Vitamin B12-Mangel hätten schließen lassen, kann dies nicht ansatzweise überzeugen:

- Dass ein Vitamin B12-Mangel grundsätzlich geeignet ist, zu den von der Klägerin geschilderten Symptomen zu führen, ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen und des versorgungsärztlichen Dienstes unstreitig und wird auch von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen, da es medizinischem Grundwissen entspricht (vgl. z.B. Kisters, Vitamin-B12-Mangel - Erkennen und behandeln, 01.04.2015, [https://www.allgemeinarzt-online.de/archiv/a/erkennen-und-behandeln-1700675], der als neurologische Symptome „Parästhesien (Kribbeln bzw. Ameisenlaufen in Armen oder Beinen), Sensibilitätsstörungen (z. B. pelziges Taubheitsgefühl), Gangunsicherheit („Gehen wie auf Watte“), erhöhte Sturzneigung/Störungen der Tiefensensibilität (Erkennen und Lage der Stellung z. B. der Beine sind gestört), Ausfall der Reflexe/Lähmungen“ benennt.).

Die Bevollmächtigte und auch der Gutachter gemäß § 109 SGG wollen lediglich glauben machen, dass bei der Klägerin kein relevanter Vitamin B12-Mangel vorgelegen hätte. Diese Behauptung ist aber nicht nur durch die mit Blick auf die vorliegenden Laborwerte erfolgten Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. J. widerlegt, sondern auch durch die Behandlungsinformationen aus der Uniklinik E-Stadt und die Ausführungen des versorgungsärztlichen Dienstes in Form von neurologischen Stellungnahmen. Dass bei der Klägerin zum Zeitpunkt der Manifestation neurologischer Symptome ein Vitamin B12-Mangel vorgelegen hat, ist durch Laborbefunde eindeutig belegt. Nachdem erniedrigte Werte festgestellt worden waren, ist im Rahmen der Krankenhausaufenthalte der Klägerin im April/Juni 2014 eine weitere Abklärung durchgeführt worden. Dazu ist der Holo-Transcobalamin-Wert bestimmt worden, der mit einem Wert von 38,1 pmol/l gegenüber dem Normwert von über 50 pmol/l erniedrigt war. Dieser erniedrigte Wert belegt einen metabolisch relevanten Vitamin B12-Mangel und damit eine Erschöpfung des Vitamin B12-Speichers des Körpers. Dieser Mangel ist von den Ärzten in der Uniklinik E-Stadt auch als klinisch relevant eingeschätzt und entsprechend substituiert worden.

Die Bevollmächtigte der Klägerin und der gemäß § 109 SGG benannte Gutachter Dr. C., die einerseits glauben machen wollen, dass der bei der Klägerin festgestellte Holo-Transcobalamin-Wert im Normbereich liege, andererseits auch ein erniedrigter Wert lange Zeit ohne irgendwelchen klinischen Erscheinungen bleibe, verkennen diese Tatsachen. Zum einen liegen aus der Behandlung im Uniklinikum E-Stadt Laborbefunde vor, die einen erniedrigten Holo-Transcobalamin-Wert von 38,1 pmol/l gegenüber einem Normalwert von über 50 pmol/l belegen. Zum anderen treten die bei B12-Mangel beobachteten Symptome von psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen sowie kognitiven Störungen, Depressionen oder auch Demenz sehr häufig schon vor dem Unterschreiten des unteren B12-Referenzlimits auf (vgl. Herrmann, Obeid, Ursachen und frühzeitige Diagnostik von Vitamin-B12-Mangel, in: Deutsches Ärzteblatt 2008, S. 680 ff.,- m.w.N. -, https://www.aerzteblatt.de/archiv/61696/Ursachen-und-fruehzeitige-Diagnostik-von-Vitamin-B12-Mangel; Kisters, a.a.O.: „Häufig haben Personen mit Vitamin-B12-Mangel auch neurologische und psychiatrische Symptome unterschiedlich schwerer Ausprägung, auch bei völligem Fehlen von Blutbildveränderungen. … Die neurologischen und neuropsychiatrischen Symptome können hämatologischen Anomalien Monate bis Jahre vorausgehen; Blutbildveränderungen können auch ganz ausbleiben.“).

- Der Vortrag der Bevollmächtigten der Klägerin, diese habe vor der streitgegenständlichen Impfung niemals Depressionen und Müdigkeit, eine Symptomatik die typisch ist für einen Vitamin B12-Mangel ist (vgl. Herrmann, Obeid, a.a.O.) gehabt, entspricht nicht den Tatsachen. So hat der die Klägerin behandelnde Allgemeinarzt B. dem SG am 05.01.2016 berichtet, dass bei der Klägerin seit 2004, also schon lange vor der Impfung, eine „psychovegetative Erschöpfung, Angststörung und Anpassungsstörung mit bisher leichter depressiver Symptomatik“ bestanden habe. Davon, dass die Klägerin vor der Impfung nie unter Depressionen und Müdigkeit gelitten habe, kann also keine Rede sein. Wenn demgegenüber der genannte Arzt B. der Klägerin am 10.10.2016 zur Vorlage bei Gericht attestiert hat, dass vor dem 08.04.2014 Erschöpfungszustände bei der Klägerin nie aufgetreten seien, was dann von der Klägerin gegenüber dem Gericht als vermeintlicher Nachweis dafür vorgelegt worden ist, dass sie unter keinem Vitamin B12-Mangel gelitten habe, kann der Senat wegen der eindeutigen und anderslautenden Auskunft dieses Arztes vom 05.01.2016 im Attest vom 10.10.2016 nur ein Gefälligkeitsattest erkennen, das im sozialgerichtlichem Verfahren keine Verwertung zu Gunsten der Klägerin finden kann, sondern allenfalls Anlass für ein berufs- und/oder strafrechtliches Verfahren gegenüber dem Arzt B. geben könnte. Letztlich ist es aber für die Entscheidung ohne Bedeutung, ob die Klägerin im oder seit dem Jahr 2004 an Erschöpfungszuständen gelitten hat.

Ebenfalls lediglich der Vollständigkeit halber, ohne dass dies von Bedeutung für die Entscheidung wäre, merkt der Senat an, dass nach den vorliegenden Arztberichten erste leichte neurologische Störungen bereits vor der Impfung im Januar nicht auszuschließen sind. So hat die Klägerin nach den Ausführungen im Entlassungsbericht über eine neurologische stationäre Rehabilitation vom 25.09.2014 bis zum 29.10.2014 „spontan“ berichtet, „dass es bereits Anfang des Jahres zu ersten Problemen beim Gehen sowie zu einem Gefühl kalter Füße gekommen sei.“ Die Formulierung „Anfang des Jahres“ könnte durchaus dahingehend interpretiert werden, dass erste Beschwerden bereits im Januar und damit vor der Impfung vorgelegen haben. Entscheidungserheblich ist aber auch dies nicht.

Eine Myelitis transversa als Primärschaden, der dann zu einem Zustand nach Myelitis transversa als Impfschaden hätte führen können, bereits zu Beginn der angegebenen Beschwerden, also schon im Februar 2014, ist somit nicht im Vollbeweis nachgewiesen

3.2.2.2. Vitamin B12-Mangel nicht impfbedingt

Mit Blick auf die in der mündlichen Verhandlung erstmals geführte medizinische Argumentation der Bevollmächtigten der Klägerin, die Impfung könne Ursache für den - von ihr zuvor vehement bestrittenen - Vitamin B12-Mangel sein und so zum Impfschaden geführt haben, weist der Senat auf Folgendes hin:

Aufgrund der oben (vgl. Ziff. 3.2.2.1.) aufgezeigten Überlegungen sind durch einen Vitamin B12-Mangel der Klägerin bedingte neurologische Ausfallerscheinungen zeitnah nach der Impfung nicht fernliegend. Daraus lässt sich aber keine Kausalkette für die Anerkennung eines Impfschadens konstruieren. Weder ist ein Vitamin B12-Mangel als Impfkomplikation denkbar noch würde sich aus dem Vitamin B12-Mangel ein rechtlich wesentlicher Kausalzusammenhang mit der später nachgewiesen Myelitis transversa als zur Anerkennung beantragter Impfschaden herstellen lassen Es ist bereits kein Ansatzpunkt erkennbar, den Vitamin B12-Mangel kausal auf die Impfung zurückzuführen, worauf der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. J. hingewiesen hat und was von keinem der mit dem Fall befassten Ärzte, auch nicht vom Gutachter gemäß § 109 SGG, in Betracht gezogen worden ist. Wie die Bevollmächtige der Kläger selbst zuvor schriftsätzlich wiederholt vorgetragen hat, ist ein Vitamin B12-Mangel ein Zustand, dessen Entstehung längere Zeit benötigt, da der Körper über Vitamin B12-Speicher verfügt, die erst nach längerer Zeit einer gestörten B12-Aufnahme oder -Resorption erschöpft sind (vgl. Kisters, a.a.O.: „Im Körper bestehen große Vitamin-B12-Speicher, weshalb eine Unterversorgung klinisch erst nach Jahren evident wird.“). Es fehlt daher auch unter diesem Gesichtspunkt schon am Primärschaden, da eine Impfung am 30.01.2014 nicht zu einer Erschöpfung der Vitamin B12-Speicher schon 2 Monate später im April 2014 führen kann.

Im Übrigen wäre auch ein Zusammenhang des Vitamin B12-Mangels mit der später nachgewiesenen Myelitis transversa - in einem solchen Fall wäre statt einer 3-gliedrigen Kausalkette eine 4-gliedrige Kausalkette mit einer weiteren Gesundheitsstörung als Zwischenschritt erforderlich (Impfung - Vitamin B12-Mangel - Myelitis transversa - Zustand nach Myelitis transversa) nicht herstellbar, sodass auch unter diesem Gesichtspunkt ein kausaler Zusammenhang zwischen der Impfung und der Myelitis transversa nicht gegeben sein kann. Keiner der mit dem Fall der Klägerin befassten Ärzte hat einen solchen Zusammenhang als auch nur theoretisch möglich in seine Überlegungen einbezogen.

4. Beweisanträge in der mündlichen Verhandlung

Den in der mündlichen Verhandlung am 06.12.2018 gestellten Beweisanträgen der Bevollmächtigten der Klägerin war nicht nachzukommen:

4.1. Ergänzende Befragung des Prof. Dr. J.

Sofern die Klägerin beantragt hat, „Prof. J. zur Erläuterung seines Gutachtens mündlich anzuhören und das Gutachten des Dr. C. dem Mikrobiologen und Universitätsprofessor Dr. J. zur Stellungnahme hierzu zuzuleiten“, ist weder ersichtlich, zu welchem Fragenkomplex sich Prof. Dr. J. nochmals hätte äußern sollen, noch ist erkennbar, inwiefern eine weitere Äußerung des gerichtlichen Sachverständigen überhaupt von Entscheidungserheblichkeit sein könnte.

Das BSG hat insofern in einer vergleichbaren Konstellation mit Beschluss vom 28.09.2015, B 9 SB 41/15 B, Folgendes ausgeführt:

„a) Der im Berufungsverfahren bereits anwaltlich vertretene Kläger hat es unterlassen darzulegen, welche konkreten Punkte des Beweisthemas einer persönlichen Befragung durch welchen konkreten Sachverständigen hätten unterzogen werden müssen, denen das LSG - von seinem Rechtsstandpunkt aus - ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sein soll und welches Ergebnis im Falle einer konkreten Befragung bestimmter Sachverständiger zu erwarten gewesen wäre (sog Entscheidungserheblichkeit). Zwar hat der Kläger geltend gemacht, mit Schriftsätzen vom 25. und 26.11.2014 neben einem Vertagungsantrag die ergänzende Befragung von Dr. Y. und Dr. B. beantragt zu haben nebst Beiziehung weiterer Unterlagen zur Überprüfung der wissenschaftlichen Auffassung der Sachverständigen und dass das LSG zu Unrecht diese Anträge als nicht sachdienlich bewertet habe. Aber selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, dass dieser auch die Aufrechterhaltung dieser Anträge im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 28.11.2014 dargelegt hat, wie sich aus der Protokollniederschrift ergibt, so enthalten diese Ausführungen des Klägers keine ausreichenden Angaben zu den zu begutachtenden Punkten iS von § 403 ZPO bzw eines konkreten Beweisthemas in dem Beweisantrag, die grundsätzlich nicht entbehrlich sind (vgl BSG Beschluss vom 9.3.2001 - B 2 U 404/00 B; BSG SozR 4-​1500 § 160a Nr. 3 RdNr. 6). Vor allem in Verfahren - wie vorliegend - in denen bereits mehrere medizinische Gutachten und ergänzende Stellungnahmen mit abweichenden Beurteilungen vorliegen, ist eine Konkretisierung des Beweisthemas unabdingbar, da eine pauschale Wiederholung bisher gestellter Beweisfragen nicht erkennen lässt, inwieweit überhaupt noch Aufklärungsbedarf vorliegt. Insoweit hätte der Kläger das von seinen Beweisanträgen in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 28.11.2014 umfasste Beweisthema konkretisieren und zumindest darlegen müssen, weshalb die von ihm benannten Sachverständigen der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung widersprochen haben. Denn das LSG ist als letztinstanzliche Tatsacheninstanz nur dann einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt, wenn es sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 160 Nr. 5). Insoweit hätte es zudem des klägerseitigen Vortrags bedurft, weshalb nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen und medizinischen Sachverhalt aus der rechtlichen Sicht des LSG erkennbar offengeblieben sind und damit zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden haben soll (vgl Becker, Die Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG , SGb 2007, 328, 332 zu RdNr. 188 unter Hinweis auf BSG Beschluss vom 14.12.1999 - B 2 U 311/99 B - mwN). Dies gilt ebenso hinsichtlich der vom Kläger geforderten Beiziehung weiterer Unterlagen von den Sachverständigen. Zwar kann das LSG diese nach § 407a Abs. 4 ZPO anfordern, aber auch insoweit ist darzulegen, weshalb sich das LSG - aus seiner Rechtsansicht - hierzu hätte gedrängt sehen müssen. Dies hat der Kläger versäumt.“

Genauso wie bei der Entscheidung des BSG ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, warum Prof. Dr. J. sich zu seinem Gutachten und zum Gutachten des Dr. C. ergänzend hätte äußern sollen. Der Senat hat sich daher nicht gedrängt gesehen, dem Antrag der Bevollmächtigten der Klägerin nachzukommen.

4.2. Weiteres Gutachten bei Prof. Dr. M.

Sofern die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt hat, die „Erholung eines Gutachtens von Herrn Prof. Dr. M., B-Allee, B-Stadt, zum Beweis dafür zu erholen, dass die wenige Tage nach der streitgegenständlichen Impfung aufgetretenen neurologischen Ausfallerscheinungen der Klägerin eine durch den Impfstoff verursachte Primärschädigung darstellen“, hat sie damit zwar einen wirksamen Beweisantrag gestellt, da sie - anders als bei der beantragten ergänzenden Anhörung des Prof. Dr. J. - ein Beweisthema benannt hat. Eine weitere Begutachtung (von Amts wegen) war aber nicht erforderlich, da die von der Bevollmächtigten der Klägerin aufgeworfene Frage bereits durch die im Verfahren erfolgten Ermittlungen geklärt ist und im Übrigen auch eine positive Beantwortung nicht zu einer anderen Entscheidung führen könnte, also nicht entscheidungserheblich wäre:

- Dass die von der Klägerin schon für Februar und März 2014 angegebenen neurologischen Ausfallerscheinungen nicht mit der erforderlichen Gewissheit einer Myelitis transversa zuzuschreiben sind, steht u.a. nach dem Gutachten des Prof. Dr. J. fest. Es spricht vieles dafür, dass die zeitnah nach der Impfung aufgetretene neurologische Symptomatik durch den nachgewiesenen Vitamin B12-Mangel der Klägerin verursacht ist. Dass ein derartiger Vitaminmangel durch die Impfung bedingt sein könnte, ist nach den vorliegenden gutachterlichen und versorgungsärztlichen Einschätzungen nicht in Betracht zu ziehen, sodass es insofern keiner weiteren sachverständigen Äußerung bedurft hat.

- Selbst dann, wenn entgegen den obigen Ausführungen davon ausgegangen würde, dass die zeitnah nach der Impfung aufgetretene neurologische Symptomatik in einem kausalen Zusammenhang mit der Impfung stehen würde, könnte daraus keine Anerkennung eines Impfschadens resultieren. Denn als (einziger) potentieller Impfschaden kommt nach übereinstimmender Einschätzung aller Gutachter und Versorgungsärzte, auch des von der Klägerin nach § 109 SGG benannten Sachverständigen, allein ein Zustand nach Myelitis transversa infrage. Da aber eine Myelitis transversa nicht hinreichend wahrscheinlich durch einen Vitamin B 12-Mangel verursacht sein kann, könnte selbst dann, wenn die anfängliche vitaminmangelbedingte Symptomatik auf die Impfung zurückzuführen wäre, ein Impfschaden wegen der fehlenden Kausalität zwischen der im Februar/März vorliegenden neurologischen Symptomatik und der später aufgetretenen Myelitis transversa als Vorstufe zum Impfschaden, der in einem Zustand nach Myelitis transversa zu sehen wäre, nicht hinreichend wahrscheinlich gemacht werden. Irgendwelche anderen verbliebenen Folgewirkungen des Vitamin-B12-Mangels stehen nicht im Raum.

5. Keine Beiladung der Bundesrepublik Deutschland

Eine Beiladung hatte nicht zu erfolgen.

In der mündlichen Verhandlung am 06.12.2018 hat die Bevollmächtigte der Klägerin „gem. § 75 Abs. 2 Satz 2 SGG die Beiladung der BRD vertreten durch das Bundesministerium für Gesundheit zu dem vorliegenden Rechtsstreit mit der Aufforderung, dem Rechtstreit auf Seiten der Klägerin beizutreten“, beantragt. Da es die von der Bevollmächtigten zu Protokoll gegebene Vorschrift eines "§ 75 Abs. 2 Satz 2 SGG, die sie im Übrigen so auch in ihrem Schriftsatz vom 21.11.2018 angeführt hat, nicht gibt - § 75 Abs. 2 SGG beinhaltet keinen Satz 2 -, ist insofern unklar, ob damit eine notwendige Beiladung im Sinne des § 75 Abs. 2 bzw. Abs. 1 Satz 2 SGG beabsichtigt war oder eine einfache Beiladung im Sinne des § 75 Abs. 1 SGG. Eine Beiladung war aber unter keinem Gesichtspunkt geboten:

- Ein Fall einer notwendigen Beiladung im Sinne von § 75 Abs. 2 SGG lag nicht vor. Weder hat die Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung bestanden noch ist die Bundesrepublik Deutschland als anderer Leistungspflichtiger in Betracht gekommen.

- Eine Beiladung der Bundesrepublik Deutschland gemäß § 75 Abs. 1 Satz 2 SGG hatte nicht zu erfolgen, da dies die Bundesrepublik Deutschland selbst hätte beantragen müssen (vgl. Bayer. LSG, Urteil vom 25.09.2014, L 15 VK 3/13 - m.w.N.). Mit der gesetzlichen Regelung soll lediglich der Bundesrepublik Deutschland, die die Kosten des sozialen Entschädigungsrechts trägt, die Möglichkeit gegeben werden, Einfluss auf den Prozess zu nehmen (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders./Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § § 75, Rdnr. 9). Beantragt nur ein Beteiligter, nicht aber die Bundesrepublik Deutschland die Beiladung, muss eine Beiladung nicht erfolgen (vgl. Leitherer, a.a.O., § 75, Rdnr. 9a). Bei einem Antrag eines Beteiligten steht es im Ermessen des Gerichts, die Bundesrepublik Deutschland gemäß § 75 Abs. 1 Satz 1 SGG (einfach) beizuladen (vgl. BSG, Urteil vom 22.04.1965, 10 RV 375/63).

- Für eine solche einfache Beiladung im Sinne von § 75 Abs. 1 Satz 1 SGG hat der Senat keinen Anlass gesehen. Sofern die Bevollmächtigte der Klägerin der Meinung ist, es müsste einerseits eine Erleichterung für Kläger in Impfschadensstreitigkeiten durch eine Gesetzesänderung herbeigeführt werden und andererseits verstärkte Anstrengungen in eine Impfrisikoforschung gesetzt werden, was beides Aufgabe der Bundesregierung sei, ist dafür wegen der rein gesundheits- und rechtspolitischen Zielrichtung ein mit einer Einzelfallbeurteilung verbundenes impfschadensrechtliches Berufungsverfahren nicht der richtige Ort.

Die Berufung kann daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

Tenor

I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Oktober 2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung nach dem Impfschadensrecht gemäß §§ 60 ff Infektionsschutzgesetz (IfSG) hat.

Die 1978 geborene Klägerin, für die mit Bescheid vom 27.11.2013 ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 mit einem Einzel-GdB von 20 für eine Blutgerinnungsstörung festgestellt wurde, erhielt am 29.07.2010 und 13.03.2012 von ihrem Arzt Dr. F. jeweils eine Impfung gegen Hepatitis A mit dem Impfstoff Havrix(r) 1440.

Laut Befundbericht vom 07.03.2013 des Allgemeinarztes Dr. M. kam die Klägerin wegen Petechien am Bauch und am Oberschenkel am 06.08.2012 zu diesem. Dabei habe sich, so der Arzt, eine Thrombopenie gezeigt. Vom 07. bis 18.08.2012 wurde die Klägerin stationär im Klinikum P. behandelt. In dem Entlassungsbericht wurden unter anderem die Diagnosen Verdacht auf Idiopathische Thrombozytopenische Purpura, Morbus Werlhof, 08/12, Zustand nach Abrasio und Neurodermitis gestellt. Im Rahmen der Anamneseschilderung ist festgehalten, dass sich die Klägerin aktuell im Urlaub befinde und dass ihr aktuell Petechien im Bereich des Bauches aufgefallen seien, die sich zunehmend auch am Oberschenkel sowie an den Extremitäten ausbreiten würden. Infekt habe sie zuletzt keinen gehabt. Aktuell präsentiere die Klägerin keine Infektzeichen, der Allgemeinzustand sei stabil. Weiter wird in dem ärztlichen Bericht der Verdacht auf ein Uterusmyom (ca. 5,8 cm messbar) geäußert, von starken Regelblutungen berichtet und eine zeitnahe gynäkologische Vorstellung empfohlen. Von 23. bis 29.08.2012 wurde die Klägerin erneut im Klinikum P. behandelt. In dem ärztlichen Bericht des Klinikums vom 27.08.2012 wurde im Hinblick auf die Laborergebnisse bezüglich der Thrombozytenmessung ein „insgesamt diskreter Befund, vereinbar mit einer Autoimmunthrombozytopenie des manchmal akuten Typs, z.B. postinfektiös und reversibel gestellt. Auch in diesem Bericht findet sich die Diagnose Idiopathische Thrombozytopenische Purpura, Morbus Werlhof, 08/12. Am 17.09.2012 suchte die Klägerin ihren Frauenarzt Dr. B. wegen Hypermenorrhoe und Dauerblutung, wie dieser im Befundbericht vom 07.04.2015 mitteilte, auf.

Am 20.02.2013 beantragte die Klägerin beim Beklagten Versorgung nach dem IfSG, da sie an der Morbus Werlhof-Erkrankung infolge der Impfung vom 13.03.2012 leide. Erstmals habe sie ab April 2012 verstärkte Monatsblutungen und ab August 2012 eine Müdigkeit, Petechien und Hämatome bemerkt. Der Beklagte zog die Verwaltungsakte des Verfahrens nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch bei, wertete die o.g. Befundunterlagen aus und beauftragte Prof. Dr. K. mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 10.08.2013 fest, dass an der Diagnose einer immunthrombozytopenischen Purpura (Immunthrombozytopenie - ITP), akut im August 2012 aufgetreten, anhand der Befunde nicht gezweifelt werden könne. Da der schubweise Verlauf sechs Monate überschreite, sei definitionsgemäß von einer chronischen ITP zu sprechen, d.h. von Morbus Werlhof.

Zur Hepatitis A-Impfung schreibe die Ständige Impfkommission (STIKO) im Epidemiologischen Bulletin vom 22.06.2007, dass in Einzelfällen in der medizinischen Fachliteratur über das Auftreten von neurologischen Störungen sowie über Blutgerinnungsstörungen (Thrombozytopenische Purpura) berichtet worden sei, die im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung aufgetreten seien. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung sei bei diesen Beobachtungen fraglich, es könnte sich in der Mehrzahl dieser Einzelfallberichte, so die STIKO, um das zufällige zeitliche Zusammentreffen von miteinander nicht ursächlich verbundenen selbstständigen Ereignissen handeln. Prof. Dr. K. wies darauf hin, dass für die Minderzahl postvakzinaler thrombozytopenischer Fälle auch die (sehr zurückhaltende) STIKO ernsthaft einen ursächlichen Zusammenhang erwäge. Weiter machte der Sachverständige auf die Rote Liste 2012 aufmerksam, wo unter Nebenwirkungen von Havrix(r) 1440 unter anderem ausdrücklich eine Idiopathische Thrombozytopenische Purpura genannt werde.

Nach den Auswertungen der anamnestischen Angaben betrage das Intervall zwischen den ersten Symptomen einerseits und vorangegangener Infektionskrankheit bzw. Impfung eine bis drei (bis vier) Wochen; dies sei exakt die Spanne akzeptierter postvakzinaler Inkubationszeit auch für andere Impfschäden (speziell für die postvakzinale Polyneuropathie setze das Paul-Ehrlich-Institut ausnahmsweise eine Spanne von maximal 42 Tagen an). Im vorliegenden Fall der Klägerin reiche das Intervall vom 13.03.2012 bis Anfang August 2012 (erste Konsultation beim Hausarzt Dr. M. am 06.08.2012); damit sei jegliche Spanne akzeptierter oder denkbarer postvakzinaler Inkubationszeit weit überschritten. Vollursächlicher oder teilursächlicher oder gelegenheitsursächlicher Zusammenhang zwischen der angeschuldigten Hepatitis A-Impfung und Morbus Werlhof seien im vorliegenden Fall so gut wie sicher ausgeschlossen.

Weiter verwies Prof. Dr. K. auch auf den Befall mit Helicobacter pylori als möglicher Verursacher der Manifestationsprovokation eines Morbus Werlhof, was seit einiger Zeit diskutiert werde. Bei der Klägerin sei im August 2012 eine aktive Helicobacterinfektion nachgewiesen worden. Es könne diskutiert werden, dass diese Infektion im vorliegenden Fall die Manifestationsprovokation des Leidens verursacht habe.

Zusammenfassend hob Prof. Dr. K. hervor, dass nach gegebener Aktenlage so gut wie sicher keinerlei Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung bestehe.

Mit Bescheid vom 22.10.2013 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung sodann ab. Ein Impfschaden sei nicht gegeben.

Hiergegen erhob die Klägerin am 06.11.2013 Widerspruch. Zur Begründung wurde hervorgehoben, dass bei der Klägerin bereits Ende März 2012 sehr starke Regelblutungen aufgetreten seien. Ebenfalls hätten bereits am Körper kleine rote Einblutungen (Petechien) erkannt werden können, die die Klägerin fälschlicherweise zunächst einer Neurodermitis zugeordnet habe. Weiter wurde auf die Herstellerinformation von Havrix(r) 1440, wonach als Nebenwirkung eine erhöhte Neigung zu Blutungen oder zu Blutergüssen (Idiopathische Thrombozytopenische Purpura) auftreten würde, hingewiesen. Bei einer Routineuntersuchung im Januar 2012 habe die Klägerin 367.000 Thrombozyten gehabt, im August nur noch 7.000. Grund dafür, dass die Klägerin erst im August ärztliche Hilfe aufgesucht habe, sei, dass die Symptome bis dahin unspezifisch gewesen seien. Nachdem die Beschwerden sich zunehmend verschlimmert hätten (vermehrtes Schwitzen, Verschlechterung des Sehvermögens, gelegentlicher Schwindel), habe die Klägerin dann ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Es sei falsch, die erste Konsultation beim Hausarzt (06.08.2012) mit dem erstmaligen Auftreten von Symptomen gleichzusetzen.

Im Widerspruchsverfahren wurde noch ein Arztbericht des Medizinischen Versorgungszentrums am Klinikum P. vom 28.09.2012 ausgewertet, in dem keine Blutungen, jedoch leichte Hämatomneigungen, Petechien, chronische Müdigkeit und Erschöpfungszustand als Diagnosen gestellt wurden.

In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S. des Beklagten vom 20.01.2014 wurde von einer Idiopathischen Immunthrombozytopenischen Purpura (ITP) ohne erkennbare Ursache ausgegangen. Wenn die jetzt berichteten ersten Hauterscheinungen und die verstärkte Regelblutung Ende März 2012 bereits Ausdruck einer ITP gewesen wären, so Dr. S., wäre zwischen März und August 2012 keine beschwerdefreie Latenzzeit zu erwarten gewesen. Die zunehmenden Hautveränderungen, die im August 2012 in die Notaufnahme des Klinikums P. geführt hätten, wären bei ersten Anzeichen einer ITP bereits Ende März 2012 viel früher zu erwarten gewesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 04.02.2014 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde vor allem hervorgehoben, dass die Klägerin zwar angegeben habe, bereits zwei Wochen nach der Impfung (nämlich Ende März 2012) sehr starke Regelblutungen und am Körper kleine rote Einblutungen gesehen zu haben, dass aus den anamnestischen Angaben des Arztbriefes des Klinikums P. jedoch ersichtlich sei, dass der Klägerin erst im August 2012 Petechien im Bereich des Bauches aufgefallen seien, die sich zunehmend auf Oberschenkel und Extremitäten ausgebreitet hätten. Wenn die jetzt berichteten ersten Hauterscheinungen und die verstärkte Blutung Ende März 2012 bereits Ausdruck einer ITP gewesen wäre, wäre es zu einer entsprechend früheren stationären Krankenhausbehandlung gekommen; eine beschwerdefreie Latenzzeit wäre nicht zu erwarten gewesen.

Am 28.02.2014 hat die Klägerin hiergegen Klage zum Sozialgericht (SG) Landshut erhoben. Zur Begründung ist entsprechend der Widerspruchsbegründung vorgetragen und auf die von der Klägerin eingeholte Äußerung von Prof. Dr. K., Direktor des Instituts für Pathologie der Medizinischen Hochschule H-Stadt vom 28.10.2013 verwiesen worden, wonach angesichts der von der Klägerin geschilderten Symptome die Thrombozytopenie schon im März bestanden habe können, was ohne Kenntnis des klinischen Bildes aus der Ferne aber nicht sicher zu entscheiden sei. Die Dauer einer ITP in Wochen oder Monaten anzugeben, sei nicht möglich. Zudem hat die Klägerin über ihren Bevollmächtigten auf die Kongruenz zwischen dem Schadensverlauf und dem Wirkmechanismus von Havrix(r) 1440 verwiesen. Weiter ist hervorgehoben worden, dass zwischen März und August Symptome nicht gefehlt hätten. Vielmehr hätten sich die kurz nach der Impfung auftretenden Beschwerden zunehmend verschlechtert.

Zur Sachverhaltsermittlung hat das SG Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt, nämlich vom Hämatologen und Onkologen P. (13.02.2015), vom Frauenarzt Dr. B. (07.04.2015), vom Hausarzt Dr. M. (10.04.2015) und vom Internisten und Kardiologen Dr. J. (26.09.2012).

Sodann hat das SG Beweis erhoben und den Facharzt für Hämatologie und Onkologie Prof. Dr. O. (L-Universität M-Stadt) mit Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 23.09.2015 nach Untersuchung der Klägerin (vom 21.09.2015) hat der Sachverständige als Diagnosen „idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP)“, Morbus Werlhof, Autoimmunthrombozytopenie - Erstdiagnose 08/2012, Zustand nach Impfung mit Havrix(r) 1440, Neurodermitis, Asthma bronchiale, Adipositas, Zustand nach arterieller Hypertonie, Eradikationstherapie bei Helicobacter pylori-positivem Antigen in der Stuhlkultur 08/2012 gestellt. Unter Auswertung der vorliegenden medizinischen Unterlagen hat Prof. Dr. O. festgestellt, dass es unter der Kortikosteroidbehandlung zu einem raschen Anstieg der Thrombozytenwerte und Rückbildung der petechialen Einblutungen gekommen sei. Bei der durch ihn durchgeführten körperlichen Untersuchung der Klägerin habe diese keinerlei Blutungszeichen gezeigt.

Der Sachverständige hat dargelegt, dass für einen möglichen Zusammenhang zwischen der Impfung und der späteren Diagnose einer ITP spreche, dass laut Gebrauchsinformation des Impfstoffs eine ITP tatsächlich als mögliche Nebenwirkung beschrieben sei. In der Regel gehe er von einer chronischen ITP aus, wenn die erniedrigten Thrombozytenwerte mindestens über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten bestünden. Prof. Dr. O. hat jedoch ausdrücklich festgestellt, dass vorliegend jegliche Blutuntersuchungen und Verlaufskontrollen im Zeitraum vom 13.03.2012 bis 07.08.2012 (Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung einer Thrombozytopenie mit Werten von 7.000) fehlen würden. Insofern sei es schwierig festzustellen, ab wann die ITP bestanden habe. Der einzige Thrombozytenwert vor dem 07.08.2012 sei vom 03.01.2012 im Rahmen einer Routineuntersuchung (Wert 367.000). Die Schwierigkeit hinsichtlich der von der Klägerin vorgetragenen verstärkten Regelblutung und behaupteten Petechien ca. zwei Wochen nach der Impfung sei, dass der Inhalt dieser Aussagen nirgendwo dokumentiert sei. Weiterhin schwierig sei, dass sich der genaue Zeitpunkt des ersten Auftretens einer ITP nicht genau bestimmen lasse, also unklar sei, ob diese Wochen oder Monate nach dem vorausgegangenen Ereignis (der Impfung mit Havrix(r) 1440) aufgetreten sei.

Prof. Dr. O. hat festgestellt, dass es in der Gesamtschau der Befunde unwahrscheinlich sei, dass eine mögliche Thrombozytopenie die Ursache der von der Klägerin angegebenen starken Regelblutungen sowie Petechien bereits ca. zwei Wochen nach der Impfung darstelle. Sollten die Befunde der Klägerin tatsächlich auf eine mögliche Thrombozytopenie Ende März 2012 zurückzuführen sein, sei sehr unwahrscheinlich, dass danach die Thrombozytopenie (bis 07.08.2012) plötzlich verschwunden wäre, so der Gutachter. Hier hätte man aus klinischer Sicht weitere Beschwerden der Klägerin erwarten müssen im Sinne von weiteren Blutungszeichen.

Zudem hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass der Nachweis der Helicobacter pylori vom August 2012 von Bedeutung sei. Da bekannt sei, dass Helicobacter pylori bei einem Teil der Patienten mit ITP pathogenetisch für die ITP verantwortlich sei, müsse, so Prof. Dr. O., differenzialdiagnostisch auch die Helicobacter pylori-Infektion als mögliche Ursache für die ITP der Klägerin in Betracht gezogen werden.

Die Beschwerden der Klägerin seien auf die ITP zurückzuführen. Diese Diagnose könne dokumentiert frühestens auf den August 2012 datiert werden. Die von der Klägerin vorgetragenen Symptome (verstärkte Regelblutung, Petechien) Ende März 2012 könnten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf die ITP zurückgeführt werden, da die ITP zu diesem Zeitpunkt noch nicht diagnostiziert worden sei und aller Wahrscheinlichkeit auch nicht vorgelegen habe.

Eine wesentliche Mitursache der Hepatitis A-Impfung für das Auftreten der ITP könne nach den dargelegten Ausführungen weitgehend ausgeschlossen werden (Ausschluss mit mehr als 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit). Ein 100-prozentiger Ausschluss könne nicht gelingen, da im Zeitraum vom 13.03. bis 07.08.2012 keinerlei Blutbildkontrollen erfolgt seien. Dass die von der Klägerin vorgetragenen Beschwerden Ende März auf die ITP tatsächlich zurückzuführen seien, sei theoretisch denkbar, aber in der Zusammenschau „doch eher unwahrscheinlich“.

Sodann hat im Auftrag des SG gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Dr. H. am 05.09.2016 ein Gutachten erstellt. In seinem Gutachten stellte der Sachverständige fest, dass ab April 2012 verstärkte Regelblutungen aufgetreten seien und dass die Klägerin zu dieser Zeit auch die ersten petechialen Blutungen bemerkt habe. Wie deutlich diese frühen Blutungen ausgeprägt gewesen seien und ob sie sich auch vollständig zurückgebildet hätten, sei nicht in den Akten dokumentiert.

Unter anderem hat der Sachverständige auch das Krankheitsbild der Autoimmunthrombozytopenie bzw. Morbus Werlhof kurz zusammengefasst. Die ITP sei eine immunologisch vermittelte isolierte Thrombozytopenie, bei der Antikörper gegen die körpereigenen Thrombozyten gebildet würden. Bei 60 bis 80% der Patienten dieser Krankheit finde man mit modernen Untersuchungsmethoden Autoantikörper gegen Epitope. Die antikörperbeladenen Thrombozyten würden von Makrophagen und dendritischen Zellen z.B. in der Milz aufgenommen und abgebaut. In den allermeisten Fällen bleibe unklar, was bei der ITP die Immunreaktion gegen die Thrombozyten in Gang gesetzt habe.

Unter anderem hat der Sachverständige in seinem Gutachten auch hervorgehoben, dass eine ITP als seltene Impfkomplikation von Havrix(r) 1440 bekannt und in der Fachinformation auch beschrieben sei. Zudem hat er auf das Risiko der Entstehung einer Autoimmunerkrankung durch das als Adjuvans wirkende Aluminium aufmerksam gemacht.

Von entscheidender Bedeutung für die Frage der Kausalität sei die Frage nach dem ersten Auftreten von Symptomen der Erkrankung. In diesem Zusammenhang hat Dr. H. festgestellt, dass der Verlauf einer ITP unberechenbar sei; Verläufe mit relativ blandem Beginn seien nicht ungewöhnlich und die Beschreibung des Erkrankungsverlaufs durch die Klägerin somit plausibel. Unklar bleibe beim Betrachten der zeitlichen Abläufe der Beginn der Helicobacter pylori-Infektion. Diese sei erst im Rahmen des ersten Klinikaufenthalts im August 2012 festgestellt und behandelt worden. Wie lange diese Infektion schon bestanden habe, bliebe, so der Sachverständige, unklar. Für Autoimmunerkrankungen nach inaktivierten adjuvantierten Impfungen gebe es kein streng definiertes plausibles zeitliches Intervall. Orientierend an neurologischen unerwünschten Wirkungen nach Impfungen werde von vielen Experten ein Intervall von fünf bis 42 Tagen nach der angeschuldigten Impfung für plausibel betrachtet. Allerdings würde das plausible Zeitintervall auch deutlich weiter definiert und es werde die Ansicht vertreten, dass für autoimmune Erkrankungen nach Impfungen auch Intervalle von mehreren Monaten nicht unplausibel seien. Innerhalb dieses als plausibel geltenden Zeitfensters sei es bei der Klägerin also zu ersten Symptomen der ITP-Erkrankung im Sinne von petechialen Blutungen und verstärkten Regelblutungen gekommen.

Die unerwünschte Reaktion einer ITP sei nach der Hepatitis A-Impfung als bekannt zu betrachten. Es gebe plausible Hypothesen zur Pathophysiologie solcher Autoimmunreaktionen nach Impfungen.

Alternative Ursachen im Sinne von nachgewiesenen Infektionen oder anderen immunmodulatorischen Ereignissen zum Zeitpunkt des Beginns der Erkrankung Ende März bis Anfang April 2012 seien in den Akten nicht dokumentiert.

Bei der Klägerin liege nach den WHO-Kriterien mit Wahrscheinlichkeit eine Impfschädigung vor, die durch die verabreichten Impfungen verursacht worden sei. Das Kriterium des „gesicherten Zusammenhangs“ im WHO-Algorithmus verlange einen „positiven“ Reexpositionsversuch (d.h. durch eine nochmalige Impfung die Erkrankung erneut zu provozieren oder zu verstärken). In Anbetracht der Schwere der Erkrankung bei der Klägerin sei ein solches Vorgehen ethisch aber nicht vertretbar. Somit seien im Falle der Klägerin die Kriterien erfüllt, die von der WHO für die Feststellung eines wahrscheinlichen Zusammenhangs gefordert würden, nämlich ein plausibles zeitliches Intervall, eine plausible Hypothese zu Pathophysiologie und Bekanntheit der Reaktion und das Fehlen einer diagnostisch gesicherten anderen möglichen Auslösers einer Autoimmunreaktion im plausiblen Zeitintervall im Sinne einer Infektion.

Diese Bewertungskriterien seien derzeit weltweit medizinisch-wissenschaftlicher Standard bei der Einzelfallbewertung von Verdachtsfällen von unerwünschten Arzneimittelwirkungen und würden von Behörden wie z.B. dem Paul-Ehrlich-Institut und von Arzneimittelherstellern auch bei Impfstoffen verwendet. Diese Kriterien seien somit „der Goldstandard“ zur wissenschaftlichen Kausalitätsbewertung bei unerwünschten Wirkungen nach Impfstoffanwendungen. Die Kriterien seien transparent und würden eine Kausalitätsbewertung nachvollziehbar machen. Die vom BSG bzw. § 61 Satz 1 IfSG vorgegebene Art der Kausalitätsbewertung, wonach Kausalität dann gegeben sei, wenn wenigstens mehr für als gegen sie spreche, sei durchaus problematisch und bei vielen komplexen Verdachtsfällen von unerwünschten Wirkungen von Impfstoffen nicht wirklich anwendbar. Wenn man sich wissenschaftlich wirklich mit den Abläufen einer Impfkomplikation befasse, so sei die Forderung nach einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion sehr problematisch und entspreche keinesfalls dem aktuellen Kenntnisstand über immunologisch vermittelte Impfkomplikationen. Gerade die von Shoenfeld et al. 2010 etablierten Fälle adjuvansbedingter Autoimmunreaktionen nach Impfungen vermittelten eben keine unmittelbar erkennbare Primärschädigung, sondern verliefen nach einem symptomfreien Zeitintervall mit schleichendem Beginn einer schweren Erkrankung, bis zu deren Diagnosestellung dann wieder einige Zeit vergehe.

Sodann hat sich der Sachverständige mit den Vorgutachten auseinandergesetzt. Im Hinblick auf das Gutachten von Prof. Dr. K. und dessen Hinweis auf eine Helicobacter pylori-Infektion hat Dr. H. erneut darauf hingewiesen, dass unklar bleibe, ob diese zum Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens von Anzeichen einer Gerinnungsstörung Ende März und April 2012 bereits vorgelegen habe. Gesichert sei dagegen die zweite Hepatitis A-Impfung. Die Argumentation von Prof. Dr. K. zu den beschriebenen zeitlichen Abläufen sei nicht stichhaltig. Auch für andere Autoimmunerkrankungen werde im Paul-Ehrlich-Institut ein plausibles zeitliches Intervall von bis zu 42 Tagen nach der Impfung angewendet. Zum Gutachten von Prof. Dr. O. hat Dr. H. angemerkt, dass auch dessen Argumentation hinsichtlich des Intervalls nicht nachvollziehbar sei. Eine ITP könne mit Erscheinungen wie bei der Klägerin beginnen und erst nach Monaten zu schweren Blutungen führen. Ein solcher Verlauf sei in keiner Weise für eine Autoimmunerkrankung ungewöhnlich. Es sei also nicht nachvollziehbar, wenn gesagt werde, das etwa zweiwöchige Intervall zwischen Impfung der Klägerin und Auftreten der ersten Petechien mache eine durch die Impfung ausgelöste ITP unwahrscheinlich.

Zusammenfassend hat der Sachverständige festgestellt, dass bei der Klägerin eine unstreitige chronische thrombozytopenische Purpura vorliege und dass die Havrix(r) 1440-Impfung vom 13.03.2012 der wahrscheinliche Auslöser der ITP-Erkrankung der Klägerin sei. Die Impfschadensfolgen seien hier die rezidivierenden Thrombozytopenien mit Blutungen bei immunvermittelter chronischer thrombozytopenischer Purpura. Für die chronische und schwer therapierbare Autoimmunerkrankung mit zum Teil lebensbedrohlichen Gerinnungsstörungen sei ein GdS von 30 anzunehmen. Gegebenenfalls sollte bei einer Veränderung des Gesundheitszustands eine erneute Bewertung des GdS vorgenommen werden.

In der Stellungnahme vom 13.09.2016 hat sich die Klägerseite dem Gutachten von Dr. H. angeschlossen und den Kausalitätsnachweis als geführt angesehen. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Beklagten vom 07.10.2016 ist hervorgehoben worden, dass die Symptome einer Idiopathischen Thrombozytopenischen Purpura frühestens am 06.08.2012 nachgewiesen seien. In den Gutachten vom Prof. Dr. K. und Prof. Dr. O. sei das Intervall von knapp fünf Monaten zwischen Impfung und eindeutigem Nachweis hervorgehoben worden, das einen zeitlichen bzw. Ursachenzusammenhang unwahrscheinlich mache. Die von der Klägerin im Intervall genannte Symptomatik (Petechien, starke Regelblutungen) seien weiterhin, so die Sozialmedizinerin Dr. V., nicht belegt, sie seien offensichtlich auch nicht so ausgeprägt gewesen, dass eine ärztliche Konsultation erforderlich gewesen wäre. Gegen eine chronische Blutungsanämie spreche aber vor allem auch das im Normbereich gelegene Blutbild bei der Erstdiagnose im August 2012, so dass weiterhin ein plausibler zeitlicher Zusammenhang nach den derzeit gültigen und anerkannten Kriterien - Dr. V. ist von einem Zeitraum von fünf bis 42 Tagen ausgegangen - zwischen Impfung und Auftreten der Bluterkrankung nicht gegeben sei. Auf die hypothetische Begründung von Dr. H., die impfstoffunspezifischen Bestandteile, müsse deshalb nicht eingegangen werden.

Mit Urteil vom 24.10.2016 hat das SG sodann den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 22.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04.02.2014 verurteilt, die bei der Klägerin ab August 2012 nachgewiesene Idiopathische Thrombozytopenie als Folge der Hepatitis A-Impfung vom 13.03.2012 anzuerkennen und eine Versorgungsrente nach einem GdS von 30 ab 01.08.2012 zu gewähren. In der ausführlichen Begründung hat das SG ausgeführt, der Überzeugung zu sein, dass die Impfung mit Wahrscheinlichkeit eine mindestens gleichwertige Mitursache für die Entstehung der Idiopathischen Thrombozytopenie gewesen sei. Das SG ist in vollem Umfang dem „schlüssigen und nachvollziehbaren“ Gutachten von Dr. H. gefolgt. Nach den konstanten und von Anfang an durchgehend vorgetragenen Angaben der Klägerin gehe das SG davon aus, dass die ersten Zeichen einer Thrombozytopenie bereits ab April 2012 aufgetreten seien, also durchaus in engem zeitlichem Zusammenhang mit der streitigen Impfung. Der zeitliche Zusammenhang zwischen Impfung und Auftreten der Erkrankung spreche für einen Kausalzusammenhang und nicht dagegen, anders als die Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. O. annehmen würden. Insgesamt spreche mehr dafür als dagegen, dass die Impfung mit Wahrscheinlichkeit eine mindestens gleichwertige Ursache sei. Zum einen sei die Erkrankung bereits im Nebenwirkungsprofil des Impfstoffes erwähnt. Die Auflistung von Nebenwirkungen in der sog. Roten Liste sei keine juristisch vorbeugende Äußerung der Pharmaindustrie, sondern entspreche vielmehr klinischer Realität. Die Darstellung der Kausalzusammenhänge im Gutachten von Dr. H. sei für das Gericht nachvollziehbar. Es sei in der medizinischen Wissenschaft bekannt, dass Adjuvantien wie Aluminiumhydroxid oder Aluminiumphosphat auch zu unerwünschten immunologischen Reaktionen führen und in Einzelfällen sogar Autoimmunkrankheiten auslösen könnten. Bei der Thrombozytopenie handle es sich um eine Autoimmunerkrankung. Dr. H. habe seine Darstellung der Kausalzusammenhänge darüber hinaus mit hinreichender medizinischer Literatur belegt, so dass man nicht davon ausgehen könne, dass er nur seine eigene Sichtweise darstelle.)

Schließlich hat sich das SG auf die Entscheidung des Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) vom 31.07.2012 (Az. L 15 VJ 9/09) berufen, wonach es nicht schade, wenn die untypische Impfreaktion, d.h. die Primärschädigung, nicht allzu deutlich zu Tage getreten sei und sich der gesundheitliche Dauerschaden erst schleichend entwickelt habe und dann erst ab einer gewissen Dramatik der Symptome auffalle und diagnostiziert werde. Bei den im Falle der Thrombozytopenie auftretenden Symptomen handle es sich zunächst um funktionell kaum beeinträchtigende Auffälligkeiten, wie etwa eine verstärkte Regelblutung oder kleine Einblutungen an der Haut. Derartige Symptome würden, so das SG, die meisten Menschen nicht veranlassen, sofort zum Arzt zu gehen, weil sie diese als harmlos ansähen und weil auch auf Grund von fehlenden Schmerzen, fehlendem Krankheitsgefühl etc. kein dringender Anlass zu einem Arztbesuch bestehe. Vor diesem Hintergrund hat das SG die Auffassung vertreten, dass die Beweisanforderungen an den Nachweis der Primärschädigung nicht überspannt werden dürften. Bemerkenswert sei auch, dass nur in wenigen Fällen der Zusammenhang zwischen einer Autoimmunerkrankung und einer Impfung konkret nachgewiesen habe werden können, aber gerade zwischen einer Idiopathischen Thrombozytopenie und einer Masernimpfung nach einem Urteil des BayLSG vom 28.07.2011 (Az. L 15 VJ 8/09).

Schließlich hat das SG dargelegt, dass es von einem GdS von 30 überzeugt sei und hat hierbei auf die Bewertung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG), Anlage 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung, in Teil B, Ziff. 16.7 verwiesen.

Am 07.12.2016 hat der Beklagte gegen das Urteil Berufung zum BayLSG eingelegt und gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG beantragt, die Vollstreckung aus dem Urteil durch einstweilige Anordnung auszusetzen.

Zur Begründung hat er hervorgehoben, es sei letztlich nur Spekulation, dass Adjuvantien (Aluminimumverbindungen) zu unerwünschten immunologischen Reaktionen führen und in Einzelfällen sogar Autoimmunerkrankungen auslösen könnten; es gebe keine Studie, die von den weltweit maßgeblichen medizinisch-wissenschaftlichen Institutionen als glaubhafte Studienergebnisse gewertet würde, die einen solchen ursächlichen Zusammenhang bestätigen würden.

Weiter hat der Beklagte auf die Sachverständigengutachten von Prof. Dr. K. und Prof. Dr. O. und die dortige Argumentation mit dem zeitlichen Ablauf verwiesen. Widersprüchlich sei insoweit auch der Tenor des angefochtenen Urteils: Einerseits werde davon ausgegangen, dass die ersten Zeichen der Thrombozytopenie bereits ab April 2012 aufgetreten seien, andererseits werde der Nachweis aber erst ab August 2012 gesehen. Konsequenterweise hätte man (wegen des daraus folgenden Heilbehandlungsanspruchs) dann bereits ab April 2012 die Schädigungsfolge Thrombozytopenie nach dem IfSG anerkennen müssen, auch wenn ein hieraus resultierender GdS erst später eintrete.

Außerdem liege schon gar kein rentenberechtigender GdS von 30 vor. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 27.11.2013 nach dem SGB IX sei ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt worden, der jedoch nicht mit dem Gesamt-GdS gleichgesetzt werden könne, da die als Blutgerinnungsstörung bezeichnete Thrombozytopenie zeitlich nach dem im angefochtenen Urteil genannten Zeitpunkt bestandskräftig mit einem Einzel-GdB von nur 20 bewertet sei. (Mit Beschluss vom 25.01.2017 hat der Senat die Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil des SG abgelehnt (Az. L 15 VJ 8/16 ER).)

