Verwaltungsgericht Köln Urteil, 23. Aug. 2016 - 7 K 4536/13
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Klägerin.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
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T a t b e s t a n d
2Die am 00.00.1965 geborene Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz (ContStiftG).
3Ihre Mutter beantragte im Dezember 1983 bei der Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“, der Klägerin Leistungen aufgrund einer Thalidomidschädigung zu gewähren. Sie gab an, ein Kopfschmerzmittel der Firma H. mit dem Anfangsbuchstaben „A“ und einem weiteren Buchstaben „g“ eingenommen zu haben. Das Präparat habe ihr der Chefarzt der I. Frauenklinik Dr. Q. als Ärztemuster gegeben. Bei ihm sei sie im Mai 1964 zur Untersuchung gewesen. Prof. Dr. M. hielt einen Thalidomidschaden für möglich. Die Fehlbildungen an den Armen seien typisch für einen Thalidomidschaden, man könne sie allerdings nicht sicher von einem vererblichen Holt-Oram-Syndrom unterscheiden. Zudem erscheine die Angabe, dass ein Arzt noch im Mai 1964 eine Probepackung des thalidomidhaltigen Schmerzmittels „Algosediv“ ausgegeben habe, fragwürdig. Die Medizinische Kommission und Prof. Dr. M. forderten vergeblich bei der Klägerin ärztliche Aufzeichnungen aus der Zeit bis 1983 mit Angaben zu einer Thalidomideinnahme, einen Geburtsbericht sowie eine Stellungnahme von Dr. Q. zu der behaupteten Abgabe eines thalidomidhaltigen Mittels an. Die Klägerin teilte mit, Dr. Q. sei bereits seit mehreren Jahren verstorben. Prof. Dr. M. führte in einem Zusatzgutachten aus, Handaufnahmen der Eltern und Geschwister der Klägerin zeigten keine Hinweise auf ein Holt-Oram-Syndrom. Das schließe freilich ein solches Syndrom bei der Klägerin als Neumutation nicht mit Sicherheit aus. Mit Bescheid vom 18.12.1985 wurden der Klägerin Leistungen auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 41 Punkten bewilligt. Dabei ging die Stiftung davon aus, dass Schäden an den oberen Extremitäten und eine leichte Entwicklungsstörung der Wirbelsäule mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung zu bringen seien. 1992 wurde die Punktzahl mit Rücksicht auf eine Kieferfehlbildung auf 48,08 erhöht.
4Im Oktober 2009 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Revisionsantrag, den sie unter anderem auf einen 2002 festgestellten und operativ behandelten Tiefstand der Kleinhirntonsillen (Arnold-Chiari-Malformation - ACM -) stützte. Laut Bericht der Neurochirurgischen Klinik O. Krankenhaus in I1. vom 16.07.2002 zeigten Kernspinaufnahmen bei der Klägerin eine ACM vom Typ I - ACM I - bedingt durch eine knöcherne Einengung des Hinterhauptlochs; dort sei der Hinterhauptknochen erheblich verdickt. Diese knöcherne Veränderung könne in Zusammenhang mit den übrigen Skelettveränderungen stehen.
5Die Beklagte legte den Antrag der Medizinischen Kommission zur Begutachtung vor. Dr. T. -I2. äußerte mit Stellungnahme vom 24.01.2010 aus internistischer Sicht, das ACM komme unabhängig von einer Thalidomideinnahme während der Schwangerschaft vor. Ein Auftreten in Zusammenhang mit Thalidomid sei ihm nicht bekannt. Da es zum Zeitpunkt der damaligen Schadenseinstufung keine aussagekräftige Bildgebung gegeben habe und ein Großteil der Merkmalsträger ohne Symptome bleibe, könne ein solcher Zusammenhang auch nicht ausgeschlossen werden.
6Dem Antrag gab die Beklagte mit Bescheid vom 04.09.2012 statt, soweit die Klägerin einen Hüftschaden und leichte Schwerhörigkeit geltend gemacht hatte und erhöhte die Gesamtpunktzahl auf 54,02 Punkte. Eine Hirnschädigung könne dagegen keine Berücksichtigung finden, weil dies nach der Diagnoseziffer 118 den Ausschluss der Schulfähigkeit voraussetze.
7Mit ihrem Widerspruch beanstandete die Klägerin, dass die ACM nicht als thalidomidbedingte Fehlbildung anerkannt worden war. Nach § 8 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinien und der unter III ihrer Anlage 2 enthaltenen Öffnungsklausel sei die ACM berücksichtigungsfähig, auch wenn sie erst im Erwachsenenalter erkannt worden und in der Punktetabelle nicht enthalten sei. Mit hoher Wahrscheinlichkeit habe diese Schädigung bereits seit Geburt bestanden. Es handle sich dabei um eine knöcherne Einengung des Hinterhauptlochs, die mit Blick auf die bei ihr unstreitig vorliegenden thalidomidbedingten Skelettveränderungen bei wirklichkeitsnaher Betrachtung ebenfalls als embryopathische Thalidomidschädigung einzustufen sei. Dass Hirnschädigungen nur bei Schulunfähigkeit Berücksichtigung fänden, während bei anderen Schäden keine Einschränkungen der Teilhabe am allgemeinen Leben gefordert würden, verstoße gegen den Gleichheitssatz. Nach § 13 ContStiftG richte sich die Höhe der Leistungen nach der Schwere des Körperschadens und der hierdurch hervorgerufenen Körperfunktionsstörungen. Hirnschäden seien auch ohne Einbuße der Schulfähigkeit schwere Körperschäden. In einem beigefügten Schreiben des Direktors der Neurochirurgischen Klinik und Polklinik der Universität N. Dr. U. vom 12.11.2012 ist ausgeführt, man könne für die ACM mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sie seit Geburt bestanden habe. Ein Beweis sei aber nur mit entsprechender Bildgebung aus dem Säuglings- und Kleinkindalter zu führen. Das Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin M1. vom 08.11.2012 stellt bei der Klägerin verschiedene Diagnosen, unter anderem die einer ACM. Diese gingen mit einer Conterganschädigung einher.