Mit Schriftsatz vom 20.12.2016 hat die Klägerin die Zurückweisung der Berufung beantragt und erneut hervorgehoben, dass sich die ersten Anzeichen einer negativen Reaktion auf den Impfstoff nicht erst Monate nach der Impfung, sondern bereits kurze Zeit danach gezeigt hätten. Zudem sei die Erkrankung eine bekannte Nebenwirkung des Impfstoffs. Eine Bindung des SG an die GdB-Feststellung bestehe nicht.

Im Erörterungstermin des Senats vom 31.07.2018 hat die Klägerin folgende Angaben gemacht:

„Ab April 2012 habe ich verstärkte Regelblutungen bemerkt, die durchgehend jedenfalls bis August 2012 bestanden. Zusätzlich habe ich rote Pünktchen an meinen Oberarmen und an meinem Bauch bemerkt, von denen ich allerdings angenommen habe, dass sie von der Neurodermitis kämen. Diese Pünktchen sind dann geblieben, erst im August haben sie sich verstärkt.“

Weiter hat sie darauf hingewiesen, dass sich bei der Untersuchung im August 2012 gezeigt habe, dass ihr Körper bereits auf die Thrombozytopenie reagiert habe, was sich aus dem Bericht des Klinikums P. vom 13.08.2012 ergebe. Ansonsten gebe es jedoch, so die Klägerin, keine Nachweise für die bemerkten Reaktionen, insbesondere auch keine Arztberichte. Die Abrasio habe ca. 2007 stattgefunden. Das vermehrte Schwitzen, die Sehstörung und gelegentlicher Schwindel seien erst nach der Kortisonbehandlung, also im August 2012 aufgetreten.

Hinsichtlich der „Langzeitwirkungen“ der Thrombozytopenie hat die Klägerin erklärt, schnell erschöpft zu sein und bei Infekten vermehrte Einblutungen zu bemerken. Die leichte Erschöpfbarkeit schlage sich auch auf die Psyche. Seit 2014 sei sie ca. alle drei bis vier Monate beim Hausarzt zur Blutkontrolle gewesen, in den Jahren zuvor noch öfter. Sie habe (neben Kolostrum) nicht regelmäßig Medikamente eingenommen. Allerdings habe sie im Fall einer zu geringen Thrombozytenzahl Kortison eingenommen, was ca. einmal im Jahr der Fall gewesen sei; für Notfälle habe sie auch immer das Medikament Dexamethason dabei.

In einer weiteren Stellungnahme ist von der Klägerseite erneut auf das Gutachten von Dr. H. eingegangen worden. Dieser habe sich auch zu möglichen Alternativursachen durch die diagnostizierte Helicobacter pylori-Infektion geäußert. Klägerseits werde daher davon ausgegangen, dass diese Infektion nicht Ursache der ITP sei, sondern dass „vielmehr Helicobacter pylori-Infektion eine Begleiterscheinung der ITP“ sei. Im Rahmen der Amtsermittlung sei eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. H. zu der Frage, ob als Alternativursache für die bei der Klägerin bestehende ITP die diagnostizierte Helicobacter-Infektion in Frage komme oder ob die Havrix(r) 1440-Impfung vom 13.03.2012 der hinreichend wahrscheinliche Auslöser der ITP-Erkrankung der Klägerin sei, einzuholen. Weiter hat die Klägerseite betont, dass die vom 15. Senat wiederholt angenommene Beweiserleichterung hinsichtlich des Nachweises der Primärschädigung gerade im Lichte von nach Impfungen auftretenden Autoimmunerkrankungen sachgerecht und nicht zu beanstanden sei. Entgegen der Einschätzung des 20. Senats des BayLSG widerspreche diese Sichtweise auch nicht dem Willen des Gesetzgebers und verstoße somit auch nicht gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz. Schließlich hat die Klägerseite unter anderem nochmals darauf hingewiesen, dass der Krankheitsverlauf der Klägerin für eine ITP-Erkrankung typisch schleichend verlaufen sei. Auf Grund der Auswirkung der ITP in allen Lebensbereichen der Klägerin sei ein GdS in Höhe von 30 zustandsgerecht. In dem Schriftsatz hat der Klägerbevollmächtigte auch die Leitlinie zur ITP, Empfehlungen der Fachgesellschaft zur Diagnostik und Therapie hämatologischer und onkologischer Erkrankungen, vorgelegt. Zahlreiche Publikationen, so der Text der Leitlinie, beschrieben eine Assoziation zwischen ITP und Helicobacter pylori-Infektionen der Magenschleimhaut.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 25.09.2018 ist darauf hingewiesen worden, dass das Gericht keine sachverständige Stellungnahme von Prof. Dr. O. oder Dr. H. mehr einholen werde und dass auch einem Antrag gemäß § 109 SGG, da das Antragsrecht bereits verbraucht sei, nicht nachgekommen werden würde. Dr. H. habe bereits selbst zur Frage der Alternativursache bezüglich der Helicobacter-Infektion Stellung genommen.

In den versorgungsmedizinischen Stellungnahmen des Internisten Dr. B. vom 06.09.2018 und 18.10.2018 ist bestätigt worden, dass differenzialdiagnostisch die Helicobacter pylori-Infektion als wahrscheinliche Ursache für die ITP in Betracht gezogen werden müsse, da diese bei der Klägerin auch sicher nachgewiesen sei. Zum anderen ist unter anderem auf den bronchialen Infekt der Klägerin vom 05.01.2012 als mögliche(r) Trigger und Ursache der ITP hingewiesen worden.

Mit Schreiben vom 29.10.2018 haben die Beteiligten sodann gerichtliche Hinweise erhalten. Auf die Anfrage des Gerichts hat die Klägerin am 21.11.2018 erklärt, dass ihrerseits Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren bestehe, wenn auch der Antrag, eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. H. einzuholen, aufrechterhalten werde. Am 06.11.2018 hat der Beklagte sein Einverständnis erklärt und dieses am 12.03.2019 wiederholt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Oktober 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. H. einzuholen, ob als Alternativursache für die bei der Klägerin bestehende ITP die diagnostizierte Helicobacter-Infektion in Frage kommt oder ob die Havrix(r) 1440-Impfung vom 13.03.2012 der hinreichend wahrscheinliche Auslöser der ITP-Erkrankung der Klägerin ist.

Der Senat hat die erstinstanzliche Akte des SG sowie die Impfschadensakte des Beklagten zum Verfahren beigezogen, auf deren Inhalt sowie auf den Inhalt der streitgegenständlichen Berufungsakte im Übrigen zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen wird. Sämtlicher Inhalt war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Gründe

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG.

Die zulässige Berufung ist begründet.

Das SG hat zu Unrecht der Klage entsprochen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung der Idiopathischen Thrombozytopenie als Folge der am 13.03.2012 erfolgten Impfung mit dem Impfstoff Havrix(r) 1440 gegen Hepatitis A und auf Gewährung einer Versorgungsrente (nach einem GdS von 30) ab 01.08.2012.

Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 22.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.02.2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG liegen nicht vor, weil es vorliegend schon am Nachweis des Primärschadens, also einer Impfkomplikation, fehlt. Zudem ist auch keine Kausalität gegeben.

1. Das Begehren der Klägerin beurteilt sich nach dem IfSG, weil der Antrag vom 20.02.2013 zu einem Zeitpunkt gestellt worden ist, als das - das Bundesseuchengesetz ohne Übergangsvorschrift ablösende (vgl. Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften vom 20.07.2000, BGBl. I, S. 1045) - IfSG (seit dem 01.01.2001) in Kraft war (vgl. BSG, Urteil vom 20.07.2005 - B 9a/9 VJ 2/04 R).

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, gesetzlich vorgeschrieben war oder auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.

Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Die Anerkennung als Impfschaden setzt eine dreigliedrige Kausalkette voraus (ständige Rspr., vgl. BSG, z.B. Urteile vom 25.03.2004 - B 9 VS 1/02 R, und vom 16.12.2014 - B 9 V 3/13 R, und das Urteil des Senats v. 11.07.2017 - L 15 VJ 6/14, m.w.N.): Ein schädigender Vorgang in Form einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), muss zu einer „gesundheitlichen Schädigung“ (2. Glied), also einem Primärschaden (d.h. einer Impfkomplikation) geführt haben, die wiederum den „Impfschaden“, d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also den Folgeschaden (3. Glied) bedingt.

Diese drei Glieder der Kausalkette müssen - auch im Impfschadensrecht - im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteile vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - und vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R; BayLSG, Urteil vom 25.07.2017 - L 20 VJ 1/17; Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2014 - L 1 VE 12/09; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.2016 - L 13 VJ 19/15). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92).

a. In seiner früheren Rspr. hat der Senat im Ergebnis auf das Erfordernis des Vollbeweises beim Primärschaden verzichtet (Urteil vom 31.07.2012 - L 15 VJ 9/09) und dazu u.a. ausgeführt:

„Es wäre allerdings realitätsfremd, in jedem impfschadensrechtlichen Fall zu verlangen, es müsse eine deutlich wahrnehmbare und fixierbare Primärschädigung festgestellt werden. Allgemein dient die Dreigliedrigkeit dazu, bestimmte Geschehnisabläufe bereits auf einer Vorstufe der Prüfung „auszusondern“ und das Fehlen kausaler Zusammenhänge leichter erkennen zu können. Je mehr sich die Kausalitätsprüfung in gedankliche Zwischenschritte „zerlegen“ lässt, desto objektivierbarer kann der Geschehnisablauf rechtlich aufgearbeitet werden (vgl. Kunze, Kausalität in der gesetzlichen Unfallversicherung, VSSR 2005, S. 299 <302>). Diese Differenzierung ist aber dann nicht möglich, wenn die Schädigung, also der (erste) Eingriff in das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, nicht deutlich zu Tage tritt, sondern wie hier im Verborgenen erfolgt (a.A. wohl Meßling in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 60 IfSG, Rn. 62). Zweifellos ist in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung schwieriger, weil sich der Verursachungspfad nicht klar abzeichnet. Dennoch darf nicht per se wegen der Nichterkennbarkeit einer Primärschädigung am Rechtsgut der körperlichen Gesundheit die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs negiert werden. Vielmehr muss der Zusammenhang zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen „Etappe“ beurteilt werden (vgl. LSG Bayern, Breithaupt 2012, S. 51 <56>).“

b. An dieser Rechtsprechung hält der Senat mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben und die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht mehr fest (vgl. das Urteil des Senats vom 11.07.2017 - L 15 VJ 6/14, in dem die Frage ausdrücklich offen gelassen wurde). So geht das BSG in ständiger Rechtsprechung (vgl. z.B. den Beschluss vom 29.01.2018 - B 9 V 39/17 B) davon aus, dass der Primärschaden im Vollbeweis nachgewiesen sein muss. Es hat hierzu im Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, Folgendes ausgeführt:

„Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr. 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm. 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.“

Wie der 20. Senat des BayLSG festgestellt hat (Urteil vom 25.07.2017 - L 20 VJ 1/17) entspricht dies auch der Rechtsprechung im wesensverwandten Rechtsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung. Auch dort ist der Nachweis des unmittelbar nach dem schädigenden Vorgang vorliegenden Gesundheitsschadens, dort auch „Erstschaden“ genannt, im Vollbeweis zu führen (Urteile des BSG vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R - und B 2 U 23/11 R: „Die den Versicherungsschutz in der jeweiligen Versicherung begründende ´Verrichtung´, die (möglicherweise dadurch verursachte) ´Einwirkung´ und der (möglicherweise dadurch verursachte) ´Erstschaden´ müssen (vom Richter im Überzeugungsgrad des Vollbeweises) festgestellt sein“).

Der Senat sieht entsprechend der Rechtsprechung des BSG und des 20. Senats des BayLSG eine „irgendwie geartete Beweiserleichterung beim Primärschaden“, eine Beurteilung „des Zusammenhangs zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen Etappe“ anhand von „Mosaiksteinen“, die den Nachweis des Primärschadens im Vollbeweis als „realitätsfremd“ und damit verzichtbar erscheinen lassen würden, als nicht angezeigt an. Die Anerkennung eines Impfschadens unter reduzierten Beweisanforderungen zu ermöglichen, bliebe dem Gesetzgeber vorbehalten; hierzu müssten die gesetzlichen Vorgaben geändert werden.

Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Regeln der Beweislast zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs auf ihr Vorliegen stützt.

Demgegenüber reicht es für den zweifachen ursächlichen Zusammenhang der drei Glieder der Kausalkette nach § 61 Satz 1 IfSG aus, wenn dieser jeweils mit Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Die Beweisanforderung der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - in Aufgabe der früheren Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 24.09.1992 - 9a RV 31/90, die für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität noch den Vollbeweis vorausgesetzt hat) als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.

Eine potentielle, versorgungsrechtlich geschützte Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977 - 10 RV 15/77), also mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSG, Urteile vom 19.08.1981 - 9 RVi 5/80, vom 26.06.1985 - 9a RVi 3/83, vom 19.03.1986 - 9a RVi 2/84, vom 27.08.1998 - B 9 VJ 2/97 R - und vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort „hinreichend“ nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rdnr. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 26.11.1968 - 9 RV 610/66, und vom 07.04.2011, a.a.O.).

Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der versorgungsrechtlichen Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 08.08.1974 - 10 RV 209/73) rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Während die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (vgl. z.B. BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - und vom 30.01.2007 - B 2 U 8/06 R) demgegenüber den Begriff der „annähernden Gleichwertigkeit“ für nicht geeignet zur Abgrenzung hält, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich ansieht, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von überragender Bedeutung ist, hat der für das soziale Entschädigungsrecht zuständige 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.12.2014 (B 9 V 6/13 R) zur annähernden Gleichwertigkeit festgelegt, dass diese dann anzunehmen ist, wenn eine vom Schutzbereich des BVG umfasste Ursache in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen. Die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinn als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, ist im jeweiligen Einzelfall aus der Auffassung des praktischen Lebens abzuleiten (vgl. BSG, Urteil vom 12.06.2001 - B 9 V 5/00 R).

Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsschäden zu erfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R).

Kann eine Aussage zu einem (hinreichend) wahrscheinlichen Zusammenhang nur deshalb nicht getroffen werden, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kommt die sogenannte Kannversorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG in Betracht. Von Ungewissheit ist dann auszugehen, wenn es keine einheitliche, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG von der Beurteilung auf dem Boden der „Schulmedizin“ (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.1998 - B 9 VJ 2/97 R). Aber auch bei der Kannversorgung reicht allein die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das BSG spricht hier auch von der „guten Möglichkeit“ eines Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 12.12.1995 - 9 RV 17/94 - und vom 17.07.2008 - B 9/9a VS 5/06). In einem solchen Fall liegt eine Schädigungsfolge dann vor, wenn bei Zugrundelegung der wenigstens einen wissenschaftlichen Lehrmeinung nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nachgewiesen ist (vgl. Bayer. LSG, Urteile vom 19.11.2014 - L 15 VS 19/11, vom 21.04.2015 - L 15 VH 1/12, vom 15.12.2015 - L 15 VS 19/09 - und vom 26.01.2016 - L 15 VK 1/12). Existiert eine solche Meinung überhaupt nicht, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein, dass ein Zusammenhang nicht hergestellt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.1993 - 9/9a RV 41/92).

Lässt sich der Zusammenhang nicht (hinreichend) wahrscheinlich machen und auch nicht über die Kannversorgung herstellen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf das Vorliegen des Zusammenhangs stützen möchte, also des Anspruchsstellers. Das BSG hat in seiner jüngsten Rechtsprechung Beweiserleichterungen auch in den Fällen besonders schwieriger Nachweiserbringungen (wie hinsichtlich der Blindheit bei zerebralen Schäden) eine eindeutige Absage erteilt (vgl. z.B. Urteil vom 14.06.2018 - B 9 BL 1/17 R).

2. Unter Anwendung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall schon der Primärschaden nicht nachgewiesen. Darauf, dass es (auch) hierauf ankommt, hat der Senat die Klägerin im Übrigen bereits im Erörterungstermin vom 31.07.2018 hingewiesen, was der Bevollmächtigte in seinem Schriftsatz vom 18.09.2018 bestätigt hat.

Zu konkretisieren bleibt, was im vorliegenden Fall für den Nachweis des Primärschadens zu verlangen ist.

a. Nach der oben genannten Definition geht es dabei um eine gesundheitliche Schädigung als 2. Glied der Kausalkette, also um einen Primärschaden (Impfkomplikation), die, um einen Zusammenhang zu vermitteln, die dauerhafte gesundheitliche Schädigung (also den Folgeschaden) bedingen muss. Als Schädigung in diesem Sinne anzusehen ist - entsprechend den insoweit nachvollziehbaren Darlegungen des Sachverständigen Dr. H., der im Einzelnen zur Entstehung der ITP ausgeführt hat - somit die Bildung von Antikörpern gegen die körpereigenen Thrombozyten. Folglich ist ein Auftreten der Blutung bzw. der Einblutungen nicht der Primärschaden, weil diese nur das Zeichen bzw. die Folge der gegen Epitope gebildeten Antikörper sind, jedoch nicht die dauerhafte gesundheitliche Schädigung (3. Glied) bedingen können. Ein Primärschaden ist also vorliegend nicht nachgewiesen, da eine Bildung von Antikörpern vor August 2012 in keinem Fall belegt ist.

b. Andererseits ist jedoch auch denkbar, den Begriff des Primärschadens weiter zu definieren, nämlich als „denjenigen Schaden, der sich als direkte Folge aus der Impfung ergibt“ (vgl. z.B. Meßling, in: Knickrehm, a.a.O., Rn. 62) darunter auch all die Reaktionen zu berücksichtigen, die „über das übliche Maß einer Folgereaktion“ hinausgehen (a.a.O.), und somit auch äußere Anzeichen genügen zu lassen.

Doch auch danach ist vorliegend ein Primärschaden nicht nachgewiesen. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem plausiblen und überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. O. und dem gesamten insoweit in Übereinstimmung stehenden ärztlichen Befundberichten und ferner aus dem vom Beklagten eingeholten Gutachten von Prof. Dr. K.. Der Senat macht sich nach eigener Prüfung diese sachverständigen Feststellungen zu eigen.

Nach der plausiblen Feststellung von Prof. Dr. O. liegt bei der Klägerin eine ITP, Morbus Werlhof, vor. Die Beschwerden im Sinne erhöhter Blutungsneigung, Hämatomen und Petechien, wie am 07.08.2012 festgestellt, sind eindeutig auf diese Diagnose zurückzuführen.

Ein erstmaliges Auftreten von Antikörpern, Petechien und verstärkten Regelblutungen im August 2012 stellt aufgrund des zu großen zeitlichen Abstands zur Impfung keine Impfkomplikation dar. Wie sich aus der gesamten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats ergibt, ist der Abstand von weit über 42 Tagen zu groß. Als plausibles Zeitintervall für die von der Klägerin vorgetragene pathologischen Immunreaktion nach Impfstoffanwendung sieht der Senat danach einen Zeitraum bis maximal 42 Tagen an. Selbst Dr. H. verweist auf dieses Intervall unter Bezugnahme auf entsprechende Annahmen des Paul-Ehrlich-Instituts (Seite 18 des Gutachtens) und bezeichnet lediglich die weitere Definition durch einzelne Autoren als plausibel, ohne dies jedoch näher zu begründen.

Dass jedoch schon früher Symptome aufgetreten wären, ist entsprechend den fundierten Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. O. nicht nachgewiesen. Das von der Klägerin behauptete Auftreten bereits ca. zwei Wochen nach der Impfung wäre nicht mit der Tatsache vereinbar, dass es dann danach zu einem plötzlichen und anhaltenden Sistieren der Blutungszeichen bzw. zum Verschwinden der Thrombozytopenie bis 07.08.2012 gekommen wäre, was medizinisch-wissenschaftlich kaum so gut wie nicht erklärbar wäre. Wie der Sachverständige nachvollziehbar festgestellt hat, hätte die Thrombozytopenien als Ursache der von der Klägerin benannten Beschwerden (starke Regelblutungen sowie Petechien) eigentlich schon vor der Impfung auftreten müssen, um die von der Klägerin behauptete erhöhte Blutungsneigung bereits Ende März 2012 zu verursachen.

Insbesondere hat die Klägerin selbst bestätigt, dass es keine objektiven Nachweise dafür gibt, dass Blutungszeichen bereits kurze Zeit nach der Impfung, d.h. bereits Ende März/Anfang April 2012 aufgetreten sind. Davon abgesehen, dass nicht ausgeschlossen erscheint, dass die verstärkte Regelblutung auch auf anderen - gynäkologischen - Ursachen beruhen könnte, konnten die verstärkte Regelblutung und auch die anderen Einblutungen weder von anderen Personen bestätigt noch sonst objektiviert werden. Vielmehr geht aus dem Untersuchungsbericht des Klinikums P. vom 13.08.2012 hervor, dass die Klägerin nur von aktuellen verstärkten Blutungszeichen berichtet hat, was gerade gegen ein Auftreten der Beschwerden bereits vier Monate zuvor spricht. Im Übrigen ist das lange Zuwarten der Klägerin auch nicht, wie von ihr dargestellt, mit der irrigen Annahme anderer Gesundheitsstörungen erklärbar. Dass die Klägerin erst vier Monate später (im August) überhaupt ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hat und erst im September 2012 einen Frauenarzt aufgesucht hat, auf der anderen Seite aber (in der Widerspruchsbegründung) ausdrücklich sogar „sehr starke Regelblutungen“ bereits kurz nach der Impfung angegeben hat, die sich „zunehmend verschlechtert“ hätten, und deutliche Einblutungen wahrgenommen haben will, erscheint kaum nachvollziehbar.

Wie zudem der Beklagte durch den Internisten Dr. B. (s.o.) plausibel dargelegt hat, wäre bei der Klägerin im Falle der angegebenen „sehr starken“ Regelblutungen ein erniedrigter Hämoglobinwert zu erwarten gewesen; trotz der von der Klägerin (z.B. im o.g. Erörterungstermin) behaupteten über Monate hinweg bestehenden diesbezüglichen Beschwerden und auch der Petechien, lag dieser Wert Anfang/Mitte August 2012 jedoch noch im Normbereich (s. Anlage zum Ärztlichen Bericht des Klinikums P. v. 13.08.2012); ein Hämoglobinabfall trat nicht ein.

Im Übrigen sind die Angaben der Klägerin bzgl. der aufgetretenen Beschwerden auch nicht konsistent.

So hat die Klägerin in ihrem Antrag auf Versorgung angegeben, ab Juli 2012 Petechien und Hämatome bemerkt zu haben. Im Erörterungstermin des Senats hat sie dagegen erklärt, bereits ab April 2012 rote Pünktchen (an Oberarmen und Bauch) wahrgenommen zu haben, die dann geblieben seien und sich erst später verstärkt hätten. In der Klagebegründung wiederum ist formuliert worden, dass sich die kurz nach der Impfung auftretenden Beschwerden zunehmend verschlechtert hätten, was auf eine eher bald beginnende, kontinuierliche Verschlechterung schließen lassen dürfte.

Die Beschwerden vermehrtes Schwitzen, Verschlechterung des Sehvermögens und gelegentlicher Schwindel hat die Klägerin in ihrer Widerspruchsbegründung als Grund dafür angegeben, dass sie dann (im August 2012) ärztliche Hilfe in Anspruch genommen habe. Im Erörterungstermin hat sie dagegen ausdrücklich berichtet, dass diese Beeinträchtigungen erst nach der Behandlung (mit Kortison) im August 2012 aufgetreten seien.

Soweit der gem. § 109 SGG beauftragte Sachverständige Dr. H. in seinem Gutachten feststellt, dass ab April 2012 verstärkte Regelblutungen aufgetreten seien und dass die Klägerin zu dieser Zeit auch die ersten petechialen Blutungen bemerkt habe (und dass der Ausprägungsgrad dieser frühen Blutungen nicht dokumentiert sei), kann der Senat nur feststellen, dass der Gutachter keinerlei objektiven Belege hierfür nennt und sich letztlich ausschließlich auf die Angaben der Klägerin verlässt.

Auch hinsichtlich des fraglichen Zeitintervalls ist nach Auffassung des Senats dem Sachverständigen Dr. H. nicht zu folgen. Wenn er feststellt, dass eine ITP mit Erscheinungen wie bei der Klägerin beginnen und erst nach Monaten zu schweren Blutungen führen könne und dass ein solcher Verlauf in keiner Weise für eine Autoimmunerkrankung ungewöhnlich sei und dass das etwa zweiwöchige Intervall zwischen Impfung und Auftreten der ersten Einblutungen eine durch die Impfung ausgelöste ITP nicht unwahrscheinlich mache, ist festzustellen, dass dies den Senat nicht überzeugen kann. Denn abgesehen davon, dass der Sachverständige insoweit keinerlei Beleg liefert, trifft er auch den Fall der Klägerin nicht, da diese - wie dargelegt - u.a. gerade angegeben hat, dass bereits kurze Zeit nach der Impfung sehr starke Blutungen erfolgt seien.

Auch wenn also nicht in vollem Umfang ausgeschlossen werden kann, dass entsprechende Krankheitsphänomene bei der Klägerin (bereits) zeitnäher zur angeschuldigten Impfung aufgetreten sein könnten, ist dies nach Überzeugung des Senats insbesondere unter Bezugnahme auf das plausible Sachverständigengutachten von Prof. Dr. O. bei Weitem nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen.

3. Selbst wenn man, wovon der Senat wie ausführlich dargelegt nicht ausgeht, einen Primärschaden annehmen würde, wäre die Anerkennung eines Impfschadens vorliegend dennoch nicht möglich. Denn die bei der Klägerin vorliegende ITP ist zur Überzeugung des Senats nicht mit Wahrscheinlichkeit im o.g. Sinn auf die Impfung mit dem Impfstoff Havrix(r) 1440 zurückzuführen. Auch dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere aus dem überzeugenden Sachverständigengutachten von Prof. Dr. O. und auch aus dem Gutachten von Prof. Dr. K..

a. Der Senat verkennt nicht, dass die bei der Klägerin vorliegende Krankheit durchaus eine mögliche Nebenwirkung des Impfstoffs darstellt. Dies erlaubt jedoch nicht den zwingenden Rückschluss darauf, dass eine andere Ursache nicht in Betracht käme. Denn auch die Anführung einer Erkrankung unter den Nebenwirkungen in Medizinprodukte-Informationen wie dem Beipackzettel eines Impfstoffs lässt keineswegs den Rückschluss zu, dass ein Kausalzusammenhang (gesichert) besteht (z.B. Friedrich/ Friedrich, Kausalzusammenhang zwischen Impfungen und multipler Sklerose, ZESAR 2017, 491 <403>, m.w.N.).

b. Vor allem ergibt sich aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme für den Senat, dass die Verursachung der ITP durch die Helicobacter pylori-Infektion - ungeachtet der weiteren denkbaren Assoziationen zwischen der ITP und der Infektion - wahrscheinlich ist. Der Senat geht davon aus, dass insoweit - entsprechend dem Hinweis von Dr. H. - im Unklaren bleibt, wann die Infektion genau stattgefunden hat. Wie oben dargelegt, gilt anderes jedoch auch nicht für die aufgetretenen Blutungszeichen etc. Während der genannte Sachverständige im Hinblick auf die Impfkomplikation anscheinend aus einem großzügigen Blickwinkel argumentiert, rückt er den zeitlichen Zusammenhang bzgl. der genannten Infektion in den Mittelpunkt; eine unterschiedliche Betrachtungsweise, die aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse jedoch nicht gerechtfertigt ist. Vor allem hält der Senat die Argumentation des Sachverständigen nicht für vertretbar, dass unklar bleibe, ob die Helicobacter pylori-Infektion zum Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens von verstärkten Blutungen und Petechien bereits vorgelegen habe, die „zweite Hepatitis A-Impfung jedoch gesichert“ sei. Denn damit wird der Blick von dem eigentlichen Problem abgelenkt, dass nämlich gerade der Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens der Gesundheitsstörungen unklar bleibt und alles andere als sicher ist. Aus Sicht des Senats besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Infektion, die - wie Dr. B. in der Stellungnahme am 06.09.2018 plausibel hervorgehoben hat - sehr häufig unbemerkt verläuft und mit wenigen bzw. unspezifischen Beschwerden auf sich aufmerksam macht, „zeitlich passend“ vorgelegen hat und die Ursache für die Gesundheitsstörungen der Klägerin ist. Weshalb die Helicobacter pylori-Infektion keine tragfähige konkurrierende Ursache darstellen sollte, wie das SG ausgeführt hat, erschließt sich dem Senat mit Blick auf die durchgeführte Beweisaufnahme nicht.

c. Weiter erscheint auch denkbar, dass, worauf der Beklagte nachvollziehbar hingewiesen hat, der bronchiale Infekt der Klägerin Anfang Januar 2012 zur Triggerung und Entstehung der ITP beigetragen hat.

d. Schließlich gelingt der Kausalitätsnachweis auch nicht durch den von Dr. H. erbrachten Hinweis auf angeblich schädigende Wirkungen des Adjuvans Aluminium. Bei Zusatzstoffen, die Aluminium enthalten, handelt es sich um minimale Mengen. Impfbedingte neurologische Schadensvermutungen beim Menschen sind (bisher) reine Spekulation (vgl. Urteil des BayLSG vom 18.05.2017 - L 20 VJ 5/11 mit Verweis auf LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.05.2016 - L 4 VJ 1/14; siehe hierzu auch die Senatsurteile vom 14.02.2012 - L 15 VJ 3/08 - und 28.07.2011 - L 15 VJ 8/09). Im Vergleich zur Aufnahme über Trinkwasser, Lebensmittel oder Antazida ist die Aufnahme von Aluminium mit Adjuvantien in Impfstoffen gering. Sie liegt deutlich unter dem TDI-Wert (tolerable daily intake) für Aluminium, der Menge, die täglich ein Leben lang ohne gesundheitsschädliche Wirkung aufgenommen werden kann (a.a.O.). Die vom Paul-Ehrlich-Institut vorgenommene und im Bulletin zur Arzneimittelsicherheit (Ausgabe 3, September 2015) veröffentlichte aktuelle Sicherheitsbewertung, die eine mögliche Verursachung von Impfschäden durch Aluminiumverbindungen als Adjuvantien in Impfstoffen zum Gegenstand hat, ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es aus klinischen Studien und aus der Spontanerfassung von Nebenwirkungen in Deutschland kein Signal zu aluminiumbedingter Toxizität nach Impfungen gibt: „Kumulative Vergleichsberechnungen zeigen, dass die systemische Exposition durch die in Deutschland empfohlenen aluminiumhaltigen Impfungen in den ersten beiden Lebensjahren im Bereich der tolerierbaren Aufnahme durch die Nahrung liegt. Der Beitrag von Impfungen zur geschätzten lebenslangen Nettoakkumulation von Aluminium im Organismus ist im Vergleich zur kontinuierlichen Aufnahme von Aluminium aus anderen Quellen gering und vor dem Hintergrund des Nutzens der Impfungen als vertretbar einzustufen. Es sind keine wissenschaftlichen Analysen bekannt, die eine Gefährdung von Kindern oder Erwachsenen durch Impfungen mit aluminiumhaltigen Adjuvantien zeigen.“

e. Im Übrigen kann das Gutachten von Dr. H. bereits deshalb nicht überzeugen, weil dieser die Wahrscheinlichkeit der Verursachung der Gesundheitsstörungen durch die angeschuldigte Impfung anhand der WHO-Kriterien geprüft und, wie aus seinem Gutachten deutlich wird, nicht die oben dargelegten für den Senat verbindlichen Grundsätze des Versorgungsrechts angewandt hat. Es bleibt auch im Einzelnen nicht nachvollziehbar, ob und inwieweit seine Beurteilung den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Inwieweit die von ihm verwendeten Kriterien den „Goldstandard“ zur wissenschaftlichen Kausalitätsbewertung darstellen, wie Dr. H. meint, ist somit nicht von Belang.

Auch nach sorgfältiger Prüfung der Sach- und Rechtslage unter eingehender Würdigung der vom einzigen Gutachter, der im Sinne der Klägerin zu einem positiven Ergebnis kommt, aufgezeigten Aspekte, kann der Senat vorliegend keine belastbaren Anhaltspunkte dafür erkennen, dass die Verursachung der Immunthrombozytopenie durch die Impfung überwiegend wahrscheinlich wäre.

4. Im Übrigen ist ein Anwendungsbereich der Kannversorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG nicht gegeben, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. Es ist hier gerade nicht so, dass über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit bestehen würde, weil es insoweit keine einheitliche, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen geben würde. Vielmehr hält die medizinische Wissenschaft eine Verursachung der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung durch die angeschuldigte Impfung durchaus für möglich, was jedoch auch für die alternative Ursache der Helicobacter pylori-Infektion gilt. Unklar ist vorliegend also nicht, ob durch die Impfung der Gesundheitsschaden entstehen kann, sondern, welche der möglichen Ursachen im konkreten Fall ausschlaggebend gewesen sind.

5. Zu weiteren Ermittlungen bestand kein Anlass und erst recht keine verfahrensrechtliche Pflicht. Auch in diesem (schwierigen) Fall des Nachweises eines Impfschadens - einem Gebiet, auf dem sich bekanntermaßen oftmals fachliche Positionen diametral gegenüberstehen und in dem zu wissenschaftlichen Argumenten oftmals auch weltanschauliche Ansichten hinzu kommen und schließlich die Auseinandersetzungen auch mit hoher Emotionalität geführt werden - sieht sich der Senat veranlasst, vorsorglich darauf hinzuweisen, dass es nicht Sinn eines Gerichtsverfahrens ist, ausschließlich die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen Position zu beziehen (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.1997 - 1 RK 28/95). Der Sachverhalt ist soweit möglich aufgeklärt. Vor allem hat die Klägerseite weitere Belege zur Frage des genauen Auftretens der Blutungen etc. nicht in Aussicht gestellt. Auch war dem Antrag der Klägerin auf Einvernahme des Sachverständigen Dr. H. im Wege der Amtsermittlung nicht nachzukommen. Dieser wird vielmehr abgelehnt. Denn die Klägerseite hat keine objektiv sachdienlichen schriftlichen Fragen, sondern im Schriftsatz vom 21.11.2018 lediglich solche allgemeinen Fragen angekündigt bzw. gestellt, die Dr. H. bereits beantwortet hat (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/ Schmidt, a.a.O., § 118, Rdnr. 12 f). Demgegenüber hätte die Klägerin jedoch besonders detaillierte und differenzierte Fragen vortragen müssen. Denn je mehr Aussagen von Sachverständigen zum Beweisthema bereits vorliegen, desto genauer muss der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen etc. eingehen (vgl. z.B. Beschluss des BSG vom 16.02.2017 - B 9 V 48/16 B). Dies ist hier nicht erfolgt.

Auf die Höhe des von Dr. H. (und letztlich vom SG) auf 30 festgesetzten GdS kommt es damit nicht an. Nach überschlägiger Prüfung hätte der Senat jedoch starke Bedenken, dass ein GdS von 30 überhaupt erreicht würde.

Nach alldem hat die Berufung somit Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Anerkennung der o.g. Schädigungsfolge und die Zahlung einer Beschädigtenrente durch den Beklagten.

Das Urteil des SG ist aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 22.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.02.2014 abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 31. Mai 2017 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob der Kläger gegenüber dem Beklagten Anspruch auf Anerkennung eines Impfschadens und auf Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) aufgrund durchgeführter Impfungen, vornehmlich einer Impfung vom 04.03.2010 bezüglich Mumps-Masern-Röteln sowie Varizellen (MMRV-Impfung) (Impfstoff: Priorix-Tetra), hat.

Der Kläger und Berufungskläger (Kläger) ist 2008 geboren. Bei ihm bestehen Entwicklungsstörungen und ein Frühkindlicher Autismus Kanner. Es sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Merkzeichen G, B und H anerkannt.

Am 14.11.2013 beantragten die Eltern des Klägers gegenüber dem Beklagten und Berufungsbeklagten (Beklagter) die Gewährung von Versorgung nach dem IfSG. Am 04.03.2010 sei von der Kinderärztin Dr. F. eine MMRV-Impfung durchgeführt worden. Als relevante Gesundheitsstörungen des Klägers wurden in dem Antrag „Entwicklungsstörung, Verdacht auf frühkindlichen Autismus, Verhaltensauffälligkeiten und keine Sprachentwicklung“ vorgetragen. Dem Antrag waren das Impfheft sowie zahlreiche medizinische Unterlagen über den Kläger beigefügt. Ebenfalls beigefügt war ein humangenetisches Gutachten vom 17.12.2012 (Dr. W.).

Der Beklagte nahm ergänzend Kopien aus der Schwerbehindertenakte des Klägers zum Vorgang und holte weitere medizinische Erkundigungen über den Kläger ein. Des Weiteren bat der Beklagte die Eltern des Klägers um konkrete Darstellung der gesundheitlichen Reaktionen des Klägers unmittelbar nach der Impfung am 04.03.2010 sowie der Dauer dieser Reaktionen. Die Mutter des Klägers gab darauf mit Schreiben vom 06.12.2013 an, dass der Kläger bis ca. Frühling/Sommer 2009 fröhlich gebrabbelt habe, solange er sich noch im Rahmen altersgemäß entwickelt gehabt habe. Wenige Tage nach der Impfung habe er angefangen schrill zu schreien, er habe sich durch nichts beruhigen lassen. Der Kläger habe abends im Bett stundenlang geschrien. Die Kinderärztin habe am 26.03.2010 „Dentinationsbeschwerden“ festgestellt, obwohl der Kläger zu dieser Zeit gar keine Zähne bekommen habe und das Zahnen davon abgesehen noch nie Probleme bereitet habe. In den Wochen nach der MMR-Auffrischungsimpfung habe sich der Kläger stark verändert. Aus dem (zwar seit der Impfung im Januar 2009 bereits entwicklungsverzögerten) fröhlichen Kind sei ein ernster Junge geworden, der durch seine Eltern hindurchgesehen und kein Spielverhalten mehr gezeigt habe. Die Physiotherapeutin des Klägers, die viel Erfahrung mit entwicklungsgestörten Kindern besitze, habe nie etwas davon gesagt, dass der Kläger sich auffällig verhalten würde. Die bei ihr durchgeführte Therapie sei im Zeitraum von ca. 10/2009 bis 12/2009 wegen fehlendem Sitzen, Krabbeln und Laufen in wöchentlichen Terminen abgelaufen, danach bis 04/2010 nur noch ca. einmal im Monat. Die Therapeutin habe die Eltern erst am 22.04.2010 beim letzten Termin darauf angesprochen, dass beim Kläger sich in den letzten Wochen offensichtlich „was in die falsche Richtung entwickelt“ habe. Der Kläger zeige plötzlich eindeutig autistische Verhaltensweisen, die die Eltern dringend genauer abklären lassen sollten. Besonders auffällig sei die Veränderung im Mai 2010 während eines Urlaubes geworden. Der Kläger habe mit Spielsachen nichts mehr anfangen können und sei immer mehr abgetaucht. Die Sprachentwicklung, die aufgrund der ohnehin schon vorliegenden Entwicklungsverzögerung durch die vorangegangenen Impfungen vorher schon sehr zögerlich stattgefunden habe, sei total stagniert. Bei der U7 am 08.09.2010 habe die neue Kinderärztin dann festgestellt, dass der Kläger weder eine altersgemäße Sprache noch ein altersgemäßes Sprachverständnis entwickelt habe. Er habe nicht Treppensteigen können, erst kurz zuvor laufen gelernt und Verhaltensauffälligkeiten gezeigt.

Der Beklagte lehnte nach Einholung versorgungsärztlicher Stellungnahmen den Antrag auf Versorgung nach dem IfSG mit Bescheid vom 02.04.2014 ab. Im Antrag vom 14.11.2013 sei die Impfung vom 04.03.2010 für die angegebenen Gesundheitsstörungen verantwortlich gemacht worden. In einem späteren Schreiben sei angeführt worden, dass bereits sei einer Impfung im Januar 2009 Entwicklungsverzögerungen des Klägers aufgefallen seien. Im Kinder-Untersuchungsheft seien bereits vor 2009 Entwicklungsverzögerungen dokumentiert. Die Kinderärztin Dr. F., die die Impfung am 04.03.2010 durchgeführt habe, habe im Befundbericht geschrieben, dass sie nie von einer Impfreaktion erfahren habe. Die spätere Kinderärztin Dr. N. verneine im Attest vom 21.06.2012 einen Impfschaden und gebe als mögliche Ursachen für den Entwicklungsrückstand und den Verdacht auf Autismus „idiopathische, vermutlich angeborene Behinderung“ an. Es lägen keine Nachweise vor, dass eine über das Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung (Gesundheitsschaden) durch eine Impfung entstanden sei. Es hätten sich auch keine Hinweise ergeben, dass überhaupt eine unmittelbare Impfreaktion stattgefunden habe. Ein unmittelbarer Impfschaden, der als ungewöhnliche Impfreaktion alsbald nach der Impfung aufgetreten sei, müsse mit Sicherheit nachgewiesen sein. Die Wahrscheinlichkeit genüge nicht. Zusammengefasst hält der Bescheid fest, dass weder eine Impfreaktion nachgewiesen worden sei noch die geltend gemachten Gesundheitsstörungen mit den angeschuldigten Impfungen mit Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang zu bringen seien.

Den dagegen eingelegten Widerspruch begründeten die Eltern des Klägers unter anderem damit, dass der Kläger die bei den U4 und U5 dokumentierten Entwicklungsverzögerungen stets aufgeholt habe. Dr. F. sei nicht über einen Impfschaden informiert worden, weil die Eltern zu diesem Zeitpunkt die Impfung nicht als Grund in Betracht gezogen hätten. Gegen die von der späteren Kinderärztin, Dr. N., in Betracht gezogene angeborene Behinderung spreche die Tatsache, dass der Kläger sich bis zur U6 im September 2009 altersgemäß entwickelt habe und Verzögerungen habe aufholen können, was auch dokumentiert sei. Erst während der U7 sei „fehlende Sprache / fehlendes Sprachverständnis“ vermerkt worden, was hingegen während der U6 noch abgehakt worden sei. Ferner handele es sich beim Attest von Dr. N. um ein reines Formblatt, welches nach Aktenlage ausgefüllt worden sei, ohne dass ein persönliches Gespräch stattgefunden habe.

Nach Durchführung weiterer Ermittlungen, im Zuge derer u.a. auch ein Therapiebericht der behandelnden Therapeutin B. beigezogen wurde, und Einholung einer ärztlichen Stellungnahme wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22.09.2014 zurück. In der im Rahmen des Widerspruchsverfahrens eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahme werde nochmals betont, dass ärztlicherseits eine krankhafte Impfreaktion nicht bestätigt sei. Zudem werde in keinem der aktenkundigen medizinischen Berichte auch nur ansatzweise ein Zusammenhang der vorliegenden Gesundheitsstörungen mit der Impfung vom 04.03.2010 diskutiert.

Dagegen haben die Eltern des Klägers Klage zum Sozialgericht (SG) erhoben. Zur Begründung haben sie vorgetragen, dass der Kläger als gesundes und unauffälliges Kind geboren worden sei. Bereits nach seiner allerersten Impfung habe er begonnen seine Entwicklung zu verlangsamen. Der Kläger sei nach jeder weiteren Impfung mehr in seiner Entwicklung zurückgefallen, habe jedoch die im U-Heft für Kinder vermerkten, rein motorischen, Rückstände immer wieder aufholen können, wenn auch verspätet. Die Impfung am 04.03.2010 habe dann die plötzliche Veränderung seines Verhaltens gebracht, das Defizit darauf habe der Kläger bis heute nicht aufholen können. Die Eltern des Klägers haben detailliert die einzelnen Impfungen des Klägers dargestellt, sowie die aus ihrer Sicht in deren Gefolge eingetretenen Gesundheitsstörungen. Ferner haben sie sich umfassend zur Frage der Kausalität geäußert und hierzu vor allem auf das humangenetische Gutachten vom 17.12.2012 sowie ein EEG vom 25.07.2012 verwiesen. Danach seien ein angeborener Gesundheitsschaden sowie eine genetische Ursache auszuschließen. Dagegen wüssten die Eltern nun, dass beim Kläger eine Gehirnentzündung vorgelegen habe; wegen dieser habe der Kläger geschrien. In den Fachinformationen zu der am 04.03.2010 verabreichten MMRV-Impfung sei u.a. auch eine solche Enzephalitis aufgeführt. Zudem seien in den Impfdosen Stoffe enthalten, die zu Schädigungen im Bereich des Krankheitsbildes „frühkindlicher Autismus“ führten. Insbesondere seien dies Aluminiumsulfat, der Konservierungsstoff Thiomersal (zu 48,9% aus Quecksilber bestehend) sowie Natriumthimerfonat (zu 43,7,9% aus Quecksilber bestehend). Diese Hilfsstoffe hätten sich beim Kläger aufgrund der noch fehlenden Blut-Hirn-Schranke im Gehirn festgesetzt. Durch die entstandene Gehirnentzündung hätten diese starken Nervengifte schwerwiegende dauerhafte Schädigungen hervorgerufen.

Das SG hat medizinische Unterlagen über den Kläger eingeholt, die Akten über das Schwerbehindertenverfahren des Klägers beigezogen und Prof. Dr. K. mit der Erstellung eines ärztlichen Gutachtens beauftragt.

In seinem Gutachten vom 10.08.2015 ist der Sachverständige zu der Feststellung gelangt, dass ein Zusammenhang von den dokumentierten Entwicklungsverzögerungen mit den gesamten Impfungen nicht erkennbar sei. Es fehlten jeweils akut postvakzinale pathologische Symptome zentralnervösen Ursprungs im Sinne akut zentralnervöser Hemmung und Enthemmung, d.h. es fehle jeweils der akute Impfschaden. Der Elternbericht nach der ersten Impfung am 07.11.2008, wonach der Kläger einen Tag lang geschrien habe, sei typisch für den Keuchhusten-Anteil dieser Impfung mit „Infanrix hexa“ und „Prevenar“. Bezüglich der Schlussfolgerung der Eltern aus dem angegebenen Schreien des Klägers auf das Vorliegen einer Gehirnentzündung mit entsprechenden Schädigungen im Gehirn hat Prof. Dr. K. festgehalten, dass ein Schreien allein nicht genüge, um eine postvakzinale Enzephalitis im Sinne eines Impfschadens zu belegen. Es bedürfe hierzu weiterer akuter Symptome zentralnervöser Herkunft, von klinischer Untersuchung, Liquoruntersuchung, MRT etc. ganz abgesehen. Soweit die Angabe der Therapeutin B. bezüglich der Beobachtungen des Klägers im April 2010 als zuverlässig angenommen würden - denn diese Angaben beruhten nur auf einer Erinnerung - bleibe festzuhalten, dass dieser Zeitpunkt im April 2010 im bekannten Alterszeitrahmen fassbar werdender Symptome der Diagnose des frühkindlichen Autismus liege. In der Mehrzahl träten autistische Merkmale bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres auf. Rein zeitliche Nachbarschaft zwischen den Impfungen einerseits und den Vorsorgeuntersuchungen (bei denen die Entwicklungsrückstände registriert worden seien) andererseits genügten keineswegs für die Feststellung eines Zusammenhangs, vielmehr seien sie unvermeidlich bei der zeitlichen Zusammendrängung von Impfterminen einerseits und Vorsorgeuntersuchungen andererseits im ersten Lebensjahr. Prof. Dr. N., Chefärztin des J. und eine international anerkannte Kinder- und Jugendpsychiaterin, ausgewiesen besonders auch in Problemen des Autismus, habe in ihrem Bericht vom 19.01.2012 u.a. mitgeteilt, dass es sich um angeborene Störungen des autistischen Spektrums handele. In dem humangenetischen Gutachten sei eine Einschränkung bezüglich der Erkenntnismöglichkeiten der vorgenommenen Untersuchung enthalten (mit der angewendeten Methode könnten „Imbalancen, die unterhalb des Auflösungsvermögens liegen, Punktmutationen, schwach ausgeprägte Mosaiken, balancierte Strukturumbauten, Keimbahn-Mosaike sowie nicht-chromosomal bedingte Veränderungen“ nicht nachgewiesen werden), die in der Zusammenfassung durch Dr. W. weggelassen worden sei und daher von Klägerseite unzutreffend geschlossen worden sei, dass beim Kläger keine angeborene Störung welcher Art auch immer vorliege. Zytogenetisch ergebe sich kein Ausschluss einer genetischen Ursache. Bezüglich der Inhaltsstoffe sei festzustellen, dass laut der Roten Liste in sämtlichen verabreichten Impfstoffen keine Quecksilber-Verbindungen enthalten gewesen seien. „Priorix-Tetra“ sei ein Lebendimpfstoff, daher fehlten Quecksilber- und Aluminiumverbindungen. Lebende Viren seien mit Quecksilber- als auch mit Aluminium-Verbindungen unvereinbar. Die Behauptung, die Quecksilber-Verbindung Thiomersal führe zu frühkindlichem Autismus, sei daher nicht haltbar. Insgesamt sei die bekannte Behauptung, es bestehe eine ursächliche Verbindung zwischen MMR-Impfung einerseits und gehäuftem Auftreten von frühkindlichem Autismus andererseits, wissenschaftlich nicht begründet.

Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Diagnose Frühkindlicher Autismus Kanner zu stellen sei. Die Ursache bzw. führende Ursache hierfür sei mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit genetisch. Es sei keine über das übliche Maß hinausgehende Impfreaktion, konkret in Form einer Enzephalitis nachgewiesen. Selbst bei Unterstellung einer solchen stehe diese mit dem Leiden frühkindlicher Autismus allenfalls in gelegenheitsursächlicher Verknüpfung. Die zytogenetische Untersuchung sei nicht geeignet gewesen, eine genetische Ursache des Leidens auszuschließen. Hierzu werde von den Untersuchern korrekt angegeben, dass das Auflösungsvermögen des von ihnen angewendeten Verfahrens Grenzen habe. Das Verfahren könne somit unterhalb dieses Auflösungsvermögens liegende Strukturen nicht darstellen.

Auf Antrag der Klägervertreter gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG am 08.12.2015 ein weiteres Gutachten bei Dr. H. beauftragt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 12.04.2016 in einer allgemeinen Darstellung des Krankheitsbildes „frühkindlicher Autismus“ unter anderem festgehalten, dass die Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen noch Gegenstand intensiver Forschung seien. Nach derzeitigem Forschungsstand habe insbesondere der frühkindliche Autismus eine starke genetische Grundlage. Nach den Ergebnissen einer von Studie aus dem Jahr 2011 erscheine klar, dass eine genetische Disposition zwar vorliege, aber unterschiedliche Umweltfaktoren entscheidend an der Krankheitsentstehung beteiligt seien. Impfungen im ersten Lebensjahr seien als Ursache von Störungen der Hirnentwicklung schon lange in der Diskussion. In jüngerer Zeit werde verstärkt die Rolle bestimmter Inhaltsstoffe (aluminiumhaltiger Adjuvantien) der inaktivierten Impfstoffe als Auslöser von neurologischen Entwicklungsstörungen diskutiert. Die Frage nach den kausalen Zusammenhängen sei sehr komplex und müsse immer im Einzelfall anhand einer genauen Analyse aller zur Verfügung stehenden klinischen Daten und des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstandes erfolgen. Bezüglich des Lebendimpfstoffes „Priorix-Tetra“ hat Dr. H. festgehalten, dass Adjuvantien oder Konservierungsmittel darin nicht enthalten seien. Mit Aluminiumverbindungen adjuvantierte Impfungen wie „Infanrix hexa“, „Menjugate Kit“ und „Prevenar“ seien nach aktuellem wissenschaftlichen Kenntnisstand als Auslöser von Autoimmunreaktionen des zentralen Nervensystems bekannt. Die entscheidende Rolle spielten hierbei toxische Effekte der Aluminiumverbindungen auf besonders sensible, sich in der Entwicklung befindliche Neuronen. Eine genetische Disposition liege bei diesen Kindern sicher vor, aber kein genetischer Defekt, der eine Autismus-Erkrankung auch selbständig erkläre. Fazit aus alldem sei, dass für die inaktivierten und mit Aluminium-Adjuvantien verstärkten Impfstoffe in seltenen Fällen eine Entwicklungsstörung mit dauerhaften Folgeschäden des Gehirns aufgrund der bekannten toxischen Effekte der Aluminiumverbindungen zum Repertoire der vorliegend möglichen unerwünschten Nebenwirkungen gezählt werden müssten. Trete eine solche Impfkomplikation auf, sei als Folge auch ein Krankheitsbild wie das beim Kläger plausibel.

Unter Ausführungen zur Impfstoffsicherheit hat Dr. H. unter anderem festgehalten, dass es ein Problem sei, im Einzelfall eine wirklich eindeutige Aussage zum kausalen Zusammenhang zwischen einer Impfung und der aufgetretenen Reaktionen (bei begrenztem Wissensstand) zu treffen. Für die Bewertung des kausalen Zusammenhangs in Einzelfällen, in denen es zu schweren unerwünschten Arzneimittelreaktionen (einschließlich Impfreaktionen) gekommen sei, habe die Weltgesundheitsorganisation WHO ein definiertes System geschaffen, das allgemein wissenschaftlich akzeptiert werde und auch im Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zur Einzelfallbewertung Verwendung finde. Dieses Schema trage der Tatsache Rechnung, dass in der Mehrzahl der auftretenden Verdachtsfälle unerwünschter Arzneimittelwirkungen eine sog. Ausschlussdiagnose gestellt werden müsse. Zum Nachweis einer Impfreaktion gebe es keinen diagnostischen „Gold-Standard“, der ein solches Krankheitsbild mit Sicherheit nachweise. Vielmehr sei durch Verwendung des WHO-Algorithmus die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhanges einzugrenzen. Wichtig seien bei der Bewertung die Faktoren des plausiblen zeitlichen Intervalls, der Bekanntheit der Reaktion und der pathophysiologischen Erklärbarkeit des Geschehens. Allgemein seien zur Bewertung der Kausalität zwischen Impfung und Gesundheitsschaden in den Anhaltspunkten von 2008, der Versorgungsmedizin-Verordnung sowie den Publikationen der Ständigen Impfkommission (STIKO) Kriterien enthalten. Präziser als diese seien jedoch die von der WHO veröffentlichten Kriterien.

Bezogen auf die Beweisfragen des SG ist Dr. H. zu dem Ergebnis gelangt, dass beim Kläger eine Entwicklungsstörung des Gehirns vorliege. Diese habe sich erstmals nach den ersten Kombinationsimpfungen gezeigt. Die Eltern hätten diesen Entwicklungsrückstand bemerkt und auch der Kinderarzt habe eine zunehmende Verlangsamung der motorischen Entwicklung erkannt. Die Impfung mit dem MMRV-Impfstoff am 04.03.2010 habe eine akute unerwünschte Wirkung mit schrillem Schreien und Verhaltensänderungen zur Folge gehabt. Die im weiteren Verlauf dann gestellte Diagnose habe auf frühkindlichen Autismus gelautet. Diese Erkrankung dauere noch an. Nach den inaktivierten Impfungen im ersten Lebensjahr seien keine akuten unerwünschten Wirkungen aufgetreten, die über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgegangen wären. Derartige Reaktionen seien auch Immunreaktionen auf den Impfstoff, die im Sinne einer Allergie oder Autoimmunreaktion schwere Schäden verursachen könnten. Unabhängig vom Konzept dieser primär immunologischen unerwünschten Vorkommnisse sei das Konzept einer krankheitsauslösenden toxischen Ursache zu sehen, wie es inzwischen für die Aluminiumadjuvantien nachgewiesen worden sei. Es komme durch diese Substanzen zu einer langsamen Schädigung und Störung der Wachstumsvorgänge im Gehirn, die nicht an einen zuvor stattfindenden Immunprozess gekoppelt seien, so dass auch keine immunologische Primärschädigung vorliege. Somit könne auch zur Anerkennung eines Impfschadens bei Vorliegen dieser Pathomechanismen nicht eine primäre erkennbare Immunreaktion gefordert werden. Die erkennbare Primärschädigung beim Kläger sei der immer deutlicher erkennbare Entwicklungsrückstand des Gehirns im ersten Lebensjahr. Die Erkrankung habe beim Kläger nach den ersten adjuvantierten Kombinationsimpfungen begonnen und die Eltern hätten nach jeder weiteren Impfung eine Zunahme des Entwicklungsrückstandes bemerkt. Beim Kläger liege ein wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der Impfserie und den aufgetretenen Entwicklungsstörungen vor. Im Übrigen komme nach Dr. H. auch eine Anerkennung nach den Vorgaben zur sog. Kann-Versorgung in Betracht.

Der Beklagte ist dem Klagebegehren durch versorgungsmedizinische Stellungnahme vom 21.06.2016 entgegengetreten. Zunächst sei in den Gutachten eindeutig gezeigt worden, dass die angeschuldigten Quecksilberverbindungen nicht in den Impfstoffen enthalten gewesen seien. Weiter sei die angegebene postvakzinale Enzephalitis in den Unterlagen nicht belegt und zudem auch nicht wahrscheinlich. Auch das vorliegende humangenetische Gutachten führe zu keiner anderen Bewertung. Denn weitere genetische Auffälligkeiten seien aufgrund der Limitierung der Methoden keinesfalls ausgeschlossen. Die Ausführungen Dr. H.s zu einer Verursachung durch die in den Impfstoffen enthaltenen Adjuvantien in Form von Aluminiumverbindungen könnten nicht nachvollzogen werden. Es fänden sich unter Bezugnahme auf Veröffentlichungen des PEI aus 2014 und 2015 keine Hinweise darauf, dass Aluminium Gesundheitsstörungen verursache. Zudem seien zwei Studien aus der Arbeitsgruppe um den zitierten Shaw durch die WHO bereits im Jahr 2012 bewertet worden, wobei die Methodik und Schlussfolgerungen der Studien, die einen Zusammenhang zwischen der Aluminiumexposition durch Impfstoffe und der Entwicklung eines Autismus gesehen hätten, als fehlerhaft kritisiert worden seien. Auch sei bereits im Jahr 2007 wissenschaftlich die epidemiologische Datenlage im Hinblick auf den Zusammenhang einer Impfung gegen MMR und Autismus zusammengefasst und insbesondere darauf verwiesen worden, dass große epidemiologische Studien keinen Zusammenhang zwischen Impfungen und dem Auftreten eines Autismus gezeigt hätten. Die von Dr. H. zitierten Studien stellten eine Meinung einzelner Arbeitsgruppen dar, die wiederholt eine Toxizität von in Impfstoffen enthaltenen Aluminiumverbindungen postulierten. Aufgrund der Eindeutigkeit der wissenschaftlichen Evidenz komme auch eine Anerkennung im Sinne der Kann-Versorgung nicht infrage.

Die Eltern des Klägers haben weiter ausgeführt, dass jede einzelne Impfung den Kläger geschädigt habe, bis die letzte Impfung am 04.03.2010 „das Fass zum Überlaufen gebracht“ habe. Dr. F. habe die Einwände der Eltern nicht erst genommen und keine eingehende Untersuchung vorgenommen. Des Weiteren haben die Eltern das Verhalten des Klägers nach der Impfung bezogen auf dessen Schreien konkretisiert und zu einer aus ihrer Sicht bestehenden möglichen Verursachung der Erkrankung durch die in den Impfstoffen enthaltenen Aluminiumverbindungen ausgeführt. Die vom Beklagten angeführten Studien seien nicht durch unabhängige Experten erstellt worden.

Dem ist der Beklagte mit weiterer versorgungsärztlicher Stellungnahme entgegengetreten, in der auch auf die von den Eltern des Klägers benannten Studien eingegangen wurde. Ferner ist ausgeführt worden, dass im Hinblick auf die immer wieder postulierte Toxizität von Aluminiumverbindungen und die zu Grunde liegende Kinetik von Aluminium im menschlichen Körper sich sowohl das Umweltbundesamt als auch das PEI eindeutig positioniert hätten. Das Bundesumweltamt stelle z.B. fest, dass die Aluminiumbestimmung im Urin (die in einer klägerseits benannten Studie als Messwert zu Grunde gelegt worden sei) keine Aussage über die Aluminiumbelastung des Körpers treffen könne, sondern lediglich die aktuelle Exposition in den letzten Stunden vor der Messung widerspiegele. Zusammenfassend sei wissenschaftlich sehr gut belegt, dass Aluminiumverbindungen, insbesondere in Impfstoffen bei der Entwicklung eines Autismus, keine Rolle spielten. Dass Impfungen nicht im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Autismus stünden, sei zuletzt auch noch einmal in einer Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V. dargestellt worden. Ob durch die Etablierung neuer genetischer Methoden in der Zukunft eine Aufklärung der genetischen Grundlage von Autismusspektrum-Störungen besser oder sogar umfänglich möglich sein werde, müsse offenbleiben. Humangenetische Untersuchungen könnten im vorliegenden Fall mit den derzeit verfügbaren Methoden keinen weiteren Beitrag zur Sachaufklärung leisten.

Auf gerichtliche Anforderung hat Prof. Dr. K. ergänzend Stellung genommen. Frühkindlicher Autismus Kanner, offensichtlich wesentlich genetisch bedingt, sei oft schon früh durch Entwicklungsretardierung, insbesondere auch im sprachlichen Bereich, auffällig. Die typisch autistischen Merkmale Kontaktstörung etc. würden in aller Regel im zweiten Lebensjahr erkannt. Die Ausführungen von Dr. H. bezüglich einer Ursache von Aluminium für den Autismus seien rein spekulativ. Es gebe entgegen der Darstellung von Dr. H. keinen diskussionsfesten Beleg für Aluminiumbedingte Hirnschädigung bei Impfung von Säuglingen und Kleinkindern, und es gebe keinen Beleg für Autismus Kanner verursacht durch Impfung oder durch Aluminium. Jenseits der Aluminium-Diskussion gebe es lediglich sehr seltene impfbedingte Hirnschäden und in deren jeweils individuellem Symptomen-Mosaik hier und da auch einmal nachrangige autistischen Züge, die jedoch nicht dem Autismus als solchem zuzuordnen seien. Prof. Dr. K. hat darauf hingewiesen, dass länderweise nicht nur genetisch bedingte Leiden differierten, sondern auch die Definition Autismus: Wie auch Dr. H. mit der Bezeichnung „autistischer Formenkreis“ werde die definitiv einzuhaltende Grenze zwischen dem echten Autismus einerseits und den zahlenmäßig überwiegenden Hirnschäden mit nachrangig auch autistischen Zügen andererseits durchlässig oder gar negiert. Seitens der WHO werde die von Dr. H. angeführte Studie von Tomljenovic u. Shaw als gravierend fehlerhaft eingestuft. Die zunehmend erkannten Entwicklungsdefizite des Klägers könnten nicht der Abfolge von Impfungen kausal zugeordnet werden. Für die auch beim Kläger zu stellende Diagnose Autismus Kanner sei durchaus häufig und typisch, dass vor dem Auftauchen der autistischen Kernsymptomatik (gestörtes Kontaktverhalten usw.). bereits andere Entwicklungsdefizite vorangingen, auffälligerweise wie auch vorliegend insbesondere auch im sprachlichen Bereich.

Bezüglich der zweiten MMRV-Impfung am 04.03.2010 betrage die Spanne denkbarer postvakzinaler Inkubationszeit bis zu 28 bzw. laut PEI bis zu 42 Tagen. Jedoch sei vorliegend neben dem Merkmal Schreien kein weiteres enzephalitisches Syndrom vorhanden. Insbesondere fehle eine Liquor-Untersuchung mit im Falle Enzephalitis/Enzephalopathie typischen Merkmalen. Bezogen auf die von Dr. H. herangezogenen Kriterien der WHO zur Bestimmung eines „wahrscheinlichen Zusammenhangs“ ergebe sich nach diesen Kriterien nicht einmal eine Möglichkeit, sondern vielmehr sei ein Impfschaden auch danach unwahrscheinlich, weil es sich um Autismus Kanner handele. Unabhängig davon sollten diese Kriterien nicht für den Einzelfall verwendet werden.

Die Darstellungen der Eltern des Klägers seien nicht zu bezweifeln. Jedoch bleibe festzustellen, dass laut Diagnose der einschlägig spezialisierten und bekannten Prof. Dr. N. der Kläger unter einem frühkindlichen Autismus leide. Die für Autismus typische Kernsymptomatik Kontaktstörung etc. habe sich im hierfür typischen Alter, nämlich dem zweiten Lebensjahr, erkennbar gezeigt. Am 26.03.2010 habe die Konsultation bei Dr. F. stattgefunden. Der 22. postvakzinale Tag sei für einen zentralnervösen Impfschaden nach Lebendimpfstoff relativ spät. Seitens der Mutter werde betont, dass das Schreien früher datiere. Richtig sei, dass für Komplikation nach Lebendimpfstoff bevorzugt ein Zeitraum zwischen 8 und 14 Tagen nach Impfung zu beobachten sei, dass aber bis zu 30 Tagen akzeptiert würden. Fallbezogen läge jedoch kein hinreichender Beleg für Enzephalitis vor. Ferner sei darauf hinzuweisen, dass ein situationsbedingtes Schreien - insbesondere, wenn der Kläger im Dunkeln hingelegt worden sei - nicht typisch für ein Schreien als mögliches Symptom einer Enzephalitis sei. Bezogen auf den Vergleich mit Aluminiumbelastungen von Brezeln sei darauf hinzuweisen, dass darmlösliches Aluminium hier gegen kristalline Aluminiumverbindungen stehe, die aus ihrem Muskeldepot äußerst langsam, über Wochen und Monate verteilt, in den Kreislauf und damit in weitere Gewebe und Organe gelangten.

Mit Urteil vom 31.05.2017 hat das SG die Klage gegen den Bescheid vom 02.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.09.2014 abgewiesen. Beim Kläger seien im Zeitraum 07.11.2008 bis 04.03.2010 Impfungen vorgenommen worden. Ein Impfschaden im Sinne einer Primärschädigung aus diesen Impfungen stehe nicht im Vollbeweis fest. Hierzu folge das SG den schlüssigen und überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. K. und den versorgungsärztlichen Stellungnahmen. Bei zwei der sieben vorgenommenen Impfungen hätten die Eltern des Klägers unmittelbare Impfreaktionen geschildert. Bei der ersten Impfung am 07.11.2008 habe der Kläger einen Tag lang geschrien. Dies stelle mit den Feststellungen der Sachverständigen Prof. Dr. K. und Dr. H. jedoch keine über das übliche Maß hinausgehende Impfreaktion dar.

Eine weitere direkte Impfreaktion werde von den Eltern des Klägers nach der zweiten Impfung mit Priorix-Tetra am 04.03.2010 geltend gemacht. Der Kläger habe wenige Tage nach dieser Impfung schrill zu schreien begonnen und habe sich durch nichts mehr beruhigen lassen. Dieses Schreien sei auch von ungewöhnlicher Dauer gewesen. Als Ursache werde von der Klägerseite eine Gehirnentzündung vermutet. Nach Ansicht des Gerichts reichten die Schilderungen der Eltern des Klägers aber nicht, um den Vollbeweis einer postvakzinalen Enzephalitis als Primärschädigung zu erbringen. Dagegen spreche einerseits die Tatsache, dass der Kläger nach den Angaben des Vaters insbesondere laut und schrill geschrien habe, wenn er im Dunkeln hingelegt worden sei. Nach Auskunft des Sachverständigen Prof. Dr. K. sei ein situationsbezogenes Schreien nicht typisch für das mögliche Syndrom einer Enzephalitis. Auch fehle es für den Vollbeweis einer Impfreaktion an weitergehenden ärztlichen Befunden, die eine Gehirnentzündung belegen würden. Zum Vollbeweis einer postvakzinalen Enzephalitis bedürfte es des Nachweises weiterer akuter Symptome zentralnervöser Herkunft, insbesondere einer akuten Hemmungs- und Enthemmungssymptomatik. Neben der Vorstellung bei der Kinderärztin seien keine weitergehenden klinischen Untersuchungen erfolgt, insbesondere sei keine Liquor-Untersuchung vorgenommen oder ein MRT des Gehirns angefertigt worden. Damit bleibe der vorgebrachte Verdacht einer Gehirnentzündung eine Vermutung. Es fehle bei allen geltend gemachten Impfungen an einem akuten Impfschaden.

Hilfsweise hat das SG ausgeführt, dass nach seiner Auffassung der ebenfalls notwendige Kausalzusammenhang zwischen Impfung, dem hypothetisch angenommenen Impfschaden und dem geltend gemachten Folgeschaden in Form eines Frühkindlichen Autismus Kanner nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu bejahen sei. Ein Kausalzusammenhang ergebe sich nicht aus den Angaben der Physiotherapeutin. Es sei allein ein zeitlicher Zusammenhang zwischen den Impfungen und den Entwicklungsverzögerungen des Klägers festzustellen. Bei dem Kläger sei die Entwicklungsverzögerung etwa ab dem dritten Lebensmonat bei der Vorsorgeuntersuchung U4 erstmals dokumentiert. Nachdem zu diesem Zeitpunkt noch keine länger dauernden, außergewöhnlichen Impfreaktionen geschildert worden seien, könnten die zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Entwicklungsverzögerungen nicht auf die Impfungen zurückgeführt werden. Zwar habe die vorgenommene Chromosomen-Analyse im humangenetischen Zentrum keine Hinweise auf eine genetische Ursache für die Autismus-Erkrankung des Klägers ergeben. Mit dieser humangenetischen Untersuchung könnten jedoch nicht sämtliche strukturelle Veränderungen, die im Grenzbereich des lichtmikroskopischen Auflösungsvermögens liegen, mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden. Damit sei die verwendete genetische Untersuchung nicht geeignet, sämtliche genetischen Ursachen der Autismus-Erkrankung beim Kläger auszuschließen.

Bezüglich des Vortrags und der von Dr. H. vertretenen Auffassung, dass die in vielen Impfstoffen enthaltenen Hilfsstoffe Aluminiumphosphat bzw. Aluminiumhydroxid als Hauptursache der Autismus-Erkrankung anzusehen seien, folge das Gericht den schlüssigen Ausführungen des Prof. Dr. K.. Die vom Gutachter Dr. H. zitierte Studie, wonach Impfschäden bei Säuglingen im Sinne der Verursachung durch Aluminium einzuordnen seien, komme nicht über die Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs hinaus. Ein Zusammenhang sei danach möglich, der Nachweis des Zusammenhangs damit aber nicht erbracht. Prof. Dr. K. stelle für das Gericht überzeugend dar, dass es keinen diskussionsfesten Beleg für Aluminiumbedingte Hirnschädigungen bei der Impfung von Säuglingen und Kleinkindern gebe. Ferner seien in dem am 04.03.2010 im Rahmen der MMRV-Impfung verabreichten Impfstoff „Priorix-Tetra“ keine Aluminium-Verbindungen enthalten gewesen; deren Wirkung sei mit lebend geimpften Viren unvereinbar. Bezüglich einer vorgetragenen Verursachung durch Quecksilber hat das Gericht darauf hingewiesen, dass Quecksilber bereits seit 2000 nicht mehr als Hilfsstoff in Impfstoffen enthalten und beim Kläger nicht zum Einsatz gekommen sei. Dies habe auch der Sachverständige Dr. H. bestätigt.

Soweit Dr. H. in seinem Gutachten mitteile, dass die genaue Ursache der Autismus-Erkrankungen noch ungeklärt sei, so könne das Gericht diesen Ausführungen nur teilweise folgen, als die genauen genetischen Mechanismen noch nicht geklärt seien. Nachdem es in der Wissenschaft keine Ungewissheit über die Ursache einer Autismus-Erkrankung gebe und wissenschaftlich sehr gut belegt sei, dass Aluminiumverbindungen insbesondere in Impfstoffen bei der Entwicklung eines Autismus keine Rolle spielten, komme nach Auffassung des Gerichts auch die Anerkennung im Sinne einer Kann-Versorgung nicht in Betracht.

Gegen das Urteil hat der Vater des Klägers Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) eingelegt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 21.06.2017 Bezug genommen. Danach sei der Nachweis, dass kein Impfschaden vorliege, dem Beklagten aufzuerlegen. Auf richterlichen Hinweis hat sich neben dem Vater auch die Mutter des Klägers als gesetzliche Vertreterin im Verfahren bestellt und sich dem bisherigen klägerischen Vortrag angeschlossen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des SG Augsburg vom 31.05.2017 sowie den Bescheid vom 02.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.09.2014 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, beim Kläger die Entwicklungsstörungen und einen Frühkindlichen Autismus Kanner als Impfschaden im Sinne des Infektionsschutzgesetzes anzuerkennen und ihm ab Antragstellung Versorgung in Form einer Beschädigtenrente nach dem IfSG i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das Urteil des EuGH vom 21.06.2017 (C-621/15) sei bereits nicht einschlägig, weil es sich zum französischen Zivilrecht in einer Angelegenheit des Produkthaftungsrechtes verhalte. Im Übrigen habe der EuGH gerade keine Beweislastumkehr angenommen. Es sei und bleibe Sache des Geschädigten, durch alle nach nationalem Recht zulässigen Beweismittel einen Fehler des Impfstoffes und einen ursächlichen Zusammenhang zu beweisen. Vorliegend sei bereits ein Impfschaden nicht bewiesen. Ähnliches gelte für die - hier nur hilfsweise zu prüfende - Frage der Kausalität. Somit verbleibe es bzgl. der Kausalität bei dem von der Rechtsprechung zum Sozialen Entschädigungsrecht entwickelten Grundsätzen der hinreichenden Wahrscheinlichkeit.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Akten des SG und des Beklagten, einschließlich der Akten über das Schwerbehindertenverfahren, verwiesen. Sämtliche Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist insgesamt zulässig, §§ 143, 144, 151 SGG, aber nicht begründet.

Streitgegenständlich ist ein Anspruch des Klägers auf Anerkennung eines Impfschadens und auf Gewährung einer Versorgungsrente nach dem IfSG gegenüber dem Beklagten.

Gegenstand des Verfahrens ist der einen solchen Anspruch ablehnende Bescheid des Beklagten vom 02.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2014. Der Beklagte hat hierin über einen Anspruch des Klägers unter Einbeziehung aller bei ihm bis zum 04.03.2010 durchgeführten Impfungen entschieden. Zwar war auf Grundlage des Antrags vom 14.11.2013 zunächst allein die am 04.03.2010 durchgeführte MMRV-Impfung angeschuldigt. Der Beklagte stellte zunächst auch nur bezogen auf diese Impfung Ermittlungen an. In einem weiteren Schreiben vom 06.12.2013 gab die Mutter des Klägers jedoch an, dass dieser bereits seit einer Impfung im Januar 2009, genauer „durch die voran gegangenen Impfungen vorher“ schon entwicklungsverzögert gewesen sei. Der Beklagte ergänzte sodann seine Ermittlungen um sämtliche beim Kläger bis zum 04.03.2010 durchgeführten Impfungen und nahm diese in die gegenständlichen Bescheide auf, wenn auch Kern der Prüfung und Begründung des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2014 die aus Sicht der Eltern des Klägers entscheidende MMRV-Auffrischungsimpfung am 04.03.2010 blieb. Demgemäß war es auch richtig, dass das SG die Ermittlungen auf sämtliche bis 04.03.2010 durchgeführte Impfungen erstreckte.

Die auf die Anerkennung eines Impfschadens und auf die Gewährung einer Versorgungsrente gerichtete Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der im Berufungsverfahren konkretisierte Klageantrag (d.h. Gewährung einer Beschädigtenrente) ist als solcher auf ein zulässiges Begehren gerichtet. Die Zulässigkeit der derart ergänzten Klage steht nicht entgegen, dass der Kläger ursprünglich allein „Versorgung“ begehrt hat. Mangels Änderung des Klagegrundes liegt in dieser Erweiterung eine nach § 99 Abs. 3 SGG uneingeschränkt zulässige Antragsänderung (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 15.12.2016, B 9 V 3/15 R, juris Rn. 13).

Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG nicht vorliegen. Zum einen fehlt es mit den Ausführungen des SG schon am Nachweis einer Impfkomplikation, zum anderen aber auch an der vom SG hilfsweise ausgeführten Kausalität zwischen den Impfungen und der geltend gemachten gesundheitlichen Schädigung.

Das klägerische Begehren beurteilt sich dabei nach dem IfSG, weil der Antrag am 14.11.2013 gestellt worden ist und damit zu einem Zeitpunkt, als das - das Bundesseuchengesetz ohne Übergangsvorschrift ablösende (vgl. Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften v. 20.07.2000, BGBl. I, S. 1045) - IfSG (seit dem 01.01.2001) in Kraft war (vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R, juris Rn. 14; BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 10/10, juris Rn. 35).

Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde (1.), auf Grund des IfSG angeordnet wurde (2.), gesetzlich vorgeschrieben war (3.) oder auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist (4.), eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen eines Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.

Nach § 61 Satz 1 IfSG genügt zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG anerkannt werden, wobei die Zustimmung allgemein erteilt werden kann, § 61 Satz 2, 3 IfSG.

Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Die Entstehung eines Anspruchs auf Anerkennung eines Impfschadens und auf Versorgung verlangt demnach die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen (BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 36). Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfolgte Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation (Primärschaden), sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden (Sekundärschaden), vorliegen. Die Schutzimpfung (1. Glied), die Impfkomplikation (2. Glied) und der Impfschaden (3. Glied) bilden dabei vorliegend die einzelnen Elemente der sog. - dem Versorgungsrecht generell zugrundeliegenden (vgl. etwa BSG, Urteil vom 25.03.2004, B 9 VS 1/02 R, juris; BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 3/13 R, juris) - dreigliedrigen Kausalkette.

Die Schutzimpfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung im Sinne des Impfschadens müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d.h. im sog. Vollbeweis, feststehen. Dagegen genügt für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit, § 61 Satz 1 IfSG (BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 38).

Der erkennende Senat hat früher vereinzelt auf das Erfordernis des Vollbeweises bezüglich des Primärschadens der Impfkomplikation verzichtet (vgl. BayLSG, Urteil vom 28.07.2011, L 15 VJ 8/09, juris; BayLSG, Urteil v. 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, juris Rn. 36 m.w.N. auch zu a.A.). Diesen einzelfallbezogenen Ansatz haben jedoch beide für das Versorgungsrecht zuständigen Senate des BayLSG (BayLSG, Urteil v. 18.05.2017, L 20 VJ 5/11, juris; BayLSG, Urteil v. 25.07.2017, L 20 VJ 1/17 juris; BayLSG, Urteil v. 11.07.2018, L 20 VJ 7/15, juris; BayLSG, Urteil v. 06.12.2018, L 20 VJ 3/17; BayLSG, Urteil v. 26.03.2019, L 15 VJ 9/16, juris) inzwischen ausdrücklich verworfen. Andere Landessozialgerichte hatten sich dem soweit ersichtlich von vornherein nicht angeschlossen (z.B. Hessisches LSG, Urteil v. 26.06.2014, L 1 VE 12/09, juris; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 01.07.2016, L 13 VJ 19/15, juris). Auch das BSG hat - z.T. in Rechtsmittelverfahren gegen die aktuellen Entscheidungen des BayLSG - das Erfordernis eines Vollbeweises auch bezogen auf den Primärschaden bekräftigt (BSG, Beschluss vom 29.01.2018, B 9 V 39/17 B, juris; BSG, Beschluss vom 18.06.2018, B 9 V 1/18 B, juris). Soweit Dr. H. die Auffassung vertritt, dass auf den Nachweis eines Primärschadens wegen der schleichend ablaufenden Schädigung durch mehrere Impfungen verzichtet werden müsse, ist dem daher nicht zu folgen.

Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind (BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 38; BSG, Beschluss vom 29.01.2018, B 9 V 39/17 B, juris Rn. 7).

Das SG hat zutreffend den Vollbeweis einer Impfkomplikation im Sinne des Primärschadens, also den Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, als nicht gegeben angesehen. Für den Beweisgrad des Vollbeweises muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen (vgl. nur BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34). Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen (vgl. BSG, Beschluss vom 29.01.2018, B 9 V 39/17 B, juris Rn. 7; BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34; BSG, Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, juris). Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3b m.w.N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34 m.w.N.). Eine Tatsache ist damit nachgewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R, juris Rn. 34 m.w.N.; Keller, a.a.O., § 128 Rn. 3b m.w.N.), wenn also eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gegeben ist.

Vorliegend kann Anhaltspunkt einer Impfkomplikation allein der Vortrag der Klägerseite sein, dass der Kläger nach Impfungen geschrien habe und sehr unleidlich gewesen sei. Im Zentrum der Beobachtungen stand dabei laut Schreiben der Mutter des Klägers vom 06.12.2013, dass er wenige Tage nach der Impfung am 04.03.2010 schrill zu schreien begonnen habe und sich durch nichts habe beruhigen lassen. Am 26.03.2010 sei die Kinderärztin aufgesucht worden. Der Kläger habe sich in den Wochen nach der MMRV-Impfung stark verändert. Am 22.04.2010 habe die Therapeutin die Eltern hierauf angesprochen. Der Kläger sei bereits seit der Impfung im Januar 2009 entwicklungsverzögert gewesen. Die Mutter führt weiter aus, dass die Sprachentwicklung, die beim Kläger aufgrund der ohnehin schon vorliegenden Entwicklungsverzögerung durch die vorangegangenen Impfungen vorher schon sehr zögerlich stattgefunden habe, dann total stagniert habe. Dagegen liegt keine belastbare Dokumentation zeitnaher Impfreaktionen in Ergänzung zu diesen aus der Erinnerung getroffenen Schilderungen vor. Weder in den Kinder-Untersuchungsheften noch in anderen medizinischen Unterlagen sind diese enthalten. Zwar bezweifelt der Senat nicht, dass die Eltern des Klägers bei diesem in einem - undatiert gebliebenen - Zeitraum nach der Impfung am 04.03.2010 ein anhaltendes Schreien bemerkt haben. Ausweislich der vorliegenden Dokumentation der damaligen behandelnden Ärztin Dr. F. wurden bei der Vorstellung am 26.03.2010 jedoch Dentintationssowie Darmbeschwerden festgehalten. Auch wenn die Eltern dieser Feststellung wiederholt entgegentreten sind, kann damit keinesfalls eine Impfkomplikation nachgewiesen werden. Es kann allein dabei verbleiben, dass die Eltern die Kinderärztin am 26.03.2010 wegen Beschwerden des Klägers aufgesucht haben.

Weitere belastbare Nachweise liegen nicht vor. Vor allem kann allein das - undatierte - Schreien des Klägers den Nachweis einer Impfkomplikation nicht erbringen. Die Eltern des Klägers haben im Laufe des Verfahrens ihren Vortrag dahin manifestiert, dass der Kläger bereits „wenige Tage“ nach der MMRV-Impfung anhaltend geschrien habe. Diesbezüglich hält Prof. Dr. K. in seiner Stellungnahme vom 21.01.2017 fest, dass für Komplikationen nach Lebendimpfstoff bevorzugt ein Zeitraum zwischen 8 und 14 Tagen nach der Impfung zu beobachten sei, aber bis zu 30 Tagen akzeptiert würden. Die behandelnde Therapeutin hat jedoch von einem Unwohlsein des Klägers bei seinem Therapietermin am 11.03.2010 nichts berichtet. Er sei zwar zurückhaltender gewesen, was jedoch auf andere Ursachen zurückgeführt wurde. Allein diese Erinnerung vermag keine Impfkomplikation nachzuweisen. Auch nach Vortrag der Eltern seien sie erst im weiteren Termin am 22.04.2010 von der Therapeutin auf das Verhalten des Klägers angesprochen worden; die Eltern wiederum haben gegenüber der Therapeutin also keine besonderen Vorkommnisse berichtet. Sie haben diese laut Angabe der Therapeutin sogar ausdrücklich verneint. Der Kläger konnte anscheinend trotz des von den Eltern geschilderten Unwohlseins die Therapietermine am 11.03.2010 und 22.04.2010 ohne Weiteres wahrnehmen, was mit dem Vortrag des anhaltenden Schreiens und der anhaltenden Rastlosigkeit nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen ist. Festzuhalten bleibt zudem, dass die Therapieeinheiten im Jahr 2010 nur noch in monatlichen Abständen erfolgten, eine eng zusammenhängende Beobachtung des Klägers durch die Therapeutin also nicht stattfand. Zusammenfassend kann daher eine objektive Bestätigung der klägerseitigen Annahme eines Primärschadens daher den vorliegenden Unterlagen nicht entnommen werden.

Weiter weisen die Eltern des Klägers darauf hin, dass sie von einer gesicherten Gehirnentzündung ausgehen, die als Nebenwirkung einer MMRV-Impfung aufgeführt sei. Jedoch kann die rein abstrakte Möglichkeit einer solchen Nebenwirkung weder den erforderlichen Nachweis des Krankheitsgeschehens noch eines Kausalzusammenhangs im Einzelfall erbringen (so auch etwa Friedrich/Friedrich, Kausalzusammenhang zwischen Impfungen und multipler Sklerose, ZESAR 2017, 491, 493). Hierauf weist auch Prof. Dr. K. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 21.01.2017 zutreffend hin. Auch Dr. H. erkennt diese Problematik und benennt sie in seinem Gutachten vom 12.04.2016 („Zwar könne das Schreien nach der Impfung am 04.03.2010 im Sinne einer autoimmunen Enzephalitis interpretiert werden. Allerdings sei keine Abklärung mittels MRT oder Liquoruntersuchung durchgeführt worden, so dass diese Episode letztlich unklar bleiben werde.“).

Neben der im Zentrum des Vortrags stehenden MMRV-Impfung am 04.03.2010 ist das SG auch den weiteren Impfungen nachgegangen. Die Eltern des Klägers haben vorgetragen, dass diese nach jeder weiteren Impfung in seiner Entwicklung zurückgefallen sei. Konkret hatte die Mutter des Klägers erklärt, der Kläger sei schon seit der Impfung im Januar 2009 entwicklungsverzögert gewesen. Einen Zusammenhang schlossen die Eltern des Klägers dem entgegengesetzt jedoch selber aus, indem sie wiederholt vortragen, der Kläger habe sämtliche Verzögerungen aufgeholt und er habe sich bis Sommer 2009 altersgemäß entwickelt. Dass dem nicht so ist, kann den Dokumentationen zu den U4 und U5 entnommen werden. Auch Prof. Dr. K. hat in seinem Gutachten umfassend das gesamte Material gewürdigt und ist danach zu dem Ergebnis gekommen, dass auch für die weiteren Impfungen kein Nachweis einer Impfkomplikation zu erbringen ist. Klägerseitig wird vorgetragen, dass der Kläger nach der ersten Impfung am 07.11.2008 einen Tag lang geschrien habe, sowie nach der ersten MMRV-Impfung am 07.08.2009 und der Meningokokken-Impfung am 07.09.2009 einige Tage sehr unruhig und unleidlich gewesen sei. Diese Beobachtungen zieht der Senat dem Grunde nach nicht in Zweifel, das von den Eltern des Klägers berichtete Schreien nach der Impfung am 07.11.2008 ist auch vom damaligen Arzt Dr. G. am 05.12.2008 notiert worden. Allerdings können diesen Schilderungen keine weiteren Erkenntnisse bezogen auf eine Impfkomplikation entnommen werden.

Nachdem bereits ein Primärschaden nicht im Vollbeweis festzustellen ist, ist ein Anspruch des Klägers nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG nicht gegeben. Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Regeln der Beweislast zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs auf ihr Vorliegen stützt. Beweiserleichterungen auch in den Fällen besonders schwieriger Nachweiserbringungen sind abzulehnen, das Gesetz enthält bezüglich der Kausalitätsbeurteilung nach § 61 IfSG bereits Erleichterungen (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 04.06.2018, B 9 V 61/17 B, juris).

Selbst wenn man, wovon der Senat ausdrücklich nicht ausgeht, einen Primärschaden annehmen würde, wäre die Anerkennung eines Impfschadens vorliegend dennoch nicht möglich. Denn die beim Kläger vorliegende Entwicklungsverzögerung und der Frühkindliche Autismus Kanner sind zur Überzeugung des Senats nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfungen bis zum 04.03.2010 zurückzuführen. Auch dies hat bereits das SG zutreffend unter Würdigung der vorliegenden Unterlagen und der Ermittlungsergebnisse festgestellt. Auch der erkennende Senat folgt dem überzeugenden Sachverständigengutachten von Prof. Dr. K. vom 10.08.2015 samt ergänzender Stellungnahme vom 21.01.2017.

Für den zweifachen ursächlichen Zusammenhang der drei Glieder der Kausalkette nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG reicht es nach § 61 Satz 1 IfSG aus, wenn dieser jeweils mit Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Die Beweisanforderung der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung. Eine potentielle, versorgungsrechtlich geschützte Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (BSG, Urteil vom 22.09.1977, 10 RV 15/77, juris), also mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (BSG, Urteil vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80; BSG, Urteil vom 26.06.1985, 9a RVi 3/83, juris; BSG, Urteil vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84; BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, juris und BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort „hinreichend“ nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn. 3c).

Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (BSG, Urt. vom 26.11.1968, 9 RV 610/66, juris; BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris).

Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der höchstrichterlichen versorgungsrechtlichen Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 08.08.1974, 10 RV 209/73, juris) rechtlich nur dann nebeneinanderstehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Während die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris; BSG, Urteil vom 30.01.2007, B 2 U 8/06 R, juris) demgegenüber den Begriff der „annähernden Gleichwertigkeit“ für nicht geeignet zur Abgrenzung hält, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich ansieht, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von überragender Bedeutung ist, hat der für das soziale Entschädigungsrecht zuständige 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.12.2014 (B 9 V 6/13, juris) zur annähernden Gleichwertigkeit festgelegt, dass diese dann anzunehmen ist, wenn eine vom Schutzbereich des BVG umfasste Ursache in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen. Die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinn als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, ist im jeweiligen Einzelfall aus der Auffassung des praktischen Lebens abzuleiten (BSG, Urteil vom 12.06.2001, B 9 V 5/00 R, juris).

Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsschäden zu erfolgen (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, juris).

Den den Sachverständigen zur Beurteilung vorgelegten medizinischen Unterlagen kann ein Zusammenhang zwischen den stattgehabten Impfungen, einer unterstellten Primärschädigung und den manifestierten Gesundheitsstörungen des Klägers nicht entnommen werden. Der Senat folgt den Bewertungen von Prof. Dr. K. in seinem Gutachten vom 10.08.2015 einschließlich ergänzender Stellungnahme vom 21.01.2017. Vielmehr wurde bereits früh seitens der Chefärztin des J., Prof. Dr. N. in ihrem Bericht vom 19.01.2012 u.a. ausgeführt, dass es sich um angeborene Störungen des autistischen Spektrums handele. Auch wenn diese Bemerkung von Prof. Dr. N. auf allgemeinen Erkenntnisse der Verursachung autistischer Erkrankungen beruht, konnte im vorliegenden konkreten Einzelfall die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs nicht zur Überzeugung des Senats festgestellt werden. Vielmehr verbleibt es allein bei einer rein theoretischen Möglichkeit einer Verursachung unter Einbeziehung genetischer Ursachen. In dem von großer Fachkenntnis geprägten Gutachten einschließlich ergänzender Stellungnahme, die beide umfassend das zugrunde liegende Material sowie den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ausgewertet haben und zu nachvollziehbaren und in sich schlüssigen Ergebnissen gelangen, führt Prof. Dr. K. aus, dass die dokumentierten Entwicklungsverzögerungen sowie die - erinnerlich - auf April 2010 datierten manifestierten ersten autistischen Züge des Klägers zeitlich im Einklang zu bringen sind mit den allgemein fassbar werdenden Symptomen eines angeborenen frühkindlichen Autismus. Denn in der Mehrzahl der Fälle treten autistische Merkmale bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres auf. Sachverständig hält Prof. Dr. K. entscheidend fest, dass beim Kläger die Diagnose Frühkindlicher Autismus Kanner zu stellen ist, und grenzt im Weiteren diese Erkrankung von den weiteren Formen des Asperger-Syndroms sowie von „autistischen Zügen“ bzw. autistischen Teilsymptomatiken im Rahmen demgegenüber vorrangiger cerebraler Behinderungen ab. Bezogen auf die hier gegenständliche Erkrankung hält Prof. Dr. K. mit der überwiegenden Meinung in der Wissenschaft fest, dass die Ursache oder führende Ursache ein genetischer „Autismusfaktor“ sei. Ein nicht nachgewiesener Kausalzusammenhang gerade mit MMRV-Impfungen ist zudem in einer aktuell veröffentlichten dänischen Studie bestätigt worden (vgl. nur Die WELT vom 05.03.2019, www.welt.de/themen/autismus/, zuletzt aufgerufen am 14.05.2019).

Die Ausführungen bezogen auf die Erkrankung „Autismus“ durch Dr. H. in seinem Gutachten vom 12.04.2016 vermögen dagegen nicht zu überzeugen. So enthalten sie nicht die im Vergleich zu Prof. Dr. K. differenzierenden Kategorisierungen. Letztendlich gelangt jedoch auch Dr. H. zu dem Ergebnis, dass nach derzeitigem Forschungsstand insbesondere der frühkindliche Autismus eine starke genetische Grundlage habe, unterschiedliche Umweltfaktoren jedoch entscheidend an der Krankheitsentstehung beteiligt seien. Erkenntnisse für den vorliegend zu beurteilenden Einzelfall können aus dieser Feststellung nicht gewonnen werden. Auch die weiteren Ausführungen von Dr. H. überzeugen den Senat nicht, wenn dieser die maßgebliche Relevanz für die Verursachung der Erkrankung des Klägers in Impfzusatzstoffen (Aluminiumverbindungen in Form von Aluminiumhydroxid und Aluminiumphosphat) sieht.

Festgehalten werden muss für den vorliegenden Einzelfall, dass eine Verursachung allein durch den am 04.03.2010 verwendeten Lebendimpfstoff „Priorix-Tetra“ im Hinblick auf diese Impfzusatzstoffe von vornherein nicht in Betracht kommt. Denn dieser Impfstoff war frei von Aluminiumverbindungen, was auch Dr. H. festhält.

Eine Verursachung der Erkrankung des Klägers aufgrund der früheren Impfungen mit Impfstoffen, die Aluminiumverbindungen enthalten, kann nicht mit der hinreichenden Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Die diesbezüglichen Ausführungen von Dr. H. stehen nicht mit dem herrschenden wissenschaftlichen Erkenntnisstand im Einklang. Unabhängig hiervon gelangt aber auch Dr. H. nur zu der Feststellung, dass eine Verursachung von Gesundheitsschäden durch Impfstoffe generell möglich ist. Die bloße Möglichkeit genügt jedoch nicht. Zudem lässt das Gutachten von Dr. H. eine einzelfallbezogene, vollständige und schlüssige Argumentationslinie bezogen gerade auf den Fall des Klägers vermissen. Wenn Dr. H. seiner Feststellung der Kausalität Kriterien der WHO zugrunde legt, verlässt er damit den im deutschen Versorgungsrecht geltenden Maßstab. Für abweichende Maßstäbe einzelner Gutachter ist im Hinblick auf die gesetzlichen und höchstrichterlich manifestierten Vorgaben jedoch kein Raum. Wenn Dr. H. annimmt, dass durch Verwendung des „WHO-Algorithmus“ die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs einzugrenzen sei, so vermag dies bereits im Ansatz nicht zu überzeugen. Ohne ausreichende Aussagekraft ist hierbei ein allgemeines Abstellen auf „Faktoren des plausiblen zeitlichen Intervalls, der Bekanntheit der Reaktion und der pathophysiologischen Erklärbarkeit des Geschehens“. Aber auch die Erkenntnisse von Dr. H. für den vorliegenden Einzelfall beschränken sich darauf, dass das Erkrankungsbild des Klägers mit der These einer toxischen Ursache durch Aluminiumverbindungen „erklärbar“ sei. Wenn Dr. H. ausführt, die Eltern des Klägers hätten nach jeder weiteren Impfung eine Zunahme des Entwicklungsrückstandes festgestellt, so steht diese Bemerkung in eindeutigem Widerspruch zum klägerischen Vortrag. Denn danach habe sich der Kläger bis Sommer 2009 altersgerecht entwickelt und selbst die in den U4 und U5 vermerkten Entwicklungsverzögerungen hätte er stets aufgeholt. Schließlich ist die Theorie einer schleichenden Schädigung durch adjuvantierte Impfstoffe mit dem Eintritt eines deutlichen Entwicklungsstopps nach der am 04.03.2010 stattgefundenen Impfung insoweit für den Senat nicht schlüssig, als gerade diese Impfung mit Lebendviren erfolgte, d.h. ohne Verwendung von Konservierungsstoffen oder Aluminiumadjuvantien.

Die Bewertungen von Dr. H. halten sich bei genauerer Betrachtung allein im spekulativen Rahmen; sie werden weder durch den klägerischen Vortrag noch durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt. Da es jedoch bezogen auf sämtliche Impfungen am erforderlichen Nachweis einer Impfkomplikation fehlt, kommt es hierauf nicht entscheidend an. Insbesondere bedarf es keiner weiteren Ermittlungen.

Die erforderliche Kausalität kann auch nicht im Wege eines Umkehrschlusses anhand der Ergebnisse der humangenetischen Untersuchung festgestellt werden. Auf die fehlende Vollständigkeit dieser Untersuchung wird bereits im Befundbericht vom 16.11.2012 hingewiesen, was auch Prof. Dr. K. zutreffend aufgreift.

Ein Anspruch des Klägers kann ferner nicht auf die Vorgaben zur sog. „Kann-Versorgung“ gestützt werden, § 61 Satz 2, 3 IfSG.

Kann eine Aussage zu einem (hinreichend) wahrscheinlichen Zusammenhang nur deshalb nicht getroffen werden, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kommt die sogenannte Kann-Versorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG in Betracht. Von Ungewissheit ist dann auszugehen, wenn es keine einheitlichen, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG von der Beurteilung auf dem Boden der „Schulmedizin“ (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, juris). Aber auch bei der Kann-Versorgung reicht allein die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das BSG spricht hier auch von der „guten Möglichkeit“ eines Zusammenhangs (BSG, Urteil vom 12.12.1995, 9 RV 17/94, juris; BSG, Urteil vom 17.07.2009, B 9/9a VS 5/06, juris). In einem solchen Fall liegt eine Schädigungsfolge dann vor, wenn bei Zugrundelegung der wenigstens einen wissenschaftlichen Lehrmeinung nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nachgewiesen ist. Existiert eine solche Meinung überhaupt nicht, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein, dass ein Zusammenhang nicht hergestellt werden kann (vgl. nur BayLSG, Urteil vom 11.07.2018, L 20 VJ 7/15, juris Rn. 83 m.w.N.; BayLSG, Urteil vom 26.03.2019, L 15 VJ 9/16, juris Rn. 76 m.w.N.). Unter Heranziehung dieses Maßstabes kommt nach den vorstehenden Ausführungen ein Anspruch des Klägers auch im Wege der Kann-Versorgung nicht in Betracht. Zudem scheitert der Anspruch bereits am Nachweis eines Primärschadens.

Schließlich führt auch das von der Klägerseite vorgetragene Urteil des EuGH vom 21.06.2017 (C-621/15) zu keiner anderen Beurteilung. Der EuGH hatte in diesem Fall über einen Sachverhalt nach dem französischen (zivilrechtlichen) Produkthaftungsrecht zu entscheiden. Hieraus ergeben sich keine Vorgaben zu einer Veränderung der Beweismaßstäbe, wie sie im deutschen Versorgungsrecht gelten (BayLSG, Urteil vom 11.07.2018, L 20 VJ 7/15, juris Rn. 132 sowie SG Regensburg, Urteil vom 04.07.2018, S 13 VJ 2/16, juris Rn. 43 ff. m.w.N.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger auch im Berufungsverfahren erfolglos geblieben ist.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 SGG.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. April 2017 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. In einem vorangegangenen Berufungsverfahren hat das LSG mit Urteil vom 10.4.2013 einen Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz wegen geltend gemachter Folgen von am 12.7.1995 und 15.10.1996 durchgeführter Schutzimpfungen verneint. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Kläger bei den Impfungen eine gesundheitliche Schädigung im Sinne einer unüblichen Impfreaktion erlitten habe, die zu einem globalen Entwicklungsrückstand als Impfschaden geführt habe. Auf die Beschwerde des Klägers hat das BSG mit Beschluss vom 14.11.2013 (B 9 V 33/13 B) das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, weil das LSG das Paul-Ehrlich-Institut (Prof. Dr. C.) nicht zu Einwänden des Klägers ergänzend befragt hat. Dementsprechend hat das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren Auskünfte bei Prof. Dr. C. und Prof. Dr. V. eingeholt und Prof. Dr. D., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Prof. Dr. D. hat eine vorläufige Stellungnahme erstattet und eine Fachinformation für Ärzte und Apotheker 1995 zu den Impfstoffen sowie einen Gutachtenentwurf übersandt.

2

Mit Urteil vom 26.4.2017 hat das LSG erneut einen Anspruch des Klägers verneint, weil nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass bei dem Kläger nach einer der Impfungen vom 12.7.1995 bis zum 3.11.1997 eine Primärschädigung im Sinne einer Impfkomplikation aufgetreten sei. Es fehle am Nachweis einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung. Sei eine solche das übliche Ausmaß übersteigende gesundheitliche Schädigung im Nachgang einer Impfung nicht erwiesen, so stelle sich vorliegend die Frage nach einem Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Primärschädigung nicht. Weiterer Ermittlungen zum Vorliegen einer Impfkomplikation im Gegensatz zu einer bloßen üblichen Impfreaktion habe es daher nicht bedurft. Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 26.4.2017 zuletzt noch gestellten Beweisanträge seien daher abzulehnen.

3

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG erneut Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung sowie von Verfahrensmängeln begründet.

4

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ist ordnungsgemäß dargetan worden(§ 160a Abs 2 S 3 SGG).

5

1. Grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist, und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1.) eine bestimmte Rechtsfrage, (2.) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3.) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4.) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.

6

Der Kläger hält folgende Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung:

        

"Gebietet die Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG zu ermitteln

        

a)    

welche dauerhafte Gesundheitsschädigung vorliegt,

        

b)    

wie wahrscheinlich die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung durch die Impfung ist,

        

c)    

ob Alternativursachen für die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung ersichtlich sind,

        

wenn eine Primärschädigung nicht erkennbar zutage getreten ist?"

7

Ob der Kläger damit eine Rechtsfrage hinreichend bezeichnet hat, die auf die Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals abzielt (vgl Becker, SGb 2007, 261, 265 zu Fn 42 mwN), kann hier dahinstehen. Er hat bereits die höchstrichterliche Klärungsbedürftigkeit dieser von ihm aufgestellten Frage nicht dargetan. Es fehlt insbesondere eine Auseinandersetzung mit den Vorschriften des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) und des IfSG (hier insbesondere § 2 Nr 11 IfSG), nach denen eine Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen (Primär-)Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche (Sekundär-)Schädigung vorliegen müssen, wobei letztere nach § 2 Nr 11 IfSG als Impfschaden definiert wird, während Impfschaden nach der abweichenden Terminologie des BSeuchG die Primärschädigung bezeichnet(vgl hierzu auch BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 35 ff). Zudem hätte es einer Darlegung der Beweisanforderungen bedurft (vgl hierzu insgesamt BSG, aaO; BSG Urteil vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9), wie diese in der angefochtenen Entscheidung des LSG (S 21 des Urteils) bereits ausgeführt worden sind, um eine Sachaufklärungsrüge nach § 103 SGG im Rahmen einer grundsätzlichen Bedeutung als Rechtsfrage zu formulieren. Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis "nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen" nicht ausreichen.

8

Unabhängig davon hat der Kläger auch die Entscheidungserheblichkeit seiner vermeintlichen Rechtsfrage nicht dargelegt, da nach Auffassung des LSG unter Würdigung des gesamten Sach- und Streitstandes aufgrund des schriftlichen Gutachtens nebst ergänzender Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. sowie des Ergebnisses von dessen persönlicher Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 10.4.2013 eine Primärschädigung im Sinne des Gesetzes nicht vorliege. Durchgreifende Verfahrensrügen gegen die zugrunde liegenden Feststellungen sind der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen (dazu sogleich).