8In einem erneuten Gutachten vom 01.05.2013 kam Dr. T. -I2. zu keiner abweichenden Einschätzung. Auch wenn die ACM mit hoher Wahrscheinlichkeit bei Geburt vorgelegen habe, belege dies keinen ursächlichen Zusammenhang mit einer Thalidomidembryopathie. Dass das Syndrom bei der Klägerin mit einer erheblichen Knochenverdickung, also einem Substanzplus einhergehen solle, könne er mit dem Wirkprinzip von Thalidomid, das zu einer Wachstumshemmung führe, nicht vereinbaren. Jedenfalls weise die Datenlage keinen Fall eines Thalidomidgeschädigten mit dieser Malformation auf.
9Den Widerspruch wies die Beklagte unter Hinweis auf die gutachterliche Stellungnahme von Dr. T. -I2. mit Widerspruchsbescheid vom 19.06.2013 zurück. Der Bescheid wurde am 25.06.2013 per Einschreiben versandt.
10Die Klägerin hat am 24.07.2013 Klage erhoben.
11Zur Klagebegründung trägt sie vor, zur streitgegenständlichen Frage gebe es Hinweise auf Forschung und Literatur im englischsprachigen Raum. Die Klägerin verweist auf ein Schreiben von Dr. H1. vom 14.06.2002. Darin ist ausgeführt, er könne sich an einige Literaturangaben über Zusammenhänge zwischen ACM und Contergan erinnern, habe aber selbst keine Erfahrung damit und könne sich an keinen Fall aus seiner Befassung mit Conterganakten erinnern. Die Klägerin meint, Dr. T. -I2. habe seine ablehnende Einschätzung nicht aus medizinischen Gründen gewonnen, da er erkläre, dass die Frage, ob die knöcherne Einengung des Hinterhauptlochs auf eine Verdickung des Os occipitale zurückzuführen sei, sein embryologisches know how sprenge. Zudem wiesen mehrere medizinische Veröffentlichungen auf einen Zusammenhang zwischen Wirbelsäulenveränderungen bzw. Spina bifida und Thalidomidembryopathie hin. Da das Hinterhauptbein auf der Halswirbelsäule aufliege, sei davon auszugehen, dass thalidomidbedingte Defekte ebenso am Hinterhauptloch auftreten könnten. Zudem ragten die Kleinhirntonsillen bereits in den Spinalkanal, also in die Wirbelsäule hinein. Mit Spina bifida, die bei ihr selbst allerdings nicht aufgetreten sei, gehe oft eine ACM einher. Die Klägerin bezieht sich weiter auf Berichte von Dr. E. -I3. vom 23.08.2013 und 07.02.2014, wonach die Klägerin sich dort zur genetischen Beratung vorgestellt habe und eine Stellungnahme wünsche, ob die ACM auch in Zusammenhang mit einer Conterganeinnahme durch die Mutter zu sehen sei. Systematische Untersuchungen zu Schädel- und Cerebralbefunden erwachsener Contergangeschädigter gebe es nicht. Dementsprechend finde sich die ACM bisher auch nicht in der Literatur als conterganassoziiert beschrieben. Dies schließe aber umgekehrt eine solche Assoziation auch nicht definitiv aus. Bei der Klägerin werde eine Hyperostose (pathologisch vermehrte Knochenbildung) des Hinterhauptschädels für die Symptomatik verantwortlich gemacht. Das Zusammentreffen von ACM mit einer Hyperostose der Schädelknochen werde in einem Artikel von Albert et al. als höchst ungewöhnlich bezeichnet. Allerdings erwähnten Sidhu et al in ihrer Arbeit über medikamenteninduzierte muskuloskelettale Anomalien sowohl Thalidomid als auch Hyperostosen. Sie halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die ungewöhnliche Anomalie einer ACM mit Hyperostose nicht ursächlich mit einer seltenen Störung wie der Conterganembryopathie zusammentreffe; ein Zusammenhang sei wesentlich wahrscheinlicher. Im Hinblick auf die aufgeworfene Frage einer genetischen Differentialdiagnose hat die Klägerin eine molekulargenetische Untersuchung vom 06.02.2014 vorgelegt, wonach bei ihr keine Mutation im TBX5-Gen habe nachgewiesen werden können; vollständig sei damit das Vorliegen eines Holt-Oram-Syndroms nicht auszuschließen, weil bei etwa 1/3 der Betroffenen eine solche Mutation nicht nachweisbar sei. Die Klägerin hält die ärztlichen Stellungnahmen der beteiligten Gutachter nicht für berücksichtigungsfähig, weil sie nicht unabhängig seien. Letztlich werde nur behauptet, dass über einen Zusammenhang zwischen ACM und Thalidomid in der Literatur nichts bekannt sei. Sei sie damit die erste Person, die diesen Zusammenhang in den Raum stelle, müsse dem mit medizinischen Untersuchungen nachgegangen werden. Im Zweifelsfall sehe das ContStiftG eine Anerkennung vor.
12Die Klägerin beantragt,
13die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 04.09.2012 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 19.06.2013 zu verpflichten, ihr Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz für die Arnold-Chiari-Malformation zu gewähren.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Sie meint, es lägen keine medizinischen oder statistischen Anhaltspunkte dafür vor, dass die geltend gemachte Schädigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf eine Thalidomideinnahme zurückzuführen sei. Die bloße Möglichkeit reiche für eine Anerkennung nicht aus. Hierzu verweist die Beklagte auf Stellungnahmen der humangenetischen Sachverständigen Prof. Dr. L. vom 30.11.2013, 26.05.2014 und 16.12.2015 sowie Prof. Dr. T1. vom 22.09.2015 und 28.10.2015.