9

2. Der Kläger bezeichnet auch einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers stützt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr, vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 4 mwN). Geltend gemacht werden kann nur ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und - entgegen der Vorstellung des Klägers - 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

10

a) Die Beschwerdebegründung befasst sich umfangreich mit der Darlegung vermeintlicher Aufklärungsmängel (§ 103 SGG) durch das LSG ohne zuvor den Sachverhalt und den gesamten Verfahrensgang darzustellen. "Bezeichnet" iS des § 160a Abs 2 S 3 SGG ist ein Verfahrensmangel allerdings nur dann, wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird(BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Dies wird aber nur dann erkennbar, wenn zuvor diese Tatsachen im Zusammenhang mit dem Verfahrensgang dargestellt und einer rechtlichen Wertung unterzogen werden. Hieran fehlt es. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, aus der Beschwerdebegründung unter Heranziehung von Verwaltungs- und Prozessakten das herauszusuchen, was möglicherweise - bei wohlwollender Auslegung - zur Begründung der Beschwerde geeignet sein könnte (BSG, aaO). Sofern der Kläger eine erneute Anhörung von Dr. H. begehrt, scheitert dieses Vorhaben im Rahmen der Beschwerde bereits an dem Umstand, dass nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG gestützt werden kann. Unabhängig davon beschäftigt sich die Beschwerdebegründung auch nicht mit dem Umstand, dass Dr. H. sein Gutachten bereits vor dem SG erstattet hat und schon deshalb eine weitere Anhörung ohnehin nur unter den Voraussetzungen einer notwendigen Anhörung nach Maßgabe des § 411 Abs 3 ZPO verlangt werden konnte(vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B; BSG Beschluss vom 25.10.2012 - B 9 SB 18/12 B - Juris RdNr 7; dazu sogleich).

11

b) Darüber hinaus hat der Kläger auch nicht dargelegt, einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung des LSG vom 26.4.2017 gestellt zu haben. Die von ihm wiedergegebenen Anträge zu Ziff 1 b, c, 2 c, d, 4, 5 und 6 bezeichnen zwar einzelne Punkte hinsichtlich derer weiterer Beweis erhoben werden soll. Denn Merkmal eines Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Um in der aktuellen Prozesssituation ein Beweisthema für das LSG hinreichend genau zu bezeichnen, hätte der Kläger aber zusätzlich angeben müssen, warum gerade diese Punkte weiter klärungsbedürftig sein sollten. Denn je mehr Aussagen von Sachverständigen oder (sachverständigen) Zeugen zum Beweisthema bereits vorliegen, desto genauer muss der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen eingehen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 11 mwN). Angesichts dessen reicht es nicht aus, auf weitere Ermittlungserfordernisse hinsichtlich der beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen sowie deren Verursachung durch die Impfungen zu verweisen, da zu diesen Themenkomplexen bereits mehrere Sachverständigengutachten vorlagen. Die erneuten Anträge des Klägers hinsichtlich der streitgegenständlichen Impfstoffe und deren Verursachung der Entwicklungsretardierung beim Kläger sowie zu der unzureichenden Gewichtszunahme des Klägers nach allen Impfungen, die Einholung einer Stellungnahme eines impfschadensrechtlich erfahrenen Gutachters, eines toxikologischen Gutachtens und immunologischen Gutachtens waren insgesamt nicht dazu geeignet, dem Berufungsgericht noch klärungsbedürftige Punkte aufzuzeigen und es damit zu weiteren Ermittlungen zu veranlassen.

12

Die Beschwerde legt nicht schlüssig dar, warum die Anträge des Klägers das LSG hätten zu weiterer Beweiserhebung drängen müssen. Dazu hätte es der Darlegung bedurft, warum das Gericht objektiv gehalten gewesen war, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben (vgl BSG Beschluss vom 29.4.2010 - B 9 SB 47/09 B - Juris). Daran fehlt es hier. Die Würdigung voneinander abweichender Gutachtenergebnisse oder ärztlicher Auffassungen gehört wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst. Diese ist von dem LSG als letztes Tatsachengericht durchzuführen (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) und kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Eine Verpflichtung zur Einholung eines sog Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtenergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 13 mwN). Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8). Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten ungenügend sind, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO, weil sie grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben(vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN). Derartige Gründe hat die Beschwerde nicht dargelegt.

13

Die Beschwerde hat nicht substantiiert dargelegt, warum die Gewichtung der unterschiedlichen Befunde dem LSG misslungen sein sollte. Das Tatsachengericht braucht jedenfalls dann kein weiteres Gutachten einzuholen, wenn der Kläger bereits nicht darlegt, dass sich die Tatsachengrundlagen der Gutachten widersprechen. Selbst widersprüchliche Tatsachenfeststellungen verschiedener Gutachten erzwingen nicht bereits ein weiteres Gutachten, um den Widerspruch aufzulösen. Beruhen vielmehr die Differenzen zwischen den Auffassungen von Sachverständigen darauf, dass diese von verschiedenen tatsächlichen Annahmen ausgehen, dann muss der Tatrichter, ggf nach weiterer Aufklärung, die für seine Überzeugungsbildung maßgebenden Tatsachen feststellen oder begründen, weshalb und zu wessen Lasten sie beweislos geblieben sind (vgl BGH Urteil vom 23.9.1986 - VI ZR 261/85). Diese letztgültige Feststellung der maßgeblichen Anknüpfungs- bzw Befundtatsachen muss nicht zwingend durch ein weiteres Gutachten, sondern kann in freier Beweiswürdigung der von den Sachverständigen (oder sonst) festgestellten Tatsachen erfolgen. Haben die Sachverständigen unterschiedliche Befunde erhoben, so obliegt es grundsätzlich dem Tatsachengericht, die Aussagekraft der erhobenen Befunde anhand nachvollziehbarer Kriterien zu gewichten, soweit es dazu nicht auf medizinische Sachkunde zurückgreifen muss, die ihm die Sachverständigen im zu entscheidenden Fall nicht vermittelt haben und über die es auch sonst nicht verfügt. Insoweit hätte es im Rahmen der Beschwerde vorrangig der Darlegung bedurft, weshalb hinsichtlich der Beweisanträge die dort postulierten Anknüpfungstatsachen in Form des schwallartigen Erbrechens nach sämtlichen Impfungen entgegen der auf den Zeugenaussagen basierenden Wertung des LSG als erwiesen zu erachten sind. Der bloße Hinweis darauf, dass es für den Nachweis eines Primärschadens ausreichend sei, wenn die Primärschädigung im Verborgenen eintrete und nicht erkennbar zutage trete, reicht insoweit nicht aus. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG ist ein Primärschaden unter diesen Umständen gerade nicht nachgewiesen, sodass mangels Feststellung der Anknüpfungstatsachen die genannten Beweisanträge unerheblich sind. Die Beschwerde legt nicht substantiiert dar, warum die nachvollziehbare Argumentation des LSG, die den Kernbereich der grundsätzlich der Tatsacheninstanz vorbehaltenen Tatsachenwürdigung betrifft, offensichtlich fehlsam gewesen sein könnte.

14

Nichts anderes gilt hinsichtlich der übrigen Beweisanträge. Das LSG hat sich auf die schriftlichen und mündlichen Äußerungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. gestützt, dessen Gutachten auch im Rahmen der Beschwerde nicht als "ungenügend" iS von § 412 Abs 1 ZPO gerügt wird. Soweit das LSG die gutachterlichen Ausführungen deshalb für überzeugend halten durfte, musste es sich nicht gedrängt sehen, weitere sachverständige Stellungnahmen oder Gutachten einzuholen. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen fehlt eine plausible Darlegung, wieso es auf die weiter unter Beweis gestellten Umstände noch hätte ankommen können. Tatsächlich kritisiert der Kläger die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), womit er nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein eine Revisionszulassung nicht erreichen kann. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzureichende Rechtsanwendung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).

15

c) Auch die Verletzung rechtlichen Gehörs hat der Kläger nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Ein solcher Verstoß liegt ua vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen miteinzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 19 S 33 mwN) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Dementsprechend sind insbesondere Überraschungsentscheidungen verboten (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 8b mwN). Zur Begründung eines entsprechenden Revisionszulassungsgrundes ist nicht nur der Verstoß gegen diesen Grundsatz selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen ggf dadurch verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Ferner ist Voraussetzung für den Erfolg einer Gehörsrüge, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 21 S 35; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

16

Der Kläger hat nicht substantiiert dargelegt, warum die unterbliebene Anhörung der von ihm benannten Sachverständigen Prof. Dr. D. sowie Dr. H. eine Gehörsverletzung darstellt. Unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts stehenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, steht den Beteiligten gemäß § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO grundsätzlich das Recht zu, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten(BVerfG Beschluss vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 - Juris RdNr 11; vgl auch BSG Beschluss vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - Juris RdNr 7; BGH Urteil vom 7.10.1997 - VI ZR 252/96 - NJW 1998, 162, 163 - Juris RdNr 10 - alle mwN). Dabei reicht es aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 4; BVerwG Beschluss vom 19.3.1996 - 11 B 9/96 - NJW 1996, 2318), zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen. Einwendungen in diesem Sinne sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (vgl § 411 Abs 4 ZPO). Eine Form für die Befragung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, sodass sie sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen kann. Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen letztlich eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35). Dieser Obliegenheit ist ein Beteiligter jedenfalls dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören und er schriftlich Fragen im oben dargelegten Sinne angekündigt hat, die objektiv sachdienlich sind; liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten bleibt (vgl BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 4 RdNr 5). Die Beschwerde thematisiert schon nicht, ob das Fragerecht gegenüber dem erstinstanzlichen Sachverständigen vor dem LSG überhaupt noch bestanden habe (vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - aaO) bzw gegenüber Prof. Dr. D. mangels eines schriftlichen Gutachtens überhaupt entstanden sein könnte.

17

Jedenfalls hat die Beschwerde auch nicht ausreichend dargelegt, warum die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung am 26.4.2017 formulierten Fragen an die Sachverständigen Prof. Dr. D. und Dr. H. überhaupt noch erläuterungsbedürftig waren, nachdem die Sachverständigen zu diesen Punkten bereits Stellungnahmen abgegeben hatten und Stellungnahmen von anderen Sachverständigen vorgelegen haben. Darüber hinaus wäre es erforderlich gewesen darzulegen, weshalb es auf die Klärung dieser Fragen ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen noch ankommen konnte (aaO). Tatsächlich zielt der Antrag des Klägers ersichtlich darauf ab, das LSG nochmals von seiner abweichenden Rechtsauffassung und Tatsachenwürdigung zu überzeugen. Damit wendet sich der Kläger, wie oben bereits angeführt, tatsächlich gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, welche sich der Beurteilung durch das Revisionsgericht entzieht (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG), und rügt Fehler in der Rechtsanwendung, auf die es im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nicht ankommt (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

18

3. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

19

4. Die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgt ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG).

20

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 2. November 2017 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. Der Kläger beansprucht in der Hauptsache im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X die Anerkennung einer Polyneuropathie beider Beine als Folge der am 29.8.1986, 7.8.1990 und 21.8.1990 durchgeführten Tetanusimpfungen und ab 1.1.2008 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 50. Diesen Anspruch hat das LSG mit Urteil vom 2.11.2017 verneint. Nach den vorliegenden Befundberichten und Sachverständigengutachten sei weiterhin nicht nachgewiesen, dass beim Kläger ein Impfschaden aufgrund der streitigen Impfungen vorliege.

2

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht als Zulassungsgründe die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Divergenz und Verfahrensmängel geltend.

3

II. Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Begründung vom 23.3.2018 genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht in der hierfür erforderlichen Weise dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG). Der Beschwerdevortrag des Klägers im Schriftsatz vom 24.5.2018 war nicht mehr zu berücksichtigen, weil er außerhalb der bis zum 5.4.2018 verlängerten Beschwerdebegründungsfrist lag (§ 160a Abs 2 S 1 und 2 SGG).

4

1. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss daher, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl BSG Beschluss vom 2.5.2017 - B 5 R 401/16 B - Juris RdNr 6 mwN). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.

5

Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, "ob auch im Bereich neurologischer Schäden in Analogie zu psychischen Schäden eine Beweiserleichterung dahingehend zu gewähren ist, dass bei zunächst 'unauffälligen' Befunden und vermeintlichem Fehlen einer Primärschädigung durch die spätere, gesicherte Diagnose Rückschlüsse auf eine schon früh bestehende Primärschädigung gezogen werden können".

6

Der Kläger hat jedoch die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragestellung nicht hinreichend dargelegt. Insbesondere setzt er sich nicht damit auseinander, inwiefern diese Frage durch die Rechtsprechung des BSG zum Impfschadensrecht bereits geklärt ist. Der Kläger berücksichtigt nicht, dass selbst wenn das BSG eine Frage noch nicht ausdrücklich entschieden hat, eine Rechtsfrage bereits dann als höchstrichterlich geklärt anzusehen ist, wenn schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (stRspr, zB BSG Beschluss vom 24.3.2018 - B 12 R 44/17 B - Juris RdNr 8 mwN). Der Kläger unterzieht sich nicht der notwendigen Mühe, sich bezogen auf den mit der Frage aufgeworfenen Problemkreis mit der Rechtsprechung des BSG zur Feststellung einer impfbedingten Primärschädigung auseinander zu setzen (vgl hierzu zB Senatsurteil vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 36 ff; zur Beweislast und Beweiserleichterung im Impfschadensrecht s auch Senatsurteil vom 27.8.1998 - B 9 VJ 2/97 R - Juris RdNr 17 ff) und prüft demzufolge nicht, ob sich hieraus schon Anhaltspunkte zur Beantwortung der gestellten Frage entnehmen lassen.

7

Überdies fehlen Ausführungen zur Klärungsfähigkeit. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich nicht, ob sich auf der Grundlage des vom LSG festgestellten und für das BSG im angestrebten Revisionsverfahren grundsätzlich verbindlichen (§ 163 SGG) Sachverhalts notwendig über die mit der gestellten Frage angesprochene Problematik zu entscheiden ist.

8

2. Divergenz im Sinne des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die in zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG aufgestellt hat. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht.

9

Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der in Bezug genommenen höchstrichterlichen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das BSG die höchstrichterliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr, zB BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 13 R 140/17 B - Juris RdNr 12 f). Auch diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.

10

Soweit der Kläger unter Punkt 3 und 4 seiner Beschwerdebegründung eine Divergenz darin sieht, dass das LSG sowohl den vom BSG entwickelten Krankheits- als auch den Kausalitätsbegriff verkannt bzw nicht richtig angewendet habe, fehlt es bereits an der notwendigen Darstellung eines abstrakten Rechtssatzes aus dem angefochtenen Urteil des LSG, der eine Abweichung zu einem abstrakten Rechtssatz des BSG in den von ihm zitierten Entscheidungen aufzeigt. Sein diesbezügliches Vorbringen geht über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus. Allein die - im Kern vom Kläger behauptete - Unrichtigkeit der Entscheidung - zB aufgrund der Nichtbeachtung oder fehlerhaften Anwendung höchstrichterlicher Rechtsprechung - rechtfertigt die Zulassung wegen Divergenz nicht (vgl stRspr, zB BSG Beschluss vom 16.3.2017 - B 13 R 390/16 B - Juris RdNr 16).

11

3. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel im Sinne von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels(§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

12

a) Der Kläger rügt eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG), weil das LSG seinen in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag auf mündliche Befragung des Gutachters Prof. Dr. Dr. D. nicht nachgekommen sei. Für das Gericht sei erkennbar gewesen, dass er den Sachverständigen zum Vorliegen einer Small-Fiber-Neuropathie habe befragen wollen. Diese Sonderform der Polyneuropathie habe der Gutachter nicht berücksichtigt. Aus diesem Grunde entspreche das bereits sieben Jahre alte Gutachten nicht dem aktuellen wissenschaftlichen medizinischen Stand.

13

Sein diesbezüglicher Vortrag reicht jedoch zur Bezeichnung eines entsprechenden Verfahrensmangels nicht aus. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG hat der Verfahrensbeteiligte grundsätzlich - zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs - ein Recht auf Befragung eines Sachverständigen, der ein (schriftliches) Gutachten erstattet hat (§§ 116 S 2, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO). Das Fragerecht besteht unabhängig von dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, bei einem erläuterungsbedürftigen schriftlichen Gutachten nach § 411 Abs 3 ZPO das Erscheinen des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuordnen. Es ist Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG). Es besteht allerdings grundsätzlich nur hinsichtlich solcher Gutachten, die im selben Rechtszug erstattet worden sind.

14

Macht der Beteiligte von seinem Fragerecht nicht innerhalb desselben Rechtszugs Gebrauch, in dem das Gutachten eingeholt worden ist, kann er die Anhörung des Sachverständigen im nächsten Rechtszug aber auch noch dann verlangen, wenn die Voraussetzungen für eine notwendige Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens gemäß § 411 Abs 3 ZPO vorliegen und die Ablehnung des entsprechenden Antrags durch die nunmehr tätige Instanz ermessenswidrig wäre(stRspr, zB Senatsbeschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - Juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - Juris RdNr 7).

15

Allerdings ist der Sachverständige Prof. Dr. Dr. D., auf den sich das LSG im angefochtenen Urteil zur Entscheidungsfindung maßgeblich gestützt hat und dessen ergänzende mündliche Befragung der Kläger begehrt, nicht in der Vorinstanz gehört worden, sondern in dem vorangegangenen LSG-Verfahren (L 4 VE 16/09). Selbst wenn man dem Kläger dennoch insbesondere unter Berücksichtigung dessen, dass in jenem LSG-Verfahren der von dem hier vorliegenden Überprüfungsverfahren erfasste Bescheid vom 29.5.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7.8.2007 streitgegenständlich war, ein Fragerecht zubilligen wollte, hat der Kläger dessen oben genannte Voraussetzungen nicht hinreichend dargelegt.

16

Dass hier nach § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO die Voraussetzungen für eine notwendige Ladung des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Dr. D. durch das LSG vorgelegen hätten, ergibt sich aus der Beschwerdebegründung des Klägers nicht. Es hätte dazu der Darlegung bedurft, dass das LSG dem Antrag des Klägers auf Ladung des Sachverständigen hätte folgen müssen. Nur unter diesen Voraussetzungen wandelt sich das pflichtgemäße Ermessen in § 411 Abs 3 ZPO zu einer Verpflichtung des Gerichts und wäre ohne Weiteres davon auszugehen, dass dem Sachverständigen in der Folge (die dem LSG zuvor angekündigten) sachdienlichen Fragen im Sinne des § 116 S 2 SGG gestellt worden wären (Senatsbeschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - Juris RdNr 7).

17

Der Kläger weist zwar zutreffend darauf hin, dass alle medizinischen Fragen auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind (vgl Senatsurteil vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 42). Dennoch reicht sein Vortrag, das Gutachten des Prof. Dr. Dr. D. habe das Vorliegen einer Small-Fiber-Neuropathie nicht erörtert, obwohl diese Form der Polyneuropathie auch schon zur Zeit der Gutachtenerstattung in der medizinischen Fachliteratur diskutiert worden sei, zu der hier notwendigen Darlegung verbliebenen objektiven Ermittlungsbedarfs nicht aus. Denn der Kläger berücksichtigt und würdigt in seiner Beschwerdebegründung nicht hinreichend, dass sich der Sachverständige - wie sich sowohl aus dem LSG-Urteil vom 10.8.2011 (L 4 VE 16/09) als auch aus dem hier angefochtenen Berufungsurteil vom 2.11.2017 ergibt - mit den zahlreichen aktenkundigen neurologischen Befunden auseinandergesetzt und ausgeführt hat, dass aufgrund dieser Befundlage eine neurologische Erkrankung erst ab 2005 festgestellt werden könne (Bezugnahme auf den Befundbericht von Dr. Dr. Z. vom 28.3.2007). Dass der neurologische Sachverständige Prof. Dr. Dr. D. insoweit die aktenkundigen neurologischen und sonstigen medizinischen Befunde nicht oder nur lückenhaft oder oberflächlich ausgewertet hat, zeigt der Kläger nicht auf. Soweit er vor diesem Hintergrund dennoch behauptet, dass die von ihm über Jahre geklagte Schmerzsymptomatik auf eine durch die erfolgten Impfungen eingetretene Small-Fiber-Neuropathie zurückzuführen sei, hätte es - insbesondere aber auch im Hinblick auf die hiernach vorzunehmende Kausalbeurteilung - einer substanzvollen Darlegung bedurft, aus welchen aktenkundigen neurologischen Befundunterlagen vor oder möglicherweise nach der Begutachtung des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. D. sich denn überhaupt zumindest ein Anhalt für das Vorliegen einer Small-Fiber-Neuropathie ergeben könnte. Daran fehlt es. Der Kläger weist zwar darauf hin, dass es sich bei Small-Fiber-Neuropathie um eine "Sonderform der Polyneuropathie" handelt. Allerdings hat der Sachverständige Prof. Dr. Dr. D. worauf auch das LSG hingewiesen hat - in seinem Gutachten vom 29.7.2010 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 22.12.2010 bereits klar ausgeführt, dass die vom Kläger in den Jahren 1992 bis 2001 geschilderte Schmerzsymptomatik ohne (objektives) neurologisches Korrelat nicht als Ausdruck einer Polyneuropathie gewertet werden könne. Dass das LSG hiervon ausgehend nur noch ermessenswidrig von einer Ladung des Prof. Dr. Dr. D. zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens hätte Abstand nehmen können, hat der Kläger nach alledem nicht schlüssig dargetan. Sofern er mit der Auswertung und Würdigung der gutachterlichen Äußerungen des Prof. Dr. Dr. D. durch das Berufungsgericht nicht einverstanden ist, greift er im Kern dessen Beweiswürdigung an. Auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien Beweiswürdigung) kann jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 160 Abs 1 Nr 3 SGG von vornherein nicht gestützt werden.

18

b) Soweit der Kläger auch eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach §§ 103, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO darin sehen sollte, dass das LSG seinem Antrag, den Sachverständigen Prof. Dr. Dr. D. zur mündlichen Befragung seines Gutachtens zum Termin zu laden, zu Unrecht nicht nachgegangen sei, kann zwar eine gerügte Nicht-Ladung eines Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung auch ein Aufklärungsmangel des LSG sein (vgl hierzu BSG Beschluss vom 19.4.2017 - B 13 R 339/16 B - Juris RdNr 10 ff). Sein Vortrag erfüllt aber nicht die Anforderungen an eine diesbezügliche Sachaufklärungsrüge. Denn auch hierfür ist ua die Darlegung notwendig, dass das Berufungsgericht nur noch ermessenswidrig von der Befragung des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. D. hätte absehen können. Entsprechende Ausführungen enthält die Beschwerdebegründung - wie oben ausgeführt - aber nicht.

19

c) Der Kläger rügt zudem, das LSG hätte in Bezug auf seine Feststellung, dass Prof. Dr. H.
nicht nachgewiesen habe, wann es zu dem chronisch persistierenden Entzündungsgeschehen beim Kläger gekommen sei, im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht eine (weitere) ergänzende Stellungnahme dieses Sachverständigen einholen müssen. Auch mit seinem diesbezüglichen Vorbringen hat er jedoch keinen eine Nichtzulassungsbeschwerde begründenden Verfahrensmangel bezeichnet.

20

aa) Soweit er darin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG sieht, erfüllt sein Vorbringen nicht die spezifischen Darlegungsanforderungen an eine Sachaufklärungsrüge. Insoweit muss die Beschwerdebegründung (1) einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, bis zuletzt aufrechterhaltenen oder im Urteil wiedergegebenen Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, auf deren Grundlage bestimmte Tatfragen klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) die von dem Beweisantrag betroffenen tatsächlichen Umstände aufzeigen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) das voraussichtliche Ergebnis der unterbliebenen Beweisaufnahme angeben und (5) erläutern, weshalb die Entscheidung des LSG auf der unterlassenen Beweiserhebung beruhen kann (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 26.2.2018 - B 9 SB 84/17 B - Juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 22.7.2010 - B 13 R 585/09 B - Juris RdNr 10, jeweils mwN).

21

Diese Anforderungen gelten uneingeschränkt allerdings nur, wenn der Beschwerdeführer bereits in der Berufungsinstanz durch einen rechtskundigen und berufsmäßigen Prozessbevollmächtigten vertreten war (Senatsbeschluss vom 18.9.2003 - B 9 SB 11/03 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5 mwN). War dies - wie hier - nicht der Fall, kommen zum einen weniger strenge Anforderungen an Form und Inhalt eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags zur Anwendung. Zum anderen wird dann aus dem Fehlen eines in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich zu Protokoll - bzw in der Zustimmung zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung schriftsätzlich - aufrechterhaltenen Beweisantrag nicht stets der Schluss gezogen, dass dieser Beweisantrag bewusst nicht weiterverfolgt werden sollte (BSG Beschluss vom 22.7.2010 - B 13 R 585/09 B - Juris RdNr 11 mwN). Der Umstand, dass ein Kläger im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertreten war, führt jedoch nicht dazu, dass die in § 160 Abs 2 Nr 3 Teils 3 SGG normierten Anforderungen an eine Sachaufklärungsrüge insgesamt unbeachtlich wären. Deshalb kann auch bei einem solchen Beteiligten nicht darauf verzichtet werden, dass er darlegt, einen konkreten Beweisantrag zumindest sinngemäß gestellt zu haben; dazu gehört die Angabe, welche konkreten Punkte am Ende des Verfahrens noch für aufklärungsbedürftig gehalten wurden und welcher Beweismittel sich das Gericht bedienen solle, um die begehrte weitere Aufklärung herbeizuführen (BSG Beschluss vom 22.7.2010, aaO, mwN). Entsprechenden Vortrag enthält die Beschwerdebegründung jedoch im Hinblick auf das Begehren einer weiteren Sachaufklärung durch eine zweite ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. H. nicht. Insoweit fehlt es bereits an der Bezeichnung eines im Berufungsverfahren zumindest sinngemäß gestellten konkreten Beweisantrags.

22

bb) Soweit der Kläger in der oben genannten Feststellung des LSG eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs in Form einer Überraschungsentscheidung (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) sieht, genügt sein Vorbringen ebenfalls nicht den Darlegungsanforderungen. Hierzu hätte der Kläger vorbringen müssen, dass er unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Sachentscheidung habe rechnen können. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl Senatsbeschluss vom 24.8.2017 - B 9 SB 44/17 B - Juris RdNr 8 mwN). Zudem gehört es zu den Aufgaben des Tatsachengerichts, sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit einander entgegenstehenden Gutachtenergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem grundsätzlich anschließen, ohne ein weiteres Gutachten oder eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme einholen zu müssen (vgl BSG Beschluss vom 3.12.2013 - B 13 R 447/12 B - Juris RdNr 17; BSG Beschluss vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - Juris RdNr 8, jeweils mwN).

23

Der Kläger legt überdies nicht substantiiert dar, dass er unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Entscheidung habe rechnen können. Dies wäre hier umso mehr erforderlich gewesen, als in einem tatsachengerichtlichen Verfahren, in dem ua aus den Beurteilungen von mehreren Sachverständigen unterschiedliche Bewertungen abgeleitet werden können und - wie hier - zwischen den Beteiligten streitig erörtert werden, jeder Beteiligte - und damit auch der Kläger - damit rechnen muss, dass das Gericht zu seinen Ungunsten entscheiden kann, in dem es sich der von ihm bevorzugten Sachverständigenbeurteilung ganz oder teilweise nicht anschließt. Nicht zuletzt deshalb war der Kläger bislang mit seinem Begehren in mehreren Gerichtsverfahren erfolglos geblieben.

24

cc) Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang mit der Aus- und Bewertung des Gutachtens des Prof. Dr. H. vom 10.3.2017 einschließlich seiner ergänzenden Stellungnahme vom 1.8.2017 durch das LSG nicht einverstanden ist, wendet er sich gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts. Zur Beweiswürdigung gehört auch die Würdigung unterschiedlicher Gutachtenergebnisse (BSG Beschluss vom 19.11.2007 - B 5a/5 R 382/06 B - Juris RdNr 8). Hierauf kann jedoch - wie oben bereits ausgeführt - eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden.

25

d) Der Kläger sieht sein rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) auch dadurch verletzt, dass das LSG in der mündlichen Verhandlung die Annahme der "Originalurkunde" einer beglaubigten Übersetzung des Periodic-Safety-Update Report (PSUR) des Impfstoffherstellers N.
 aus dem Jahr 2012 "verweigert" habe.

26

Damit hat er jedoch keinen Gehörsverstoß dargelegt. Denn er trägt selbst vor, dass er dem Gericht bereits mit Schriftsatz vom 30.9.2017 eine vollständige Kopie des Originals vorgelegt habe. Dass das LSG den Inhalt des PSUR des Impfstoffherstellers N. nicht im Sinne des Klägers gewürdigt bzw bewertet hat, begründet keinen Gehörsverstoß. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet nur, dass der Kläger "gehört", nicht jedoch "erhört" wird (vgl Senatsbeschluss vom 29.3.2017 - B 9 V 59/16 B - Juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 9.5.2011 - B 13 R 112/11 B - Juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 18.12.2012 - B 13 R 305/11 B - Juris RdNr 8). Dass der Kläger vom LSG daran gehindert worden sei, das erwähnte Schreiben des Direktors des P.-Instituts vom 28.10.2013 zu den Gerichtsakten zu reichen, behauptet er nicht.

27

e) Soweit der Kläger seine fehlende Anhörung vor dem Übertragungsbeschluss des LSG auf die Berichterstatterin nach § 153 Abs 5 SGG vom 31.8.2017 rügt, hat er nicht aufgezeigt, das darin ein Verfahrensmangel liegt, auf dem die Entscheidung des LSG beruhen kann. Denn eine solche Gehörsverletzung führt nicht zu einer fehlerhaften Besetzung der Richterbank und damit zu einem absoluten Revisionsgrund nach § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO, weil die Rückübertragung durch Beschluss des Senats auf den Senat möglich ist(vgl BSG Beschluss vom 24.1.2018 - B 14 AS 73/17 BH - Juris RdNr 6; BSG Urteil vom 21.9.2017 - B 8 SO 3/16 R - Juris RdNr 16 f - zur Veröffentlichung in SozR 4-1500 §153 Nr 16 vorgesehen). Dass vorliegend die Voraussetzungen für eine Rückübertragung vorgelegen haben, trägt der Kläger nicht vor.

28

4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

29

5. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

30

6. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.

2

Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.

3

Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.

4

Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.

5

Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.

6

Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.

7

Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.

8

Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.

9

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.

10

Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).

11

Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.

12

Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.

13

Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.

14

In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.

15

Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.

16

In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.

17

Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.

18

Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.

19

Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.

20

Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.

21

Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).

22

Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.

23

Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.

24

Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.

25

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.

26

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

27

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.

28

Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.

Entscheidungsgründe

29

1. Die Revision des Klägers ist zulässig.

30

a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.

31

Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.

32

b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.

33

2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.

34

a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).

35

           

b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:

Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 

4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,

eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

        

Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

        
36

aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).

37

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).

38

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

39

bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

40

           

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):

        

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

41

Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS , Einleitung zur VersMedV, S 5), sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.

42

cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

43

Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.

44

c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.

45

aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25 ) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.

46

Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".

47

Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.

48

bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.

49

           

aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:

So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.

50

           

Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

51

In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).

52

Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.

53

           

Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:

        

Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.

54

           

Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:

        

Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.

55

           

Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:

        

Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.

56

           

Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:

        

Geringe Lokalreaktion,

57

           

enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:

        

Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.

58

           

In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):

        

Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.

Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.

In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.

Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.

59

           

bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:

        

Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.

60

Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.

61

Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.

62

Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.

63

d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.

64

aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.

65

bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.

66

Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

67

aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.

68

Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.

69

Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.

70

bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.

71

ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.

72

e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

73

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. April 2017 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. In einem vorangegangenen Berufungsverfahren hat das LSG mit Urteil vom 10.4.2013 einen Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz wegen geltend gemachter Folgen von am 12.7.1995 und 15.10.1996 durchgeführter Schutzimpfungen verneint. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Kläger bei den Impfungen eine gesundheitliche Schädigung im Sinne einer unüblichen Impfreaktion erlitten habe, die zu einem globalen Entwicklungsrückstand als Impfschaden geführt habe. Auf die Beschwerde des Klägers hat das BSG mit Beschluss vom 14.11.2013 (B 9 V 33/13 B) das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, weil das LSG das Paul-Ehrlich-Institut (Prof. Dr. C.) nicht zu Einwänden des Klägers ergänzend befragt hat. Dementsprechend hat das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren Auskünfte bei Prof. Dr. C. und Prof. Dr. V. eingeholt und Prof. Dr. D., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Prof. Dr. D. hat eine vorläufige Stellungnahme erstattet und eine Fachinformation für Ärzte und Apotheker 1995 zu den Impfstoffen sowie einen Gutachtenentwurf übersandt.

2

Mit Urteil vom 26.4.2017 hat das LSG erneut einen Anspruch des Klägers verneint, weil nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass bei dem Kläger nach einer der Impfungen vom 12.7.1995 bis zum 3.11.1997 eine Primärschädigung im Sinne einer Impfkomplikation aufgetreten sei. Es fehle am Nachweis einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung. Sei eine solche das übliche Ausmaß übersteigende gesundheitliche Schädigung im Nachgang einer Impfung nicht erwiesen, so stelle sich vorliegend die Frage nach einem Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Primärschädigung nicht. Weiterer Ermittlungen zum Vorliegen einer Impfkomplikation im Gegensatz zu einer bloßen üblichen Impfreaktion habe es daher nicht bedurft. Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 26.4.2017 zuletzt noch gestellten Beweisanträge seien daher abzulehnen.

3

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG erneut Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung sowie von Verfahrensmängeln begründet.

4

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ist ordnungsgemäß dargetan worden(§ 160a Abs 2 S 3 SGG).

5

1. Grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist, und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1.) eine bestimmte Rechtsfrage, (2.) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3.) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4.) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.

6

Der Kläger hält folgende Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung:

        

"Gebietet die Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG zu ermitteln

        

a)    

welche dauerhafte Gesundheitsschädigung vorliegt,

        

b)    

wie wahrscheinlich die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung durch die Impfung ist,

        

c)    

ob Alternativursachen für die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung ersichtlich sind,

        

wenn eine Primärschädigung nicht erkennbar zutage getreten ist?"

7

Ob der Kläger damit eine Rechtsfrage hinreichend bezeichnet hat, die auf die Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals abzielt (vgl Becker, SGb 2007, 261, 265 zu Fn 42 mwN), kann hier dahinstehen. Er hat bereits die höchstrichterliche Klärungsbedürftigkeit dieser von ihm aufgestellten Frage nicht dargetan. Es fehlt insbesondere eine Auseinandersetzung mit den Vorschriften des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) und des IfSG (hier insbesondere § 2 Nr 11 IfSG), nach denen eine Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen (Primär-)Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche (Sekundär-)Schädigung vorliegen müssen, wobei letztere nach § 2 Nr 11 IfSG als Impfschaden definiert wird, während Impfschaden nach der abweichenden Terminologie des BSeuchG die Primärschädigung bezeichnet(vgl hierzu auch BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 35 ff). Zudem hätte es einer Darlegung der Beweisanforderungen bedurft (vgl hierzu insgesamt BSG, aaO; BSG Urteil vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9), wie diese in der angefochtenen Entscheidung des LSG (S 21 des Urteils) bereits ausgeführt worden sind, um eine Sachaufklärungsrüge nach § 103 SGG im Rahmen einer grundsätzlichen Bedeutung als Rechtsfrage zu formulieren. Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis "nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen" nicht ausreichen.

8

Unabhängig davon hat der Kläger auch die Entscheidungserheblichkeit seiner vermeintlichen Rechtsfrage nicht dargelegt, da nach Auffassung des LSG unter Würdigung des gesamten Sach- und Streitstandes aufgrund des schriftlichen Gutachtens nebst ergänzender Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. sowie des Ergebnisses von dessen persönlicher Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 10.4.2013 eine Primärschädigung im Sinne des Gesetzes nicht vorliege. Durchgreifende Verfahrensrügen gegen die zugrunde liegenden Feststellungen sind der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen (dazu sogleich).

9

2. Der Kläger bezeichnet auch einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers stützt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr, vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 4 mwN). Geltend gemacht werden kann nur ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und - entgegen der Vorstellung des Klägers - 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

10

a) Die Beschwerdebegründung befasst sich umfangreich mit der Darlegung vermeintlicher Aufklärungsmängel (§ 103 SGG) durch das LSG ohne zuvor den Sachverhalt und den gesamten Verfahrensgang darzustellen. "Bezeichnet" iS des § 160a Abs 2 S 3 SGG ist ein Verfahrensmangel allerdings nur dann, wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird(BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Dies wird aber nur dann erkennbar, wenn zuvor diese Tatsachen im Zusammenhang mit dem Verfahrensgang dargestellt und einer rechtlichen Wertung unterzogen werden. Hieran fehlt es. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, aus der Beschwerdebegründung unter Heranziehung von Verwaltungs- und Prozessakten das herauszusuchen, was möglicherweise - bei wohlwollender Auslegung - zur Begründung der Beschwerde geeignet sein könnte (BSG, aaO). Sofern der Kläger eine erneute Anhörung von Dr. H. begehrt, scheitert dieses Vorhaben im Rahmen der Beschwerde bereits an dem Umstand, dass nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG gestützt werden kann. Unabhängig davon beschäftigt sich die Beschwerdebegründung auch nicht mit dem Umstand, dass Dr. H. sein Gutachten bereits vor dem SG erstattet hat und schon deshalb eine weitere Anhörung ohnehin nur unter den Voraussetzungen einer notwendigen Anhörung nach Maßgabe des § 411 Abs 3 ZPO verlangt werden konnte(vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B; BSG Beschluss vom 25.10.2012 - B 9 SB 18/12 B - Juris RdNr 7; dazu sogleich).

11

b) Darüber hinaus hat der Kläger auch nicht dargelegt, einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung des LSG vom 26.4.2017 gestellt zu haben. Die von ihm wiedergegebenen Anträge zu Ziff 1 b, c, 2 c, d, 4, 5 und 6 bezeichnen zwar einzelne Punkte hinsichtlich derer weiterer Beweis erhoben werden soll. Denn Merkmal eines Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Um in der aktuellen Prozesssituation ein Beweisthema für das LSG hinreichend genau zu bezeichnen, hätte der Kläger aber zusätzlich angeben müssen, warum gerade diese Punkte weiter klärungsbedürftig sein sollten. Denn je mehr Aussagen von Sachverständigen oder (sachverständigen) Zeugen zum Beweisthema bereits vorliegen, desto genauer muss der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen eingehen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 11 mwN). Angesichts dessen reicht es nicht aus, auf weitere Ermittlungserfordernisse hinsichtlich der beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen sowie deren Verursachung durch die Impfungen zu verweisen, da zu diesen Themenkomplexen bereits mehrere Sachverständigengutachten vorlagen. Die erneuten Anträge des Klägers hinsichtlich der streitgegenständlichen Impfstoffe und deren Verursachung der Entwicklungsretardierung beim Kläger sowie zu der unzureichenden Gewichtszunahme des Klägers nach allen Impfungen, die Einholung einer Stellungnahme eines impfschadensrechtlich erfahrenen Gutachters, eines toxikologischen Gutachtens und immunologischen Gutachtens waren insgesamt nicht dazu geeignet, dem Berufungsgericht noch klärungsbedürftige Punkte aufzuzeigen und es damit zu weiteren Ermittlungen zu veranlassen.

12

Die Beschwerde legt nicht schlüssig dar, warum die Anträge des Klägers das LSG hätten zu weiterer Beweiserhebung drängen müssen. Dazu hätte es der Darlegung bedurft, warum das Gericht objektiv gehalten gewesen war, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben (vgl BSG Beschluss vom 29.4.2010 - B 9 SB 47/09 B - Juris). Daran fehlt es hier. Die Würdigung voneinander abweichender Gutachtenergebnisse oder ärztlicher Auffassungen gehört wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst. Diese ist von dem LSG als letztes Tatsachengericht durchzuführen (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) und kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Eine Verpflichtung zur Einholung eines sog Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtenergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 13 mwN). Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8). Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten ungenügend sind, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO, weil sie grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben(vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN). Derartige Gründe hat die Beschwerde nicht dargelegt.

13

Die Beschwerde hat nicht substantiiert dargelegt, warum die Gewichtung der unterschiedlichen Befunde dem LSG misslungen sein sollte. Das Tatsachengericht braucht jedenfalls dann kein weiteres Gutachten einzuholen, wenn der Kläger bereits nicht darlegt, dass sich die Tatsachengrundlagen der Gutachten widersprechen. Selbst widersprüchliche Tatsachenfeststellungen verschiedener Gutachten erzwingen nicht bereits ein weiteres Gutachten, um den Widerspruch aufzulösen. Beruhen vielmehr die Differenzen zwischen den Auffassungen von Sachverständigen darauf, dass diese von verschiedenen tatsächlichen Annahmen ausgehen, dann muss der Tatrichter, ggf nach weiterer Aufklärung, die für seine Überzeugungsbildung maßgebenden Tatsachen feststellen oder begründen, weshalb und zu wessen Lasten sie beweislos geblieben sind (vgl BGH Urteil vom 23.9.1986 - VI ZR 261/85). Diese letztgültige Feststellung der maßgeblichen Anknüpfungs- bzw Befundtatsachen muss nicht zwingend durch ein weiteres Gutachten, sondern kann in freier Beweiswürdigung der von den Sachverständigen (oder sonst) festgestellten Tatsachen erfolgen. Haben die Sachverständigen unterschiedliche Befunde erhoben, so obliegt es grundsätzlich dem Tatsachengericht, die Aussagekraft der erhobenen Befunde anhand nachvollziehbarer Kriterien zu gewichten, soweit es dazu nicht auf medizinische Sachkunde zurückgreifen muss, die ihm die Sachverständigen im zu entscheidenden Fall nicht vermittelt haben und über die es auch sonst nicht verfügt. Insoweit hätte es im Rahmen der Beschwerde vorrangig der Darlegung bedurft, weshalb hinsichtlich der Beweisanträge die dort postulierten Anknüpfungstatsachen in Form des schwallartigen Erbrechens nach sämtlichen Impfungen entgegen der auf den Zeugenaussagen basierenden Wertung des LSG als erwiesen zu erachten sind. Der bloße Hinweis darauf, dass es für den Nachweis eines Primärschadens ausreichend sei, wenn die Primärschädigung im Verborgenen eintrete und nicht erkennbar zutage trete, reicht insoweit nicht aus. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG ist ein Primärschaden unter diesen Umständen gerade nicht nachgewiesen, sodass mangels Feststellung der Anknüpfungstatsachen die genannten Beweisanträge unerheblich sind. Die Beschwerde legt nicht substantiiert dar, warum die nachvollziehbare Argumentation des LSG, die den Kernbereich der grundsätzlich der Tatsacheninstanz vorbehaltenen Tatsachenwürdigung betrifft, offensichtlich fehlsam gewesen sein könnte.

14

Nichts anderes gilt hinsichtlich der übrigen Beweisanträge. Das LSG hat sich auf die schriftlichen und mündlichen Äußerungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. gestützt, dessen Gutachten auch im Rahmen der Beschwerde nicht als "ungenügend" iS von § 412 Abs 1 ZPO gerügt wird. Soweit das LSG die gutachterlichen Ausführungen deshalb für überzeugend halten durfte, musste es sich nicht gedrängt sehen, weitere sachverständige Stellungnahmen oder Gutachten einzuholen. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen fehlt eine plausible Darlegung, wieso es auf die weiter unter Beweis gestellten Umstände noch hätte ankommen können. Tatsächlich kritisiert der Kläger die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), womit er nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein eine Revisionszulassung nicht erreichen kann. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzureichende Rechtsanwendung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).

15

c) Auch die Verletzung rechtlichen Gehörs hat der Kläger nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Ein solcher Verstoß liegt ua vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen miteinzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 19 S 33 mwN) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Dementsprechend sind insbesondere Überraschungsentscheidungen verboten (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 8b mwN). Zur Begründung eines entsprechenden Revisionszulassungsgrundes ist nicht nur der Verstoß gegen diesen Grundsatz selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen ggf dadurch verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Ferner ist Voraussetzung für den Erfolg einer Gehörsrüge, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 21 S 35; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

16

Der Kläger hat nicht substantiiert dargelegt, warum die unterbliebene Anhörung der von ihm benannten Sachverständigen Prof. Dr. D. sowie Dr. H. eine Gehörsverletzung darstellt. Unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts stehenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, steht den Beteiligten gemäß § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO grundsätzlich das Recht zu, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten(BVerfG Beschluss vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 - Juris RdNr 11; vgl auch BSG Beschluss vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - Juris RdNr 7; BGH Urteil vom 7.10.1997 - VI ZR 252/96 - NJW 1998, 162, 163 - Juris RdNr 10 - alle mwN). Dabei reicht es aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 4; BVerwG Beschluss vom 19.3.1996 - 11 B 9/96 - NJW 1996, 2318), zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen. Einwendungen in diesem Sinne sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (vgl § 411 Abs 4 ZPO). Eine Form für die Befragung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, sodass sie sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen kann. Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen letztlich eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35). Dieser Obliegenheit ist ein Beteiligter jedenfalls dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören und er schriftlich Fragen im oben dargelegten Sinne angekündigt hat, die objektiv sachdienlich sind; liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten bleibt (vgl BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 4 RdNr 5). Die Beschwerde thematisiert schon nicht, ob das Fragerecht gegenüber dem erstinstanzlichen Sachverständigen vor dem LSG überhaupt noch bestanden habe (vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - aaO) bzw gegenüber Prof. Dr. D. mangels eines schriftlichen Gutachtens überhaupt entstanden sein könnte.

17

Jedenfalls hat die Beschwerde auch nicht ausreichend dargelegt, warum die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung am 26.4.2017 formulierten Fragen an die Sachverständigen Prof. Dr. D. und Dr. H. überhaupt noch erläuterungsbedürftig waren, nachdem die Sachverständigen zu diesen Punkten bereits Stellungnahmen abgegeben hatten und Stellungnahmen von anderen Sachverständigen vorgelegen haben. Darüber hinaus wäre es erforderlich gewesen darzulegen, weshalb es auf die Klärung dieser Fragen ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen noch ankommen konnte (aaO). Tatsächlich zielt der Antrag des Klägers ersichtlich darauf ab, das LSG nochmals von seiner abweichenden Rechtsauffassung und Tatsachenwürdigung zu überzeugen. Damit wendet sich der Kläger, wie oben bereits angeführt, tatsächlich gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, welche sich der Beurteilung durch das Revisionsgericht entzieht (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG), und rügt Fehler in der Rechtsanwendung, auf die es im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nicht ankommt (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

18

3. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

19

4. Die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgt ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG).

20

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit sie die Gewährung von Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend der Klägerin betrifft.

Die zweitinstanzlich erhobene Klage betreffend Folgen körperlicher Misshandlung wird abgewiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Die 1949 geborene Klägerin lebte bis 1962 bei ihrer Mutter und deren zweiten Ehemann H. Stiefvater). Der Vater der Klägerin hatte sich kurz nach der Geburt der Klägerin von deren Mutter getrennt. Gegen den Stiefvater wurde offenbar aufgrund des Verdachts, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben, ein Ermittlungsverfahren durchgeführt. Nach dem Tod des Stiefvaters im März 1962 wurde die Klägerin vom Jugendamt aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen und ihrem Vater, der wieder geheiratet hatte, zugeführt.

3

Im Mai 1967 erstattete die Klägerin gegen ihren Vater eine Strafanzeige. Dieser habe sie im vergangenen halben Jahr immer wieder unzüchtig berührt. Der Vater wurde offenbar verhaftet und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Klägerin zunächst dem Jugendamt der Stadt K. und ab August 1967 der Evangelischen Jugendhilfe des Amtes für Diakonie K. übertragen. Bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres arbeitete die Klägerin in der Heimküche eines Altersheims, wo sie anscheinend auch wohnte. Nach dem späteren Erwerb des Hauptschulabschlusses und verschiedenen Erwerbstätigkeiten heiratete die Klägerin im Jahre 1976 und gebar zwischen 1977 und 1981 drei Kinder.

4

Anlässlich einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der P.-Klinik B. im Jahr 2000 wurde bei der Klägerin neben einer mittelgradigen depressiven Episode erstmals eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Im Anschluss an diese Maßnahme nahm die Klägerin eine ambulante Psychotherapie bei der psychologischen Psychotherapeutin S. auf. Diese äußerte den Verdacht einer dissoziativen Identitätsstörung die im Jahr 2002 durch die Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. bestätigt wurde.

5

Im Mai 2005 beantragte die Klägerin beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Gewaltopferentschädigung, weil sie in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und von ihrem Vater sexuell belästigt worden sei. Zur Begründung legte sie das Ergebnis ihrer Recherchen sowie Unterlagen vor, die sie unter Mitwirkung ihrer Therapeutin zusammengetragen hatte. Von dort wurde die Angelegenheit im Juni 2005 wegen des angegebenen Tatorts in K. zuständigkeitshalber an das Versorgungsamt M. abgegeben. Dieses Amt holte einen Befundbericht der Psychotherapeutin S. sowie Berichte der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. ein. Zudem befragte das Amt schriftlich Frau C., die in der Zeit von 1969 bis 1972 als Sozialarbeiterin im Amt für Diakonie tätig und kurze Zeit mit der Pflegschaft der Klägerin befasst war. Ferner zog es die von der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe K. eV archivierte Akte der Klägerin über die Pflegschaft der Klägerin sowie die Schwerbehindertenakte des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie bei, das mit Bescheid vom 30.8.2005 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 wegen einer psychischen Behinderung ab Mai 2005 festgestellt hatte.

6

Mit Bescheid vom 3.1.2006 des Versorgungsamts M. in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 17.7.2006 wurde der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 OEG geworden sei. Weder der sexuelle Missbrauch durch den Stiefvater noch die sexuelle Belästigung durch den leiblichen Vater seien nachgewiesen. Selbst unter Heranziehung der Beweiserleichterung des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sei ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin nicht anzunehmen.

7

Das von der Klägerin daraufhin angerufene Sozialgericht Lüneburg (SG) hat von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. F. ein im Juli 2007 erstattetes nervenärztliches Gutachten mit einem unter Mithilfe des psychologischen Psychotherapeuten Dr. B. erstellten testpsychologischen Zusatzgutachten eingeholt. Der Sachverständige diagnostizierte eine dissoziative Identitätsstörung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH. Er vertrat die Auffassung, dass aufgrund des eindeutigen Vorliegens einer dissoziativen Identitätsstörung nach herrschender wissenschaftlicher Lehre ein frühkindlicher sexueller Missbrauch als Ursache für die Störung anzunehmen sei.

8

Mit Urteil vom 8.11.2007 hat das SG die noch gegen das Land Nordrhein-Westfalen gerichtete Klage abgewiesen, weil nicht im Sinne des notwendigen Vollbeweises feststellbar sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Auch unter Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG sei nicht anzunehmen, dass ein derartiger Angriff auf die Klägerin in ihrer Kindheit stattgefunden habe, weil von einer Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin nicht ausgegangen werden könne. Schließlich sei der vom Sachverständigen gezogene Rückschluss von der vorliegenden Erkrankung auf deren Ursache nicht zulässig.

9

Das von der Klägerin mit der Berufung angerufene Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat weitere medizinische Unterlagen eingeholt, ua den Rehabilitations-Entlassungsbericht der P.-Klinik B. vom 26.7.2000 sowie das für die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover in einem Rentenverfahren erstellte Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. T. vom 18.1.2005. Außerdem hat sich das LSG von der Dipl. Psychologin D. ein Glaubhaftigkeitsgutachten vom 19.4.2011 über die Klägerin erstatten lassen. Danach ist die Aussage der Klägerin bezüglich des dargelegten Missbrauchs durch den Stiefvater (1961 bis 1962) und den Vater (1963 bis 1967) nicht glaubhaft. Zwar liege keine bewusste Falschaussage vor, es bestünden aber Hinweise, dass die Angaben der Klägerin sich erst unter suggestiven Bedingungen entwickelt hätten.

10

Mit Urteil vom 16.9.2011 hat das LSG die zuletzt gegen den beklagten Landschaftsverband gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Seine Entscheidung hat es auf folgende Erwägungen gestützt:

Das Gericht sehe sich nicht in der Lage, einen sexuellen Missbrauch der Klägerin durch deren Stiefvater und/oder eine sexuelle Belästigung durch deren leiblichen Vater und damit einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG anzunehmen. Der von der Klägerin behauptete sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung sei zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Unmittelbare Tatzeugen seien nicht vorhanden. Stiefvater, Mutter und Vater der Klägerin seien bereits verstorben. Urkunden, wie etwa staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten etc, seien nicht mehr vorhanden. Andere Beweismittel, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten, seien nicht ersichtlich. Der sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung könne auch nicht aus der medizinischen Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung gefolgert werden.
Schließlich lasse sich ein sexueller Missbrauch bzw eine sexuelle Belästigung auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 KOVVfG annehmen. Zwar komme die Beweiserleichterung (Glaubhaftmachung) zugunsten der Klägerin zur Anwendung, weil es weder Zeugen noch sonstige zum Beweis geeignete Unterlagen zu den von der Klägerin behaupteten Taten gebe. Die entsprechenden Behauptungen der Klägerin seien jedoch nicht glaubhaft. Dies ergebe sich zum einen aus dem eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. und zum anderen auch aus eigenen Erwägungen des Senats zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin. Ein Anspruch auf Opferentschädigung ergebe sich aus im Wesentlichen gleichen Überlegungen auch nicht aus der Behauptung der Klägerin, von ihrem Vater einmal krankenhausreif geschlagen worden zu sein.

11

Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der Anspruch der Klägerin "wahrscheinlich" auch an den Voraussetzungen des § 10a OEG scheitern würde. Für Taten in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 könnten die Opfer nur dann Entschädigung nach dem OEG erhalten, wenn sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt seien, also ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 50 vorliege. Nach dem Schwerbehindertenrecht sei indes nur ein GdB von 30 anerkannt. Dem Gutachten des Dr. F. sei nicht zu folgen, weil er keinerlei Begründung dafür gegeben habe, dass die "MdE 50" betrage. Im Ergebnis könne dies jedoch dahinstehen.

12

Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Soweit das LSG davon ausgehe, dass keine Beweismittel mehr vorhanden seien, sei § 103 SGG verletzt. Sie, die Klägerin, habe dem LSG gegenüber die Vernehmung ihrer Halbschwester als Zeitzeugin angeboten. Soweit das LSG sage, dass aus der Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung nicht auf deren Ursache rückgeschlossen werden könne, stehe dies im Widerspruch zu der Aussage des erstinstanzlich eingeholten ärztlichen Gutachtens. Zudem sei nach der Entscheidung des BSG vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92 - ein derartiger Rückschluss durchaus ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft die geltend gemachte Belastung allgemein für geeignet halte, bestimmte Krankheiten hervorzurufen. Nach dem Gutachten des Dr. F. sei nach heute herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung ein entsprechender Rückschluss hier möglich.

13

Im Hinblick auf das zweitinstanzlich eingeholte aussagepsychologische Gutachten sei bisher ungeklärt, ob ein derartiges Gutachten überhaupt "die Entscheidung des Gerichts ersetzen darf". Bezüglich der vom LSG als eigene Erwägungen bezeichneten Gründe zur fehlenden Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen (fehlende Aussagekonstanz) habe das LSG nicht beachtet, dass sie an einer dissoziativen Identitätsstörung leide.

14

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 sowie des Sozialgerichts Lüneburg vom 8. November 2007 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2006 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter sowie einer schweren körperlichen Misshandlung Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

15

Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

16

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

17

Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

18

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

19

Die Revision der Klägerin ist zulässig.

20

Sie ist vom BSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf zahlreiche schädigende Vorgänge stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9 V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in zwei Gruppen zusammenzufassen, nämlich einen über Jahre andauernden sexuellen Missbrauch und eine körperliche Misshandlung.

21

Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs rügt die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG, weil das Gericht ihre Halbschwester nicht als Zeitzeugin vernommen habe. Als weitere Verletzung der Sachaufklärungspflicht betrachtet die Klägerin die Einholung und Verwertung eines aussagepsychologischen Gutachtens durch das LSG, und zwar auch in Bezug auf die behauptete einmalige schwere körperliche Misshandlung durch ihren Vater. Als Verletzung der Sachaufklärungspflicht und Überschreitung der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung rügt die Klägerin, dass das LSG entgegen dem erstinstanzlich eingeholten psychiatrischen Gutachten nicht davon ausgegangen sei, dass aus der Art ihrer jetzigen Erkrankung auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend rückgeschlossen werden könne. Die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung habe das LSG auch im Rahmen von ihm so bezeichneter eigener Erwägungen überschritten. Insgesamt rügt die Klägerin zusätzlich eine Verletzung des materiellen Beweisrechts, weil sich das LSG bei Anwendung des § 15 KOVVfG nicht an die danach geltenden Grundsätze der Glaubhaftmachung gehalten habe.

22

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter betrifft. Hinsichtlich geltend gemachter Folgen einer schweren körperlichen Misshandlung durch den Vater führt die Revision insoweit zu einer Änderung des Urteils des LSG, als die darauf bezogene zweitinstanzlich erhobene Klage abgewiesen wird.

23

Stillschweigend aber zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Berufungsverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat.

24

Obwohl auch der Revisionsantrag der Klägerin auf die Bewilligung einer "Opferentschädigung" gerichtet ist, legt der Senat den erhobenen Anspruch im wohlverstandenen Interesse der Klägerin dahin aus, dass diese die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt (vgl § 123 SGG). Der wörtlich gestellte Leistungsantrag wäre nämlich unzulässig. Zwar kann im sozialgerichtlichen Verfahren die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG auf jede nach dem materiellen Recht vorgesehene Leistung gerichtet werden. Die beanspruchte Leistung muss indes genau bezeichnet werden (BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 5). Der Begriff Opferentschädigung betrifft aber keine bestimmte Leistung, sondern umfasst alle nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl § 1 Abs 1 OEG iVm § 9 BVG). Selbst wenn nach den Umständen des Falles als "Opferentschädigung" nur Geldleistungen in Betracht kämen, kann nach der Rechtsprechung des Senats ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 SGG sein(Urteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - USK 99140 S 816 f; Urteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).

25

Soweit das LSG erstmals über einen Anspruch der Klägerin nach dem OEG/BVG wegen der Folgen einer einmaligen schweren körperlichen Misshandlung durch ihren Vater entschieden hat, handelt es sich um eine Entscheidung über eine erst im Laufe des Berufungsverfahrens erhobene Klage. Diese Klage ist schon deshalb unzulässig, weil über den Anspruch insoweit noch keine Verwaltungsentscheidung vorliegt. Das LSG hat sich mit diesem Streitpunkt nicht gesondert befasst. Insoweit ist das Urteil des LSG klarstellend dahin abzuändern, dass diese Klage abgewiesen wird.

26

Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:

Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

27

In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

28

Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).

29

In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das BSG bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).

30

Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.

31

Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).

32

Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).

33

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

34

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).

35

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

36

Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).

37

Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Entgegen der bisherigen Diktion auch des LSG ist nicht zwischen einem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und einer sexuellen Belästigung durch den Vater zu unterscheiden, sondern einheitlich von einem sexuellen Missbrauch zu sprechen. Denn strafrechtlich wird so nicht differenziert. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Personen unter vierzehn Jahren) setzt § 176 StGB "sexuelle Handlungen" voraus. Ebenso stellt § 177 StGB betreffend andere Personen "sexuelle Handlungen" unter Strafe. Als solche werden alle Einwirkungen auf ein Kind oder eine über vierzehn Jahre alte Person verstanden, die mit sexuell bezogenem Körperkontakt einhergehen (s nur Fischer, StGB, 59. Aufl 2012, § 177 RdNr 49), sodass darunter auch die bisher als sexuelle Belästigung bezeichneten Handlungen des Vaters der Klägerin fallen. Die von der Klägerin ihrem Stiefvater und ihrem Vater zur Last gelegten schädigenden Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.

38

Den behaupteten sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und später durch den Vater der Klägerin hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.

39

Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).

40

Diesen Kriterien hat das LSG zwar Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG angenommen hat. Der Anwendung dieser Vorschrift steht hier auch nicht der Umstand entgegen, dass das LSG verpflichtet war, die von der Klägerin benannte Zeugin R. zu vernehmen, denn diese ist nicht als Tatzeugin, sondern als Zeitzeugin benannt worden. Die Verpflichtung zu ihrer Vernehmung folgt indes aus § 103 SGG, denn ausgehend von seiner materiellen Rechtsansicht zur Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG hätte sich das LSG zu deren Vernehmung gedrängt fühlen müssen. Die Angaben der Zeugin R. sind nämlich von erheblicher Relevanz im Rahmen der Prüfung einer Glaubhaftmachung des sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Stiefvater H. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG über ein Ermittlungsverfahren gegen H. wegen eines sexuellen Missbrauchs seiner eigenen Tochter könnte es sich bei der Zeugin um die Tochter des H. handeln, die möglicherweise selbst von diesem sexuell missbraucht worden ist. Ihren Angaben kann somit auch hinsichtlich des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch H. erhebliche Bedeutung zukommen.

41

Obwohl das LSG den § 15 S 1 KOVVfG herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.

42

Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.

43

Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sog Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 22). Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 20, 23).

44

Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.

45

Aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 (- L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25) ergeben sich keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25 aE). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.

46

Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht: Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):

Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.

47

Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).

48

Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).

49

Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.

50

Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.

51

Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).

52

Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.

53

Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).

54

Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.

55

Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.

56

Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/ Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.

57

Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.

58

Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom LSG zu den Fragen eingeholt worden:

59

Ist die Aussage der Klägerin bezüglich der dargelegten schädigenden Ereignisse (Missbrauch durch den Stiefvater H. 1961 - 1962; Missbrauch durch den Vater 1963 - 1967) glaubhaft? Wenn ja, auf welchen aussagepsychologischen Kriterien beruht die Glaubhaftigkeit zu den unmittelbaren schädigenden Ereignissen? Wenn nein, nach welchen aussagepsychologischen Kriterien ist die Glaubhaftigkeit für die unmittelbaren schädigenden Ereignisse nicht erreicht oder auszuweisen?

60

Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen D. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in dem Abschnitt 3 ("Methodik der Begutachtung und Hypothesenbildung") festgestellt, dass es sich bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung um einen Hypothesen geleiteten Prüfprozess handele ("Wahrheits-Hypothese" und "Unwahr-Hypothese"). Dabei hat die Sachverständige auf Veröffentlichungen von Volbert (Beurteilung von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung - Forensisch-psychologische Praxis 2004 und Volbert/Steller, Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, 2004) hingewiesen (S 15 f des Gutachtens).

61

Da das Berufungsurteil mithin bei der Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.

62

Auf dieser nicht tragfähigen Tatsachenwürdigung beruht die Entscheidung des LSG. Das gilt auch in Anbetracht des Umstandes, dass das LSG seine Auffassung von der fehlenden "Glaubhaftigkeit" der Behauptungen der Klägerin zusätzlich auf eigene Erwägungen gestützt hat. Denn diese Erwägungen tragen die Entscheidung des LSG nicht allein. Vielmehr hat das LSG diese Ausführungen nur ergänzend gemacht ("nicht nur auf das Glaubhaftigkeitsgutachten, sondern auch auf eigene Erwägungen"), sodass das Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. nach der Diktion des LSG für dessen Tatsachenwürdigung maßgebend ist.

63

Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).

64

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. April 2017 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. In einem vorangegangenen Berufungsverfahren hat das LSG mit Urteil vom 10.4.2013 einen Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz wegen geltend gemachter Folgen von am 12.7.1995 und 15.10.1996 durchgeführter Schutzimpfungen verneint. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Kläger bei den Impfungen eine gesundheitliche Schädigung im Sinne einer unüblichen Impfreaktion erlitten habe, die zu einem globalen Entwicklungsrückstand als Impfschaden geführt habe. Auf die Beschwerde des Klägers hat das BSG mit Beschluss vom 14.11.2013 (B 9 V 33/13 B) das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, weil das LSG das Paul-Ehrlich-Institut (Prof. Dr. C.) nicht zu Einwänden des Klägers ergänzend befragt hat. Dementsprechend hat das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren Auskünfte bei Prof. Dr. C. und Prof. Dr. V. eingeholt und Prof. Dr. D., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Prof. Dr. D. hat eine vorläufige Stellungnahme erstattet und eine Fachinformation für Ärzte und Apotheker 1995 zu den Impfstoffen sowie einen Gutachtenentwurf übersandt.

2

Mit Urteil vom 26.4.2017 hat das LSG erneut einen Anspruch des Klägers verneint, weil nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass bei dem Kläger nach einer der Impfungen vom 12.7.1995 bis zum 3.11.1997 eine Primärschädigung im Sinne einer Impfkomplikation aufgetreten sei. Es fehle am Nachweis einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung. Sei eine solche das übliche Ausmaß übersteigende gesundheitliche Schädigung im Nachgang einer Impfung nicht erwiesen, so stelle sich vorliegend die Frage nach einem Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Primärschädigung nicht. Weiterer Ermittlungen zum Vorliegen einer Impfkomplikation im Gegensatz zu einer bloßen üblichen Impfreaktion habe es daher nicht bedurft. Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 26.4.2017 zuletzt noch gestellten Beweisanträge seien daher abzulehnen.

3

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG erneut Beschwerde eingelegt, die er mit dem Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung sowie von Verfahrensmängeln begründet.

4

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ist ordnungsgemäß dargetan worden(§ 160a Abs 2 S 3 SGG).

5

1. Grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist, und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1.) eine bestimmte Rechtsfrage, (2.) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3.) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4.) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.

6

Der Kläger hält folgende Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung:

        

"Gebietet die Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG zu ermitteln

        

a)    

welche dauerhafte Gesundheitsschädigung vorliegt,

        

b)    

wie wahrscheinlich die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung durch die Impfung ist,

        

c)    

ob Alternativursachen für die Verursachung der dauerhaften Gesundheitsschädigung ersichtlich sind,

        

wenn eine Primärschädigung nicht erkennbar zutage getreten ist?"

7

Ob der Kläger damit eine Rechtsfrage hinreichend bezeichnet hat, die auf die Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals abzielt (vgl Becker, SGb 2007, 261, 265 zu Fn 42 mwN), kann hier dahinstehen. Er hat bereits die höchstrichterliche Klärungsbedürftigkeit dieser von ihm aufgestellten Frage nicht dargetan. Es fehlt insbesondere eine Auseinandersetzung mit den Vorschriften des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) und des IfSG (hier insbesondere § 2 Nr 11 IfSG), nach denen eine Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen (Primär-)Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche (Sekundär-)Schädigung vorliegen müssen, wobei letztere nach § 2 Nr 11 IfSG als Impfschaden definiert wird, während Impfschaden nach der abweichenden Terminologie des BSeuchG die Primärschädigung bezeichnet(vgl hierzu auch BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VJ 1/10 R - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 35 ff). Zudem hätte es einer Darlegung der Beweisanforderungen bedurft (vgl hierzu insgesamt BSG, aaO; BSG Urteil vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9), wie diese in der angefochtenen Entscheidung des LSG (S 21 des Urteils) bereits ausgeführt worden sind, um eine Sachaufklärungsrüge nach § 103 SGG im Rahmen einer grundsätzlichen Bedeutung als Rechtsfrage zu formulieren. Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis "nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen" nicht ausreichen.

8

Unabhängig davon hat der Kläger auch die Entscheidungserheblichkeit seiner vermeintlichen Rechtsfrage nicht dargelegt, da nach Auffassung des LSG unter Würdigung des gesamten Sach- und Streitstandes aufgrund des schriftlichen Gutachtens nebst ergänzender Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. sowie des Ergebnisses von dessen persönlicher Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 10.4.2013 eine Primärschädigung im Sinne des Gesetzes nicht vorliege. Durchgreifende Verfahrensrügen gegen die zugrunde liegenden Feststellungen sind der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen (dazu sogleich).

9

2. Der Kläger bezeichnet auch einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers stützt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr, vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 4 mwN). Geltend gemacht werden kann nur ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und - entgegen der Vorstellung des Klägers - 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

10

a) Die Beschwerdebegründung befasst sich umfangreich mit der Darlegung vermeintlicher Aufklärungsmängel (§ 103 SGG) durch das LSG ohne zuvor den Sachverhalt und den gesamten Verfahrensgang darzustellen. "Bezeichnet" iS des § 160a Abs 2 S 3 SGG ist ein Verfahrensmangel allerdings nur dann, wenn er in den ihn begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird(BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Dies wird aber nur dann erkennbar, wenn zuvor diese Tatsachen im Zusammenhang mit dem Verfahrensgang dargestellt und einer rechtlichen Wertung unterzogen werden. Hieran fehlt es. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, aus der Beschwerdebegründung unter Heranziehung von Verwaltungs- und Prozessakten das herauszusuchen, was möglicherweise - bei wohlwollender Auslegung - zur Begründung der Beschwerde geeignet sein könnte (BSG, aaO). Sofern der Kläger eine erneute Anhörung von Dr. H. begehrt, scheitert dieses Vorhaben im Rahmen der Beschwerde bereits an dem Umstand, dass nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG gestützt werden kann. Unabhängig davon beschäftigt sich die Beschwerdebegründung auch nicht mit dem Umstand, dass Dr. H. sein Gutachten bereits vor dem SG erstattet hat und schon deshalb eine weitere Anhörung ohnehin nur unter den Voraussetzungen einer notwendigen Anhörung nach Maßgabe des § 411 Abs 3 ZPO verlangt werden konnte(vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B; BSG Beschluss vom 25.10.2012 - B 9 SB 18/12 B - Juris RdNr 7; dazu sogleich).

11

b) Darüber hinaus hat der Kläger auch nicht dargelegt, einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung des LSG vom 26.4.2017 gestellt zu haben. Die von ihm wiedergegebenen Anträge zu Ziff 1 b, c, 2 c, d, 4, 5 und 6 bezeichnen zwar einzelne Punkte hinsichtlich derer weiterer Beweis erhoben werden soll. Denn Merkmal eines Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Um in der aktuellen Prozesssituation ein Beweisthema für das LSG hinreichend genau zu bezeichnen, hätte der Kläger aber zusätzlich angeben müssen, warum gerade diese Punkte weiter klärungsbedürftig sein sollten. Denn je mehr Aussagen von Sachverständigen oder (sachverständigen) Zeugen zum Beweisthema bereits vorliegen, desto genauer muss der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen eingehen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 11 mwN). Angesichts dessen reicht es nicht aus, auf weitere Ermittlungserfordernisse hinsichtlich der beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen sowie deren Verursachung durch die Impfungen zu verweisen, da zu diesen Themenkomplexen bereits mehrere Sachverständigengutachten vorlagen. Die erneuten Anträge des Klägers hinsichtlich der streitgegenständlichen Impfstoffe und deren Verursachung der Entwicklungsretardierung beim Kläger sowie zu der unzureichenden Gewichtszunahme des Klägers nach allen Impfungen, die Einholung einer Stellungnahme eines impfschadensrechtlich erfahrenen Gutachters, eines toxikologischen Gutachtens und immunologischen Gutachtens waren insgesamt nicht dazu geeignet, dem Berufungsgericht noch klärungsbedürftige Punkte aufzuzeigen und es damit zu weiteren Ermittlungen zu veranlassen.

12

Die Beschwerde legt nicht schlüssig dar, warum die Anträge des Klägers das LSG hätten zu weiterer Beweiserhebung drängen müssen. Dazu hätte es der Darlegung bedurft, warum das Gericht objektiv gehalten gewesen war, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben (vgl BSG Beschluss vom 29.4.2010 - B 9 SB 47/09 B - Juris). Daran fehlt es hier. Die Würdigung voneinander abweichender Gutachtenergebnisse oder ärztlicher Auffassungen gehört wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst. Diese ist von dem LSG als letztes Tatsachengericht durchzuführen (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) und kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Eine Verpflichtung zur Einholung eines sog Obergutachtens besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtenergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen (BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - Juris RdNr 13 mwN). Bei einer derartigen Fallgestaltung ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 21 RdNr 8). Gründe für eine Ausnahme sind hier nicht dargelegt. Liegen bereits mehrere Gutachten vor, ist das Tatsachengericht nur dann zu weiteren Beweiserhebungen verpflichtet, wenn die vorhandenen Gutachten ungenügend sind, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO, weil sie grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben(vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9 mwN). Derartige Gründe hat die Beschwerde nicht dargelegt.

13

Die Beschwerde hat nicht substantiiert dargelegt, warum die Gewichtung der unterschiedlichen Befunde dem LSG misslungen sein sollte. Das Tatsachengericht braucht jedenfalls dann kein weiteres Gutachten einzuholen, wenn der Kläger bereits nicht darlegt, dass sich die Tatsachengrundlagen der Gutachten widersprechen. Selbst widersprüchliche Tatsachenfeststellungen verschiedener Gutachten erzwingen nicht bereits ein weiteres Gutachten, um den Widerspruch aufzulösen. Beruhen vielmehr die Differenzen zwischen den Auffassungen von Sachverständigen darauf, dass diese von verschiedenen tatsächlichen Annahmen ausgehen, dann muss der Tatrichter, ggf nach weiterer Aufklärung, die für seine Überzeugungsbildung maßgebenden Tatsachen feststellen oder begründen, weshalb und zu wessen Lasten sie beweislos geblieben sind (vgl BGH Urteil vom 23.9.1986 - VI ZR 261/85). Diese letztgültige Feststellung der maßgeblichen Anknüpfungs- bzw Befundtatsachen muss nicht zwingend durch ein weiteres Gutachten, sondern kann in freier Beweiswürdigung der von den Sachverständigen (oder sonst) festgestellten Tatsachen erfolgen. Haben die Sachverständigen unterschiedliche Befunde erhoben, so obliegt es grundsätzlich dem Tatsachengericht, die Aussagekraft der erhobenen Befunde anhand nachvollziehbarer Kriterien zu gewichten, soweit es dazu nicht auf medizinische Sachkunde zurückgreifen muss, die ihm die Sachverständigen im zu entscheidenden Fall nicht vermittelt haben und über die es auch sonst nicht verfügt. Insoweit hätte es im Rahmen der Beschwerde vorrangig der Darlegung bedurft, weshalb hinsichtlich der Beweisanträge die dort postulierten Anknüpfungstatsachen in Form des schwallartigen Erbrechens nach sämtlichen Impfungen entgegen der auf den Zeugenaussagen basierenden Wertung des LSG als erwiesen zu erachten sind. Der bloße Hinweis darauf, dass es für den Nachweis eines Primärschadens ausreichend sei, wenn die Primärschädigung im Verborgenen eintrete und nicht erkennbar zutage trete, reicht insoweit nicht aus. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG ist ein Primärschaden unter diesen Umständen gerade nicht nachgewiesen, sodass mangels Feststellung der Anknüpfungstatsachen die genannten Beweisanträge unerheblich sind. Die Beschwerde legt nicht substantiiert dar, warum die nachvollziehbare Argumentation des LSG, die den Kernbereich der grundsätzlich der Tatsacheninstanz vorbehaltenen Tatsachenwürdigung betrifft, offensichtlich fehlsam gewesen sein könnte.

14

Nichts anderes gilt hinsichtlich der übrigen Beweisanträge. Das LSG hat sich auf die schriftlichen und mündlichen Äußerungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. von Vo. gestützt, dessen Gutachten auch im Rahmen der Beschwerde nicht als "ungenügend" iS von § 412 Abs 1 ZPO gerügt wird. Soweit das LSG die gutachterlichen Ausführungen deshalb für überzeugend halten durfte, musste es sich nicht gedrängt sehen, weitere sachverständige Stellungnahmen oder Gutachten einzuholen. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen fehlt eine plausible Darlegung, wieso es auf die weiter unter Beweis gestellten Umstände noch hätte ankommen können. Tatsächlich kritisiert der Kläger die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), womit er nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein eine Revisionszulassung nicht erreichen kann. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzureichende Rechtsanwendung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).

15

c) Auch die Verletzung rechtlichen Gehörs hat der Kläger nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Ein solcher Verstoß liegt ua vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen miteinzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 19 S 33 mwN) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Dementsprechend sind insbesondere Überraschungsentscheidungen verboten (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 8b mwN). Zur Begründung eines entsprechenden Revisionszulassungsgrundes ist nicht nur der Verstoß gegen diesen Grundsatz selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen ggf dadurch verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Ferner ist Voraussetzung für den Erfolg einer Gehörsrüge, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 21 S 35; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

16

Der Kläger hat nicht substantiiert dargelegt, warum die unterbliebene Anhörung der von ihm benannten Sachverständigen Prof. Dr. D. sowie Dr. H. eine Gehörsverletzung darstellt. Unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts stehenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, steht den Beteiligten gemäß § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO grundsätzlich das Recht zu, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten(BVerfG Beschluss vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 - Juris RdNr 11; vgl auch BSG Beschluss vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - Juris RdNr 7; BGH Urteil vom 7.10.1997 - VI ZR 252/96 - NJW 1998, 162, 163 - Juris RdNr 10 - alle mwN). Dabei reicht es aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1 S 4; BVerwG Beschluss vom 19.3.1996 - 11 B 9/96 - NJW 1996, 2318), zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen. Einwendungen in diesem Sinne sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (vgl § 411 Abs 4 ZPO). Eine Form für die Befragung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, sodass sie sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen kann. Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen letztlich eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35). Dieser Obliegenheit ist ein Beteiligter jedenfalls dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören und er schriftlich Fragen im oben dargelegten Sinne angekündigt hat, die objektiv sachdienlich sind; liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten bleibt (vgl BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 4 RdNr 5). Die Beschwerde thematisiert schon nicht, ob das Fragerecht gegenüber dem erstinstanzlichen Sachverständigen vor dem LSG überhaupt noch bestanden habe (vgl BSG Beschluss vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B - aaO) bzw gegenüber Prof. Dr. D. mangels eines schriftlichen Gutachtens überhaupt entstanden sein könnte.

17

Jedenfalls hat die Beschwerde auch nicht ausreichend dargelegt, warum die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung am 26.4.2017 formulierten Fragen an die Sachverständigen Prof. Dr. D. und Dr. H. überhaupt noch erläuterungsbedürftig waren, nachdem die Sachverständigen zu diesen Punkten bereits Stellungnahmen abgegeben hatten und Stellungnahmen von anderen Sachverständigen vorgelegen haben. Darüber hinaus wäre es erforderlich gewesen darzulegen, weshalb es auf die Klärung dieser Fragen ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG zum Primärschaden und mangels durchgreifender Rügen zu den festgestellten Anknüpfungstatsachen noch ankommen konnte (aaO). Tatsächlich zielt der Antrag des Klägers ersichtlich darauf ab, das LSG nochmals von seiner abweichenden Rechtsauffassung und Tatsachenwürdigung zu überzeugen. Damit wendet sich der Kläger, wie oben bereits angeführt, tatsächlich gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, welche sich der Beurteilung durch das Revisionsgericht entzieht (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG), und rügt Fehler in der Rechtsanwendung, auf die es im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nicht ankommt (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

18

3. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

19

4. Die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgt ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG).

20

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit sie die Gewährung von Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend der Klägerin betrifft.

Die zweitinstanzlich erhobene Klage betreffend Folgen körperlicher Misshandlung wird abgewiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Die 1949 geborene Klägerin lebte bis 1962 bei ihrer Mutter und deren zweiten Ehemann H. Stiefvater). Der Vater der Klägerin hatte sich kurz nach der Geburt der Klägerin von deren Mutter getrennt. Gegen den Stiefvater wurde offenbar aufgrund des Verdachts, seine eigene Tochter sexuell missbraucht zu haben, ein Ermittlungsverfahren durchgeführt. Nach dem Tod des Stiefvaters im März 1962 wurde die Klägerin vom Jugendamt aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen und ihrem Vater, der wieder geheiratet hatte, zugeführt.

3

Im Mai 1967 erstattete die Klägerin gegen ihren Vater eine Strafanzeige. Dieser habe sie im vergangenen halben Jahr immer wieder unzüchtig berührt. Der Vater wurde offenbar verhaftet und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Klägerin zunächst dem Jugendamt der Stadt K. und ab August 1967 der Evangelischen Jugendhilfe des Amtes für Diakonie K. übertragen. Bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres arbeitete die Klägerin in der Heimküche eines Altersheims, wo sie anscheinend auch wohnte. Nach dem späteren Erwerb des Hauptschulabschlusses und verschiedenen Erwerbstätigkeiten heiratete die Klägerin im Jahre 1976 und gebar zwischen 1977 und 1981 drei Kinder.

4

Anlässlich einer stationären Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der P.-Klinik B. im Jahr 2000 wurde bei der Klägerin neben einer mittelgradigen depressiven Episode erstmals eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Im Anschluss an diese Maßnahme nahm die Klägerin eine ambulante Psychotherapie bei der psychologischen Psychotherapeutin S. auf. Diese äußerte den Verdacht einer dissoziativen Identitätsstörung die im Jahr 2002 durch die Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. bestätigt wurde.

5

Im Mai 2005 beantragte die Klägerin beim Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Gewaltopferentschädigung, weil sie in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und von ihrem Vater sexuell belästigt worden sei. Zur Begründung legte sie das Ergebnis ihrer Recherchen sowie Unterlagen vor, die sie unter Mitwirkung ihrer Therapeutin zusammengetragen hatte. Von dort wurde die Angelegenheit im Juni 2005 wegen des angegebenen Tatorts in K. zuständigkeitshalber an das Versorgungsamt M. abgegeben. Dieses Amt holte einen Befundbericht der Psychotherapeutin S. sowie Berichte der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie H. ein. Zudem befragte das Amt schriftlich Frau C., die in der Zeit von 1969 bis 1972 als Sozialarbeiterin im Amt für Diakonie tätig und kurze Zeit mit der Pflegschaft der Klägerin befasst war. Ferner zog es die von der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe K. eV archivierte Akte der Klägerin über die Pflegschaft der Klägerin sowie die Schwerbehindertenakte des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie bei, das mit Bescheid vom 30.8.2005 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 wegen einer psychischen Behinderung ab Mai 2005 festgestellt hatte.

6

Mit Bescheid vom 3.1.2006 des Versorgungsamts M. in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 17.7.2006 wurde der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 OEG geworden sei. Weder der sexuelle Missbrauch durch den Stiefvater noch die sexuelle Belästigung durch den leiblichen Vater seien nachgewiesen. Selbst unter Heranziehung der Beweiserleichterung des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sei ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin nicht anzunehmen.

7

Das von der Klägerin daraufhin angerufene Sozialgericht Lüneburg (SG) hat von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. F. ein im Juli 2007 erstattetes nervenärztliches Gutachten mit einem unter Mithilfe des psychologischen Psychotherapeuten Dr. B. erstellten testpsychologischen Zusatzgutachten eingeholt. Der Sachverständige diagnostizierte eine dissoziative Identitätsstörung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH. Er vertrat die Auffassung, dass aufgrund des eindeutigen Vorliegens einer dissoziativen Identitätsstörung nach herrschender wissenschaftlicher Lehre ein frühkindlicher sexueller Missbrauch als Ursache für die Störung anzunehmen sei.

8

Mit Urteil vom 8.11.2007 hat das SG die noch gegen das Land Nordrhein-Westfalen gerichtete Klage abgewiesen, weil nicht im Sinne des notwendigen Vollbeweises feststellbar sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Auch unter Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG sei nicht anzunehmen, dass ein derartiger Angriff auf die Klägerin in ihrer Kindheit stattgefunden habe, weil von einer Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin nicht ausgegangen werden könne. Schließlich sei der vom Sachverständigen gezogene Rückschluss von der vorliegenden Erkrankung auf deren Ursache nicht zulässig.

9

Das von der Klägerin mit der Berufung angerufene Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat weitere medizinische Unterlagen eingeholt, ua den Rehabilitations-Entlassungsbericht der P.-Klinik B. vom 26.7.2000 sowie das für die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover in einem Rentenverfahren erstellte Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. T. vom 18.1.2005. Außerdem hat sich das LSG von der Dipl. Psychologin D. ein Glaubhaftigkeitsgutachten vom 19.4.2011 über die Klägerin erstatten lassen. Danach ist die Aussage der Klägerin bezüglich des dargelegten Missbrauchs durch den Stiefvater (1961 bis 1962) und den Vater (1963 bis 1967) nicht glaubhaft. Zwar liege keine bewusste Falschaussage vor, es bestünden aber Hinweise, dass die Angaben der Klägerin sich erst unter suggestiven Bedingungen entwickelt hätten.

10

Mit Urteil vom 16.9.2011 hat das LSG die zuletzt gegen den beklagten Landschaftsverband gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Seine Entscheidung hat es auf folgende Erwägungen gestützt:

Das Gericht sehe sich nicht in der Lage, einen sexuellen Missbrauch der Klägerin durch deren Stiefvater und/oder eine sexuelle Belästigung durch deren leiblichen Vater und damit einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG anzunehmen. Der von der Klägerin behauptete sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung sei zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Unmittelbare Tatzeugen seien nicht vorhanden. Stiefvater, Mutter und Vater der Klägerin seien bereits verstorben. Urkunden, wie etwa staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten etc, seien nicht mehr vorhanden. Andere Beweismittel, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten, seien nicht ersichtlich. Der sexuelle Missbrauch bzw die sexuelle Belästigung könne auch nicht aus der medizinischen Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung gefolgert werden.
Schließlich lasse sich ein sexueller Missbrauch bzw eine sexuelle Belästigung auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 KOVVfG annehmen. Zwar komme die Beweiserleichterung (Glaubhaftmachung) zugunsten der Klägerin zur Anwendung, weil es weder Zeugen noch sonstige zum Beweis geeignete Unterlagen zu den von der Klägerin behaupteten Taten gebe. Die entsprechenden Behauptungen der Klägerin seien jedoch nicht glaubhaft. Dies ergebe sich zum einen aus dem eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. und zum anderen auch aus eigenen Erwägungen des Senats zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin. Ein Anspruch auf Opferentschädigung ergebe sich aus im Wesentlichen gleichen Überlegungen auch nicht aus der Behauptung der Klägerin, von ihrem Vater einmal krankenhausreif geschlagen worden zu sein.

11

Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der Anspruch der Klägerin "wahrscheinlich" auch an den Voraussetzungen des § 10a OEG scheitern würde. Für Taten in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 könnten die Opfer nur dann Entschädigung nach dem OEG erhalten, wenn sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt seien, also ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 50 vorliege. Nach dem Schwerbehindertenrecht sei indes nur ein GdB von 30 anerkannt. Dem Gutachten des Dr. F. sei nicht zu folgen, weil er keinerlei Begründung dafür gegeben habe, dass die "MdE 50" betrage. Im Ergebnis könne dies jedoch dahinstehen.

12

Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Soweit das LSG davon ausgehe, dass keine Beweismittel mehr vorhanden seien, sei § 103 SGG verletzt. Sie, die Klägerin, habe dem LSG gegenüber die Vernehmung ihrer Halbschwester als Zeitzeugin angeboten. Soweit das LSG sage, dass aus der Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung nicht auf deren Ursache rückgeschlossen werden könne, stehe dies im Widerspruch zu der Aussage des erstinstanzlich eingeholten ärztlichen Gutachtens. Zudem sei nach der Entscheidung des BSG vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92 - ein derartiger Rückschluss durchaus ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft die geltend gemachte Belastung allgemein für geeignet halte, bestimmte Krankheiten hervorzurufen. Nach dem Gutachten des Dr. F. sei nach heute herrschender wissenschaftlicher Lehrmeinung ein entsprechender Rückschluss hier möglich.

13

Im Hinblick auf das zweitinstanzlich eingeholte aussagepsychologische Gutachten sei bisher ungeklärt, ob ein derartiges Gutachten überhaupt "die Entscheidung des Gerichts ersetzen darf". Bezüglich der vom LSG als eigene Erwägungen bezeichneten Gründe zur fehlenden Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen (fehlende Aussagekonstanz) habe das LSG nicht beachtet, dass sie an einer dissoziativen Identitätsstörung leide.

14

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 16. September 2011 sowie des Sozialgerichts Lüneburg vom 8. November 2007 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2006 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter sowie einer schweren körperlichen Misshandlung Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

15

Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

16

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

17

Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

18

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

19

Die Revision der Klägerin ist zulässig.

20

Sie ist vom BSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf zahlreiche schädigende Vorgänge stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9 V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in zwei Gruppen zusammenzufassen, nämlich einen über Jahre andauernden sexuellen Missbrauch und eine körperliche Misshandlung.

21

Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs rügt die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG, weil das Gericht ihre Halbschwester nicht als Zeitzeugin vernommen habe. Als weitere Verletzung der Sachaufklärungspflicht betrachtet die Klägerin die Einholung und Verwertung eines aussagepsychologischen Gutachtens durch das LSG, und zwar auch in Bezug auf die behauptete einmalige schwere körperliche Misshandlung durch ihren Vater. Als Verletzung der Sachaufklärungspflicht und Überschreitung der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung rügt die Klägerin, dass das LSG entgegen dem erstinstanzlich eingeholten psychiatrischen Gutachten nicht davon ausgegangen sei, dass aus der Art ihrer jetzigen Erkrankung auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend rückgeschlossen werden könne. Die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung habe das LSG auch im Rahmen von ihm so bezeichneter eigener Erwägungen überschritten. Insgesamt rügt die Klägerin zusätzlich eine Verletzung des materiellen Beweisrechts, weil sich das LSG bei Anwendung des § 15 KOVVfG nicht an die danach geltenden Grundsätze der Glaubhaftmachung gehalten habe.

22

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter betrifft. Hinsichtlich geltend gemachter Folgen einer schweren körperlichen Misshandlung durch den Vater führt die Revision insoweit zu einer Änderung des Urteils des LSG, als die darauf bezogene zweitinstanzlich erhobene Klage abgewiesen wird.

23

Stillschweigend aber zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Berufungsverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat.

24

Obwohl auch der Revisionsantrag der Klägerin auf die Bewilligung einer "Opferentschädigung" gerichtet ist, legt der Senat den erhobenen Anspruch im wohlverstandenen Interesse der Klägerin dahin aus, dass diese die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt (vgl § 123 SGG). Der wörtlich gestellte Leistungsantrag wäre nämlich unzulässig. Zwar kann im sozialgerichtlichen Verfahren die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG auf jede nach dem materiellen Recht vorgesehene Leistung gerichtet werden. Die beanspruchte Leistung muss indes genau bezeichnet werden (BSG Urteil vom 17.7.2008 - B 9/9a VS 5/06 R - SozR 4-3200 § 81 Nr 5). Der Begriff Opferentschädigung betrifft aber keine bestimmte Leistung, sondern umfasst alle nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl § 1 Abs 1 OEG iVm § 9 BVG). Selbst wenn nach den Umständen des Falles als "Opferentschädigung" nur Geldleistungen in Betracht kämen, kann nach der Rechtsprechung des Senats ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 SGG sein(Urteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - USK 99140 S 816 f; Urteil vom 8.8.2001 - B 9 VG 1/00 R - BSGE 88, 240, 246 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).

25

Soweit das LSG erstmals über einen Anspruch der Klägerin nach dem OEG/BVG wegen der Folgen einer einmaligen schweren körperlichen Misshandlung durch ihren Vater entschieden hat, handelt es sich um eine Entscheidung über eine erst im Laufe des Berufungsverfahrens erhobene Klage. Diese Klage ist schon deshalb unzulässig, weil über den Anspruch insoweit noch keine Verwaltungsentscheidung vorliegt. Das LSG hat sich mit diesem Streitpunkt nicht gesondert befasst. Insoweit ist das Urteil des LSG klarstellend dahin abzuändern, dass diese Klage abgewiesen wird.

26

Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:

Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

27

In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

28

Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).

29

In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das BSG bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).

30

Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.

31

Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).

32

Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).

33

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

34

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).

35

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

36

Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).

37

Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Entgegen der bisherigen Diktion auch des LSG ist nicht zwischen einem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und einer sexuellen Belästigung durch den Vater zu unterscheiden, sondern einheitlich von einem sexuellen Missbrauch zu sprechen. Denn strafrechtlich wird so nicht differenziert. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern (Personen unter vierzehn Jahren) setzt § 176 StGB "sexuelle Handlungen" voraus. Ebenso stellt § 177 StGB betreffend andere Personen "sexuelle Handlungen" unter Strafe. Als solche werden alle Einwirkungen auf ein Kind oder eine über vierzehn Jahre alte Person verstanden, die mit sexuell bezogenem Körperkontakt einhergehen (s nur Fischer, StGB, 59. Aufl 2012, § 177 RdNr 49), sodass darunter auch die bisher als sexuelle Belästigung bezeichneten Handlungen des Vaters der Klägerin fallen. Die von der Klägerin ihrem Stiefvater und ihrem Vater zur Last gelegten schädigenden Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.

38

Den behaupteten sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater und später durch den Vater der Klägerin hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.

39

Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).

40

Diesen Kriterien hat das LSG zwar Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG angenommen hat. Der Anwendung dieser Vorschrift steht hier auch nicht der Umstand entgegen, dass das LSG verpflichtet war, die von der Klägerin benannte Zeugin R. zu vernehmen, denn diese ist nicht als Tatzeugin, sondern als Zeitzeugin benannt worden. Die Verpflichtung zu ihrer Vernehmung folgt indes aus § 103 SGG, denn ausgehend von seiner materiellen Rechtsansicht zur Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG hätte sich das LSG zu deren Vernehmung gedrängt fühlen müssen. Die Angaben der Zeugin R. sind nämlich von erheblicher Relevanz im Rahmen der Prüfung einer Glaubhaftmachung des sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Stiefvater H. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG über ein Ermittlungsverfahren gegen H. wegen eines sexuellen Missbrauchs seiner eigenen Tochter könnte es sich bei der Zeugin um die Tochter des H. handeln, die möglicherweise selbst von diesem sexuell missbraucht worden ist. Ihren Angaben kann somit auch hinsichtlich des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch H. erhebliche Bedeutung zukommen.

41

Obwohl das LSG den § 15 S 1 KOVVfG herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.

42

Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.

43

Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sog Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 22). Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 20, 23).

44

Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.

45

Aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 (- L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25) ergeben sich keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25 aE). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.

46

Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht: Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):

Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/ Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.

47

Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).

48

Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).

49

Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.

50

Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.

51

Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).

52

Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.

53

Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).

54

Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.

55

Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.

56

Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/ Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.

57

Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.

58

Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen D. vom 19.4.2011 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom LSG zu den Fragen eingeholt worden:

59

Ist die Aussage der Klägerin bezüglich der dargelegten schädigenden Ereignisse (Missbrauch durch den Stiefvater H. 1961 - 1962; Missbrauch durch den Vater 1963 - 1967) glaubhaft? Wenn ja, auf welchen aussagepsychologischen Kriterien beruht die Glaubhaftigkeit zu den unmittelbaren schädigenden Ereignissen? Wenn nein, nach welchen aussagepsychologischen Kriterien ist die Glaubhaftigkeit für die unmittelbaren schädigenden Ereignisse nicht erreicht oder auszuweisen?

60

Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen D. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in dem Abschnitt 3 ("Methodik der Begutachtung und Hypothesenbildung") festgestellt, dass es sich bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung um einen Hypothesen geleiteten Prüfprozess handele ("Wahrheits-Hypothese" und "Unwahr-Hypothese"). Dabei hat die Sachverständige auf Veröffentlichungen von Volbert (Beurteilung von Aussagen über Traumata. Erinnerungen und ihre psychologische Bewertung - Forensisch-psychologische Praxis 2004 und Volbert/Steller, Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, 2004) hingewiesen (S 15 f des Gutachtens).

61

Da das Berufungsurteil mithin bei der Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.

62

Auf dieser nicht tragfähigen Tatsachenwürdigung beruht die Entscheidung des LSG. Das gilt auch in Anbetracht des Umstandes, dass das LSG seine Auffassung von der fehlenden "Glaubhaftigkeit" der Behauptungen der Klägerin zusätzlich auf eigene Erwägungen gestützt hat. Denn diese Erwägungen tragen die Entscheidung des LSG nicht allein. Vielmehr hat das LSG diese Ausführungen nur ergänzend gemacht ("nicht nur auf das Glaubhaftigkeitsgutachten, sondern auch auf eigene Erwägungen"), sodass das Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen D. nach der Diktion des LSG für dessen Tatsachenwürdigung maßgebend ist.

63

Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).

64

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(1) Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1.
von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
1a.
gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 Buchstabe a, auch in Verbindung mit Nummer 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde,
2.
auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.
gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.
auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Satz 1 Nr. 4 gilt nur für Personen, die zum Zwecke der Wiedereinreise in den Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft wurden und die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet haben oder nur vorübergehend aus beruflichen Gründen oder zum Zwecke der Ausbildung aufgegeben haben, sowie deren Angehörige, die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft leben. Als Angehörige gelten die in § 10 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genannten Personen.

(2) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer als Deutscher außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden durch eine Impfung erlitten hat, zu der er auf Grund des Impfgesetzes vom 8. April 1874 in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2126-5, veröffentlichten bereinigten Fassung, bei einem Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes verpflichtet gewesen wäre. Die Versorgung wird nur gewährt, wenn der Geschädigte

1.
nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes geimpft werden konnte,
2.
von einem Arzt geimpft worden ist und
3.
zur Zeit der Impfung in häuslicher Gemeinschaft mit einem Elternteil oder einem Sorgeberechtigten gelebt hat, der sich zur Zeit der Impfung aus beruflichen Gründen oder zur Ausbildung nicht nur vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes aufgehalten hat.

(3) Versorgung im Sinne des Absatzes 1 erhält auch, wer außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes einen Impfschaden erlitten hat infolge einer Pockenimpfung auf Grund des Impfgesetzes oder infolge einer Pockenimpfung, die in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes bezeichneten Gebieten, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Berlin (Ost) gesetzlich vorgeschrieben oder auf Grund eines Gesetzes angeordnet worden ist oder war, soweit nicht auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften Entschädigung gewährt wird. Ansprüche nach Satz 1 kann nur geltend machen, wer

1.
als Deutscher bis zum 8. Mai 1945,
2.
als Berechtigter nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Flüchtlingshilfegesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Mai 1971 (BGBl. I S. 681), das zuletzt durch Artikel 24 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung,
3.
als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes oder
4.
im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 des Bundesvertriebenengesetzes in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes genommen hat oder nimmt.

(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten im Sinne der Absätze 1 bis 3 erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Satz 2 gilt entsprechend, wenn ein Partner in der Zeit zwischen dem 1. November 1994 und dem 23. Juni 2006 an den Schädigungsfolgen verstorben ist.

(5) Als Impfschaden im Sinne des § 2 Nr. 11 gelten auch die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f oder des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind. Einem Impfschaden im Sinne des Satzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz infolge eines Impfschadens im Sinne des Absatzes 1 oder eines Unfalls im Sinne des Satzes 1 gleich.

(6) Im Rahmen der Versorgung nach Absatz 1 bis 5 finden die Vorschriften des zweiten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch über den Schutz der Sozialdaten Anwendung.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.

2

Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.

3

Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.

4

Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.

5

Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.

6

Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.

7

Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.

8

Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.

9

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.

10

Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).

11

Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.

12

Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.

13

Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.

14

In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.

15

Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.

16

In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.

17

Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.

18

Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.

19

Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.

20

Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.

21

Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).

22

Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.

23

Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.

24

Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.

25

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.

26

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

27

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.

28

Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.

Entscheidungsgründe

29

1. Die Revision des Klägers ist zulässig.

30

a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.

31

Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.

32

b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.

33

2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.

34

a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).

35

           

b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:

Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 

4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,

eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

        

Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

        
36

aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).

37

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).

38

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

39

bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

40

           

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):

        

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

41

Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS , Einleitung zur VersMedV, S 5), sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.

42

cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

43

Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.

44

c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.

45

aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25 ) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.

46

Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".

47

Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.

48

bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.

49

           

aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:

So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.

50

           

Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

51

In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).

52

Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.

53

           

Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:

        

Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.

54

           

Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:

        

Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.

55

           

Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:

        

Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.

56

           

Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:

        

Geringe Lokalreaktion,

57

           

enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:

        

Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.

58

           

In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):

        

Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.

Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.

In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.

Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.

59

           

bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:

        

Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.

60

Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.

61

Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.

62

Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.

63

d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.

64

aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.

65

bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.

66

Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

67

aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.

68

Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.

69

Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.

70

bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.

71

ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.

72

e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

73

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden. Die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 8. Juni 2015 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Impfschadensrecht gemäß §§ 60 ff. Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Am 03.11.2009 wurde der im Jahr 1965 geborene Kläger bei den Ärzten Dres. E. gegen den Influenza A Virus (H1N1 - Schweinegrippevirus) mit dem Impfstoff Pandemrix (Lot A81CA062A) geimpft.

In der Nacht zum 10.11.2009 erlitt der Kläger einen Hirninfarkt. Anschließend wurde er im H. in A-Stadt bis zum 10.12.2009 intensivmedizinisch behandelt, wobei am 12.11.2009 eine Dekompressionskraniektomie durchgeführt wurde. Als Diagnosen wurden u.a. ein Hirninfarkt und eine „Dissektion bzw. thrombembolischer Verschluss der distalen interkraniellen Arteria carotis li.“ sowie eine benigne essentielle Hypertonie mit Angabe einer hypertensiven Krise genannt. Es wurden diverse, auch bildgebende Untersuchungsverfahren durchgeführt. Bei einer CT-Angiographie der hirnversorgenden Arterien vom 10.11.2009 ist folgender Befund festgehalten: „Hochgradig stenosierende, wohl embolische KM-Aussparungen in der linken A. carotis … Keine weiteren Gefäßstenosen oder Verschlüsse.“

Anschließend befand sich der Kläger bis zum 07.04.2010 und anschließend bis 09.06.2010 in stationärer neurologischer Rehabilitationsbehandlung bzw. stationärer Anschlussheilbehandlung. Eine Dopplersonographie vom 20.02.2010 hatte dabei eine unauffällige Gefäßwandmorphologie ergeben.

Derzeit ist wegen der aus dem Hirninfarkt resultierenden Halbseitenlähmung ein Grad der Behinderung von 70 festgestellt.

Mit Schreiben vom 22.02.2012 beantragte der Kläger Versorgung nach dem IfSG; den Hirninfarkt führe er auf die Impfung vom 03.11.2009 zurück.

Nach Beiziehung umfangreicher medizinischer Unterlagen erstellte am 11.07.2012 der Dr. K. eine versorgungsärztliche Stellungnahme. Darin kam er zu der Einschätzung, dass es sich bei dem Hirninfarkt mit deutlich überwiegender Wahrscheinlichkeit um eine rein zufällige, zeitlich relativ nahe beieinanderliegende Koinzidenz einer Impfung mit einer schicksalshaften Erkrankung handle. Carotisdissektionen seien nicht als Nebenwirkung einer Pandemrix-Impfung beschrieben. Eine Anerkennung nach dem IfSG könne nicht empfohlen werden.

Diese Einschätzung bestätigte der und Psychiater Dr. K. in einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 02.10.2012. Ein Hirninfarkt werde als Nebenwirkung des Influenza-Impfstoffs nicht beschrieben. In sehr seltenen Fällen werde eine Vaskulitis angegeben. Die Entzündungswerte des Klägers seien jedoch erst am 15.11.2009, also fünf Tage nach dem Hirninfarkt angestiegen. Als Ursache dafür seien Erreger nachgewiesen worden und mit antibiotischer Therapie erfolgreich behandelt worden. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Dissektion der Arteria carotis mit dem nachfolgenden Hirninfarkt einerseits und der eine Woche zuvor durchgeführten Impfung andererseits sei als unwahrscheinlich anzusehen.

Mit Bescheid vom 23.10.2012 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab.

Mit Schreiben vom 07.11.2012 legte der Kläger Widerspruch ein. Es werde verkannt, dass der Hirninfarkt eine unübliche Impfreaktion sei. Bei der Impfung sei er vollkommen gesund gewesen. Ob ein Hirninfarkt als Nebenwirkung des Impfstoffes beschrieben werde, sei für die Kausalitätsfrage unbedeutend. In der Datenbank des P.-E.-Instituts zu Verdachtsfällen von Impfkomplikationen seien 16 Fälle von Hirninfarkt im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen verzeichnet. Somit sei diese Impfreaktion bekannt. Der Beklagte gehe von einer schädigungsunabhängigen Erkrankung aus. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast trage der Leistungsträger die Beweislast für diejenigen Tatsachen, aus denen er die Ablehnung des kausalen Zusammenhangs ableite.

Nachdem der Kläger Akteneinsicht genommen hatte, ergänzte er seinen Widerspruch mit Schreiben vom 08.01.2013. Auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen Impfung und Hirninfarkt wies er hin. Über das Risiko der Impfung sei er weder mündlich noch schriftlich aufgeklärt worden; die Impfung sei daher nicht rechtskonform erfolgt. Mangels Kenntnis des Impfrisikos sei jedenfalls die Aufklärung nicht wirksam. Auf Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wies er hin. Er forderte den Beklagten auf, ihm mitzuteilen, aufgrund welcher medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs abgelehnt werde.