17Prof. Dr. L. führt aus, bei der Klägerin sei eine klassische ACM I mit Tiefstand der Kleinhirntonsillen, Einengung des Foramen magnum und verdicktem Hinterhauptknochen links diagnostiziert worden. Ein Zusammenhang zwischen ACMI und Thalidomidexposition sei nach heutigem Wissensstand äußerst unwahrscheinlich; es handle sich um eine Anomalie, die bisher weder in der internationalen Literatur noch bei in Deutschland registrierten Thalidomidgeschädigten beobachtet worden seien. Die von Dr. E. -I3. angegebenen Literaturstellen seien für die Frage einer Thalidomidgenese einer ACM I unergiebig. Der von Dr. H1. erwähnte Quellenhinweis beziehe sich nicht auf Personen mit pränataler Thalidomidexposition. Soweit ACM als Begleitfehlbildung einer Spina bifida aperta vorkomme, gehe daraus nicht hervor, dass ACM durch eine pränatale Thalidomidexposition ausgelöst werden könne. Der bei der Klägerin anzutreffende Phänotyp lasse verschiedene Differentialdiagnosen, namentlich auch das Holt-Oram-Syndrom in Betracht kommen.
18Prof. Dr. T1. zufolge ist die ACM I eine weit verbreitete Erkrankung. Nach einem weltweiten Beobachtungszeitraum von über 50 Jahren sei kein Fall eines Zusammenhangs zwischen ACM I und einer Thalidomidembryopathie beschrieben worden, so dass dieser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sei. Die Spina bifida aperta als schwere Neuralrohr-Fehlbildung, die die Entwicklung der Wirbelsäule und der im Wirbelkanal liegenden nervalen Strukturen betreffe, könne mit einer Anomalie im Übergangsbereich von Kopf zur Wirbelsäule assoziiert sein, wie es beim ACM vorliege. Es gebe jedoch keine Erkenntnisse über thalidomidbedingte Fälle einer Spina bifida mit ACM, so dass eine ACM, wenn sie nicht mit einer Spina bifida assoziiert sei, erst recht nicht als Thalidomidschaden in Betracht komme.
19Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Akten und die vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
20E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
21Die zulässige Klage ist nicht begründet.
22Der Bescheid vom 04.09.2012 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 19.06.2013 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, soweit er die Gewährung von Leistungen nach dem ContStiftG für die ACM I versagt (§ 113 Absatz 5 VwGO).
23Der Klägerin steht ein Anspruch auf eine Erweiterung der Leistungen wegen der ACM I nicht zu.
24Gemäß §§ 12 Abs. 1 Satz 1, 13 Abs. 2 ContStiftG setzt die Gewährung von Leistungen voraus, dass der Antragsteller Fehlbildungen aufweist, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der H. GmbH, B. , durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können. Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist weit gefasst, um zugunsten etwaiger Betroffener dem Umstand Rechnung zu tragen, dass eine über jeden Zweifel erhabene Kausalitätsfeststellung unmöglich ist,
25vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 02.12.2011 - 16 E 723/11 -, vom 25.03.2013 - 16 E 1139/12 - und vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 -,
26weil sowohl die Aufklärung einer Thalidomideinnahme durch die Mutter während einer mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Schwangerschaft als auch die eindeutige Feststellung eines naturwissenschaftlichen Zusammenhangs zwischen der Einnahme und einer Fehlbildung an Grenzen stoßen. Für die Zuerkennung der Leistungsberechtigung reicht es jedoch nicht aus, dass Thalidomid als mögliche Ursache einer Fehlbildung nicht auszuschließen ist. Ansonsten ließe sich der anspruchsberechtigte Personenkreis, der nach dem Willen des Gesetzgebers aus dem Stiftungsvermögen profitieren soll, nicht verlässlich eingrenzen. Angesichts der theoretisch vielfältigen und noch nicht bis ins Letzte ergründeten Ursachen für kongenitale Missbildungen muss eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, dass gerade die Einwirkung von Thalidomid während der Embryonalentwicklung in einem ursächlichen Zusammenhang mit der in Rede stehenden Fehlbildung des Antragstellers steht,
27vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.12.2015 - 16 A 1852/15 -; VG Köln, Urteil vom 24.02.2015 - 7 K 4608/13 -.
28Dies zugrundegelegt, lässt sich die bei der Klägerin vorhandene ACM I nicht mit einer Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der H. GmbH durch ihre Mutter in Verbindung bringen.
29Die ACM I ist keine Fehlbildung, die nach ihrem Erscheinungsbild
30- vgl. zu dessen Bedeutung für die Annahme einer ursächlichen Verbindung: Begründung des Gesetzentwurfs über die Errichtung einer nationalen Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“, BT-Drs. VI/926 S. 8 zu § 13 -
31mit Wahrscheinlichkeit auf eine Einwirkung von Thalidomid während der Frühschwangerschaft der Mutter zurückzuführen ist. Sie gehört nicht zu den charakteristischen thalidomidbedingten Fehlbildungen, wie sie in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben sind. Sie ist auch nicht vereinzelt im Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid in der Schwangerschaft festgestellt worden. Hiervon hat sich das das Gericht nach Auswertung sämtlicher ärztlicher Stellungnahmen, insbesondere der von der Medizinischen Kommission eingeholten Gutachten überzeugt.
32Bei der Klägerin liegt, wie Prof. Dr. L. anhand der vorgelegten klinischen Berichte plausibel darlegt, eine klassische ACM I mit Tiefstand der Kleinhirntonsillen, Einengung des Foramen magnum und verdicktem Hinterhauptknochen links vor.