Der und Psychiater Dr. K. äußerte sich zum Vorbringen des Klägers in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 04.02.2013. Er wies darauf hin, dass im Epidemiologischen Bulletin Nr. 25/2007 als Komplikationen der Grippeschutzimpfung allergische Sofortreaktionen und sehr selten eine Vaskulitis berichtet worden seien. Im vorliegenden Fall seien aber keine derartigen Reaktionen aufgetreten. Vielmehr handle es sich um einen Hirninfarkt bei Dissektion bzw. einen thromboembolischen Verschluss der Arteria carotis, die als Komplikationen nach einer Grippeschutzimpfung nicht genannt würden. Zudem sei der Gefäßverschluss nicht unmittelbar nach der Impfung, sondern erst eine Woche später aufgetreten; Fieber habe sich erst danach entwickelt. Im Übrigen werde in der Datenbank des P.-E.-Instituts zu den Verdachtsfällen darauf hingewiesen, dass dies nicht ohne weiteres bedeute, dass ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Arzneimittel existiere. Bisher sei keine Bewertung des P.-E.-Instituts oder des Robert-Koch-Instituts bekannt, die von einer kausalen Verursachung eines Schlaganfalls durch die Grippeschutzimpfung ausgehe.

Darauf gestützt wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.02.2013 den Widerspruch zurück.

Mit Schriftsatz vom 11.03.2013 haben die Bevollmächtigten des Klägers Klage zum Sozialgericht (SG) Bayreuth erhoben.

Zur Klagebegründung haben sie Folgendes vorgetragen: Die Behauptung des Beklagten, dass ein Hirninfarkt als Nebenwirkung des Impfstoffes Pandemrix nicht beschrieben und somit als unwahrscheinlich anzusehen sei, sei falsch. Mangels Erfassungssystems und wegen unzureichender Impfstoffprüfung vor der Impfempfehlung gebe es schon keine hinreichenden Studien. Zudem sei die Wesentlichkeit einer Bedingung nach der Wirkung der besonderen Umstände auf die Einzelpersönlichkeit zu beurteilen. Die Kausalität einer Erkrankung könne schon aus diesem Grund nicht von der Anzahl einer bestimmten Zahl von impfbedingten Erkrankungsfällen abhängig sein. Zudem weise die Liste des P.-E.-Instituts 16 Meldungen „Hirninfarkt“ nach Impfungen aus auf, davon allein vier Fälle aufgrund der Pandemrix-Impfung. Dies sei eine auffallende, statistisch signifikante Zahl. Auch würden in der Fachinformation von Pandemrix als sehr seltene Nebenwirkungen neurologische Erkrankungen erwähnt. Die Risiken des staatlich empfohlenen Schweinegrippe-Impfstoffes seien nicht hinreichend gegen den Nutzen abgewogen worden. Regierungsbeamte und Bundeswehrsoldaten seien daher auch mit einem anderen Impfstoff ohne Adjuvantien geimpft worden. Wegen der unzureichenden Testung der Impfstoffe habe sich der Hersteller durch die Regierung von der Haftung freistellen lassen. Auch nach der Impfstoffzulassung seien keine umfassende wissenschaftliche Erfassung und Bewertung der Verdachtsfälle erfolgt. Von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei vorgesehen, dass eine Nutzen-Lasten-Analyse Voraussetzung für die Impfempfehlung sei. Diese sei hier grobfehlerhaft und unzureichend durchgeführt worden. Sofern der Beklagte bemängele, dass die Erkrankung nicht unmittelbar nach der Impfung, sondern erst eine Woche später aufgetreten sei, sei diese Aussage geradezu skandalös, da medizinisch seit Jahrzehnten von einer Inkubationszeit von mehreren Wochen ausgegangen werde. Dies ergebe sich auch aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wonach ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Auftreten der neurologischen Symptomatik anzunehmen sei, wenn sich die Symptomatik in einem Zeitraum von innerhalb einer Stunde bis zu einem Monat nach der Impfung manifestiert habe. Eine Impfreaktion nach sieben Tage stehe absolut noch im zeitlichen Zusammenhang mit der zuvor erfolgten Impfung. Wegen des zeitlichen Zusammenhangs und fehlender andere Ursachen für den beim Kläger eingetretenen Hirninfarkt sei vorliegend die Wahrscheinlichkeit der Ursächlichkeit der Impfung für den Infarkt gegeben.

Nach der Beiziehung medizinischer Unterlagen erstellte der Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie Prof. Dr. J. am 14.08.2014 im Auftrag des SG ein Gutachten. Darin führte er Folgendes aus:

Der Kläger habe einen Schlaganfall durch den Verschluss eines Blutgefäßes im Gehirn (Arteria cerebri media) erlitten. Ein solcher Hirninfarkt führe zum Absterben eines mehr oder weniger großen Bereichs des Gehirns. Ursache dafür sei im vorliegenden Fall die Dissektion der Arteria carotis interna, einer der Hauptschlagadern des Gehirns gewesen. Bei diesem seltenen Krankheitsbild komme es durch Einrisse in der inneren Wandschicht der Arterie zu einer Blutung in die Gefäßwand, die zu einem Bluterguss innerhalb der Wand, zu einer Vorwölbung in das Gefäßlumen und damit zu einer Einengung des Gefäßes führe. Dieses Ereignis könne zunächst klinisch stumm bleiben oder sich durch einseitige Gesichts- oder Halsschmerzen oder Augenstörungen bemerkbar machen. Nach einer Latenzzeit von Minuten bis Wochen würden aber Zeichen einer Mangeldurchblutung des Gehirns auftreten. Durch Thrombosierung, also der Bildung von Blutgerinnseln, komme ist zur weiteren Einengung oder sogar zum Verschluss des Gefäßes und letztlich zum Hirninfarkt, der sich klinisch als Schlaganfall äußere. Eine Dissektion einer Halsarterie könne durch schwere Schädel-, Hals- oder Thoraxverletzungen hervorgerufen werden, die Ursachen für die Entstehung einer sogenannten spontanen, also nicht durch schwere Traumen verursachten Dissektion der Arteria carotis - wie im vorliegenden Fall - seien unklar. Man nehme strukturelle Defekte der arteriellen Wand an, für die genetische Faktoren eine Rolle zu spielen scheinen würden. Auslösende Faktoren könnten Bagatelltraumen durch heftiges Schnäuzen, Husten, Erbrechen oder sportliche Betätigung sein, aber auch Infekte und erhöhter Blutdruck. Eine Dissektion trete eher bei jüngeren Menschen auf, der Häufigkeitsgipfel liege bei 46 Jahren. Zudem sei eine saisonale Abhängigkeit mit einer Zunahme der Fälle im Herbst und Winter zu beobachten.

Der beim Kläger verwendete Impfstoff habe nur Bestandteile eines einzigen Influenzastammes sowie das erstmals in einem zugelassenen Impfstoff benutzte Adjuvans AS03 enthalten. Dieser Wirkverstärker, der in der Öffentlichkeit vielfach kritisiert worden sei, sei aber keineswegs so neu gewesen, wie dies behauptet werde. Bereits ein früher im Rahmen einer Studie mit 12.000 Teilnehmern erprobte Impfstoff habe dieses Adjuvans enthalten, ein seit 1997 zugelassener Grippeimpfstoff enthalte ein sehr ähnliches Adjuvans. Die Verträglichkeit von Pandemrix sei gut, allerdings seien vor allem lokalen Reaktionen (Rötung, Schwellung, Schmerz an der Injektionsstelle) häufiger und stärker ausgeprägt als bei dem normalen saisonalen Impfstoff beschrieben worden. Vorübergehend könne es zu Allgemeinsymptomen wie bei einer Erkältung kommen, wobei diese Beschwerden in der Regel innerhalb von ein bis zwei Tagen wieder folgenlos abklängen. Spezifisch nach Pandemrix seien gelegentlich vorübergehende Sensibilitätsstörungen beobachtet worden. Weitere, durch die Impfung nachgewiesenermaßen oder höchstwahrscheinlich hervorgerufene Komplikationen seien den bisher genannten gegenüber extrem selten. Nur in Einzelfällen seien nach Pandemrix anaphylaktische und allergische Reaktionen aufgetreten, allerdings häufiger als bei den nicht adjuvantierten saisonalen Vakzinen. Die nach der saisonalen Impfung beobachteten Fälle von Guillain-Barre-Syndrom, die sehr selten, aber statistisch gesichert seien, seien nach der Impfung mit Pandemrix auf knapp das Doppelte angestiegen. Sehr wahrscheinlich werde durch die Impfung auch die Rate an Fällen von Narkolepsie bei geimpften Kindern deutlich erhöht, wobei die genaue Klärung dieses Zusammenhangs noch ausstehe.

Auf die gerichtliche Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen der Impfung mit Pandemrix und Schlaganfällen, Hirninfarkten oder Dissektion von Halsarterien hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass gerade im Fall der Massenimpfung gegen die Influenza der Jahre 2009/2010, bei der allein in Europa mit Pandemrix bereits über 30 Mio. Menschen geimpft worden seien, zeitliche Zusammenhänge zwischen Impfung und Erkrankung auftreten würden, die häufig als kausale Assoziation fehlgedeutet würden, worauf auch schon eine Gruppe von Experten in einer bemerkenswerten Publikation hingewiesen habe. In der medizinischen Literatur gebe es einige Einzelfallberichte zu Schlaganfällen nach Impfungen, aber bislang keinen Beleg für einen gesicherten Zusammenhang zwischen einer Impfung und dem Auftreten eines Schlaganfalls. In einer Studie, in der an 19.063 Personen mit einem Schlaganfall nach einem möglichen Zusammenhang mit Infektionen und Impfungen gesucht worden sei, habe sich kein Hinweis auf eine möglicherweise kausale Rolle von Influenza- und anderen Impfungen gefunden, wohl aber ein Zusammenhang mit akuten Atemwegs- und Harnwegsinfekten. Eine ausgedehnte Literatursuche zu Impfungen, speziell gegen Influenza, und Dissektionen der Arteria carotis interna habe kein positives Ergebnis gebracht. Zwar sei der Impfstoff Pandemrix nur in einer Saison zum Einsatz gekommen. Die aufgezeigten Fälle von extrem seltenen impfinduzierten Nebenwirkungen nach einer Impfung mit Pandemrix würden aber zeigen, dass in den Ländern, in denen Pandemrix zum Einsatz gekommen sei, Folgereaktionen sehr sorgfältig dokumentiert und analysiert worden seien. Wenn unter diesen Umständen bei insgesamt 30,5 Mio. in Europa mit Pandemrix geimpften Menschen Schlaganfälle oder Hirninfarkte nicht registriert worden seien, könne man davon ausgehen, dass nichts auf einen Zusammenhang hinweise.

Zu der Frage, ob sich ein Zusammenhang zwischen Impfung und einer arteriellen Dissektion pathophysiologisch erklären lasse, hat der Sachverständige Folgendes ausgeführt: Die Genese einer spontanen Dissektion der Arteria carotis interna sei unklar. Die meisten Autoren nähmen eine angeborene Wandschwäche der Arterien an. Verschiedene Faktoren könnten in diesem Fall die Entstehung einer Dissektion auslösen. Häufig würden Bagatelltraumen genannt, aber auch Infekte und erhöhter Blutdruck. Ursache der Dissektion sei eine Blutung in die Arterienwand, wobei den die Gefäßwand versorgenden Blutgefäßen eine besondere Bedeutung zuzukommen scheine. Entzündliche Prozesse, etwa im Rahmen von Infekten, könnten möglicherweise durch die Freisetzung von Zytokinen eine Schädigung dieser Gefäße bewirken, die dann zur Blutung führe. Auf ähnliche Weise könnte eine Impfung mit Pandemrix, die durch das Adjuvans AS03 eine starke Zytokinausschüttung induzieren könne, einen derartigen Prozess begünstigen und damit eine Dissektion triggern. Eine Impfung komme also sicher nicht als Ursache einer Dissektion infrage, könnte aber unter Umständen einen auslösenden Faktor darstellen. Experimentelle oder epidemiologische Belege für diese Hypothese gebe es derzeit allerdings nicht.

Nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft dürfte die beim Kläger aufgetretene spontane Dissektion der Arteria carotis interna und der dadurch bedingte Hirninfarkt auf dem Boden einer vorbestehenden, wahrscheinlich genetisch bedingten Wandschwäche der Arterie durch ein auslösendes Ereignis verursacht worden sein. Auslösende Ereignisse würden in der Regel als normale, wenn auch etwas heftigere Bewegungen des Halses wie eine stärkere Überstreckung des Kopfes beim Trinken, beim Haarewaschen oder bei Yogaübungen, oder Drucksteigerungen im Halsbereich, wie sie bei heftigem Schnäuzen, Husten oder Erbrechen auftreten könnten, beschrieben, also Vorkommnisse, die sich im normalen Leben immer wieder ereignen würden und denen in der Regel auch keine besondere Beachtung geschenkt werde. Daneben würden auch vorausgegangene Infekte als mögliche Trigger einer Dissektion angeführt, Impfungen würden in der Literatur hingegen niemals erwähnt. Auf dem Boden des heutigen medizinischen Wissensstandes sei der Fall des Klägers in gewisser Weise typisch. Er habe mit 44 Jahren zum Zeitpunkt des Geschehens genau das Alter, in dem die meisten der spontanen Dissektionen vorkämen, und das Ereignis habe im Spätherbst stattgefunden, in dem sich derartige Vorkommnisse häufen würden. Dass in der Krankengeschichte kein auslösendes Ereignis vermerkt sei, sei nicht ungewöhnlich, da es sich in den allermeisten Fällen um Vorkommnisse durchaus noch im Bereich des Normalen handle.

Aufgrund theoretischer Überlegungen könnte als auslösendes Ereignis die Impfung mit Pandemrix diskutiert werden. Wenn man allerdings eine derartige Möglichkeit überhaupt in Erwägung ziehe, müsse man davon ausgehen, dass es sich um ein extrem seltenes Ereignis handle, nicht zuletzt deshalb, weil Hinweise auf ein solches Geschehen in der medizinischen Literatur vollständig fehlen würden.

Die Beweisfragen des SG hat der Sachverständige wie folgt beantwortet: Die beim Kläger vorliegende Gesundheitsstörung sei als Zustand nach Schlaganfall mit Sprachstörung und Halbseitenlähmung als Folge einer Dissektion (Anmerkung des Senats: Der Sachverständige schreibt hier von einer „Dissoziation“, wobei sich um einen offensichtlichen Schreibfehler handelt.) der Arteria carotis interna zu bezeichnen. Bei der Dissektion der Arteria carotis interna handle es sich sehr wahrscheinlich nicht um eine Impfkomplikation, die Möglichkeit könne aber nicht ausgeschlossen werden. Eine Kausalität zwischen der Impfung mit dem Impfstoff Pandemrix und einer Dissektion der Arteria carotis interna (im Sinne eines auslösenden Faktors) sei wissenschaftlich nicht belegt, aber theoretisch in Einzelfällen denkbar. Der Schlaganfall sei unmittelbare Folge einer Dissektion der Arteria carotis interna.

Der Beklagte hat sich zum Gutachten mit einer versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 28.08.2014 wie folgt geäußert: Für einen kausalen Zusammenhang der Dissektion mit der Impfung reiche nach der Kausalitätsbeurteilung eine Möglichkeit nicht aus; hierfür werde eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gefordert. Bei 30 Mio. Impfungen und den vom Sachverständigen angeführten Studien habe sich kein Hinweis auf das Auftreten von Dissektionen durch eine Impfung mit Pandemrix ergeben. Dies spreche mit Wahrscheinlichkeit gegen einen ursächlichen Zusammenhang. Aufgrund der theoretischen Überlegungen zur vermehrten Zytokinausschüttung durch das Adjuvans AS03 werde noch eine ergänzende Stellungnahme vorgeschlagen.

Anschließend hat das SG den Internisten Dr. W. mit einer ergänzenden sachverständigen Bewertung beauftragt. Dieser hat in seiner Stellungnahme vom 23.10.2014 darauf hingewiesen, dass eine Ausschüttung von Zytokinen, wie es auch das Adjuvans AS03 verursache, bezogen auf die Gefäße eine im weitesten Sinne als Schädigung zu interpretierende Veränderung auslösen könne. Denn Zytokine seien kleine Proteine, die zuständig für das Wachstum und die Differenzierung von Zellen seien. Sie würden also auch die Immunantwort steuern. Wenn nicht von einer traumatischen Dissektion auszugehen sei, liege selbstverständlich bei der Gefäßschädigung dieser Art immer ein zytokingesteuerter Prozess vor. Inwieweit tatsächlich die isoliert von dem Adjuvans ausgehende Zytokinausschüttung ursächlich für die folgende Dissektion gewesen sei, sei nicht sicher zu klären. In Anbetracht der Abwägung bekannter kardiovaskulärer Risikofaktoren und genetischer Faktoren, die natürlich auch eine Schwäche der arteriellen Wand vordergründig bestimmen würden, sei aber festzustellen, dass eben andere Gründe bei der Entstehung deutlich führend gewesen seien. Zudem sei zu betonen, dass ein zytokinvermittelter Prozess auch durch eine Infektion ganz anderer Ursache angestoßen sein könnte. In Abwägung der einzelnen Parameter sei die überwiegende Wahrscheinlichkeit anderer Risikofaktoren mit Sicherheit entscheidend für den Hirninfarkt gewesen.

Zu den sachverständigen Beurteilungen haben sich die Bevollmächtigten des Klägers mit Schriftsatz vom 22.12.2014 wie folgt geäußert: Sofern der Sachverständige ausgeführt habe, dass bislang kein Beleg für einen gesicherten Zusammenhang zwischen Impfung und Auftreten eines Schlaganfalls vorhanden sei, sei darauf hinzuweisen, dass ein gesicherter Zusammenhang nicht erforderlich sei, da die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs ausreiche. Wenn der Sachverständige ausgeführt habe, dass bei 30,5 Mio. geimpfter Menschen Schlaganfälle oder Hirninfarkte nicht registriert worden seien und daher davon auszugehen sei, dass nichts auf einen Zusammenhang hinweise, sei anzumerken, dass es nicht darauf ankomme, wie Menschen im Durchschnitt reagieren würden, sondern wie gerade der zu beurteilende Mensch reagiert habe. Zu berücksichtigen sei auch, dass der Kläger bei der Impfung vollkommen gesund gewesen sei und die schwerwiegenden Symptome sieben Tage nach der Impfung aufgetreten seien, also in einem durchaus anerkannten Zeitrahmen für Erkrankungen. Allein schon der zeitliche Zusammenhang zwischen der Impfung eines komplett gesunden Menschen und dem Auftreten der schwerwiegenden Erkrankung sei ein gewichtiges Indiz für die Verursachung des Schadens durch die Impfung im Sinne der vom Gesetzgeber geforderten Wahrscheinlichkeit. Sofern der Sachverständige ausgeführt habe, dass sich ein Impfschaden niemals mit „überwiegender“ Wahrscheinlichkeit nachweisen lassen werde, sei auszuführen, dass es nicht auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit ankomme, sondern auf die Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs. Der Gutachter sei aufgefordert gewesen, Alternativursachen darzulegen. Der Sachverständige habe dazu aber nur allgemeine und nicht auf den Einzelfall bezogene Ausführungen gemacht. Im Fall des Klägers seien keinerlei negative genetische Anlagen vorhanden, die ein erhöhtes Schlaganfallrisiko begründen könnten. Der Kläger sei auch Nichtraucher und habe kein sonstiges erhöhtes Infarktrisiko. Das Vorgehen des Gutachters überzeuge nicht. Er selbst habe ausgeführt, dass das im Impfstoff enthaltene Adjuvans durchaus ein auslösender Faktor für die Dissektion sein könne. Es könne nicht sein, dass bei Nichtvorliegen jeglicher genetischer Ursachen und bei Nichtvorliegen sonstiger Risikofaktoren der Gutachter gleichwohl eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dieser Faktoren annehme. Schon aufgrund der fehlenden, vom Gutachter selbst genannten anderweitigen Risikofaktoren im Falle des Klägers sei gerade eine Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs gegeben. Dies gelte umso mehr, als es sich um einen neuen, im Wesentlichen ungetesteten Impfstoff gehandelt habe. Gerade weil der Impfstoff zuvor nie angewendet worden sei, müsse es bei der Wahrscheinlichkeitsbeurteilung mitentscheidend auf die Frage ankommen, ob es genetische Risikofaktoren gegeben habe. Dies gelte besonders auch vor dem Aspekt, dass für die Zivilbevölkerung ein anderer, deutlich belastenderer Impfstoff eingesetzt worden sei als für die Regierung, Beamte und Bundeswehrsoldaten, die einen Impfstoff ohne Adjuvantien erhalten hätten. Zudem sei der Sachverständige Prof. Dr. J. als langjähriges Mitglied der ständigen Impfkommission ein großer Befürworter von Impfungen, was seine Neutralität infrage stellen könnte (, wobei dieser Befangenheitsantrag vom SG mit Beschluss vom 13.03.2015 als unzulässig abgelehnt worden ist). Sofern der Sachverständige Dr. W. andere Gründe für die Entstehung der Erkrankung für deutlich führend gehalten habe, ohne dies jedoch auch nur ansatzweise zu erläutern, sei dies nicht nachvollziehbar. Es sei nicht ersichtlich, woher der Sachverständige seine entsprechende Erkenntnis nehme. Beim Kläger lägen keine kardiovaskulären Risikofaktoren und genetischen Faktoren vor, die die Schwäche der arteriellen Wand hätten bestimmen können. Es werde beantragt, Dr. W. ergänzend zu befragen, welche anderen Gründe dies im Fall des Klägers sein könnten. Auch insoweit gelte wieder, dass schon der enge zeitliche Zusammenhang und das Fehlen jeglicher Risikofaktoren beim Kläger eine Wahrscheinlichkeit durch die vorgenommene Impfung belege. Dr. W. habe ausgeführt, dass das verwendete Adjuvans einen Gefäßschaden nach sich ziehen könne. Damit sei unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls bereits die Wahrscheinlichkeit für den Impfschaden nachgewiesen, zumal es keine anderen auslösenden Faktoren gebe.

Der Beklagte hat sich anschließend mit einer nervenärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 26.01.2015 dahingehend geäußert, dass, auch wenn im aktuellen Schreiben der Bevollmächtigten des Klägers mit dem Fehlen von Risikofaktoren argumentiert werde und der Kläger auf einige Fälle von Hirninfarkten in der Datenbank des P.-E.-Instituts hingewiesen habe, das spontane Auftreten von Gefäßrupturen um ein Vielfaches höher liege als die Meldungen von Ereignissen nach der Impfung. Ein vermehrtes Auftreten von Hirninfarkten nach der Impfung werde nicht berichtet. Gefäßdissektionen seien deshalb nicht in die Literatur über unerwünschte Nebenwirkungen eingegangen, die bei der Kausalitätsbeurteilung zu berücksichtigen seien. Auch habe sich im vorliegenden Fall in den ersten sieben Tagen bis zum Hirninfarkt auch keine Impfreaktion gezeigt, die für eine allergische Reaktion oder eine andere Unverträglichkeit gesprochen hätte.

Nach mit gerichtlichem Schreiben vom 30.03.2015 erfolgter Anhörung zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 08.06.2015 die Klage abgewiesen und dies damit begründet, dass weder eine Impfkomplikation noch die notwendige Kausalität dahingehend festgestellt werden könne, dass der Hirninfarkt neben anderen Mitursachen zumindest mit annähernd gleichwertiger Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Impfung zurückzuführen sei.

Gegen den ihnen am 12.06.2015 zugestellten Gerichtsbescheid haben die Bevollmächtigten des Klägers am 10.07.2015 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt.

Begründet worden ist die Berufung mit Schriftsatz vom 30.09.2015. Zu Unrecht - so die Bevollmächtigten - gehe das SG davon aus, dass die Impfung mit Pandemrix am 03.11.2009 zu keinem Impfschaden geführt habe, weil es zu keiner Impfkomplikation gekommen sei und der Hirninfarkt nicht mit annähernd gleichwertiger Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Impfung zurückzuführen sei. Zwar sei es richtig, dass die erstinstanzlichen Gutachter eine Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne verneint hätten. Die erstellten Gutachten seien aber nicht ausreichend gewesen bzw. hätten nicht zur Ablehnung des klägerischen Anspruchs herangezogen werden dürfen. Der Gutachter Prof. Dr. J. habe in keiner Weise konkrete Alternativursachen gerade für die Person des Klägers dargestellt, sondern nur allgemeine Ausführungen gemacht. Beim Kläger gebe es keine genetischen Ursachen. Soweit das SG - völlig überraschend - auf angebliche gesundheitliche Vorerkrankungen des Klägers hingewiesen habe, sei auszuführen, dass diese entweder nicht bestünden oder aber jedenfalls nicht als wahrscheinlichere Ursache für den Hirninfarkt als die Impfung angesehen werden könnten. Soweit dem Kläger (vom SG) unterstellt werde, er habe Ernährungsprobleme und es sei eine unsachgemäße Ernährung diagnostiziert worden, sei dies dem Kläger neu. Beides sei nicht der Fall. Es werde beantragt, eine gutachterliche Stellungnahme dazu einzuholen, dass die vom SG angeführten angeblichen gesundheitlichen Probleme beim Kläger, die er nicht kenne, mit größerer Wahrscheinlichkeit kausal für den Schlaganfall des Klägers gewesen seien als die Impfung. Der Kläger habe auch vor dem Schlaganfall keinen Infekt gehabt. Wahrscheinlicher Auslöser für den Schlaganfall sei das im Impfstoff enthaltene Adjuvans gewesen. Das SG habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt, weil es den Sachverständigen Dr. W. nicht zu den angeblich deutlich führenden Gründen für die Dissektion befragt habe. Einem Zeitungsartikel sei zu entnehmen, dass das im September 2009 in der EU zugelassene Pandemrix aufgrund der vielfältigen Probleme jetzt nicht mehr eingesetzt werde, was ebenfalls für die notwendige Wahrscheinlichkeit der Kausalität spreche. Soweit das SG ausgeführt habe, dass es der Auffassung des Versorgungsarztes Dr. K. folge, dass für das spontane Auftreten von Gefäßrupturen eine um Vielfaches höhere Wahrscheinlichkeit bestehe als bei Meldungen von Ereignissen nach der Impfung, sei dies ein Zirkelschluss. Es gehe doch gerade um die Frage, ob im Falle des Klägers und nicht etwa allgemein im Rahmen einer Durchschnittsbetrachtung die Wahrscheinlichkeit des Schlaganfalls infolge der Impfung höher sei als die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls aus anderen Gründen. Gerade der zeitliche Zusammenhang zwischen Impfung und Schlaganfall spreche für eine höhere Wahrscheinlichkeit durch die Impfung. Es werde eine erneute gutachtliche Stellungnahme beantragt; ein Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bleibe vorbehalten. Der Kläger bestreite, dass irgendeine Vorschädigung vorhanden gewesen sei; Ärzte hätten nie auf Derartiges hingewiesen (Schriftsatz vom 30.09.2015).

Der Beklagte hat mit einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13.11.2015 ausgeführt, dass hinsichtlich des Vorwurfs, dass in keiner Weise konkrete Alternativursachen dargestellt worden seien, aus kardiologischer Sicht anzumerken sei, dass sich in den Unterlagen keine Abklärung der kardialen Situation als mögliche Emboliequelle finde, obwohl neben einer Dissektion auch ein thromboembolischer Verschluss als Ursache des Hirninfarkts diskutiert worden sei. Zu diskutieren sei an sich die Möglichkeit einer Thromboembolie bei offenem Foramen ovale oder auch bei intermittierendem Vorhofflimmern. Im Bericht vom 25.02.2010 sei auch die Angabe einer hypertensiven Krise erwähnt.

Auf Nachfrage des Senats haben die Bevollmächtigten des Klägers mitgeteilt, dass er sich bei keinem Arzt wegen kardiologischer Themen in Behandlung befunden habe.

Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen hat im Auftrag des Senats PD Dr. C. am 27.12.2016 ein neurologisches Gutachten erstellt. Er hat darin Folgendes ausgeführt:

Die jetzt noch vorliegenden klinischen Funktionsausfälle und Störungen seien im Vollbeweis als Folge des am 10.11.2009 eingetretenen Hirninfarkts zu sehen. Als Auslöser für den Infarkt würden im Arztbrief der Neurologischen Klinik A-Stadt eine Dissektion bzw. ein thromboembolischer Verschluss der distalen intrakraniellen Arteria carotis links beschrieben. Aus dem schriftlichen Befund einer MR-Angiographie vom 11.11.2009 gehe nicht hervor, dass die MRtypischen Veränderungen einer Dissektion (Nachweis eines Wandhämatoms) zur Darstellung gebracht worden seien. Zusammenfassend könne aus den vorliegenden Daten nur der Schluss gezogen werden, dass es zu einem distalen Verschluss der Arteria carotis interna gekommen sei, deren Ursache möglicherweise eine distalen Dissektion, möglicherweise aber auch ein Embolus gewesen sei, der einer anderen Emboliequelle entstammt habe. Ob eine Abklärung einer möglichen kardialen Emboliequelle, wie sie im Entlassungsbericht des Klinikums A-Stadt empfohlen worden sei, durchgeführt worden sei, sei aus den vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich.

Zur Diskussion der vom Senat gestellten Frage nach der Primärschädigung als unübliche Impfreaktion sei zunächst festzustellen, dass sich weder anamnestisch noch in den Aktenlagen dokumentiert unmittelbare Reaktionen auf die Impfung vom 03.11.2009 feststellen lassen würden. Im Zuge einer Kausalitätsermittlung in Bezug auf eine Primärschädigung müssten somit zwei Szenarien gegenübergestellt werden. Entweder habe eine Dissektion vorgelegen, die sich nicht klar aus den Unterlagen ergebe, retrospektiv aber auf andere Art eindeutig nachgewiesen werden könne, oder es sei von einer Embolie auszugehen, die nicht auf eine Dissektion zurückgeführt werden könne.

Zum Szenario einer Dissektion hat der Sachverständige Folgendes erläutert: Ein großes arterielles Gefäß habe einen dreiseitigen Aufbau. Komme es zu einem Einriss der inneren Schicht, dringe Blut zwischen die lockere Verbindung zwischen muskulärer Schicht und Intima und führe zu einer Einengung des Lumens, das für den Restblutfluss zur Verfügung stehe. Dennoch seien es nur selten hämodynamische Ursachen, die zu einer Ischämie führen würden, weil der gedrosselte Blutfluss durch den sogenannten Circulus vitiosus an der Schädelbasis über collateral verlaufende Arterien ausgeglichen werde. Der Einriss führe vielmehr zur Freisetzung von thromboseinduzierenden Substanzen, welche zur lokalen Koagulation und zur Thrombozytenadhäsion und somit zur Bildung von lokalen Blutgerinnseln führen würden. Von diesen Gerinseln könnten sich Fragmente (Embolien) lösen, die mit dem Blutstrom mitgerissen würden und die klinische Symptomatik verursachen würden.

Ein Einriss der Gefäßwand der Arteria carotis gehe häufig mit einer lokalen Schmerzhaftigkeit einher und es komme zu einer einseitig verengten Pupille mit leichtem Hängen des Lids. Beides sei beim Kläger nicht beschrieben worden. Bei einer Studie mit Untersuchung von insgesamt 50 Patienten mit Carotis- und Vertebralisdissektionen seien lediglich drei Patienten asymptomatisch gewesen.

Dissektionen würden in einer Häufigkeit von etwa 3,5 pro 100.000 Einwohner auftreten und würden somit etwa 2,5% aller Schlaganfälle ausmachen. Bei 70% der Fälle liege das Erkrankungsalter zwischen dem 35. und dem 50. Lebensjahr.

Bezüglich der Ursache für Dissektionen werde zwischen spontanen und symptomatischen Dissektionen unterschieden. Risikofaktoren seien eine angeborene Bindegewebsschwäche oder bestimmte sehr seltene Erkrankungen. Zeichen einer Bindegewebsschwäche im Sinne einer fibromuskulären Dysplasie seien beim Kläger nicht beschrieben worden. Traumata oder Manipulationen seien in etwa 40% der Fälle bei den Patienten eruierbar. Subsumiert würden darunter sportliche Aktivitäten mit plötzlicher Kopfdrehung, Autounfälle mit Halswirbelsäulendistorsionstraumata, Stürze auf den Kopf, aber auch Überkopfarbeiten mit nach hinten geneigtem Kopf über Stunden. Ein solches Trauma oder eine chiropraktische Behandlung des Klägers sei in einem Bereich von einigen Wochen vor dem Ereignis nicht dokumentiert und werde auch jetzt anamnestisch nicht angegeben.

Es gebe auch andere vaskuläre Risikofaktoren, z.B. sei bei 40% der Patienten eine Hypercholesterinämie, ein Hypertonus oder ein Nikotinabusus feststellbar. Beim Kläger sei vor dem Ereignis keiner der aufgeführten Risikofaktoren bekannt, im Entlassungsbericht der Klinik A-Stadt sei ein Cholesterinwert nicht erwähnt. Zusammengefasst würden sich daher beim Kläger retrospektiv keine Faktoren erkennen lassen, die auf ein erhöhtes Risiko einer spontanen Dissektion hindeuten würden.

Zum Szenario, dass der Schlaganfall auf einer Embolie andere Ätiologie beruhe, hat der Sachverständige Folgendes erläutert: Bei einem Schlaganfall handele es sich um ein Ereignis, bei dem ein Hirngefäß plötzlich durch ein Blutgerinnsel verschlossen werde. Embolien seien in aller Regel Teil eines wandständigen Thrombus, dessen Entstehungsort entweder im Herz oder in den großen Gefäßen liege. Ein Sonderfall sei der einer Beinvenenthrombose. Die häufigste Ursache kardialer Embolien sei die absolute Arrhythmie mit Vorhofflimmern. Seltenere Ursachen seien Veränderungen der Herzklappen. Die im Entlassungsbericht des Klinikums A-Stadt empfohlene Echokardiographie sei nach den vorliegenden Dokumenten nicht durchgeführt worden, so dass hierzu keine Aussage gemacht werden könne. Andere Emboliequellen seien die Aorta und die Carotiden. Letzteres könne aber aufgrund des Ultraschallbefundes der Rehaklinik Staffelstein weitgehend ausgeschlossen werden, da sich hier eine völlig normale Gefäßmorphologie gezeigt habe. Gehe man von einem embolischen Verschluss der distalen Arteria carotis interna aus, wäre ein großer Embolus kardiogenen Ursprungs am wahrscheinlichsten.

Eine neuerliche Literaturrecherche habe keine Berichte über das gehäufte Auftreten von Schlaganfällen (und auch einer Dissektion der Arteria carotis) nach einer Impfung mit Pandemrix ergeben. Zwischenzeitlich sei lediglich über ein gehäuftes Auftreten von Narkolepsie nach Pandemrix-Impfungen berichtet worden. Hieraus ergebe sich zwar, dass ein deutlich erhöhtes Risiko für das Auftreten eines cerebro-vaskulären Ereignisses nicht erkennbar sei, wobei methodische Probleme einer exakten Beurteilung im Wege stünden. Genauere Vergleichsstudien (Case-Control-Studien) lägen für Pandemrix in Bezug auf einen Schlaganfall nicht vor. Sofern Prof. Dr. J. ausgeführt habe, dass eine mögliche Ursache einer spontanen Dissektion ein entzündlicher Prozess der Gefäßwand sein könne, sei darauf hinzuweisen, dass es einige wenige Publikationen gebe, die eine primärentzündliche Ursache einer spontanen Arteria carotis-Dissektion postulieren würden, was aber bisher nicht als allgemein akzeptierter Mechanismus anerkannt sei.

Zur Frage der Primärschädigung hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass sich der genaue Mechanismus des Schlaganfalls nicht feststellen lasse. Als Alternativmöglichkeiten stünden entweder eine spontane Dissektion der Arteria carotis oder eine Embolie anderer Ursache, die nicht auf eine Dissektion zurückzuführen sei, im Raum. Da sich hieraus möglicherweise unterschiedliche Aspekte zur Kausalität im Sinne einer Kannversorgung ergeben könnten, könne die Frage der Primärschädigung im Vollbeweis nicht ausreichend beantwortet werden. Es werde empfohlen, ein neuroradiologisches Gutachten zur Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Dissektion der Arteria carotis einzuholen. Ein wahrscheinlicher Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Primärschaden bestehe aber für beide Alternativen nicht. Diese Einschätzung eines fehlenden Kausalzusammenhangs sei deshalb nicht gegeben, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit bestehe. Auf die Frage, ob die gute Möglichkeit bestehe, dass die vorliegende Gesundheitsstörung die Folge der Impfung vom 03.11.2009 sei, hat der Sachverständige ausgeführt, dass er für beide Möglichkeiten „prinzipiell“ eine solche gute Möglichkeit sehe.

Der Beklagte hat sich zu dem Gutachten mit versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 13.02.2017 dahingehend geäußert, dass der Sachverständige erneut bestätigt habe, dass die genaue Ursache des abgelaufenen Hirninfarkts nicht sicher geklärt sei. Auch eine Aktualisierung der Bildgebung würde hier wahrscheinlich keine neuen Aspekte mehr liefern. Interessanter wäre eher eine Nachbefundung der damals erzeugten Bilder. Wegen der Lokalisation des Gefäßprozesses sei es aber nicht unwahrscheinlich, dass sich auch bei Nachbefundung der Ultraschallbilder keine Informationen zur Morphologie des betroffenen Gefäßabschnitts finden lassen würden, da dieser sonographisch naturgemäß kaum zugänglich sei. Zudem sei die Frage, ob eine Dissektion oder ein kardiologisch-embolisches Hirninfarktmechanismus eine Rolle gespielt habe, für die Kausalitätsbewertung von nachgeordneter Bedeutung. Denn wie auch dem Gutachten des PD Dr. C. zu entnehmen sei, bestehe für keinen der beiden Mechanismen eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs mit der Impfung. Auch für die Anerkennung im Sinne der Kannversorgung ergebe sich aus versorgungsärztlicher Sicht keine Grundlage.

Der gerichtliche Gutachter PD Dr. C. hat sich dazu ergänzend in einer Stellungnahme vom 04.04.2017 wie folgt geäußert:

Es sei zwar zutreffend, dass es keine ausreichenden epidemiologischen Daten gebe, die ein erhöhtes Risiko einer Dissektion oder einer kardialen Embolie nach Impfung mit Pandemrix belegen würden. In gleicher Weise gebe es aber keinerlei Daten, die eine Alternativursache wahrscheinlicher machen würden. Insofern bestehe aufgrund der aktuellen Datenlage statistisch eine gleiche Wahrscheinlichkeit für eine Verursachung durch die Impfung bzw. Nichtverursachung durch die Impfung, was einen Zusammenhang natürlich nicht begründen würde. Konkret komme beim Kläger nach den aktuellen Informationen ein Alternativauslöser nicht in Betracht. Der Einschätzung des Versorgungsarztes, dass es keine gute Möglichkeit eines Zusammenhangs gebe, widerspreche er. Es gebe bestimmte Risikofaktoren für das Auftreten einer Dissektion. Eine gesicherte einheitliche Lehrmeinung über den Pathomechanismus gebe es hingegen nicht. Sofern der Versorgungsarzt (mit Blick auf die Kannversorgung) darauf hinweise, dass ein ursächlicher Einfluss der im Einzelfall vorliegenden Umstände in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen werden müsse, möchte er nochmals auf das Gutachten des Prof. Dr. J. eingehen. Dieser habe ausgeführt, dass eine mögliche Ursache einer spontanen Dissektion ein entzündlicher Prozess der Gefäßwand sein könne und es vorstellbar sei, dass infolge einer Impfung mit Pandemrix durch die starke Freisetzung von Zytokinen ein entzündlicher Prozess begünstigt worden sei, ohne dass es dazu experimentelle oder epidemiologische Daten gebe. Dies bedeute, dass der ursächliche Einfluss zumindest als Hypothese in Erwägung gezogen werden könne. Diese Einschätzung werde durch die in seinem Gutachten erwähnten dokumentierten Angaben zu berichteten wahrscheinlichen bzw. möglichen Impfkomplikationen bestätigt, nämlich akut entzündliche Reaktionen bzw. ein erhöhtes Auftreten von Narkolepsie. Auch eine immunologische Reaktion könne zugrunde liegen. Bei dem zeitlichen Abstand zwischen der Impfung am 03.11.2009 und dem Schlaganfall am 08.bzw. 09.11.2009 handele es sich um den üblichen Zeitraum von allgemeinen Impfkomplikationen, insbesondere von entzündlichen Begleitreaktionen. Zusammenfassend sei er der Ansicht, dass zumindest eine Nachbeurteilung des damaligen Bildmaterials eine Klärung der Pathophysiologie herbeiführen könnte und die Chance bieten würde, eventuell doch vorhandene und bislang nicht bekannte Faktoren aufzudecken, die einen Zusammenhang dann als unwahrscheinlich erscheinen lassen würden.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 01.08.2017 wurde der Sachverständige um ergänzende Stellungnahme u.a. zur Kannversorgung gebeten.

Am 30.10.2017 nahm der Sachverständige zu den ergänzenden Beweisfragen vom 01.08.2017 wie folgt Stellung:

1. Zu der Frage, ob es beim Kläger im Vollbeweis zu einer Dissektion gekommen sei:

Seiner Einschätzung nach sei es nicht zu einer Dissektion gekommen, die nach den Kriterien des Vollbeweises als gesichert angesehen werden könne. Im Vollbeweis gesichert sei beim Kläger ein Hirninfarkt sowie ein sich aus der Diagnostik der Neurologischen Klinik A-Stadt ergebender Verschluss der distalen intrakraniellen Arteria carotis links; die CT-Angiographie am 10.11.2009 habe eine „hochgradig stenosierende, wohl embolische Kontrastmittelaussparung in der linken A. carotis interna im distalen zervikalen Abschnitt und dem Canalis caroticus“ gezeigt. Befunde, die die positiven Kriterien einer Dissektion (Nachweis eines Wandhämatoms, trichterförmige Lumeneinengung, klinische Korrelate wie lokale Schmerzen oder ein Horner-Syndrom) erfüllen würden, lägen nicht vor. Auch könnten die im weiteren Verlauf erhobenen Befunde die Diagnose einer Dissektion nicht bestätigen. Eine im Rahmen der Reha-Behandlung im Klinikum S. durchgeführte Dopplersonographie am 25.02.2010 habe eine unauffällige Gefäßwandmorphologie und unauffällige Strömungsprofile gezeigt. Auch aus der Literatur ergebe sich ein differenziertes Bild. Bei einer - vom Gutachter näher genannten - Untersuchung an 249 Patienten mit einer Dissektion der carotis hätten 124 einen kompletten Verschluss gezeigt, von denen sich nach einer Nachbeobachtungszeit von bis zwölf Monaten gerade etwa 45% komplett zurückgebildet hätten, während in 55% noch leichte bis schwere Stenosen nachweisbar gewesen seien. Die Rekanalisation habe in einem Zeitraum von sechs Monaten stattgefunden, in 50% der Fälle sei sie allerdings nach drei Monaten erkennbar gewesen. Hieraus ergebe sich, dass eine Dissektion zwar möglich sei, nicht jedoch in solcher Weise als gesichert angesehen werden könne, dass z.B. eine kardiale Embolie nicht auch in gleicher Weise vorstellbar sei.

2. Zu der Frage, ob über die allgemeine Ursache des Entstehungsgrundes einer Dissektion in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit bestehe:

Der Großteil der Dissektionen trete spontan bzw. sporadisch auf und eine Ursache sei nicht klar erkennbar, d.h. die Frage einer wissenschaftlichen Ungewissheit sei zu bejahen.

3. Zu der Frage, ob es wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung gebe, die -theoretisch - die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs zwischen einer Dissektion und der hier erfolgten Impfung mit Pandemrix vertrete:

Ein epidemiologisch erhöhtes Risiko einer Dissektion nach einer Impfung mit Pandemrix sei nicht belegt, was u.a. mit methodischen Problemen zusammenhängen könne. Begebe man sich auf das Feld theoretischer Überlegungen, so sei es mittlerweile als gesichert anzusehen, dass es nach Impfung mit Pandemrix zu einer erhöhten Inzidenz der Erkrankung Narkolepsie gekommen sei. Ursache sei ein Untergang von Zellen im Gehirn, die ein bestimmtes wachheitsförderndes Hormon bilden würden. Es sei bekannt, dass diese Zelldegeneration immunologisch, d.h. entzündlich bedingt sei. An derartigen immunologischen Prozessen seien Zytokine beteiligt, die letztlich auch die positive Wirkung einer Impfung, nämlich die Ausschaltung von immunpathologischen Agentien bedingen würden. Eine Entgleisung einer solchen immunologische Reaktion bzw. ein erhöhtes Auftreten von Zytokinen könne z.B. Einfluss auf die kardiale Funktion nehmen bzw. am Auftreten von kardialen und auch Gefäßerkrankungen beteiligt seien. Somit ergeben sich durchaus theoretisch gut begründbare mögliche pathophysiologische Zusammenhänge zwischen dem Schlaganfall und der Impfung beim Kläger.

Der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten hat zu dieser ergänzenden Stellungnahme am 27.12.2017 u.a. darauf hingewiesen, dass eine Gefäßdissektion der Arteria carotis als Primärschaden nicht belegt sei. Auch sei vom Sachverständigen bestätigt worden, dass sich in der wissenschaftlichen Literatur keine Arbeiten finden würden, die Hinweise auf ein erhöhtes Risiko einer Gefäßdissektion nach einer Impfung zeigen würden. Der Vergleich mit der Krankheit Narkolepsie könne in der Diskussion des vorliegenden Falls keinen Beitrag leisten. Es handle sich um ein vollständig anderes Krankheitsbild mit einem anderen Pathomechanismus. Hinweise darauf, dass eine Gefäßdissektion in relevantem Zusammenhang mit Autoimmunprozessen stehe, seien aktuell nicht bekannt. Aus einem rein zeitlichen Zusammenhang und der bloßen theoretischen Möglichkeit, dass eine durch eine Impfung induzierte Ausschüttung von Zytokinen einen Einfluss auf die Herz-Gefäß- oder Kreislauffunktion haben könnte, ergebe sich keine Grundlage für die Anerkennung der Gesundheitsstörung als Impfschaden.

Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schreiben vom 26.01.2018 ihre Ansicht geäußert, dass mehr für als gegen eine Kausalität der Impfung für den Schlaganfall spreche. Der Gutachter habe gut begründbare pathophysiologische Zusammenhänge zwischen Schlaganfall und Impfung bestätigt und auch der zeitliche Zusammenhang sei gegeben. Zudem habe der Gutachter ausgeführt, dass nach den aktuellen Informationen kein Alternativauslöser beim Kläger in Betracht komme. Weiter haben sie auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 21.06.2017 hingewiesen, welches sich mit einem französischen Fall eines Impfschadens im Bereich der Produkthaftung befasst habe. Auch in dem dort entschiedenen Fall habe es eine zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung des Impfstoffes und dem Auftreten der Erkrankung gegeben, aufgrund derer es das Gericht als ausreichend angesehen habe, dass nur gewisse Umstände auf den Impfstoff als Schadensursache hingedeutet hätten.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid vom 08.06.2015 aufzuheben und unter Aufhebung des Bescheids vom 23.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2013 den Hirninfarkt des Klägers mit den daraus resultierenden gesundheitlichen Einschränkungen als Impfschaden infolge der Impfung vom 03.11.2009 anzuerkennen und ihm Versorgung zu leisten.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen worden sind die Akten des SG sowie die Verwaltungsakte des Beklagten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG), aber nicht begründet.

Der Beklagte hat es zu Recht, wie es auch das SG bestätigt hat, abgelehnt, beim Kläger einen Impfschaden anzuerkennen und Versorgung zuzusprechen. Der angegriffene Bescheid vom 23.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2013 ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG liegen nicht vor, weil es vorliegend schon am Nachweis einer Impfkomplikation (Primärschaden) fehlt. Aber selbst dann, wenn der nicht im dafür erforderlichen Vollbeweis nachgewiesene potentielle Primärschaden als nachgewiesen betrachtet würde, würde es an der Kausalität zwischen der Impfung und der Primärschaden fehlen.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

  • 1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

  • 2.auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

  • 3.gesetzlich vorgeschrieben war oder

  • 4.auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.

Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Die Anerkennung als Impfschaden setzt eine (mindestens) dreigliedrige Kausalkette voraus (ständige Rspr., vgl. zum gleichgelagerten Recht der Soldatenversorgung: BSG, Urteile vom 25.03.2004, B 9 VS 1/02 R, und vom 16.12.2014, B 9 V 3/13 R): Ein schädigender Vorgang in Form einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), muss zu einer „gesundheitlichen Schädigung“ (2. Glied), also einem Primärschaden (d.h. einer Impfkomplikation) geführt haben, die wiederum den „Impfschaden“, d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also den Folgeschaden (3. Glied) bedingt. Zwischen Primärschaden und Folgeschaden können, abhängig von der jeweiligen Fallkonstellation noch weitere Zwischenstufen von Gesundheitsschäden liegen. Anstelle einer dreigliedrigen Kausalkette kann daher im Einzelfall auch eine mehr als dreigliedrige Kette der Beurteilung des Versorgungsanspruchs zugrunde zu legen sein, wobei dann alle Stufen und die dazwischen liegende Kausalität im jeweils erforderlichen Beweismaßstab nachgewiesen sein müssen (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92 - zum Gesichtspunkt des Todesleidens).

Neben einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), müssen die „gesundheitliche Schädigung“ (2. Glied) als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, und der „Impfschaden“ (3. Glied), d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also der Folgeschaden, vorliegen. Diese drei, ggf. auch mehr (vgl. oben vorstehender Absatz) Glieder der Kausalkette müssen - auch im Impfschadensrecht - im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteile vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R; Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2014, L 1 VE 12/09; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.2016, L 13 VJ 19/15). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92).

Dass die gesundheitliche Schädigung als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, neben der Impfung und dem Impfschaden, d.h. der dauerhaften gesundheitlichen Schädigung, im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein muss und eine irgendwie geartete Beweiserleichterung beim Primärschaden, wie es der 15. Senat des Bayer. LSG im Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, mit der Beurteilung „des Zusammenhangs zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen Etappe“ anhand von „Mosaiksteinen“, die den Nachweis des Primärschadens im Vollbeweis als „realitätsfremd“ und damit verzichtbar erscheinen lassen sollen, getan hat, damit nicht vereinbar ist, hat der erkennende Senat in seinem rechtskräftigen (vgl. BSG, Beschluss vom 29.11.2017, B 9 V 48/17 B) Urteil vom 25.07.2017, L 20 VJ 1/17, bereits deutlich zum Ausdruck gebracht. Eine andere Sichtweise steht - wie der Senat in der genannten Entscheidung bereits ausgeführt hat - nicht in Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben und der klaren obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. auch Bayer. LSG, Urteile vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, und vom 06.12.2017, L 20 VJ 3/05). Dies hat im Übrigen das BSG erneut mit Beschluss vom 29.01.2018, B 9 V 39/17 B, bestätigt und dort ausgeführt:

„Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis „nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen“ nicht ausreichen.“

Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Regeln der Beweislast zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs auf ihr Vorliegen stützt, also des Antragstellers.

Demgegenüber gilt für den (mindestens) zweifachen ursächlichen Zusammenhang der (mindestens) drei Glieder der Kausalkette nach § 61 Satz 1 IfSG ein gegenüber dem Vollbeweis abgeschwächter Beweismaßstab - nämlich der der Wahrscheinlichkeit im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. auch § 1 Abs. 3 BVG; siehe auch BSG, Urteile vom 13.12.2000, B 9 VS 1/00 R, vom 29.04.2010, B 9 VS 2/09 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R; Bayer. LSG, Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09). Der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R - in Aufgabe der früheren Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 24.09.1992, 9a RV 31/90, die für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität noch den Vollbeweis vorausgesetzt hat) als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.

Eine potentielle, versorgungsrechtlich geschützte Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977, 10 RV 15/77), also mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSG, Urteile vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80, vom 26.06.1985, 9a RVi 3/83, vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84, vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als „überwiegende“ (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 14.10.2015, B 9 V 43/15 B) oder „hinreichende“ (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 18.02.2009, B 9 VJ 7/08 B) Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei dieser Zusatz nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rdnr. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 26.11.1968, 9 RV 610/66, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R).

Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der versorgungsrechtlichen Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 08.08.1974, 10 RV 209/73) rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Während die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (vgl. z.B. BSG, Urteile vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, und vom 30.01.2007, B 2 U 8/06 R) demgegenüber den Begriff der „annähernden Gleichwertigkeit“ für nicht geeignet zur Abgrenzung hält, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich ansieht, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von überragender Bedeutung ist, hat der für das soziale Entschädigungsrecht zuständige 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 6/13 R, zur annähernden Gleichwertigkeit Folgendes ausgeführt:

„Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.“

Von einer annähernden Gleichwertigkeit einer versorgungs- und damit auch impfschadensrechtlich geschützten Ursache kann daher - im Gegensatz zu der für den Betroffenen günstigeren unfallversicherungsrechtlichen Rechtsprechung - nur dann ausgegangen werden, wenn ihre Bedeutung gleich viel oder mehr Gewicht hat als die der andere(n) Ursache(n) (zusammen).

Die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinn als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, ist im jeweiligen Einzelfall aus der Auffassung des praktischen Lebens abzuleiten (vgl. BSG, Urteil vom 12.06.2001, B 9 V 5/00 R).

Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsschäden zu erfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R).

Kann eine Aussage zu einem (hinreichend) wahrscheinlichen Zusammenhang nur deshalb nicht getroffen werden, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kommt die sogenannte Kannversorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG in Betracht. Von Ungewissheit ist dann auszugehen, wenn es keine einheitliche, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG von der Beurteilung auf dem Boden der „Schulmedizin“ (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R). Aber auch bei der Kannversorgung reicht allein die bloße Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das BSG spricht hier auch von der „guten Möglichkeit“ eines Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 12.12.1995, 9 RV 17/94, und vom 17.07.2008, B 9/9a VS 5/06). In einem solchen Fall liegt eine Schädigungsfolge dann vor, wenn bei Zugrundelegung der wenigstens einen wissenschaftlichen Lehrmeinung nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nachgewiesen ist (vgl. Bayer. LSG, Urteile vom 19.11.2014, L 15 VS 19/11, vom 21.04.2015, L 15 VH 1/12, vom 15.12.2015, L 15 VS 19/09, vom 26.01.2016, L 15 VK 1/12, und vom 25.07.2017, L 20 VJ 1/17). Existiert eine solche Meinung überhaupt nicht, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein, dass ein Zusammenhang nicht hergestellt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.1993, 9/9a RV 41/92).

Lässt sich der Zusammenhang nicht (hinreichend) wahrscheinlich machen und auch nicht über das Institut der Kannversorgung herstellen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf das Vorliegen des Zusammenhangs stützen möchte, also des Antragstellers (ständige Rspr., vgl. beispielhaft BSG, Urteil vom 03.02.1999, B 9 V 33/97 R, und Beschluss vom 05.04.2018, B 5 RS 19/17 B).

Unter Anwendung dieser Grundsätze ist vorliegend schon eine Impfkomplikation (gesundheitliche Schädigung/Primärschaden, 2. Glied der oben aufgezeigten Kausalkette) nicht nachgewiesen. Es fehlt aber auch an der Kausalität zwischen der durchgeführten Impfung und der potentiellen, nicht im Vollbeweis nachgewiesenen Primärschädigung im Sinne einer Impfkomplikation.

1. Feststellungen

Der Senat stellt zunächst fest, dass der Kläger am 03.11.2009 eine Impfung gegen den Influenza A Virus (H1N1 - Schweinegrippevirus) mit dem Impfstoff Pandemrix (Lot A81CA062A) erhalten hat. Dieser Impfstoff enthielt das Adjuvans AS03. Bei dieser Impfung hat es sich um eine zum damaligen Zeitpunkt öffentlich empfohlene Schutzimpfung gehandelt (vgl. Bekanntmachung des Bayer. Staatsministeriums für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz vom 18.04.2007, 33a-G8360.82-206/1-3 - Allgemeines Ministerialblatt 2007, S. 224).

Weiter ist festzustellen, dass der Kläger in der Nacht vom 09. auf den 10.11.2009 einen Hirninfarkt erlitten hat, aus dem bis heute massive neurologische Schäden resultieren.

Der Hirninfarkt ist auf einen distalen Verschluss der Arteria carotis interna und damit auf eine reduzierte Versorgung des Gehirns zurückzuführen, wobei der Verschluss nach den Feststellungen des Sachverständigen PD Dr. C., dessen überzeugende Feststellungen sich der Senat zu eigen macht und der die alternativen Geschehnisse detailliert und allgemeinverständlich dargestellt hat, und den ärztlichen Berichten über die umfangreiche Behandlung des Klägers entweder auf einer distalen Dissektion oder einem thromboembolischen Verschluss der genannten Arterie, der aus einer nicht mit der Dissektion in Zusammenhang stehenden, z.B. kardialen Emboliequelle herrührt, beruht. Sofern der erstinstanzliche Gutachter Prof. Dr. J. im Rahmen seiner Diskussion nur auf eine Dissektion eingeht und in der Beantwortung der Beweisfragen eine „Dissoziation“ (Anmerkung des Senats: Dabei handelt sich um einen offensichtlichen Schreibfehler; gemeint ist offenkundig eine Dissektion.) der Arteria carotis interna zugrunde legt, ist damit für den Senat nicht belegt, dass nicht auch eine Embolie mit anderem Hintergrund als mögliche Ursache für den Hirninfarkt infrage kommt. Denn der Sachverständige Prof. Dr. J. hat selbst auf S. 1 und 3 seines Gutachtens festgehalten, dass als Diagnosen der erstbehandelnden Klinik nicht nur eine Dissektion, sondern alternativ auch ein thromboembolischer Verschluss der Arterie genannt worden sind. Warum er dann gleichwohl in der Folge von einer Dissektion und nicht auch der alternativen Möglichkeit einer Embolie mit anderem Hintergrund ausgegangen ist, hat er nicht ansatzweise begründet und ist für den Senat auch nicht nachvollziehbar.

Die für den Nachweis eines Impfschadens erforderliche Kausalkette stellt sich daher vorliegend wie folgt dar: Impfung - Verschluss der Arteria carotis interna entweder in Form einer distalen Dissektion oder eines thromboembolischen Verschlusses anderer Ursache - Hirninfarkt - Dauerschaden.

2. Kein Primärschaden

Eine zeitnah nach der Impfung aufgetretene gesundheitliche Schädigung, die möglicherweise durch die Impfung mit Pandemrix bedingt sein könnte, d.h. eine potentielle Impfkomplikation als Primärschaden, ist nicht in dem dafür notwendigen Vollbeweis nachgewiesen.

Als Primärschaden zu diskutieren sind eine Dissektion der genannten Arteria carotis oder ein thromboembolischer Verschluss dieser Arterie, wobei die Thrombose nicht auf eine Dissektion der genannten Arterie zurückzuführen ist. Andere atypische Impfreaktionen sind nicht dokumentiert und auch vom Kläger nicht vorgetragen worden.

Eine im Raum stehende, aber nicht zweifelsfrei, d.h. nicht im Vollbeweis nachgewiesene Dissektion der Arteria carotis, bei der zumindest die theoretische Möglichkeit eines Zusammenhangs mit der Impfung besteht (dazu siehe unten Ziff. 3), ist nicht im Vollbeweis nachgewiesen (vgl. unten Ziff. 2.1.). Ein alternativ im Raum stehender, aber ebenfalls nicht zweifelsfrei, d.h. nicht im Vollbeweis nachgewiesener thromboembolischer Verschluss der Arteria carotis, wobei die Thrombose nicht auf eine Dissektion der genannten Arterie zurückzuführen ist, kommt als Primärschaden nicht in Betracht, da er in keinem Zusammenhang mit der Impfung zu sehen ist (vgl. unten Ziff. 2.2.). Dies ist übereinstimmende Einschätzung aller Gutachter und Versorgungsärzte, die sich insofern mit der Zusammenhangsfrage befasst haben. Eine Wahlfeststellung unter Zugrundelegung der beiden vorgenannten Alternativen kommt nicht in Betracht, weil nicht bei beiden Alternativen ein Zusammenhang mit der Impfung denkbar ist (vgl. unten Ziff. 2.3.).

2.1. Eine Dissektion der Arteria carotis, bei der die gerichtlichen Sachverständigen zumindest die Möglichkeit eines Zusammenhangs mit der Impfung diskutieren und die daher als Primärschädigung nicht bereits von vornherein auszuschließen ist, da die Frage der Kausalität zumindest einer näheren Prüfung bedarf, ist nicht in dem dafür erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen. Dabei stützt sich der Senat auf die vorliegenden ärztlichen Berichte, das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten und die versorgungsärztlichen Ausführungen. Alle Ärzte sind übereinstimmend zu der Einschätzung gekommen, dass nicht zweifelsfrei feststeht, dass beim Kläger eine Dissektion der Arteria carotis erfolgt ist und nicht ein thromboembolischer Verschluss auf anderer Grundlage, z.B. kardiogener Ursache, vorgelegen hat. Dies hat sowohl der im Berufungsverfahren gehörte Sachverständige ausführlich erläutert als auch die Versorgungsärzte des Beklagten so festgestellt. Warum der Sachverständige Prof. Dr. J. im Rahmen der Diskussion des Zusammenhangs von einer Dissektion ausgegangen ist, obwohl er selbst zuvor darauf hingewiesen hat, dass als alternative Diagnose zu einer Dissektion auch ein thromboembolischer Verschluss der Arterie im Raum steht, ist dies den Senat nicht nachvollziehbar (vgl. oben Ziff. 1.).

Sofern in Klinik- oder Arztberichten die Diagnose eine Dissektion der Arteria carotis genannt ist, ohne diese Diagnose als Verdachtsdiagnose zu bezeichnen, ändert dies an der Beurteilung nichts. Denn diese Diagnose ist ersichtlich nicht in Form einer sicheren Diagnose, sondern als Verdachtsdiagnose verwendet worden. So wurde beispielsweise im Bericht der Sozialstiftung A-Stadt vom 09.12.2009 die Diagnose „Dissektion der Arteria carotis“ genannt. Dass dies nur eine Verdachtsdiagnose gewesen sein kann, ergibt sich schon daraus, dass unter den Diagnosen auch ein „Hirninfarkt durch nicht näher bezeichneten Verschluss oder Stenose zerebraler Arterien“ genannt worden ist. Zudem wurde im ausführlicheren Bericht der Sozialstiftung A-Stadt vom 25.02.2010 die Diagnose explizit als „Dissektion bzw. thrombembolischer Verschluss der distalen intrakraniellen Arteria carotis li.“ bezeichnet, was belegt, dass zwei verschiedene Diagnosen in Betracht gezogen worden sind, und zusammenfassend darauf hingewiesen, dass noch der sonographische Ausschluss einer kardialen Emboliequelle erfolgen solle, was wiederum belegt, dass es sich bei der Diagnose einer Dissektion nur um eine Verdachtsdiagnose gehandelt haben kann. Auch aus den aufgelisteten bildgebenden Befunden ist zu entnehmen, dass „wohl“ von einem embolischen Verschluss auszugehen ist (CT-Angiographie vom 10.11.2009). Schließlich bedingen es auch die Kodiervorgaben der Diagnosen, dass Diagnosen genannt werden, ohne zu kennzeichnen, ob dies Verdachtsdiagnosen sind oder nicht. So heißt es in den Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) seit jeher in D008b:

„Verdachtsdiagnosen im Sinne dieser Kodierrichtlinie sind Diagnosen, die am Ende eines stationären Aufenthaltes weder sicher bestätigt noch sicher ausgeschlossen sind. Verdachtsdiagnosen werden unterschiedlich kodiert, abhängig davon, ob der Patient nach Hause entlassen oder in ein anderes Krankenhaus verlegt wurde

… Wenn eine Behandlung eingeleitet wurde und die Untersuchungsergebnisse nicht eindeutig waren, ist die Verdachtsdiagnose zu kodieren.“

Zu einer weiteren Aufklärung, insbesondere einer erneuten Befundung der zeitnah nach dem Hirninfarkt durchgeführten bildgebenden Verfahren, aber auch zu einer aktuellen Durchführung entsprechender Verfahren, sieht sich der Senat nicht veranlasst.

Zwar hat der vom Senat beauftragte Sachverständige zunächst eine Neubefundung der zeitnah nach dem Hirninfarkt durchgeführten bildgebenden Verfahren angeregt. Es bestehen aber insofern für den Senat schon erhebliche Zweifel, ob sich daraus überhaupt weitergehende Erkenntnisse ergeben könnten. Diese Zweifel stützt der Senat zum einen auf die Hinweise in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13.02.2017, wonach der für die Beurteilung relevante Bereich bei bildgebenden Verfahren vermutlich nicht ausreichend genau abgebildet sein dürfte, um daraus detailliertere Bewertungen treffen zu können. Zum anderen, und dies ist der für den Senat entscheidende Gesichtspunkt, hat der gerichtliche Sachverständige PD Dr. C. zuletzt in seiner Stellungnahme vom 30.10.2017 eine derartige Nachbefundung nicht mehr für nötig erachtet. Vielmehr hat er aufgrund einer Würdigung der vorliegenden Befunde darauf hingewiesen, dass keine Befunde vorliegen, die die positiven Kriterien einer Dissektion (Nachweis eines Wandhämatoms, trichterförmige Lumeneinengung, klinische Korrelate wie lokale Schmerzen oder ein Horner-Syndrom) erfüllen. Gegen eine Dissektion spricht, dass für die Zeit vor dem Hirninfarkt keine typischen Beschwerden dokumentiert und auch später nicht vom Kläger beschrieben worden sind, wie sie regelmäßig in Form einer lokalen Schmerzhaftigkeit oder einer einseitig verengten Pupille mit leicht hängendem Augenlid zu erwarten sind, worauf der Sachverständige PD Dr. C. schon in seinem Gutachten vom 27.12.2016 hingewiesen hat (Nach der vom Sachverständigen angeführten Studie mit 50 Patienten seien lediglich drei Patienten asymptomatisch gewesen.). Zudem, auch darauf hat der Sachverständige hingewiesen, haben die im weiteren Verlauf erhobenen Befunde die Verdachtsdiagnose einer Dissektion nicht bestätigt. So hat eine im Rahmen der Reha-Behandlung im Klinikum S. durchgeführte Dopplersonographie am 25.02.2010 eine unauffällige Gefäßwandmorphologie und unauffällige Strömungsprofile gezeigt. Dass bei einer Nachbeurteilung des damaligen Bildmaterials keine weitergehenden positiven Erkenntnisse für die Feststellung einer Dissektion zu erwarten sind, ist auch der Stellungnahme des gerichtlichen Sachverständigen PD Dr. C. vom 04.04.2017 zu entnehmen, wenn dieser dort darauf hinweist, dass „eine Nachbeurteilung … die Chance [bietet], evtl. doch vorhandene und bislang nicht bekannte Faktoren aufzudecken, die einen Zusammenhang dann als unwahrscheinlich erscheinen lassen würden.“ Der Gutachter sieht also in einer Nachbefundung nur die Chance, eine Dissektion (und damit die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs) definitiv ausschließen zu können. Die Frage, ob ein Impfschaden zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, ist aber für die impfschadensrechtliche Bewertung ohne Bedeutung. Entscheidungserheblich ist allein die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen Impfung und Gesundheitsschaden hinreichend wahrscheinlich nachgewiesen werden kann. Die Beantwortung dieser - allein entscheidungserheblichen - Frage ist aber nicht davon abhängig, dass der Zusammenhang nachgewiesenermaßen unwahrscheinlich ist oder sich positiv eine andere Ursache feststellen lässt. Mit einer Nachbefundung der durchgeführten bildgebenden Verfahren wäre daher für das Verfahren kein rechtlich maßgeblicher Erkenntnisgewinn verbunden, sondern allenfalls eine im Sinne des Betroffenen wünschenswerte weitergehende Aufklärung bei ihm vorliegender impfunabhängiger Risikoquellen verbunden. Eine solche Aufklärung hat aber nicht in einem impfschadensrechtlichen Gerichtsverfahren stattzufinden.

Jedenfalls ist eine Neubefundung der zeitnah nach dem Hirninfarkt durchgeführten bildgebenden Verfahren auch deshalb nicht angezeigt, da selbst dann, wenn sich damit eine Dissektion zweifelsfrei nachweisen lassen würde, sich ein Impfschaden beim Kläger nicht nachweisen lassen würde. Denn der rechtlich wesentliche Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Dissektion würde sich auch dann nicht herstellen lassen (siehe dazu unten Ziff. 3).

Von einer jetzt neu anzufertigenden Bildgebung würden sich für den maßgeblichen Zeitpunkt des Hirninfarkts im Jahre 2009 keine Rückschlüsse mehr ziehen lassen, da damals vorliegende morphologische Veränderungen heute mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr erkennbar sind. So haben sich auch bei einer im Rahmen der Reha-Behandlung im Klinikum S. durchgeführten Dopplersonographie am 25.02.2010 eine unauffällige Gefäßwandmorphologie und unauffällige Strömungsprofile gezeigt. Im Übrigen hat der Sachverständige PD Dr. C. eine derartige Bildgebung auch nur unter dem - rechtlich unmaßgeblichen - Gesichtspunkt als hilfreich erachtet, dass damit die Unwahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs positiv nachgewiesen werden könnte (vgl. oben, vorletzter Absatz). Im Übrigen gilt das Gleiche wie bei einer Neubefundung des alten Bildmaterials (vgl. vorstehender Absatz) - auch bei Nachweis einer Dissektion lässt sich ein Impfschaden nicht nachweisen (siehe dazu unten Ziff. 3).

2.2. Ein - nicht im Vollbeweis nachgewiesener - thromboembolischer Verschluss, der seine Ursache nicht in der Dissektion der Arteria carotis hat, wäre nach einheitlicher Ansicht der Sachverständigen nicht im Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Impfung zu sehen und kann daher schon wegen fehlender Kausalität keine Primärschädigung darstellen.

Sofern der Gutachter PD Dr. C. im Rahmen seines Gutachtens vom 27.12.2016 im Rahmen der Beantwortung der Beweisfragen noch äußerst missverständlich auch für die Variante eines thromboembolischen Verschlusses „prinzipiell“ die gute Möglichkeiten eines Zusammenhangs mit der Impfung formuliert hat, hat er diese Annahme in seinen weiteren Ausführungen nicht mehr wiederholt, sondern eine solche Möglichkeit nicht mehr angenommen. Letzteres steht auch in Einklang mit seinen gesamten sachverständigen Ausführungen, in denen er an keiner einzigen Stelle eine medizinische Lehrmeinung benannt hat, die einen solchen Zusammenhang kennt. Raum für eine Kannversorgung ist daher insofern nicht eröffnet.

2.3. Keine Wahlfeststellung

Ein Rückgriff auf das Institut der Wahlfeststellung scheitert daran, dass nicht beide in Betracht kommenden Tatbestandsvarianten zur Bejahung der Frage, ob ein Primärschaden vorliegt, führen.

Das Institut der Wahlfeststellung ist auch im Sozialrecht anerkannt (vgl. z.B. die Urteile des BSG zu den Rechtsbereichen des Versorgungsrechts vom 30.08.1960, 8 RV 245/58, und 05.05.1993, 9/9a RV 1/92, sowie der gesetzlichen Unfallversicherung vom 24.01.1992, 2 RU 32/91). Dabei kann der im Rahmen der Wahlfeststellung geltend gemachte Anspruch nur dann zugesprochen werden, wenn jede der in Betracht kommenden Tatbestandsvarianten zur gleichen Leistung führen muss (vgl. BSG, Urteil vom 26.03.1986, 2 RU 10/85). Dies bedeutet wiederum, dass eine Wahlfeststellung bereits dann ausgeschlossen ist, wenn nur eine der der Wahlfeststellung zugrunde zu legenden Tatbestandsalternativen einer Leistung entgegenstehen würde.

Im vorliegenden Fall kann aber - wenn überhaupt - eine Primärschädigung nur für die Tatbestandsvariante in Betracht gezogen werden, dass eine Dissektion der Arteria carotis vorgelegen hat, nicht aber für die Tatbestandsalternative eines thromboembolischen Verschlusses, der seine Ursache nicht in der Dissektion der Arteria carotis findet (vgl. oben Ziff. 2.2.).

3. Auch bei Annahme einer Dissektion keine Kausalität zwischen Impfung und Primärschaden

Aber auch soweit man entgegen den obigen Feststellungen und Ausführungen davon ausgehen würde, dass eine Dissektion der Arteria carotis im Vollbeweis nachgewiesen wäre, würde es insoweit an der Kausalität zwischen der Impfung und der unterstellten Impfkomplikation (Primärschaden) in Form einer Dissektion der Arteria carotis fehlen.

3.1. Kein Zusammenhang im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit

Ein hinreichend wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der beim Kläger durchgeführten Impfung und einer Dissektion der Arteria carotis lässt sich nicht feststellen; das ist unter allen Sachverständigen und Versorgungsärzten unstreitig. Der Senat sieht insofern von weiteren Ausführungen ab und verweist auf die ausführlich begründeten Gutachten, gutachtlichen Stellungnahmen und versorgungsärztlichen Äußerungen.

3.2. Kein Zusammenhang im Sinne der Kannversorgung

Die Herstellung eines Zusammenhangs im Sinne der Kannversorgung scheitert schon daran, dass zwar in der medizinischen Wissenschaft über die Ursache einer (spontanen) Dissektion Ungewissheit besteht, es aber schon keine verschiedenen ärztlichen Lehrmeinungen mit abschließenden Erklärungen zur Ursächlichkeit bei einer Dissektion gibt. Jedenfalls existiert keine einzelne ärztlich-wissenschaftliche Lehrmeinung, nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen einer Impfung mit Pandemrix (und einer damit verbundenen erhöhten Zytokinausschüttung) und einer Dissektion der Arteria carotis gegeben wäre. Dabei stützt sich der Senat auf die Feststellungen aller im Verfahren gehörten Sachverständigen und Versorgungsärzte.

Von verschiedenen, untereinander differierenden ärztlichen Lehrmeinungen zur Ursächlichkeit einer Dissektion kann nicht ausgegangen werden. Vielmehr lässt sich - den Hinweisen der Sachverständigen und Versorgungsärzte folgend - nur für einen Teil der stattgehabten Dissektionen eine medizinische Erklärung finden, ohne dass sich daraus bereits eine herrschende medizinische Meinung herausgebildet hätte. Der andere Teil der Dissektionen hingegen ist in seiner Ursächlichkeit offenbar völlig ungeklärt, so dass auch insofern nicht von einzelnen wissenschaftlichen Lehrmeinungen ausgegangen werden kann, die sich noch nicht zur herrschenden Meinung verdichtet haben.

Jedenfalls gibt es keine einzige wissenschaftliche Lehrmeinung, die einen Zusammenhang zwischen einer Impfung mit Pandemrix und einer Dissektion der Arteria carotis unter bestimmten Voraussetzungen annehmen würde.

So hat der Sachverständige Prof. Dr. J. in seinem Gutachten vom 14.08.2014 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine ausgedehnte Literatursuche zu Impfungen, speziell gegen Influenza und Dissektionen der Arteria carotis interna, kein positives Ergebnis gebracht habe, es für die Hypothese einer zytokinverursachten Dissektion weder experimentelle noch epidemiologische Belege gebe und Impfungen als mögliche Trigger einer Dissektion in der Literatur niemals erwähnt worden seien.

Dies hat auch der Gutachter PD Dr. C. bestätigt und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 04.04.2017 festgehalten, dass es keine ausreichenden epidemiologischen Daten gebe, die ein erhöhtes Risiko einer Dissektion nach Impfung mit Pandemrix belegen würden. Dass infolge einer Impfung mit Pandemrix durch die starke Freisetzung von Zytokinen ein entzündlicher Prozess mit der potentiellen Folge einer Dissektion begünstigt werden könnte, sei eine (bloße) Hypothese, für die es keine experimentellen oder epidemiologischen Daten gebe. Ergänzt hat dies der Gutachter PD Dr. C. nach ausdrücklicher Befragung durch das Gericht und exakter Erläuterung der Voraussetzungen der Kannversorgung in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30.10.2017 und nochmals erläutert, dass kein epidemiologisch erhöhtes Risiko einer Dissektion nach einer Impfung mit Pandemrix belegt sei. Für die Frage eines Zusammenhangs zwischen einer Impfung mit Pandemrix und einer Dissektion der Arteria carotis hat der Sachverständige keine einzige medizinische Lehrmeinung aufgezeigt, die von einem Zusammenhang im Sinne der Kannversorgung ausgehen würde. Der Sachverständige hat - wie auch zuvor Prof. Dr. J. vor der Einholung des ergänzenden internistischen Gutachtens - lediglich ein theoretisches Gedankenmodell aufgezeigt, das einen Zusammenhang zwischen Impfung und Dissektion erklären könnte. Ein derartiges Gedankenmodell ist jedoch auch für die Kannversorgung unbehelflich, da damit nur die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen Impfung und Primärschädigung aufgezeigt wird, was aber für die Kannversorgung nicht ausreicht. Denn damit würde, ohne dass die Beurteilung bei fehlender herrschender medizinischer Meinung auf zumindest eine wissenschaftlich anerkannte Lehrmeinung gestützt werden könnte, der Anwendungsbereich der Kannversorgung dahingehend erweitert, dass schon die bloße - und nicht nur, um mit den Worten des BSG zu sprechen, „gute“ - Möglichkeit eines Zusammenhangs als ausreichend erachtet würde. Dies würde den vom Gesetzgeber gesetzten Rahmen für die Zusammenhangsbeurteilung überschreiten.

Sofern der Sachverständige PD Dr. C. im Gutachten vom 27.12.2016 noch - anders als später im Rahmen der ergänzenden Stellungnahme - die „gute Möglichkeit“ eines Zusammenhangs bejaht hat, ist dies offensichtlich unter Verkennung der rechtlichen Voraussetzungen des zugegebenermaßen missverständlichen Begriffs der „guten Möglichkeit“ erfolgt. Dies ergibt sich auch daraus, dass er in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30.10.2017, nachdem nunmehr die rechtlichen Voraussetzungen der Kannversorgung verständlicher mit Gutachtensauftrag vom 01.08.2017 erläutert worden waren, keine medizinische Lehrmeinung benannt hat, auf die die Kannversorgung gestützt werden könnte, sondern nur von einem theoretisch gut begründbaren möglichen Zusammenhang gesprochen hat.

Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat ergänzend darauf hin, dass auch im Wege der Wahlfeststellung ein Zusammenhang zwischen Impfung und den zwei als Primärschaden bei weitester Betrachtung infrage kommenden Gesundheitsstörungen einer Dissektion der Arteria carotis einerseits und eines thromboembolischen, am ehesten auf kardiogener Ursache beruhenden Verschlusses andererseits nicht möglich wäre. Sofern der Sachverständige PD Dr. C. in seinem Gutachten vom 27.12.2016 noch für beide Möglichkeiten „prinzipiell eine solche „gute Möglichkeit“" gesehen hat, hat er diese offensichtlich mit Blick auf die Begrifflichkeiten irrige Annahme später nicht mehr aufrechterhalten (vgl. auch oben Ziff. 2.2.). Im Übrigen geht auch aus dem Gutachten vom 27.12.2016 selbst hervor, dass der Sachverständige für die Tatbestandsalternative eines thromboembolischen Verschlusses (vermutlich kardialer Ursache) keine „gute Möglichkeit“ eines Zusammenhangs gesehen hat. Denn anders wäre es nicht zu erklären, dass der Sachverständige zu den beiden Alternativmöglichkeiten „sich hieraus [ergebende] möglicherweise unterschiedliche Aspekte zur Kausalität (im Sinne einer „Kannversorgung“)" gesehen hat. Der Sachverständige ist also offensichtlich davon ausgegangen, dass die Kausalität im Sinne der Kannversorgung unterschiedlich zu bewerten ist, je nachdem, ob von einer Dissektion, für die er zu diesem Zeitpunkt noch die Möglichkeit der Kannversorgung gesehen hat, oder einem thromboembolischen Verschluss auszugehen ist.

Zu den vom Kläger erhobenen Einwänden, soweit sie nicht bereits oben abgehandelt sind, weist der Senat abschließend auf Folgendes hin:

Der Kläger hat zur Widerspruchsbegründung darauf hingewiesen, dass in der Datenbank des P.-E.-Instituts zu Verdachtsfällen von Impfkomplikationen 16 Fälle von Hirninfarkt im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen verzeichnet seien und damit ein Hirninfarkt als Impfreaktion bekannt sei. Dabei verkennt der Kläger den Charakter von Meldungen als Verdachtsfall an das P.-E.-Institut. Eine derartige Meldung bedeutet lediglich, dass aus Sicht des behandelnden Arztes ein potentieller Zusammenhang mit einer Impfung nicht auszuschließen ist und er daher seiner Meldepflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IfSG („Namentlich ist zu melden: … 3. der Verdacht einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung“) nachkommen will. Nicht belegt ist aber mit einer derartigen Meldung, dass sich ein impfschadensrechtlicher Zusammenhang auch nach dem aktuellen Kenntnisstand der Medizin herstellen lässt. Der Senat verweist insofern auch auf den Internetauftritt des P.-E.-Instituts, in dem auf Folgendes hingewiesen wird:

„Impfstoffe sind, wie alle anderen wirksamen Arzneimittel auch, nicht völlig frei von Nebenwirkungen. Die Anforderungen an die Sicherheit von Impfstoffen sind höher als etwa an Arzneimittel zur Behandlung schwer erkrankter Personen. Denn es sind in der Regel gesunde Kinder, Jugendliche und Erwachsene, welche geimpft werden. In äußerst seltenen Fällen können Impfstoffe zu Gesundheitsstörungen und Erkrankungen führen. Ein zeitlicher Zusammenhang von Impfung und einer Erkrankung begründet einen Verdacht, ist aber noch kein Beweis dafür, dass eine Impfung die Krankheit verursacht hat.

Für Verdachtsfälle von Impfreaktionen, die über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehen, besteht nach Infektionsschutzgesetz eine Verpflichtung für den impfenden Arzt, dies an das zuständige Gesundheitsamt zu melden. Von dort erhält das P.-E.-Institut die Daten in anonymisierter Form. Die Experten des Referats Arzneimittelsicherheit prüfen jede Meldung und beurteilen aufgrund der gemeldeten und ggf. recherchierten Informationen, ob ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung als gesichert, wahrscheinlich, möglich, unwahrscheinlich oder auch wegen fehlender Daten nicht zu beurteilen ist. Ziel dieser Bewertungen ist es, mögliche Risikosignale bei einem Impfstoff frühzeitig zu erkennen um Maßnahmen zur Risikominimierung ergreifen zu können. Sehr seltene, aber vielleicht schwerwiegende Nebenwirkungen können auch in großen klinischen Prüfungen nicht entdeckt werden, sondern erst dann, wenn sehr viele Menschen den betreffenden Impfstoff erhalten haben. Daher ist die Beobachtung, Meldung und Bewertung von Verdachtsfällen auf Impfkomplikationen äußerst wichtig.“

(https://www...de/DE/arzneimittel/impfstoff-impfstoffe-fuer-den-menschen/informationen-zu-impfstoffen-impfungen-impfen.html - Stand 11.07.2018)

Im Rahmen der Widerspruchsbegründung hat der Kläger beanstandet, dass er über das Risiko der Impfung weder mündlich noch schriftlich aufgeklärt worden und daher die Impfung nicht rechtskonform erfolgt sei. Jedenfalls hätte er auf das Impfrisiko hingewiesen werden müssen, so dass schon deshalb die Aufklärung nicht wirksam sei. Dies ergebe sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Dabei verkennt der Kläger, dass sich die versorgungsrechtliche Beurteilung, ob ein Impfschaden vorliegt, nicht nach zivilrechtlichen Grundsätzen und den im Zivilrecht geltenden Beweislastregeln beurteilt, sondern nach den im Sozialrecht geltenden Vorgaben. Dabei ist es für die Beurteilung, ob ein Impfschaden vorliegt, ohne rechtliche Bedeutung, ob der Geimpfte - im zivilrechtlichen und ggf. strafrechtlichen Sinne - ordnungsgemäß aufgeklärt worden ist oder nicht.

Im Rahmen der Klagebegründung haben die Bevollmächtigten des Klägers ihre Ansicht geäußert, dass von der Rechtsprechung des BSG vorgesehen sei, dass eine Nutzen-Lasten-Analyse Voraussetzung für die Impfempfehlung und diese grobfehlerhaft und unzureichend durchgeführt worden sei. Diese Ansicht findet jedoch in der Rechtsprechung des BSG keine Stütze. Ob und wie es zu der öffentlichen Impfempfehlung gekommen ist, ist für die Beurteilung nach dem IfSG ohne rechtliche Bedeutung.

Der Senat weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die Beiziehung von arzneimittelrechtlichen Zulassungsunterlagen, in denen auch eine Nutzen-Lasten-Analyse des Impfstoffs enthalten sein dürfte, im impfschadensrechtlichen Verfahren grundsätzlich nicht erforderlich ist. Denn eine Impfschadensversorgung nach § 60 IfSG setzt nur eine nach den dort genannten Voraussetzungen durchgeführte Impfung mit einem in der Regel zugelassenen (siehe dazu auch BSG, Urteile vom 02.10.2008, B 9/9a VJ 1/07 R, und vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R) Impfstoff voraus. Warum die Zulassung erfolgt ist bzw. welche Nutzen-Lasten-Analyse dem zu Grunde lag, ist insoweit nicht von Relevanz bzw. deshalb im Falle eines Impfschadens ja gerade eine Versorgung nach dem IfSG zu leisten (vgl. auch BSG, Urteil vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R), weil dem Einzelnen insoweit ein Sonderopfer abverlangt wird. Eine Nutzen-Lasten-Analyse ist daher allein Teil des strengen Zulassungsverfahrens für Impfstoffe, nicht aber maßgebend für die Frage der Kausalität im konkreten Einzelfall (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.04.2015, L 6 VJ 1460/13, Bayer. LSG, Urteil vom 18.05.2017, L 20 VJ 5/11).

Sofern es die Bevollmächtigten des Klägers dem Beklagten als „geradezu skandalös“ vorhalten, dass dieser einem Zusammenhang entgegenhalte, dass die Erkrankung nicht unmittelbar nach der Impfung, sondern erst eine Woche später aufgetreten sei, weil - so die Bevollmächtigten - medizinisch seit Jahrzehnten von einer Inkubationszeit von bis zu mehreren Wochen ausgegangen werde, ist dieser Vorwurf nicht haltbar. Es verbietet sich, pauschal, undifferenziert und unabhängig von der Impfung und einer potentiellen Primärschädigung von einer Inkubationszeit von bis zu mehreren Wochen auszugehen. Im Übrigen verkennen die Bevollmächtigten bei ihrem Hinweis auf (nicht näher genannte) wissenschaftliche Veröffentlichungen, wonach ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Auftreten der neurologischen Symptomatik anzunehmen sei, wenn sich die Symptomatik in einem Zeitraum von innerhalb einer Stunde bis zu einem Monat nach der Impfung manifestiert habe, auch, dass die zwar jetzt beim Kläger auf neurologischem Gebiet vorliegende Erkrankung keine direkte neurologische Ursache hat, sondern ein vermutlich nicht neurologisch bedingter Verschluss einer Arterie durch die Mangelversorgung des Gehirns zu einem neurologischen Schaden geführt hat.

Der Kläger stützt seine Vermutung eines Zusammenhangs zwischen Impfung und Hirninfarkt wesentlich darauf, dass er einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Hirninfarkt sieht und genetische Ursachen und sonstige Risikofaktoren für einen Hirninfarkt als nicht gegeben erachtet. Bei dieser, für einen juristischen Laien durchaus nachvollziehbaren Argumentation übersieht der Kläger aber, dass eine Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Impfschaden nach dem IfSG nicht schon dann in Betracht kommt, wenn andere Ursachen für den Hirninfarkt nicht nachgewiesen sind. Vielmehr muss ein Zusammenhang hinreichend wahrscheinlich oder zumindest im Sinne der Kannversorgung „gut möglich“ sein. Gelingt dieser Nachweis nicht, ist aufgrund der im Sozialrecht geltenden Vorgaben der objektiven Beweislast eine Anerkennung als Impfschaden nicht möglich. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass ein Nachweis von Alternativursachen in den Fällen schon regelmäßig scheitern würde, in denen - wie hier - über die potentiellen Ursachen einer Gesundheitsschädigung in der medizinischen Wissenschaft weitgehend Unklarheit herrscht.

Es mag zutreffen, dass der im September 2009 in der EU zugelassene Impfstoff Pandemrix jetzt nicht mehr eingesetzt wird, weil bei seiner Anwendung überdurchschnittlich häufig Komplikationen aufgetreten sind, und auch während des Zeitraums, in dem mit ihm geimpft worden ist, ein Alternativimpfstoff zur Verfügung gestanden hat, der - wie dies der Kläger ausführt - bei Bundeswehrsoldaten und Regierungsbeamten zur Anwendung gekommen ist. Dies macht aber einen Zusammenhang zwischen der beim Kläger durchgeführten Impfung mit Pandemrix und dem bei ihm aufgetretenen Hirninfarkt nicht wahrscheinlich, zumal trotz der mit über 30 Mio. sehr oft erfolgten Impfung mit Pandemrix Hirninfarkte auch statistisch betrachtet nicht überdurchschnittlich häufig aufgetreten sind. Jedenfalls liegen keinerlei medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse dahingehend vor, dass eine Impfung mit Pandemrix im Zusammenhang mit einem Hirninfarkt stehen könnte.

Wenn die Bevollmächtigten auf ein Urteil des EuGH vom 21.06.2017 hinweisen, welches sich mit einem französischen Fall eines Impfschadens im Bereich der Produkthaftung befasst hat, und daraus für den Kläger günstige Rückschlüsse ziehen wollen, verkennen sie, dass sich der hier zu entscheidende Fall nach deutschem Impfschadensrecht und nicht nach französischem (zivilrechtlichen) Produkthaftungsrecht beurteilt. Die Entscheidung des EuGH kann daher vorliegend keine Auswirkungen haben.

Die Berufung bleibt deshalb ohne Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

Tenor

I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Oktober 2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung nach dem Impfschadensrecht gemäß §§ 60 ff Infektionsschutzgesetz (IfSG) hat.

Die 1978 geborene Klägerin, für die mit Bescheid vom 27.11.2013 ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 mit einem Einzel-GdB von 20 für eine Blutgerinnungsstörung festgestellt wurde, erhielt am 29.07.2010 und 13.03.2012 von ihrem Arzt Dr. F. jeweils eine Impfung gegen Hepatitis A mit dem Impfstoff Havrix(r) 1440.

Laut Befundbericht vom 07.03.2013 des Allgemeinarztes Dr. M. kam die Klägerin wegen Petechien am Bauch und am Oberschenkel am 06.08.2012 zu diesem. Dabei habe sich, so der Arzt, eine Thrombopenie gezeigt. Vom 07. bis 18.08.2012 wurde die Klägerin stationär im Klinikum P. behandelt. In dem Entlassungsbericht wurden unter anderem die Diagnosen Verdacht auf Idiopathische Thrombozytopenische Purpura, Morbus Werlhof, 08/12, Zustand nach Abrasio und Neurodermitis gestellt. Im Rahmen der Anamneseschilderung ist festgehalten, dass sich die Klägerin aktuell im Urlaub befinde und dass ihr aktuell Petechien im Bereich des Bauches aufgefallen seien, die sich zunehmend auch am Oberschenkel sowie an den Extremitäten ausbreiten würden. Infekt habe sie zuletzt keinen gehabt. Aktuell präsentiere die Klägerin keine Infektzeichen, der Allgemeinzustand sei stabil. Weiter wird in dem ärztlichen Bericht der Verdacht auf ein Uterusmyom (ca. 5,8 cm messbar) geäußert, von starken Regelblutungen berichtet und eine zeitnahe gynäkologische Vorstellung empfohlen. Von 23. bis 29.08.2012 wurde die Klägerin erneut im Klinikum P. behandelt. In dem ärztlichen Bericht des Klinikums vom 27.08.2012 wurde im Hinblick auf die Laborergebnisse bezüglich der Thrombozytenmessung ein „insgesamt diskreter Befund, vereinbar mit einer Autoimmunthrombozytopenie des manchmal akuten Typs, z.B. postinfektiös und reversibel gestellt. Auch in diesem Bericht findet sich die Diagnose Idiopathische Thrombozytopenische Purpura, Morbus Werlhof, 08/12. Am 17.09.2012 suchte die Klägerin ihren Frauenarzt Dr. B. wegen Hypermenorrhoe und Dauerblutung, wie dieser im Befundbericht vom 07.04.2015 mitteilte, auf.

Am 20.02.2013 beantragte die Klägerin beim Beklagten Versorgung nach dem IfSG, da sie an der Morbus Werlhof-Erkrankung infolge der Impfung vom 13.03.2012 leide. Erstmals habe sie ab April 2012 verstärkte Monatsblutungen und ab August 2012 eine Müdigkeit, Petechien und Hämatome bemerkt. Der Beklagte zog die Verwaltungsakte des Verfahrens nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch bei, wertete die o.g. Befundunterlagen aus und beauftragte Prof. Dr. K. mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 10.08.2013 fest, dass an der Diagnose einer immunthrombozytopenischen Purpura (Immunthrombozytopenie - ITP), akut im August 2012 aufgetreten, anhand der Befunde nicht gezweifelt werden könne. Da der schubweise Verlauf sechs Monate überschreite, sei definitionsgemäß von einer chronischen ITP zu sprechen, d.h. von Morbus Werlhof.

Zur Hepatitis A-Impfung schreibe die Ständige Impfkommission (STIKO) im Epidemiologischen Bulletin vom 22.06.2007, dass in Einzelfällen in der medizinischen Fachliteratur über das Auftreten von neurologischen Störungen sowie über Blutgerinnungsstörungen (Thrombozytopenische Purpura) berichtet worden sei, die im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung aufgetreten seien. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung sei bei diesen Beobachtungen fraglich, es könnte sich in der Mehrzahl dieser Einzelfallberichte, so die STIKO, um das zufällige zeitliche Zusammentreffen von miteinander nicht ursächlich verbundenen selbstständigen Ereignissen handeln. Prof. Dr. K. wies darauf hin, dass für die Minderzahl postvakzinaler thrombozytopenischer Fälle auch die (sehr zurückhaltende) STIKO ernsthaft einen ursächlichen Zusammenhang erwäge. Weiter machte der Sachverständige auf die Rote Liste 2012 aufmerksam, wo unter Nebenwirkungen von Havrix(r) 1440 unter anderem ausdrücklich eine Idiopathische Thrombozytopenische Purpura genannt werde.

Nach den Auswertungen der anamnestischen Angaben betrage das Intervall zwischen den ersten Symptomen einerseits und vorangegangener Infektionskrankheit bzw. Impfung eine bis drei (bis vier) Wochen; dies sei exakt die Spanne akzeptierter postvakzinaler Inkubationszeit auch für andere Impfschäden (speziell für die postvakzinale Polyneuropathie setze das Paul-Ehrlich-Institut ausnahmsweise eine Spanne von maximal 42 Tagen an). Im vorliegenden Fall der Klägerin reiche das Intervall vom 13.03.2012 bis Anfang August 2012 (erste Konsultation beim Hausarzt Dr. M. am 06.08.2012); damit sei jegliche Spanne akzeptierter oder denkbarer postvakzinaler Inkubationszeit weit überschritten. Vollursächlicher oder teilursächlicher oder gelegenheitsursächlicher Zusammenhang zwischen der angeschuldigten Hepatitis A-Impfung und Morbus Werlhof seien im vorliegenden Fall so gut wie sicher ausgeschlossen.

Weiter verwies Prof. Dr. K. auch auf den Befall mit Helicobacter pylori als möglicher Verursacher der Manifestationsprovokation eines Morbus Werlhof, was seit einiger Zeit diskutiert werde. Bei der Klägerin sei im August 2012 eine aktive Helicobacterinfektion nachgewiesen worden. Es könne diskutiert werden, dass diese Infektion im vorliegenden Fall die Manifestationsprovokation des Leidens verursacht habe.

Zusammenfassend hob Prof. Dr. K. hervor, dass nach gegebener Aktenlage so gut wie sicher keinerlei Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung bestehe.

Mit Bescheid vom 22.10.2013 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung sodann ab. Ein Impfschaden sei nicht gegeben.

Hiergegen erhob die Klägerin am 06.11.2013 Widerspruch. Zur Begründung wurde hervorgehoben, dass bei der Klägerin bereits Ende März 2012 sehr starke Regelblutungen aufgetreten seien. Ebenfalls hätten bereits am Körper kleine rote Einblutungen (Petechien) erkannt werden können, die die Klägerin fälschlicherweise zunächst einer Neurodermitis zugeordnet habe. Weiter wurde auf die Herstellerinformation von Havrix(r) 1440, wonach als Nebenwirkung eine erhöhte Neigung zu Blutungen oder zu Blutergüssen (Idiopathische Thrombozytopenische Purpura) auftreten würde, hingewiesen. Bei einer Routineuntersuchung im Januar 2012 habe die Klägerin 367.000 Thrombozyten gehabt, im August nur noch 7.000. Grund dafür, dass die Klägerin erst im August ärztliche Hilfe aufgesucht habe, sei, dass die Symptome bis dahin unspezifisch gewesen seien. Nachdem die Beschwerden sich zunehmend verschlimmert hätten (vermehrtes Schwitzen, Verschlechterung des Sehvermögens, gelegentlicher Schwindel), habe die Klägerin dann ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Es sei falsch, die erste Konsultation beim Hausarzt (06.08.2012) mit dem erstmaligen Auftreten von Symptomen gleichzusetzen.

Im Widerspruchsverfahren wurde noch ein Arztbericht des Medizinischen Versorgungszentrums am Klinikum P. vom 28.09.2012 ausgewertet, in dem keine Blutungen, jedoch leichte Hämatomneigungen, Petechien, chronische Müdigkeit und Erschöpfungszustand als Diagnosen gestellt wurden.

In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S. des Beklagten vom 20.01.2014 wurde von einer Idiopathischen Immunthrombozytopenischen Purpura (ITP) ohne erkennbare Ursache ausgegangen. Wenn die jetzt berichteten ersten Hauterscheinungen und die verstärkte Regelblutung Ende März 2012 bereits Ausdruck einer ITP gewesen wären, so Dr. S., wäre zwischen März und August 2012 keine beschwerdefreie Latenzzeit zu erwarten gewesen. Die zunehmenden Hautveränderungen, die im August 2012 in die Notaufnahme des Klinikums P. geführt hätten, wären bei ersten Anzeichen einer ITP bereits Ende März 2012 viel früher zu erwarten gewesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 04.02.2014 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde vor allem hervorgehoben, dass die Klägerin zwar angegeben habe, bereits zwei Wochen nach der Impfung (nämlich Ende März 2012) sehr starke Regelblutungen und am Körper kleine rote Einblutungen gesehen zu haben, dass aus den anamnestischen Angaben des Arztbriefes des Klinikums P. jedoch ersichtlich sei, dass der Klägerin erst im August 2012 Petechien im Bereich des Bauches aufgefallen seien, die sich zunehmend auf Oberschenkel und Extremitäten ausgebreitet hätten. Wenn die jetzt berichteten ersten Hauterscheinungen und die verstärkte Blutung Ende März 2012 bereits Ausdruck einer ITP gewesen wäre, wäre es zu einer entsprechend früheren stationären Krankenhausbehandlung gekommen; eine beschwerdefreie Latenzzeit wäre nicht zu erwarten gewesen.

Am 28.02.2014 hat die Klägerin hiergegen Klage zum Sozialgericht (SG) Landshut erhoben. Zur Begründung ist entsprechend der Widerspruchsbegründung vorgetragen und auf die von der Klägerin eingeholte Äußerung von Prof. Dr. K., Direktor des Instituts für Pathologie der Medizinischen Hochschule H-Stadt vom 28.10.2013 verwiesen worden, wonach angesichts der von der Klägerin geschilderten Symptome die Thrombozytopenie schon im März bestanden habe können, was ohne Kenntnis des klinischen Bildes aus der Ferne aber nicht sicher zu entscheiden sei. Die Dauer einer ITP in Wochen oder Monaten anzugeben, sei nicht möglich. Zudem hat die Klägerin über ihren Bevollmächtigten auf die Kongruenz zwischen dem Schadensverlauf und dem Wirkmechanismus von Havrix(r) 1440 verwiesen. Weiter ist hervorgehoben worden, dass zwischen März und August Symptome nicht gefehlt hätten. Vielmehr hätten sich die kurz nach der Impfung auftretenden Beschwerden zunehmend verschlechtert.

Zur Sachverhaltsermittlung hat das SG Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt, nämlich vom Hämatologen und Onkologen P. (13.02.2015), vom Frauenarzt Dr. B. (07.04.2015), vom Hausarzt Dr. M. (10.04.2015) und vom Internisten und Kardiologen Dr. J. (26.09.2012).

Sodann hat das SG Beweis erhoben und den Facharzt für Hämatologie und Onkologie Prof. Dr. O. (L-Universität M-Stadt) mit Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 23.09.2015 nach Untersuchung der Klägerin (vom 21.09.2015) hat der Sachverständige als Diagnosen „idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP)“, Morbus Werlhof, Autoimmunthrombozytopenie - Erstdiagnose 08/2012, Zustand nach Impfung mit Havrix(r) 1440, Neurodermitis, Asthma bronchiale, Adipositas, Zustand nach arterieller Hypertonie, Eradikationstherapie bei Helicobacter pylori-positivem Antigen in der Stuhlkultur 08/2012 gestellt. Unter Auswertung der vorliegenden medizinischen Unterlagen hat Prof. Dr. O. festgestellt, dass es unter der Kortikosteroidbehandlung zu einem raschen Anstieg der Thrombozytenwerte und Rückbildung der petechialen Einblutungen gekommen sei. Bei der durch ihn durchgeführten körperlichen Untersuchung der Klägerin habe diese keinerlei Blutungszeichen gezeigt.

Der Sachverständige hat dargelegt, dass für einen möglichen Zusammenhang zwischen der Impfung und der späteren Diagnose einer ITP spreche, dass laut Gebrauchsinformation des Impfstoffs eine ITP tatsächlich als mögliche Nebenwirkung beschrieben sei. In der Regel gehe er von einer chronischen ITP aus, wenn die erniedrigten Thrombozytenwerte mindestens über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten bestünden. Prof. Dr. O. hat jedoch ausdrücklich festgestellt, dass vorliegend jegliche Blutuntersuchungen und Verlaufskontrollen im Zeitraum vom 13.03.2012 bis 07.08.2012 (Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung einer Thrombozytopenie mit Werten von 7.000) fehlen würden. Insofern sei es schwierig festzustellen, ab wann die ITP bestanden habe. Der einzige Thrombozytenwert vor dem 07.08.2012 sei vom 03.01.2012 im Rahmen einer Routineuntersuchung (Wert 367.000). Die Schwierigkeit hinsichtlich der von der Klägerin vorgetragenen verstärkten Regelblutung und behaupteten Petechien ca. zwei Wochen nach der Impfung sei, dass der Inhalt dieser Aussagen nirgendwo dokumentiert sei. Weiterhin schwierig sei, dass sich der genaue Zeitpunkt des ersten Auftretens einer ITP nicht genau bestimmen lasse, also unklar sei, ob diese Wochen oder Monate nach dem vorausgegangenen Ereignis (der Impfung mit Havrix(r) 1440) aufgetreten sei.

Prof. Dr. O. hat festgestellt, dass es in der Gesamtschau der Befunde unwahrscheinlich sei, dass eine mögliche Thrombozytopenie die Ursache der von der Klägerin angegebenen starken Regelblutungen sowie Petechien bereits ca. zwei Wochen nach der Impfung darstelle. Sollten die Befunde der Klägerin tatsächlich auf eine mögliche Thrombozytopenie Ende März 2012 zurückzuführen sein, sei sehr unwahrscheinlich, dass danach die Thrombozytopenie (bis 07.08.2012) plötzlich verschwunden wäre, so der Gutachter. Hier hätte man aus klinischer Sicht weitere Beschwerden der Klägerin erwarten müssen im Sinne von weiteren Blutungszeichen.

Zudem hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass der Nachweis der Helicobacter pylori vom August 2012 von Bedeutung sei. Da bekannt sei, dass Helicobacter pylori bei einem Teil der Patienten mit ITP pathogenetisch für die ITP verantwortlich sei, müsse, so Prof. Dr. O., differenzialdiagnostisch auch die Helicobacter pylori-Infektion als mögliche Ursache für die ITP der Klägerin in Betracht gezogen werden.