33Nach den begründeten Aussagen aller mit dem Fall befassten Sachverständigen der Medizinischen Kommission ist es höchst unwahrscheinlich, dass es sich bei der ACM I der Klägerin um einen Thalidomidschaden handeln könnte. Hinsichtlich der ACM I besteht unter den Sachverständigen Dr. T. -I2. , Prof. Dr. L. und Prof. Dr. T1. wie auch der von der Klägerin eingeschalteten Genetikerin Dr. E. -I3. Einigkeit, dass diese in der wissenschaftlichen Literatur bisher nicht als mit einer Thalidomidembryopathie verknüpft beschrieben worden ist. Diese Anomalie ist weder bei in Deutschland registrierten Thalidomidgeschädigten noch weltweit jemals in Assoziation mit Thalidomidembryopathie beobachtet worden. Prof. Dr. L. hat überzeugend erläutert, dass die von Dr. E. -I3. angegebenen Literaturstellen für die Frage einer Thalidomidgenese einer ACM I unergiebig sind. Danach hat die Besonderheit des bei Albert et al. angesprochenen ungewöhnlichen ACM I-Falls darin bestanden, dass er - anders als die Klägerin - eine Hyperostose sämtlicher Schädelknochen aufgewiesen hat; ein Bezug zur Thalidomidembryopathie fehlt. Die zitierte Arbeit von Sidhu et al., die sich mit medikamenteninduzierten muskuloskelettalen Anomalien befasst, erwähnt bei pränataler Thalidomidexposition weder Hyperostose der Schädelknochen noch ACM I; Hyperostosen werden lediglich in Bezug auf andere Knochen bei postnataler Retinoidtherapie beschrieben. Dass die Begriffe Hyperostose und pränatale Thalidomidexposition ohne jeden Zusammenhang in verschiedenen thematischen Abschnitten eines Artikels erwähnt sind, ist ganz offensichtlich nicht als wissenschaftliche Aussage über eine mögliche Verbindung zwischen ACM I und Thalidomidembryopathie zu werten. Prof. Dr. L. hat auch veranschaulicht, weshalb der von Dr. H1. inzwischen vorgelegte Quellenhinweis betreffend einen Zusammenhang zwischen Thalidomidmedikation und ACM ohne Bedeutung für die hier streitgegenständliche Fragestellung ist. Er bezieht sich auf eine US-amerikanische Datenbank, in der Meldungen von acht Patienten enthalten sind, die nach einer Einnahme von Thalidomid und nicht genannter zusätzlicher Medikamente im Erwachsenenalter zwischen 2004 und 2012 über die Entwicklung einer ACM berichtet haben. Bei keiner dieser Personen liegt eine pränatale Thalidomidexposition vor.
34Zu keiner abweichenden Bewertung führt der von der Klägerin geltend gemachten Umstand, dass eine - bei ihr nicht vorliegende - Spina bifida, also eine Neuralrohr-Fehlbildung, die die Entwicklung der Wirbelsäule betrifft, mitunter mit einer ACM einhergeht. Nach den nachvollziehbaren Darlegungen von Prof. Dr. L. und Prof. Dr. T1. geht aus der Tatsache, dass ACM als Begleitfehlbildung einer Spina bifida aperta vorkommt, nicht hervor, dass ACM durch eine pränatale Thalidomidexposition ausgelöst werden könnte. Denn es gibt keine Erkenntnisse über thalidomidbedingte Fälle einer Spina bifida mit ACM, so dass eine ACM, wenn sie wie bei der Klägerin nicht mit einer Spina bifida assoziiert ist, erst recht nicht als Thalidomidschaden in Betracht kommt.
35Danach fehlt es nach derzeitigem wissenschaftlichem Erkenntnisstand an jeglichem Hinweis auf eine mögliche Verbindung zwischen ACM I und einer pränatalen Thalidomideinnahme. Der Umstand, dass begrenzte wissenschaftliche Kenntnisse einen solchen Zusammenhang auch nicht ausschließen, wie Dr. E. -I3. und auch Dr. T. -I2. ausführen, ist nach dem erläuterten, bei der Leistungsbewilligung anzulegenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab aus Rechtsgründen irrelevant.
36Auch die weiteren von der Klägerin vorgelegten medizinischen Befunde zu ihrer Person stellen keinen nachvollziehbaren Bezug zu einem Thalidomidschaden her.
37Der Facharzt für Allgemeinmedizin M1. stellt im Attest vom 08.11.2012 bei der Klägerin verschiedene Diagnosen, unter anderem die einer ACM, und führt aus, diese gingen mit einer Conterganschädigung einher. Das Attest enthält lediglich eine Aufzählung von Beschwerden und Störungen, die neben den von der Stiftung als Thalidomidschädigung anerkannten Fehlbildungen vorliegen sollen. Damit ist aber keine Aussage über einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer ACM und einer Thalidomideinnahme getroffen.
38Prof. Dr. U. meint - im Einklang mit der Einschätzung von Dr. T. - I2. -, man könne für die ACM mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sie seit Geburt bestanden habe. Im Bericht der Neurochirurgischen Klinik O. Krankenhaus in I1. vom 16.07.2002 ist ausgeführt, die knöcherne Veränderung, die zu der ACM geführt habe, könne in Zusammenhang mit den übrigen Skelettveränderungen stehen. Diese Stellungnahmen mögen den vorrangig ins Feld geführten Standpunkt der Klägerin stützen, die ACM sei ebenso wie die weiteren skelettalen Fehlbildungen vorgeburtlich angelegt, was einen einheitlichen ursächlichen Faktor wahrscheinlich mache. Jedoch verhalten sich die Berichte nicht dazu und ist nach Überzeugung des Gerichts auch sonst kein hinreichender Anhaltspunkt dafür erkennbar, dass eine solche einheitliche Ursache wahrscheinlich in einer Thalidomideinnahme durch die Mutter in der sensiblen Zeit der Schwangerschaft zu sehen ist.