Die Beschwerden der Klägerin seien auf die ITP zurückzuführen. Diese Diagnose könne dokumentiert frühestens auf den August 2012 datiert werden. Die von der Klägerin vorgetragenen Symptome (verstärkte Regelblutung, Petechien) Ende März 2012 könnten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf die ITP zurückgeführt werden, da die ITP zu diesem Zeitpunkt noch nicht diagnostiziert worden sei und aller Wahrscheinlichkeit auch nicht vorgelegen habe.

Eine wesentliche Mitursache der Hepatitis A-Impfung für das Auftreten der ITP könne nach den dargelegten Ausführungen weitgehend ausgeschlossen werden (Ausschluss mit mehr als 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit). Ein 100-prozentiger Ausschluss könne nicht gelingen, da im Zeitraum vom 13.03. bis 07.08.2012 keinerlei Blutbildkontrollen erfolgt seien. Dass die von der Klägerin vorgetragenen Beschwerden Ende März auf die ITP tatsächlich zurückzuführen seien, sei theoretisch denkbar, aber in der Zusammenschau „doch eher unwahrscheinlich“.

Sodann hat im Auftrag des SG gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Dr. H. am 05.09.2016 ein Gutachten erstellt. In seinem Gutachten stellte der Sachverständige fest, dass ab April 2012 verstärkte Regelblutungen aufgetreten seien und dass die Klägerin zu dieser Zeit auch die ersten petechialen Blutungen bemerkt habe. Wie deutlich diese frühen Blutungen ausgeprägt gewesen seien und ob sie sich auch vollständig zurückgebildet hätten, sei nicht in den Akten dokumentiert.

Unter anderem hat der Sachverständige auch das Krankheitsbild der Autoimmunthrombozytopenie bzw. Morbus Werlhof kurz zusammengefasst. Die ITP sei eine immunologisch vermittelte isolierte Thrombozytopenie, bei der Antikörper gegen die körpereigenen Thrombozyten gebildet würden. Bei 60 bis 80% der Patienten dieser Krankheit finde man mit modernen Untersuchungsmethoden Autoantikörper gegen Epitope. Die antikörperbeladenen Thrombozyten würden von Makrophagen und dendritischen Zellen z.B. in der Milz aufgenommen und abgebaut. In den allermeisten Fällen bleibe unklar, was bei der ITP die Immunreaktion gegen die Thrombozyten in Gang gesetzt habe.

Unter anderem hat der Sachverständige in seinem Gutachten auch hervorgehoben, dass eine ITP als seltene Impfkomplikation von Havrix(r) 1440 bekannt und in der Fachinformation auch beschrieben sei. Zudem hat er auf das Risiko der Entstehung einer Autoimmunerkrankung durch das als Adjuvans wirkende Aluminium aufmerksam gemacht.

Von entscheidender Bedeutung für die Frage der Kausalität sei die Frage nach dem ersten Auftreten von Symptomen der Erkrankung. In diesem Zusammenhang hat Dr. H. festgestellt, dass der Verlauf einer ITP unberechenbar sei; Verläufe mit relativ blandem Beginn seien nicht ungewöhnlich und die Beschreibung des Erkrankungsverlaufs durch die Klägerin somit plausibel. Unklar bleibe beim Betrachten der zeitlichen Abläufe der Beginn der Helicobacter pylori-Infektion. Diese sei erst im Rahmen des ersten Klinikaufenthalts im August 2012 festgestellt und behandelt worden. Wie lange diese Infektion schon bestanden habe, bliebe, so der Sachverständige, unklar. Für Autoimmunerkrankungen nach inaktivierten adjuvantierten Impfungen gebe es kein streng definiertes plausibles zeitliches Intervall. Orientierend an neurologischen unerwünschten Wirkungen nach Impfungen werde von vielen Experten ein Intervall von fünf bis 42 Tagen nach der angeschuldigten Impfung für plausibel betrachtet. Allerdings würde das plausible Zeitintervall auch deutlich weiter definiert und es werde die Ansicht vertreten, dass für autoimmune Erkrankungen nach Impfungen auch Intervalle von mehreren Monaten nicht unplausibel seien. Innerhalb dieses als plausibel geltenden Zeitfensters sei es bei der Klägerin also zu ersten Symptomen der ITP-Erkrankung im Sinne von petechialen Blutungen und verstärkten Regelblutungen gekommen.

Die unerwünschte Reaktion einer ITP sei nach der Hepatitis A-Impfung als bekannt zu betrachten. Es gebe plausible Hypothesen zur Pathophysiologie solcher Autoimmunreaktionen nach Impfungen.

Alternative Ursachen im Sinne von nachgewiesenen Infektionen oder anderen immunmodulatorischen Ereignissen zum Zeitpunkt des Beginns der Erkrankung Ende März bis Anfang April 2012 seien in den Akten nicht dokumentiert.

Bei der Klägerin liege nach den WHO-Kriterien mit Wahrscheinlichkeit eine Impfschädigung vor, die durch die verabreichten Impfungen verursacht worden sei. Das Kriterium des „gesicherten Zusammenhangs“ im WHO-Algorithmus verlange einen „positiven“ Reexpositionsversuch (d.h. durch eine nochmalige Impfung die Erkrankung erneut zu provozieren oder zu verstärken). In Anbetracht der Schwere der Erkrankung bei der Klägerin sei ein solches Vorgehen ethisch aber nicht vertretbar. Somit seien im Falle der Klägerin die Kriterien erfüllt, die von der WHO für die Feststellung eines wahrscheinlichen Zusammenhangs gefordert würden, nämlich ein plausibles zeitliches Intervall, eine plausible Hypothese zu Pathophysiologie und Bekanntheit der Reaktion und das Fehlen einer diagnostisch gesicherten anderen möglichen Auslösers einer Autoimmunreaktion im plausiblen Zeitintervall im Sinne einer Infektion.

Diese Bewertungskriterien seien derzeit weltweit medizinisch-wissenschaftlicher Standard bei der Einzelfallbewertung von Verdachtsfällen von unerwünschten Arzneimittelwirkungen und würden von Behörden wie z.B. dem Paul-Ehrlich-Institut und von Arzneimittelherstellern auch bei Impfstoffen verwendet. Diese Kriterien seien somit „der Goldstandard“ zur wissenschaftlichen Kausalitätsbewertung bei unerwünschten Wirkungen nach Impfstoffanwendungen. Die Kriterien seien transparent und würden eine Kausalitätsbewertung nachvollziehbar machen. Die vom BSG bzw. § 61 Satz 1 IfSG vorgegebene Art der Kausalitätsbewertung, wonach Kausalität dann gegeben sei, wenn wenigstens mehr für als gegen sie spreche, sei durchaus problematisch und bei vielen komplexen Verdachtsfällen von unerwünschten Wirkungen von Impfstoffen nicht wirklich anwendbar. Wenn man sich wissenschaftlich wirklich mit den Abläufen einer Impfkomplikation befasse, so sei die Forderung nach einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion sehr problematisch und entspreche keinesfalls dem aktuellen Kenntnisstand über immunologisch vermittelte Impfkomplikationen. Gerade die von Shoenfeld et al. 2010 etablierten Fälle adjuvansbedingter Autoimmunreaktionen nach Impfungen vermittelten eben keine unmittelbar erkennbare Primärschädigung, sondern verliefen nach einem symptomfreien Zeitintervall mit schleichendem Beginn einer schweren Erkrankung, bis zu deren Diagnosestellung dann wieder einige Zeit vergehe.

Sodann hat sich der Sachverständige mit den Vorgutachten auseinandergesetzt. Im Hinblick auf das Gutachten von Prof. Dr. K. und dessen Hinweis auf eine Helicobacter pylori-Infektion hat Dr. H. erneut darauf hingewiesen, dass unklar bleibe, ob diese zum Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens von Anzeichen einer Gerinnungsstörung Ende März und April 2012 bereits vorgelegen habe. Gesichert sei dagegen die zweite Hepatitis A-Impfung. Die Argumentation von Prof. Dr. K. zu den beschriebenen zeitlichen Abläufen sei nicht stichhaltig. Auch für andere Autoimmunerkrankungen werde im Paul-Ehrlich-Institut ein plausibles zeitliches Intervall von bis zu 42 Tagen nach der Impfung angewendet. Zum Gutachten von Prof. Dr. O. hat Dr. H. angemerkt, dass auch dessen Argumentation hinsichtlich des Intervalls nicht nachvollziehbar sei. Eine ITP könne mit Erscheinungen wie bei der Klägerin beginnen und erst nach Monaten zu schweren Blutungen führen. Ein solcher Verlauf sei in keiner Weise für eine Autoimmunerkrankung ungewöhnlich. Es sei also nicht nachvollziehbar, wenn gesagt werde, das etwa zweiwöchige Intervall zwischen Impfung der Klägerin und Auftreten der ersten Petechien mache eine durch die Impfung ausgelöste ITP unwahrscheinlich.

Zusammenfassend hat der Sachverständige festgestellt, dass bei der Klägerin eine unstreitige chronische thrombozytopenische Purpura vorliege und dass die Havrix(r) 1440-Impfung vom 13.03.2012 der wahrscheinliche Auslöser der ITP-Erkrankung der Klägerin sei. Die Impfschadensfolgen seien hier die rezidivierenden Thrombozytopenien mit Blutungen bei immunvermittelter chronischer thrombozytopenischer Purpura. Für die chronische und schwer therapierbare Autoimmunerkrankung mit zum Teil lebensbedrohlichen Gerinnungsstörungen sei ein GdS von 30 anzunehmen. Gegebenenfalls sollte bei einer Veränderung des Gesundheitszustands eine erneute Bewertung des GdS vorgenommen werden.

In der Stellungnahme vom 13.09.2016 hat sich die Klägerseite dem Gutachten von Dr. H. angeschlossen und den Kausalitätsnachweis als geführt angesehen. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Beklagten vom 07.10.2016 ist hervorgehoben worden, dass die Symptome einer Idiopathischen Thrombozytopenischen Purpura frühestens am 06.08.2012 nachgewiesen seien. In den Gutachten vom Prof. Dr. K. und Prof. Dr. O. sei das Intervall von knapp fünf Monaten zwischen Impfung und eindeutigem Nachweis hervorgehoben worden, das einen zeitlichen bzw. Ursachenzusammenhang unwahrscheinlich mache. Die von der Klägerin im Intervall genannte Symptomatik (Petechien, starke Regelblutungen) seien weiterhin, so die Sozialmedizinerin Dr. V., nicht belegt, sie seien offensichtlich auch nicht so ausgeprägt gewesen, dass eine ärztliche Konsultation erforderlich gewesen wäre. Gegen eine chronische Blutungsanämie spreche aber vor allem auch das im Normbereich gelegene Blutbild bei der Erstdiagnose im August 2012, so dass weiterhin ein plausibler zeitlicher Zusammenhang nach den derzeit gültigen und anerkannten Kriterien - Dr. V. ist von einem Zeitraum von fünf bis 42 Tagen ausgegangen - zwischen Impfung und Auftreten der Bluterkrankung nicht gegeben sei. Auf die hypothetische Begründung von Dr. H., die impfstoffunspezifischen Bestandteile, müsse deshalb nicht eingegangen werden.

Mit Urteil vom 24.10.2016 hat das SG sodann den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 22.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04.02.2014 verurteilt, die bei der Klägerin ab August 2012 nachgewiesene Idiopathische Thrombozytopenie als Folge der Hepatitis A-Impfung vom 13.03.2012 anzuerkennen und eine Versorgungsrente nach einem GdS von 30 ab 01.08.2012 zu gewähren. In der ausführlichen Begründung hat das SG ausgeführt, der Überzeugung zu sein, dass die Impfung mit Wahrscheinlichkeit eine mindestens gleichwertige Mitursache für die Entstehung der Idiopathischen Thrombozytopenie gewesen sei. Das SG ist in vollem Umfang dem „schlüssigen und nachvollziehbaren“ Gutachten von Dr. H. gefolgt. Nach den konstanten und von Anfang an durchgehend vorgetragenen Angaben der Klägerin gehe das SG davon aus, dass die ersten Zeichen einer Thrombozytopenie bereits ab April 2012 aufgetreten seien, also durchaus in engem zeitlichem Zusammenhang mit der streitigen Impfung. Der zeitliche Zusammenhang zwischen Impfung und Auftreten der Erkrankung spreche für einen Kausalzusammenhang und nicht dagegen, anders als die Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. O. annehmen würden. Insgesamt spreche mehr dafür als dagegen, dass die Impfung mit Wahrscheinlichkeit eine mindestens gleichwertige Ursache sei. Zum einen sei die Erkrankung bereits im Nebenwirkungsprofil des Impfstoffes erwähnt. Die Auflistung von Nebenwirkungen in der sog. Roten Liste sei keine juristisch vorbeugende Äußerung der Pharmaindustrie, sondern entspreche vielmehr klinischer Realität. Die Darstellung der Kausalzusammenhänge im Gutachten von Dr. H. sei für das Gericht nachvollziehbar. Es sei in der medizinischen Wissenschaft bekannt, dass Adjuvantien wie Aluminiumhydroxid oder Aluminiumphosphat auch zu unerwünschten immunologischen Reaktionen führen und in Einzelfällen sogar Autoimmunkrankheiten auslösen könnten. Bei der Thrombozytopenie handle es sich um eine Autoimmunerkrankung. Dr. H. habe seine Darstellung der Kausalzusammenhänge darüber hinaus mit hinreichender medizinischer Literatur belegt, so dass man nicht davon ausgehen könne, dass er nur seine eigene Sichtweise darstelle.)

Schließlich hat sich das SG auf die Entscheidung des Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) vom 31.07.2012 (Az. L 15 VJ 9/09) berufen, wonach es nicht schade, wenn die untypische Impfreaktion, d.h. die Primärschädigung, nicht allzu deutlich zu Tage getreten sei und sich der gesundheitliche Dauerschaden erst schleichend entwickelt habe und dann erst ab einer gewissen Dramatik der Symptome auffalle und diagnostiziert werde. Bei den im Falle der Thrombozytopenie auftretenden Symptomen handle es sich zunächst um funktionell kaum beeinträchtigende Auffälligkeiten, wie etwa eine verstärkte Regelblutung oder kleine Einblutungen an der Haut. Derartige Symptome würden, so das SG, die meisten Menschen nicht veranlassen, sofort zum Arzt zu gehen, weil sie diese als harmlos ansähen und weil auch auf Grund von fehlenden Schmerzen, fehlendem Krankheitsgefühl etc. kein dringender Anlass zu einem Arztbesuch bestehe. Vor diesem Hintergrund hat das SG die Auffassung vertreten, dass die Beweisanforderungen an den Nachweis der Primärschädigung nicht überspannt werden dürften. Bemerkenswert sei auch, dass nur in wenigen Fällen der Zusammenhang zwischen einer Autoimmunerkrankung und einer Impfung konkret nachgewiesen habe werden können, aber gerade zwischen einer Idiopathischen Thrombozytopenie und einer Masernimpfung nach einem Urteil des BayLSG vom 28.07.2011 (Az. L 15 VJ 8/09).

Schließlich hat das SG dargelegt, dass es von einem GdS von 30 überzeugt sei und hat hierbei auf die Bewertung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG), Anlage 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung, in Teil B, Ziff. 16.7 verwiesen.

Am 07.12.2016 hat der Beklagte gegen das Urteil Berufung zum BayLSG eingelegt und gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG beantragt, die Vollstreckung aus dem Urteil durch einstweilige Anordnung auszusetzen.

Zur Begründung hat er hervorgehoben, es sei letztlich nur Spekulation, dass Adjuvantien (Aluminimumverbindungen) zu unerwünschten immunologischen Reaktionen führen und in Einzelfällen sogar Autoimmunerkrankungen auslösen könnten; es gebe keine Studie, die von den weltweit maßgeblichen medizinisch-wissenschaftlichen Institutionen als glaubhafte Studienergebnisse gewertet würde, die einen solchen ursächlichen Zusammenhang bestätigen würden.

Weiter hat der Beklagte auf die Sachverständigengutachten von Prof. Dr. K. und Prof. Dr. O. und die dortige Argumentation mit dem zeitlichen Ablauf verwiesen. Widersprüchlich sei insoweit auch der Tenor des angefochtenen Urteils: Einerseits werde davon ausgegangen, dass die ersten Zeichen der Thrombozytopenie bereits ab April 2012 aufgetreten seien, andererseits werde der Nachweis aber erst ab August 2012 gesehen. Konsequenterweise hätte man (wegen des daraus folgenden Heilbehandlungsanspruchs) dann bereits ab April 2012 die Schädigungsfolge Thrombozytopenie nach dem IfSG anerkennen müssen, auch wenn ein hieraus resultierender GdS erst später eintrete.

Außerdem liege schon gar kein rentenberechtigender GdS von 30 vor. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 27.11.2013 nach dem SGB IX sei ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt worden, der jedoch nicht mit dem Gesamt-GdS gleichgesetzt werden könne, da die als Blutgerinnungsstörung bezeichnete Thrombozytopenie zeitlich nach dem im angefochtenen Urteil genannten Zeitpunkt bestandskräftig mit einem Einzel-GdB von nur 20 bewertet sei. (Mit Beschluss vom 25.01.2017 hat der Senat die Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil des SG abgelehnt (Az. L 15 VJ 8/16 ER).)

Mit Schriftsatz vom 20.12.2016 hat die Klägerin die Zurückweisung der Berufung beantragt und erneut hervorgehoben, dass sich die ersten Anzeichen einer negativen Reaktion auf den Impfstoff nicht erst Monate nach der Impfung, sondern bereits kurze Zeit danach gezeigt hätten. Zudem sei die Erkrankung eine bekannte Nebenwirkung des Impfstoffs. Eine Bindung des SG an die GdB-Feststellung bestehe nicht.

Im Erörterungstermin des Senats vom 31.07.2018 hat die Klägerin folgende Angaben gemacht:

„Ab April 2012 habe ich verstärkte Regelblutungen bemerkt, die durchgehend jedenfalls bis August 2012 bestanden. Zusätzlich habe ich rote Pünktchen an meinen Oberarmen und an meinem Bauch bemerkt, von denen ich allerdings angenommen habe, dass sie von der Neurodermitis kämen. Diese Pünktchen sind dann geblieben, erst im August haben sie sich verstärkt.“

Weiter hat sie darauf hingewiesen, dass sich bei der Untersuchung im August 2012 gezeigt habe, dass ihr Körper bereits auf die Thrombozytopenie reagiert habe, was sich aus dem Bericht des Klinikums P. vom 13.08.2012 ergebe. Ansonsten gebe es jedoch, so die Klägerin, keine Nachweise für die bemerkten Reaktionen, insbesondere auch keine Arztberichte. Die Abrasio habe ca. 2007 stattgefunden. Das vermehrte Schwitzen, die Sehstörung und gelegentlicher Schwindel seien erst nach der Kortisonbehandlung, also im August 2012 aufgetreten.

Hinsichtlich der „Langzeitwirkungen“ der Thrombozytopenie hat die Klägerin erklärt, schnell erschöpft zu sein und bei Infekten vermehrte Einblutungen zu bemerken. Die leichte Erschöpfbarkeit schlage sich auch auf die Psyche. Seit 2014 sei sie ca. alle drei bis vier Monate beim Hausarzt zur Blutkontrolle gewesen, in den Jahren zuvor noch öfter. Sie habe (neben Kolostrum) nicht regelmäßig Medikamente eingenommen. Allerdings habe sie im Fall einer zu geringen Thrombozytenzahl Kortison eingenommen, was ca. einmal im Jahr der Fall gewesen sei; für Notfälle habe sie auch immer das Medikament Dexamethason dabei.

In einer weiteren Stellungnahme ist von der Klägerseite erneut auf das Gutachten von Dr. H. eingegangen worden. Dieser habe sich auch zu möglichen Alternativursachen durch die diagnostizierte Helicobacter pylori-Infektion geäußert. Klägerseits werde daher davon ausgegangen, dass diese Infektion nicht Ursache der ITP sei, sondern dass „vielmehr Helicobacter pylori-Infektion eine Begleiterscheinung der ITP“ sei. Im Rahmen der Amtsermittlung sei eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. H. zu der Frage, ob als Alternativursache für die bei der Klägerin bestehende ITP die diagnostizierte Helicobacter-Infektion in Frage komme oder ob die Havrix(r) 1440-Impfung vom 13.03.2012 der hinreichend wahrscheinliche Auslöser der ITP-Erkrankung der Klägerin sei, einzuholen. Weiter hat die Klägerseite betont, dass die vom 15. Senat wiederholt angenommene Beweiserleichterung hinsichtlich des Nachweises der Primärschädigung gerade im Lichte von nach Impfungen auftretenden Autoimmunerkrankungen sachgerecht und nicht zu beanstanden sei. Entgegen der Einschätzung des 20. Senats des BayLSG widerspreche diese Sichtweise auch nicht dem Willen des Gesetzgebers und verstoße somit auch nicht gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz. Schließlich hat die Klägerseite unter anderem nochmals darauf hingewiesen, dass der Krankheitsverlauf der Klägerin für eine ITP-Erkrankung typisch schleichend verlaufen sei. Auf Grund der Auswirkung der ITP in allen Lebensbereichen der Klägerin sei ein GdS in Höhe von 30 zustandsgerecht. In dem Schriftsatz hat der Klägerbevollmächtigte auch die Leitlinie zur ITP, Empfehlungen der Fachgesellschaft zur Diagnostik und Therapie hämatologischer und onkologischer Erkrankungen, vorgelegt. Zahlreiche Publikationen, so der Text der Leitlinie, beschrieben eine Assoziation zwischen ITP und Helicobacter pylori-Infektionen der Magenschleimhaut.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 25.09.2018 ist darauf hingewiesen worden, dass das Gericht keine sachverständige Stellungnahme von Prof. Dr. O. oder Dr. H. mehr einholen werde und dass auch einem Antrag gemäß § 109 SGG, da das Antragsrecht bereits verbraucht sei, nicht nachgekommen werden würde. Dr. H. habe bereits selbst zur Frage der Alternativursache bezüglich der Helicobacter-Infektion Stellung genommen.

In den versorgungsmedizinischen Stellungnahmen des Internisten Dr. B. vom 06.09.2018 und 18.10.2018 ist bestätigt worden, dass differenzialdiagnostisch die Helicobacter pylori-Infektion als wahrscheinliche Ursache für die ITP in Betracht gezogen werden müsse, da diese bei der Klägerin auch sicher nachgewiesen sei. Zum anderen ist unter anderem auf den bronchialen Infekt der Klägerin vom 05.01.2012 als mögliche(r) Trigger und Ursache der ITP hingewiesen worden.

Mit Schreiben vom 29.10.2018 haben die Beteiligten sodann gerichtliche Hinweise erhalten. Auf die Anfrage des Gerichts hat die Klägerin am 21.11.2018 erklärt, dass ihrerseits Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren bestehe, wenn auch der Antrag, eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. H. einzuholen, aufrechterhalten werde. Am 06.11.2018 hat der Beklagte sein Einverständnis erklärt und dieses am 12.03.2019 wiederholt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Oktober 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. H. einzuholen, ob als Alternativursache für die bei der Klägerin bestehende ITP die diagnostizierte Helicobacter-Infektion in Frage kommt oder ob die Havrix(r) 1440-Impfung vom 13.03.2012 der hinreichend wahrscheinliche Auslöser der ITP-Erkrankung der Klägerin ist.

Der Senat hat die erstinstanzliche Akte des SG sowie die Impfschadensakte des Beklagten zum Verfahren beigezogen, auf deren Inhalt sowie auf den Inhalt der streitgegenständlichen Berufungsakte im Übrigen zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen wird. Sämtlicher Inhalt war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Gründe

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG.

Die zulässige Berufung ist begründet.

Das SG hat zu Unrecht der Klage entsprochen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung der Idiopathischen Thrombozytopenie als Folge der am 13.03.2012 erfolgten Impfung mit dem Impfstoff Havrix(r) 1440 gegen Hepatitis A und auf Gewährung einer Versorgungsrente (nach einem GdS von 30) ab 01.08.2012.

Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 22.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.02.2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG liegen nicht vor, weil es vorliegend schon am Nachweis des Primärschadens, also einer Impfkomplikation, fehlt. Zudem ist auch keine Kausalität gegeben.

1. Das Begehren der Klägerin beurteilt sich nach dem IfSG, weil der Antrag vom 20.02.2013 zu einem Zeitpunkt gestellt worden ist, als das - das Bundesseuchengesetz ohne Übergangsvorschrift ablösende (vgl. Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften vom 20.07.2000, BGBl. I, S. 1045) - IfSG (seit dem 01.01.2001) in Kraft war (vgl. BSG, Urteil vom 20.07.2005 - B 9a/9 VJ 2/04 R).

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, gesetzlich vorgeschrieben war oder auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.

Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Die Anerkennung als Impfschaden setzt eine dreigliedrige Kausalkette voraus (ständige Rspr., vgl. BSG, z.B. Urteile vom 25.03.2004 - B 9 VS 1/02 R, und vom 16.12.2014 - B 9 V 3/13 R, und das Urteil des Senats v. 11.07.2017 - L 15 VJ 6/14, m.w.N.): Ein schädigender Vorgang in Form einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), muss zu einer „gesundheitlichen Schädigung“ (2. Glied), also einem Primärschaden (d.h. einer Impfkomplikation) geführt haben, die wiederum den „Impfschaden“, d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also den Folgeschaden (3. Glied) bedingt.

Diese drei Glieder der Kausalkette müssen - auch im Impfschadensrecht - im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteile vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - und vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R; BayLSG, Urteil vom 25.07.2017 - L 20 VJ 1/17; Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2014 - L 1 VE 12/09; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.2016 - L 13 VJ 19/15). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92).

a. In seiner früheren Rspr. hat der Senat im Ergebnis auf das Erfordernis des Vollbeweises beim Primärschaden verzichtet (Urteil vom 31.07.2012 - L 15 VJ 9/09) und dazu u.a. ausgeführt:

„Es wäre allerdings realitätsfremd, in jedem impfschadensrechtlichen Fall zu verlangen, es müsse eine deutlich wahrnehmbare und fixierbare Primärschädigung festgestellt werden. Allgemein dient die Dreigliedrigkeit dazu, bestimmte Geschehnisabläufe bereits auf einer Vorstufe der Prüfung „auszusondern“ und das Fehlen kausaler Zusammenhänge leichter erkennen zu können. Je mehr sich die Kausalitätsprüfung in gedankliche Zwischenschritte „zerlegen“ lässt, desto objektivierbarer kann der Geschehnisablauf rechtlich aufgearbeitet werden (vgl. Kunze, Kausalität in der gesetzlichen Unfallversicherung, VSSR 2005, S. 299 <302>). Diese Differenzierung ist aber dann nicht möglich, wenn die Schädigung, also der (erste) Eingriff in das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, nicht deutlich zu Tage tritt, sondern wie hier im Verborgenen erfolgt (a.A. wohl Meßling in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 60 IfSG, Rn. 62). Zweifellos ist in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung schwieriger, weil sich der Verursachungspfad nicht klar abzeichnet. Dennoch darf nicht per se wegen der Nichterkennbarkeit einer Primärschädigung am Rechtsgut der körperlichen Gesundheit die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs negiert werden. Vielmehr muss der Zusammenhang zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen „Etappe“ beurteilt werden (vgl. LSG Bayern, Breithaupt 2012, S. 51 <56>).“

b. An dieser Rechtsprechung hält der Senat mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben und die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht mehr fest (vgl. das Urteil des Senats vom 11.07.2017 - L 15 VJ 6/14, in dem die Frage ausdrücklich offen gelassen wurde). So geht das BSG in ständiger Rechtsprechung (vgl. z.B. den Beschluss vom 29.01.2018 - B 9 V 39/17 B) davon aus, dass der Primärschaden im Vollbeweis nachgewiesen sein muss. Es hat hierzu im Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, Folgendes ausgeführt:

„Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr. 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm. 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.“

Wie der 20. Senat des BayLSG festgestellt hat (Urteil vom 25.07.2017 - L 20 VJ 1/17) entspricht dies auch der Rechtsprechung im wesensverwandten Rechtsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung. Auch dort ist der Nachweis des unmittelbar nach dem schädigenden Vorgang vorliegenden Gesundheitsschadens, dort auch „Erstschaden“ genannt, im Vollbeweis zu führen (Urteile des BSG vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R - und B 2 U 23/11 R: „Die den Versicherungsschutz in der jeweiligen Versicherung begründende ´Verrichtung´, die (möglicherweise dadurch verursachte) ´Einwirkung´ und der (möglicherweise dadurch verursachte) ´Erstschaden´ müssen (vom Richter im Überzeugungsgrad des Vollbeweises) festgestellt sein“).

Der Senat sieht entsprechend der Rechtsprechung des BSG und des 20. Senats des BayLSG eine „irgendwie geartete Beweiserleichterung beim Primärschaden“, eine Beurteilung „des Zusammenhangs zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen Etappe“ anhand von „Mosaiksteinen“, die den Nachweis des Primärschadens im Vollbeweis als „realitätsfremd“ und damit verzichtbar erscheinen lassen würden, als nicht angezeigt an. Die Anerkennung eines Impfschadens unter reduzierten Beweisanforderungen zu ermöglichen, bliebe dem Gesetzgeber vorbehalten; hierzu müssten die gesetzlichen Vorgaben geändert werden.

Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Regeln der Beweislast zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs auf ihr Vorliegen stützt.

Demgegenüber reicht es für den zweifachen ursächlichen Zusammenhang der drei Glieder der Kausalkette nach § 61 Satz 1 IfSG aus, wenn dieser jeweils mit Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Die Beweisanforderung der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - in Aufgabe der früheren Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 24.09.1992 - 9a RV 31/90, die für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität noch den Vollbeweis vorausgesetzt hat) als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.

Eine potentielle, versorgungsrechtlich geschützte Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977 - 10 RV 15/77), also mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSG, Urteile vom 19.08.1981 - 9 RVi 5/80, vom 26.06.1985 - 9a RVi 3/83, vom 19.03.1986 - 9a RVi 2/84, vom 27.08.1998 - B 9 VJ 2/97 R - und vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort „hinreichend“ nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rdnr. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 26.11.1968 - 9 RV 610/66, und vom 07.04.2011, a.a.O.).

Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der versorgungsrechtlichen Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 08.08.1974 - 10 RV 209/73) rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Während die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (vgl. z.B. BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - und vom 30.01.2007 - B 2 U 8/06 R) demgegenüber den Begriff der „annähernden Gleichwertigkeit“ für nicht geeignet zur Abgrenzung hält, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich ansieht, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von überragender Bedeutung ist, hat der für das soziale Entschädigungsrecht zuständige 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.12.2014 (B 9 V 6/13 R) zur annähernden Gleichwertigkeit festgelegt, dass diese dann anzunehmen ist, wenn eine vom Schutzbereich des BVG umfasste Ursache in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen. Die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinn als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, ist im jeweiligen Einzelfall aus der Auffassung des praktischen Lebens abzuleiten (vgl. BSG, Urteil vom 12.06.2001 - B 9 V 5/00 R).

Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsschäden zu erfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R).

Kann eine Aussage zu einem (hinreichend) wahrscheinlichen Zusammenhang nur deshalb nicht getroffen werden, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kommt die sogenannte Kannversorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG in Betracht. Von Ungewissheit ist dann auszugehen, wenn es keine einheitliche, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG von der Beurteilung auf dem Boden der „Schulmedizin“ (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.1998 - B 9 VJ 2/97 R). Aber auch bei der Kannversorgung reicht allein die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das BSG spricht hier auch von der „guten Möglichkeit“ eines Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 12.12.1995 - 9 RV 17/94 - und vom 17.07.2008 - B 9/9a VS 5/06). In einem solchen Fall liegt eine Schädigungsfolge dann vor, wenn bei Zugrundelegung der wenigstens einen wissenschaftlichen Lehrmeinung nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nachgewiesen ist (vgl. Bayer. LSG, Urteile vom 19.11.2014 - L 15 VS 19/11, vom 21.04.2015 - L 15 VH 1/12, vom 15.12.2015 - L 15 VS 19/09 - und vom 26.01.2016 - L 15 VK 1/12). Existiert eine solche Meinung überhaupt nicht, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein, dass ein Zusammenhang nicht hergestellt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.1993 - 9/9a RV 41/92).

Lässt sich der Zusammenhang nicht (hinreichend) wahrscheinlich machen und auch nicht über die Kannversorgung herstellen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf das Vorliegen des Zusammenhangs stützen möchte, also des Anspruchsstellers. Das BSG hat in seiner jüngsten Rechtsprechung Beweiserleichterungen auch in den Fällen besonders schwieriger Nachweiserbringungen (wie hinsichtlich der Blindheit bei zerebralen Schäden) eine eindeutige Absage erteilt (vgl. z.B. Urteil vom 14.06.2018 - B 9 BL 1/17 R).

2. Unter Anwendung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall schon der Primärschaden nicht nachgewiesen. Darauf, dass es (auch) hierauf ankommt, hat der Senat die Klägerin im Übrigen bereits im Erörterungstermin vom 31.07.2018 hingewiesen, was der Bevollmächtigte in seinem Schriftsatz vom 18.09.2018 bestätigt hat.

Zu konkretisieren bleibt, was im vorliegenden Fall für den Nachweis des Primärschadens zu verlangen ist.

a. Nach der oben genannten Definition geht es dabei um eine gesundheitliche Schädigung als 2. Glied der Kausalkette, also um einen Primärschaden (Impfkomplikation), die, um einen Zusammenhang zu vermitteln, die dauerhafte gesundheitliche Schädigung (also den Folgeschaden) bedingen muss. Als Schädigung in diesem Sinne anzusehen ist - entsprechend den insoweit nachvollziehbaren Darlegungen des Sachverständigen Dr. H., der im Einzelnen zur Entstehung der ITP ausgeführt hat - somit die Bildung von Antikörpern gegen die körpereigenen Thrombozyten. Folglich ist ein Auftreten der Blutung bzw. der Einblutungen nicht der Primärschaden, weil diese nur das Zeichen bzw. die Folge der gegen Epitope gebildeten Antikörper sind, jedoch nicht die dauerhafte gesundheitliche Schädigung (3. Glied) bedingen können. Ein Primärschaden ist also vorliegend nicht nachgewiesen, da eine Bildung von Antikörpern vor August 2012 in keinem Fall belegt ist.

b. Andererseits ist jedoch auch denkbar, den Begriff des Primärschadens weiter zu definieren, nämlich als „denjenigen Schaden, der sich als direkte Folge aus der Impfung ergibt“ (vgl. z.B. Meßling, in: Knickrehm, a.a.O., Rn. 62) darunter auch all die Reaktionen zu berücksichtigen, die „über das übliche Maß einer Folgereaktion“ hinausgehen (a.a.O.), und somit auch äußere Anzeichen genügen zu lassen.

Doch auch danach ist vorliegend ein Primärschaden nicht nachgewiesen. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem plausiblen und überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. O. und dem gesamten insoweit in Übereinstimmung stehenden ärztlichen Befundberichten und ferner aus dem vom Beklagten eingeholten Gutachten von Prof. Dr. K.. Der Senat macht sich nach eigener Prüfung diese sachverständigen Feststellungen zu eigen.

Nach der plausiblen Feststellung von Prof. Dr. O. liegt bei der Klägerin eine ITP, Morbus Werlhof, vor. Die Beschwerden im Sinne erhöhter Blutungsneigung, Hämatomen und Petechien, wie am 07.08.2012 festgestellt, sind eindeutig auf diese Diagnose zurückzuführen.

Ein erstmaliges Auftreten von Antikörpern, Petechien und verstärkten Regelblutungen im August 2012 stellt aufgrund des zu großen zeitlichen Abstands zur Impfung keine Impfkomplikation dar. Wie sich aus der gesamten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats ergibt, ist der Abstand von weit über 42 Tagen zu groß. Als plausibles Zeitintervall für die von der Klägerin vorgetragene pathologischen Immunreaktion nach Impfstoffanwendung sieht der Senat danach einen Zeitraum bis maximal 42 Tagen an. Selbst Dr. H. verweist auf dieses Intervall unter Bezugnahme auf entsprechende Annahmen des Paul-Ehrlich-Instituts (Seite 18 des Gutachtens) und bezeichnet lediglich die weitere Definition durch einzelne Autoren als plausibel, ohne dies jedoch näher zu begründen.

Dass jedoch schon früher Symptome aufgetreten wären, ist entsprechend den fundierten Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. O. nicht nachgewiesen. Das von der Klägerin behauptete Auftreten bereits ca. zwei Wochen nach der Impfung wäre nicht mit der Tatsache vereinbar, dass es dann danach zu einem plötzlichen und anhaltenden Sistieren der Blutungszeichen bzw. zum Verschwinden der Thrombozytopenie bis 07.08.2012 gekommen wäre, was medizinisch-wissenschaftlich kaum so gut wie nicht erklärbar wäre. Wie der Sachverständige nachvollziehbar festgestellt hat, hätte die Thrombozytopenien als Ursache der von der Klägerin benannten Beschwerden (starke Regelblutungen sowie Petechien) eigentlich schon vor der Impfung auftreten müssen, um die von der Klägerin behauptete erhöhte Blutungsneigung bereits Ende März 2012 zu verursachen.

Insbesondere hat die Klägerin selbst bestätigt, dass es keine objektiven Nachweise dafür gibt, dass Blutungszeichen bereits kurze Zeit nach der Impfung, d.h. bereits Ende März/Anfang April 2012 aufgetreten sind. Davon abgesehen, dass nicht ausgeschlossen erscheint, dass die verstärkte Regelblutung auch auf anderen - gynäkologischen - Ursachen beruhen könnte, konnten die verstärkte Regelblutung und auch die anderen Einblutungen weder von anderen Personen bestätigt noch sonst objektiviert werden. Vielmehr geht aus dem Untersuchungsbericht des Klinikums P. vom 13.08.2012 hervor, dass die Klägerin nur von aktuellen verstärkten Blutungszeichen berichtet hat, was gerade gegen ein Auftreten der Beschwerden bereits vier Monate zuvor spricht. Im Übrigen ist das lange Zuwarten der Klägerin auch nicht, wie von ihr dargestellt, mit der irrigen Annahme anderer Gesundheitsstörungen erklärbar. Dass die Klägerin erst vier Monate später (im August) überhaupt ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hat und erst im September 2012 einen Frauenarzt aufgesucht hat, auf der anderen Seite aber (in der Widerspruchsbegründung) ausdrücklich sogar „sehr starke Regelblutungen“ bereits kurz nach der Impfung angegeben hat, die sich „zunehmend verschlechtert“ hätten, und deutliche Einblutungen wahrgenommen haben will, erscheint kaum nachvollziehbar.

Wie zudem der Beklagte durch den Internisten Dr. B. (s.o.) plausibel dargelegt hat, wäre bei der Klägerin im Falle der angegebenen „sehr starken“ Regelblutungen ein erniedrigter Hämoglobinwert zu erwarten gewesen; trotz der von der Klägerin (z.B. im o.g. Erörterungstermin) behaupteten über Monate hinweg bestehenden diesbezüglichen Beschwerden und auch der Petechien, lag dieser Wert Anfang/Mitte August 2012 jedoch noch im Normbereich (s. Anlage zum Ärztlichen Bericht des Klinikums P. v. 13.08.2012); ein Hämoglobinabfall trat nicht ein.

Im Übrigen sind die Angaben der Klägerin bzgl. der aufgetretenen Beschwerden auch nicht konsistent.

So hat die Klägerin in ihrem Antrag auf Versorgung angegeben, ab Juli 2012 Petechien und Hämatome bemerkt zu haben. Im Erörterungstermin des Senats hat sie dagegen erklärt, bereits ab April 2012 rote Pünktchen (an Oberarmen und Bauch) wahrgenommen zu haben, die dann geblieben seien und sich erst später verstärkt hätten. In der Klagebegründung wiederum ist formuliert worden, dass sich die kurz nach der Impfung auftretenden Beschwerden zunehmend verschlechtert hätten, was auf eine eher bald beginnende, kontinuierliche Verschlechterung schließen lassen dürfte.

Die Beschwerden vermehrtes Schwitzen, Verschlechterung des Sehvermögens und gelegentlicher Schwindel hat die Klägerin in ihrer Widerspruchsbegründung als Grund dafür angegeben, dass sie dann (im August 2012) ärztliche Hilfe in Anspruch genommen habe. Im Erörterungstermin hat sie dagegen ausdrücklich berichtet, dass diese Beeinträchtigungen erst nach der Behandlung (mit Kortison) im August 2012 aufgetreten seien.

Soweit der gem. § 109 SGG beauftragte Sachverständige Dr. H. in seinem Gutachten feststellt, dass ab April 2012 verstärkte Regelblutungen aufgetreten seien und dass die Klägerin zu dieser Zeit auch die ersten petechialen Blutungen bemerkt habe (und dass der Ausprägungsgrad dieser frühen Blutungen nicht dokumentiert sei), kann der Senat nur feststellen, dass der Gutachter keinerlei objektiven Belege hierfür nennt und sich letztlich ausschließlich auf die Angaben der Klägerin verlässt.

Auch hinsichtlich des fraglichen Zeitintervalls ist nach Auffassung des Senats dem Sachverständigen Dr. H. nicht zu folgen. Wenn er feststellt, dass eine ITP mit Erscheinungen wie bei der Klägerin beginnen und erst nach Monaten zu schweren Blutungen führen könne und dass ein solcher Verlauf in keiner Weise für eine Autoimmunerkrankung ungewöhnlich sei und dass das etwa zweiwöchige Intervall zwischen Impfung und Auftreten der ersten Einblutungen eine durch die Impfung ausgelöste ITP nicht unwahrscheinlich mache, ist festzustellen, dass dies den Senat nicht überzeugen kann. Denn abgesehen davon, dass der Sachverständige insoweit keinerlei Beleg liefert, trifft er auch den Fall der Klägerin nicht, da diese - wie dargelegt - u.a. gerade angegeben hat, dass bereits kurze Zeit nach der Impfung sehr starke Blutungen erfolgt seien.

Auch wenn also nicht in vollem Umfang ausgeschlossen werden kann, dass entsprechende Krankheitsphänomene bei der Klägerin (bereits) zeitnäher zur angeschuldigten Impfung aufgetreten sein könnten, ist dies nach Überzeugung des Senats insbesondere unter Bezugnahme auf das plausible Sachverständigengutachten von Prof. Dr. O. bei Weitem nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen.

3. Selbst wenn man, wovon der Senat wie ausführlich dargelegt nicht ausgeht, einen Primärschaden annehmen würde, wäre die Anerkennung eines Impfschadens vorliegend dennoch nicht möglich. Denn die bei der Klägerin vorliegende ITP ist zur Überzeugung des Senats nicht mit Wahrscheinlichkeit im o.g. Sinn auf die Impfung mit dem Impfstoff Havrix(r) 1440 zurückzuführen. Auch dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere aus dem überzeugenden Sachverständigengutachten von Prof. Dr. O. und auch aus dem Gutachten von Prof. Dr. K..

a. Der Senat verkennt nicht, dass die bei der Klägerin vorliegende Krankheit durchaus eine mögliche Nebenwirkung des Impfstoffs darstellt. Dies erlaubt jedoch nicht den zwingenden Rückschluss darauf, dass eine andere Ursache nicht in Betracht käme. Denn auch die Anführung einer Erkrankung unter den Nebenwirkungen in Medizinprodukte-Informationen wie dem Beipackzettel eines Impfstoffs lässt keineswegs den Rückschluss zu, dass ein Kausalzusammenhang (gesichert) besteht (z.B. Friedrich/ Friedrich, Kausalzusammenhang zwischen Impfungen und multipler Sklerose, ZESAR 2017, 491 <403>, m.w.N.).

b. Vor allem ergibt sich aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme für den Senat, dass die Verursachung der ITP durch die Helicobacter pylori-Infektion - ungeachtet der weiteren denkbaren Assoziationen zwischen der ITP und der Infektion - wahrscheinlich ist. Der Senat geht davon aus, dass insoweit - entsprechend dem Hinweis von Dr. H. - im Unklaren bleibt, wann die Infektion genau stattgefunden hat. Wie oben dargelegt, gilt anderes jedoch auch nicht für die aufgetretenen Blutungszeichen etc. Während der genannte Sachverständige im Hinblick auf die Impfkomplikation anscheinend aus einem großzügigen Blickwinkel argumentiert, rückt er den zeitlichen Zusammenhang bzgl. der genannten Infektion in den Mittelpunkt; eine unterschiedliche Betrachtungsweise, die aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse jedoch nicht gerechtfertigt ist. Vor allem hält der Senat die Argumentation des Sachverständigen nicht für vertretbar, dass unklar bleibe, ob die Helicobacter pylori-Infektion zum Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens von verstärkten Blutungen und Petechien bereits vorgelegen habe, die „zweite Hepatitis A-Impfung jedoch gesichert“ sei. Denn damit wird der Blick von dem eigentlichen Problem abgelenkt, dass nämlich gerade der Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens der Gesundheitsstörungen unklar bleibt und alles andere als sicher ist. Aus Sicht des Senats besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Infektion, die - wie Dr. B. in der Stellungnahme am 06.09.2018 plausibel hervorgehoben hat - sehr häufig unbemerkt verläuft und mit wenigen bzw. unspezifischen Beschwerden auf sich aufmerksam macht, „zeitlich passend“ vorgelegen hat und die Ursache für die Gesundheitsstörungen der Klägerin ist. Weshalb die Helicobacter pylori-Infektion keine tragfähige konkurrierende Ursache darstellen sollte, wie das SG ausgeführt hat, erschließt sich dem Senat mit Blick auf die durchgeführte Beweisaufnahme nicht.

c. Weiter erscheint auch denkbar, dass, worauf der Beklagte nachvollziehbar hingewiesen hat, der bronchiale Infekt der Klägerin Anfang Januar 2012 zur Triggerung und Entstehung der ITP beigetragen hat.

d. Schließlich gelingt der Kausalitätsnachweis auch nicht durch den von Dr. H. erbrachten Hinweis auf angeblich schädigende Wirkungen des Adjuvans Aluminium. Bei Zusatzstoffen, die Aluminium enthalten, handelt es sich um minimale Mengen. Impfbedingte neurologische Schadensvermutungen beim Menschen sind (bisher) reine Spekulation (vgl. Urteil des BayLSG vom 18.05.2017 - L 20 VJ 5/11 mit Verweis auf LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.05.2016 - L 4 VJ 1/14; siehe hierzu auch die Senatsurteile vom 14.02.2012 - L 15 VJ 3/08 - und 28.07.2011 - L 15 VJ 8/09). Im Vergleich zur Aufnahme über Trinkwasser, Lebensmittel oder Antazida ist die Aufnahme von Aluminium mit Adjuvantien in Impfstoffen gering. Sie liegt deutlich unter dem TDI-Wert (tolerable daily intake) für Aluminium, der Menge, die täglich ein Leben lang ohne gesundheitsschädliche Wirkung aufgenommen werden kann (a.a.O.). Die vom Paul-Ehrlich-Institut vorgenommene und im Bulletin zur Arzneimittelsicherheit (Ausgabe 3, September 2015) veröffentlichte aktuelle Sicherheitsbewertung, die eine mögliche Verursachung von Impfschäden durch Aluminiumverbindungen als Adjuvantien in Impfstoffen zum Gegenstand hat, ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es aus klinischen Studien und aus der Spontanerfassung von Nebenwirkungen in Deutschland kein Signal zu aluminiumbedingter Toxizität nach Impfungen gibt: „Kumulative Vergleichsberechnungen zeigen, dass die systemische Exposition durch die in Deutschland empfohlenen aluminiumhaltigen Impfungen in den ersten beiden Lebensjahren im Bereich der tolerierbaren Aufnahme durch die Nahrung liegt. Der Beitrag von Impfungen zur geschätzten lebenslangen Nettoakkumulation von Aluminium im Organismus ist im Vergleich zur kontinuierlichen Aufnahme von Aluminium aus anderen Quellen gering und vor dem Hintergrund des Nutzens der Impfungen als vertretbar einzustufen. Es sind keine wissenschaftlichen Analysen bekannt, die eine Gefährdung von Kindern oder Erwachsenen durch Impfungen mit aluminiumhaltigen Adjuvantien zeigen.“

e. Im Übrigen kann das Gutachten von Dr. H. bereits deshalb nicht überzeugen, weil dieser die Wahrscheinlichkeit der Verursachung der Gesundheitsstörungen durch die angeschuldigte Impfung anhand der WHO-Kriterien geprüft und, wie aus seinem Gutachten deutlich wird, nicht die oben dargelegten für den Senat verbindlichen Grundsätze des Versorgungsrechts angewandt hat. Es bleibt auch im Einzelnen nicht nachvollziehbar, ob und inwieweit seine Beurteilung den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Inwieweit die von ihm verwendeten Kriterien den „Goldstandard“ zur wissenschaftlichen Kausalitätsbewertung darstellen, wie Dr. H. meint, ist somit nicht von Belang.

Auch nach sorgfältiger Prüfung der Sach- und Rechtslage unter eingehender Würdigung der vom einzigen Gutachter, der im Sinne der Klägerin zu einem positiven Ergebnis kommt, aufgezeigten Aspekte, kann der Senat vorliegend keine belastbaren Anhaltspunkte dafür erkennen, dass die Verursachung der Immunthrombozytopenie durch die Impfung überwiegend wahrscheinlich wäre.

4. Im Übrigen ist ein Anwendungsbereich der Kannversorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG nicht gegeben, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. Es ist hier gerade nicht so, dass über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit bestehen würde, weil es insoweit keine einheitliche, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen geben würde. Vielmehr hält die medizinische Wissenschaft eine Verursachung der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung durch die angeschuldigte Impfung durchaus für möglich, was jedoch auch für die alternative Ursache der Helicobacter pylori-Infektion gilt. Unklar ist vorliegend also nicht, ob durch die Impfung der Gesundheitsschaden entstehen kann, sondern, welche der möglichen Ursachen im konkreten Fall ausschlaggebend gewesen sind.

5. Zu weiteren Ermittlungen bestand kein Anlass und erst recht keine verfahrensrechtliche Pflicht. Auch in diesem (schwierigen) Fall des Nachweises eines Impfschadens - einem Gebiet, auf dem sich bekanntermaßen oftmals fachliche Positionen diametral gegenüberstehen und in dem zu wissenschaftlichen Argumenten oftmals auch weltanschauliche Ansichten hinzu kommen und schließlich die Auseinandersetzungen auch mit hoher Emotionalität geführt werden - sieht sich der Senat veranlasst, vorsorglich darauf hinzuweisen, dass es nicht Sinn eines Gerichtsverfahrens ist, ausschließlich die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen Position zu beziehen (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.1997 - 1 RK 28/95). Der Sachverhalt ist soweit möglich aufgeklärt. Vor allem hat die Klägerseite weitere Belege zur Frage des genauen Auftretens der Blutungen etc. nicht in Aussicht gestellt. Auch war dem Antrag der Klägerin auf Einvernahme des Sachverständigen Dr. H. im Wege der Amtsermittlung nicht nachzukommen. Dieser wird vielmehr abgelehnt. Denn die Klägerseite hat keine objektiv sachdienlichen schriftlichen Fragen, sondern im Schriftsatz vom 21.11.2018 lediglich solche allgemeinen Fragen angekündigt bzw. gestellt, die Dr. H. bereits beantwortet hat (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/ Schmidt, a.a.O., § 118, Rdnr. 12 f). Demgegenüber hätte die Klägerin jedoch besonders detaillierte und differenzierte Fragen vortragen müssen. Denn je mehr Aussagen von Sachverständigen zum Beweisthema bereits vorliegen, desto genauer muss der Beweisantragsteller auf mögliche Unterschiede und Differenzierungen etc. eingehen (vgl. z.B. Beschluss des BSG vom 16.02.2017 - B 9 V 48/16 B). Dies ist hier nicht erfolgt.

Auf die Höhe des von Dr. H. (und letztlich vom SG) auf 30 festgesetzten GdS kommt es damit nicht an. Nach überschlägiger Prüfung hätte der Senat jedoch starke Bedenken, dass ein GdS von 30 überhaupt erreicht würde.

Nach alldem hat die Berufung somit Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Anerkennung der o.g. Schädigungsfolge und die Zahlung einer Beschädigtenrente durch den Beklagten.

Das Urteil des SG ist aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 22.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.02.2014 abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.