39Eine dahingehende Annahme kann nicht aus dem Umstand abgeleitet werden, dass bei der Klägerin bereits Fehlbildungen als Grundlage für die Gewährung von Leistungen nach dem ContStiftG anerkannt worden sind. Eine Feststellungswirkung der entsprechenden Bewilligungsbescheide, die sich in einer die Beklagte bzw. das Gericht bindenden Weise auf die Entscheidung über den jetzigen Streitgegentand erstrecken könnte, sieht das ContStiftG nicht vor. Es unterliegt der vollen gerichtlichen Prüfung und Überzeugungsbildung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 12 Abs. 1, 13 ContStiftG vorliegen.
40Das Gericht hält es indessen nicht für glaubhaft, dass die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft ein thalidomidhaltiges Mittel der Firma H. eingenommen hat. Dass ihr im Mai 1964 während der teratogenen Phase der Schwangerschaft der Chefarzt einer deutschen Frauenklinik ein thalidomidhaltiges Präparat verabreicht haben soll, ist aus Sicht des Gerichts nahezu ausgeschlossen. Auf die Fragwürdigkeit dieser Behauptung hat 1985 bereits Prof. Dr. M. hingewiesen, der maßgeblich an der Entdeckung der Teratogenität von Thalidomid beteiligt war und dessen Warnung zu seiner Marktrücknahme geführt hat. Alle thalidomidhaltigen Arzneimittel wurden in der Bundesrepublik Deutschland bereits am 27.11.1961, begleitet von einem Informationsbrief der Firma H. an die deutschen Ärzte vom 25.11.1961, aus dem Handel genommen. Die Ärzteschaft war spätestens ab diesem Zeitpunkt über die Gefahren der Thalidomideinnahme während der Schwangerschaft informiert. Es ist schon nicht anzunehmen, dass in der Folgezeit ein thalidomidhaltiges Präparat als Ärztemuster noch über Jahre hinweg in einer deutschen Frauenklinik (!) aufbewahrt worden ist. Gerade in der Bundesrepublik Deutschland, in der die meisten thalidomidgeschädigten Kinder geboren wurden und die Firma H. ihren Sitz hat, waren Behörden, Apotheker und Ärzteschaft, pharmazeutische Industrie, Politik, Medien und die Öffentlichkeit in besonderem Maße alarmiert und für Thalidomid als Auslöser der angeborenen Fehlbildungen sensibilisiert,
41vgl. Kirk, Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid, 1999, S. 156; VG Köln, Urteil vom 15.04.2015 - 7 K 1778/13 -.
42Vor diesem Hintergrund spricht nichts dafür, dass der Chefarzt einer Frauenklinik trotz der Schwangerschaft der Mutter der Klägerin noch 1964 ein thalidomidhaltiges Präparat der Firma H. verabreicht haben soll, obwohl er von der Marktrücknahme und den Auswirkungen des Präparats gewusst haben muss.
43Dazu passt, dass ärztliche Aufzeichnungen, die anlässlich der Geburt und während der Kindheit der Klägerin gefertigt wurden und sich zu einer Thalidomideinnahme während der Schwangerschaft verhalten, trotz Anforderung nicht vorgelegt worden sind. Dies legt nahe, dass die Mutter der Klägerin gegenüber den Ärzten seinerzeit eine Thalidomideinnahme während der Schwangerschaft nicht erwähnt hat, obwohl sich dies angesichts der bei ihrer Tochter deutlich erkennbaren Fehlbildungen aufgedrängt hätte.
44Nicht nachvollziehbar ist zudem, dass die Mutter der Klägerin keinerlei erkennbare Anstrengungen unternommen hat, um den Arzt oder die Klinik zur Verantwortung zu ziehen. Ebenso wenig erklärlich ist, dass sie trotz des gewaltigen Medienechos aufgrund des 1970 beendeten Strafverfahrens und des Inkrafttreten des Stiftungsgesetzes am 31.10.1972 bis kurz vor Ablauf der früheren Antragsfrist am 31.12.1983 nichts unternahm, um die Klägerin als Thalidomidgeschädigte anerkennen zu lassen,
45vgl. dazu auch OVG NRW, Beschluss vom 28.12.2015 - 16 A 1124/15 -.
46Die Tatsache, dass zwischenzeitlich bei der Klägerin mit der ACM I eine bisher weltweit bei Thalidomidembryopathie nicht beobachtete Fehlbildung erkannt wurde, die sie nun mit der Ursache für ihre weiteren Skelettfehlbildungen assoziiert, verstärken letztlich die bereits bei der Antragstellung im Jahr 1983 aufgetretenen Zweifel an einer Thalidomideinnahme während der Schwangerschaft.
47Die Notwendigkeit einer weiteren gerichtlichen Sachaufklärung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens ist vor dem Hintergrund der sachverständigen Stellungnahmen von Prof. Dr. L. , Prof. Dr. T1. und Dr. T. -I2. nicht erkennbar. Die vorliegenden Gutachten sind hinreichend geeignet, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Sie weisen keine groben Mängel auf. Insbesondere beruhen sie auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage und auf den anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Thalidomidembryopathie und zur AMC I. Sie enthalten auch keine unlösbaren Widersprüche oder unlogisches Vorbringen und geben keinen Anlass zu Zweifeln an Sachkunde und Unparteilichkeit der Gutachter.
48Dem Einwand der Klägerin, den medizinischen Sachverständigen fehle die Unabhängigkeit, folgt das Gericht nicht. Der Umstand, dass die medizinischen Sachverständigen von der Beklagten beauftragt worden sind, führt nicht zu der Annahme, dass diese gleichsam „im Lager der Beklagten“ stehen und einseitig deren Interessen wahrnehmen, zumal die Zahl der Fachärzte und –ärztinnen mit speziellen Kenntnissen und Erfahrungen auf dem Gebiet der Einordnung von Thalidomid-Schäden eng begrenzt ist,
49vgl. OVG NRW, Beschluss vom 06.02.2012 - 1 A 1337/10 - und Beschluss vom 19.01.2016 - 16 A 817/15 - .
50Zudem weist der Gesetzgeber der aus den verschiedenen medizinischen Sachverständigen zusammengesetzten Medizinischen Kommission in § 16 Abs. 2 ContStiftG eigens die Aufgabe zu festzustellen, ob ein von dem ContStiftG erfasster Schadensfall vorliegt.
51Das Gericht sieht auch keinen Anlass zu der Annahme, Dr. T. -I2. habe seine Einschätzung aus anderen als medizinischen Gründen gewonnen. Dass Dr. T. -I2. nicht sicher beurteilen will, ob der von der Klägerin vorgelegte Bericht des O. Krankenhauses vom 16.07.2002 die knöcherne Einengung des Hinterhauptlochs zutreffend auf eine Verdickung des Os occipitale zurückführt, weckt keine Zweifel an einer medizinisch fundierten Herleitung seiner maßgeblichen Einschätzung, zwischen ACM und pränataler Thalidomideinnahme bestehe kein erkennbarer Zusammenhang. Denn für diese Beurteilung stützt Dr. T. -I2. sich ausdrücklich und ausschließlich auf die Datenlage, wonach kein Fall eines Thalidomidgeschädigten mit ACM bekannt ist. Diesen Befund untermauert er lediglich ergänzend mit der Plausibilitätserwägung, dass das Wirkprinzip von Thalidomid, das zu einer Reduktionsfehlbildung führt, sich nicht mit dem bei der ACM der Klägerin womöglich anzutreffenden Knochenverdickung verträgt.
52Die Klägerin hat auch im Übrigen Mängel der Gutachten nicht in einer substantiierten Weise geltend gemacht.
53Soweit die Klägerin die bereits 1985 erwogene Differentialdiagnose eines Holt-Oram-Syndroms mit der Vorlage der molekulargenetischen Untersuchung vom 06.02.2014 als ausgeräumt ansieht, stellt dies die Schlüssigkeit der gutachterlichen Stellungnahmen nicht in Frage. Den plausiblen Ausführungen von Prof. Dr. L. zufolge kommt ein Holt-Oram-Syndrom nach wie vor in Betracht, weil bei etwa 30 % der Patienten mit Holt-Oram-Syndrom keine Mutationen im TBX5-Gen zu finden sind und 25 – 30 % der Betroffenen keinen Herzfehler oder Herzrhythmusstörungen haben. Da 80 – 85 % der Fälle auf Neumutationen zurückzuführen sind, kann diese Diagnose auch zutreffen, wenn in der Familie keine weiteren Personen betroffen sind. Ob die Klägerin tatsächlich unter einem Holt-Oram-Syndrom leidet, bedarf keiner Entscheidung. Allein der Umstand, dass ihre Beeinträchtigungen nicht sicher anderweitig ätiologisch einzuordnen sind, lässt sie nicht mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auf eine Thalidomideinnahme zurückführen.
54Die Ursachen für geburtsbedingte Fehlbildungen sind regelmäßig nicht vollständig bekannt und unterliegen einer ständigen wissenschaftlichen Weiterentwicklung. Daher kann die Abgrenzung von thalidomidbedingten Fehlbildungen und anderen Fehlbildungen nur anhand des Erscheinungsbildes getroffen werden. Diesem Vergleich liegt in erster Linie das Erfahrungswissen der Experten über die Zuordnung einzelner Symptome zu einem bestimmten Fehlbildungskomplex zugrunde. Die hier vorgenommene Abgrenzung der ACM I von einer Thalidomidembryopathie beruht auf diesem Erfahrungswissen und ist von der Klägerseite nicht substantiiert in Zweifel gezogen worden. Daher ergeben sich keine Anhaltspunkte für die Notwendigkeit eines weiteren Gutachtens. Weder gibt es eine „medizinische Untersuchung“, die Aufklärung darüber bringen könnte, ob die Klägerin als erste Person, die einen Zusammenhang zwischen Thalidomidembryopathie und ACM I in den Raum stellt, unter einer thalidomidbedingten ACM I leidet, noch ist erkennbar, auf welcher sonstigen wissenschaftlichen Grundlage Prof. H2. oder ein anderer Sachverständiger zu einem von der wissenschaftlichen Datenlage abweichenden Ergebnis kommen könnte. Vielmehr ist der hilfsweise gestellte Antrag der Klägerin auf eine unzulässige Ausforschung gerichtet, ob sich nicht doch noch ein Hinweis auf eine Thalidomidschädigung findet.
55Die Kostenentscheidung beruht auf § 514 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
56Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 25. März 2013 geändert. Dem Kläger wird für das erstinstanzliche Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Q. U. aus X. beigeordnet.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1
Gründe
2Die Beschwerde des Klägers ist begründet. Der Kläger, der nach den von ihm dargelegten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, kann für die Durchführung des erstinstanzlichen Klageverfahrens die Bewilligung von Prozesskostenhilfe einschließlich der Beiordnung eines Rechtsanwalts beanspruchen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1, Satz 1, den §§ 115 und 117, § 119 Abs. 1 und § 121 Abs. 2 Alt. 1 ZPO). Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg böte. Denn es kommt nach summarischer Prüfung in Betracht, dass seine Klage mit dem Antrag,
3die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 27. Februar 2012 und des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2012 zu verpflichten, ihn, den Kläger, als Contergangeschädigten anzuerkennen,
4entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts doch Aussicht auf Erfolg hat.
5Das Begehren des Klägers dürfte nicht an Ausschlussfristen für die Geltendmachung des Anerkennungsbegehrens scheitern. Die vormalige Bestimmung des § 13 des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder" vom 17. Dezember 1971 (BGBl. I S. 2018; im folgenden: Errichtungsgesetz) in der zuletzt geltenden Fassung ist für das Begehren des Klägers nicht mehr maßgeblich. Nach dieser Bestimmung konnten Leistungen wegen Fehlbildungen, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Firma D. H. GmbH in T. durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können, (nur) gewährt werden, wenn die Leistungen bis zum 31. Dezember 1983 bei der Stiftung geltend gemacht worden sind, was in Bezug auf den Kläger offensichtlich nicht der Fall gewesen ist. Demgegenüber sieht § 12 Abs. 2 des Conterganstiftungsgesetzes (ContStifG) in der nunmehr geltenden Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des ContStifG vom 25. Juni 2009 vor, dass die Conterganrente und eine Kapitalentschädigung für die Zeit ab 1. Juli 2009 beantragt werden können, wenn Leistungen nach § 13 des Errichtungsgesetzes nicht innerhalb der dort vorgesehenen Frist geltend gemacht wurden. Das trifft, wie schon erwähnt, auf den Kläger zu, dessen Eltern zwar frühzeitig Ansprüche wegen einer möglichen Conterganschädigung erhoben haben, aber nicht (mehr) tätig geworden sind, nachdem die o. g. Stiftung gegründet worden ist. Diesen Fall regelt § 12 Abs. 2 ContStifG. Das Normverständnis des Verwaltungsgerichts, wonach § 12 Abs. 2 ContStifG nur dann die Möglichkeit der Leistungsbeantragung mit Wirkung für die Zeit ab dem 1. Juli 2009 ermöglicht, wenn Leistungen nach § 13 des Errichtungsgesetzes nicht innerhalb der dort vorgesehenen Frist geltend gemachtwerden konnten, findet im Wortlaut dieser Bestimmung keinen Niederschlag und ergibt sich auch nicht bei der zusätzlichen Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien zum Zweiten Gesetz zur Änderung des ContStifG. Soweit es etwa im Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 24. März 2009 (BT‑Drucks. 16/12413) heißt, die "bisher von der Ausschlussfrist betroffenen" contergangeschädigten Menschen sollten die Möglichkeit erhalten, künftig Leistungen geltend zu machen, zwingt das nicht zu der vom Verwaltungsgericht für zutreffend gehaltenen Wertung, nur solche Personen seien von der Ausschlussfrist betroffen, die bisher keinen Antrag stellen konnten. Vielmehr sind alle diejenigen von der bisherigen Ausschlussfrist betroffen, die einen Leistungsantrag ‑ warum auch immer ‑ nicht gestellt haben. Abgesehen davon gab es auch im Fall des Klägers Gründe für die Nichtantragstellung vor dem Stichtag des 31. Dezember 1983, die zwar nicht zwingend eine rechtzeitige Antragstellung ausgeschlossen haben, dies aber doch als nachvollziehbar erscheinen lassen. Dazu gehört insbesondere, dass den Eltern des Klägers schon im zeitlichen Vorfeld der Schaffung der Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder" bedeutet worden war, eine Anerkennung der Behinderungen des Klägers als Conterganschädigung komme aus medizinischen Gründen nicht in Betracht, sie also, möglicherweise sachlich zu Unrecht, mit der Aussichtslosigkeit einer Antragstellung bei der Stiftung konfrontiert worden sind und deshalb resigniert haben.
6Dem Anerkennungsbegehren des Klägers steht auch nicht entgegen, dass er bzw. sein Vater im Jahr 1989 die Wiederaufnahme eines vor Jahren abgelehnten Anerkennungsverfahrens beantragt hat und die Stiftung seinerzeit ‑ durch erneute Befragung des schon zuvor in Erscheinung getretenen Gutachters Prof. Dr. Dr. X1. M. ‑ aus Sachgründen mit Bescheiden vom 20. August 1990 sowie vom 7. Mai 1992 bzw. mit Widerspruchsbescheid vom 25. November 1992 die Anerkennung des Klägers abgelehnt hat. Denn in dem sich anschließenden (zivil‑)gerichtlichen Verfahren ist die sachliche Frage, worauf die multiplen Körperschäden des Klägers zurückzuführen sind, nicht abschließend gewürdigt worden. Vielmehr beruhen die Urteile des Landgerichts Bonn vom 13. Juli 1993 sowie des OLG Köln vom 25. Oktober 1994 auf der Einschätzung, dass der als "unstreitig erstmalige" bezeichnete Leistungsantrag "des Jahres 1990" mit Blick auf die Ausschlussfrist des § 13 des Errichtungsgesetzes und auf die Unmöglichkeit einer Wiedereinsetzung in die versäumte Ausschlussfrist keiner sachlichen Entscheidung zugänglich gewesen sei. Damit fehlt es an einer abschließenden ‑ die gerichtliche Überprüfung umfassenden ‑ sachlichen Würdigung der bis damals vorliegenden medizinischen Befunde, und dies im Ergebnis mit der Begründung, dass die Ausschlussfrist des § 13 des Errichtungsgesetzes diese Überprüfung ausschließe. Das ist gerade der Sachverhalt, der nunmehr durch § 12 Abs. 2 ContStifG in dem Sinne geregelt wird, dass für die Zukunft unabhängig von der Versäumung einer Antragstellung vor dem 1. Januar 1984 Ansprüche auf Hilfen für Contergangeschädigte geprüft und gegebenenfalls zuerkannt werden.
7Schließlich ist auch die Frage der sachlichen Berechtigung des Anerkennungsbegehrens des Klägers als Contergangeschädigter nicht mit einer Eindeutigkeit zu verneinen, die schon eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe ausschließt. Sowohl in § 2 ContStifG (Stiftungszweck) als auch in § 12 Abs. 1 ContStifG (Leistungsberechtigte Personen) ist der Kreis der anspruchsberechtigten Personen weit gefasst (behinderte Menschen, deren Fehlbildungen mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der H. GmbH, B. , durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können), um zugunsten etwaiger Betroffener der Unmöglichkeit einer über jeden Zweifel erhabenen Kausalitätsfeststellung Rechnung zu tragen.
8Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 2. Dezember 2011 ‑ 16 E 723/11 ‑, juris, Rn. 2, und vom 25. März 2013 ‑ 16 E 1139/12 ‑, juris, Rn. 2.
9Eine Conterganeinnahme durch die Mutter des Klägers während der Schwangerschaft hat nach ihren glaubhaften, auch eidesstattlich versicherten Einlassungen stattgefunden. So hat bereits kurz nach der Geburt des Klägers am 18. April 1962, nämlich am 28. April 1962, ein namentlich nicht bekannter Arzt des Krankenhauses, in dem die Geburt stattgefunden hatte, dem Hausarzt der Familie des Klägers mitgeteilt, wie die Geburt vonstattengegangen ist und welche Missbildungen beim Kläger vorliegen. Er hat insoweit ausgeführt: "Interessanterweise hat Pat. in den ersten Schwangerschaftsmonaten Contergan forte eingenommen; ein ursächlicher Faktor, der ja heute viel diskutiert wird." Da erst im November 1961 erstmals in der Presse über den Conterganverdacht berichtet worden war und nachfolgend die strafrechtlichen Ermittlungen aufgenommen wurden,
10vgl. im Einzelnen Kirk, Der Contergan‑Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid (1999), S. 85 ff.,
11handelte es sich seinerzeit noch um eine neue und ungesicherte Verdachtslage. Daher liegt es fern, dass die frühzeitige und offensichtlich spontane Angabe der Mutter des Klägers über den Tablettenkonsum im Sinne einer Förderung oder Sicherung etwaiger Regressansprüche zielgerichtet gewesen sein könnte. Aus dem Gutachten von Prof. Dr. Dr. M. an das Treuhändergremium vom 23. September 1971 geht überdies hervor, dass auf der Grundlage der ‑ nach seiner Einschätzung allerdings unbelegten ‑ Angaben der Mutter des Klägers die Einnahme von Contergan bei normaler Dauer der Schwangerschaft zum Teil in die "sensible Phase" gefallen sei.
12Nach den Gutachten, die seit 1967 über die mögliche Ursache der Missbildungen beim Kläger erstellt worden sind, kann mit hinlänglicher Sicherheit nur ausgeschlossen werden, dass die Veränderungen an den Gliedmaßen des Klägers, insbesondere des linken Unterschenkels, mit der Einnahme von Thalidomid in Verbindung gebracht werden können. Dagegen spricht vor allem das Vorhandensein von Abschnürungsfurchen, die für amniotische (von sich ablösenden Bändern der Fruchtblase, die sich um den Fötus legen können, herrührende) Schädigungen, nicht aber für thalidomidbedingte Missbildungen charakteristisch sind. Allerdings gehört zu den Missbildungen des Klägers auch eine doppelseitige Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte (sog. Wolfsrachen), die zumindest vereinzelt auch im Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid während der Schwangerschaft der Mutter festgestellt worden ist; das folgt etwa aus dem Gutachten von Prof. Dr. Dr. M. vom 4. Dezember 1967, wobei dieser aber zugleich betont, das könne "keinesfalls als typisch angesehen werden". Soweit Prof. Dr. Dr. M. , der gemeinhin als der "Entdecker" des Zusammenhangs zwischen den um das Jahr 1960 gehäuft aufgetretenen spezifischen Missbildungsfällen und der Einnahme von Thalidomid durch die Mütter der geschädigten Kinder während der Schwangerschaft gilt und wesentlichen Anteil an der wissenschaftlichen Erforschung der Contergan‑Problematik hatte, in dem genannten Gutachten darauf hinweist, dass Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalten häufig zusammen mit den übrigen ‑ nicht thalidomidbedingten ‑ Schädigungen, wie sie beim Kläger vorliegen, auftreten und sich daher "für die Gesamtheit der [beim Kläger festgestellten] Mißbildungen … eindeutig feststellen [lasse], daß sie in keiner Weise typisch für Mißbildungen nach Thalidomideinnahme sind", liegt dem offenkundig eine monokausale Betrachtung zugrunde, die sich an typischen Erscheinungsformen multipler Missbildungen orientiert, aber nicht erkennbar der Frage nachgeht, ob sich im Einzelfall ausnahmsweise mehrere ursächliche Faktoren ‑ amniogene und thalidomid-bedingte Schädigungen ‑ nebeneinander ausgewirkt haben könnten bzw. was dagegen sprechen könnte, dass es sich beim Kläger ausnahmsweise so verhalten hat. In seiner weiteren Stellungnahme vom 28. Mai 1990 verweist Prof. Dr. Dr. M. auf seine früheren Gutachten und benennt Literaturstellen, die sich mit amniogenen Fehlbildungen vor allem der Lippen und des Gaumens befassen; auf seine vormalige Einschätzung, dass Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalten auch als Thalidomid-Schädigungsfolge aufgetreten seien, geht der Gutachter indessen ebenso wenig ein wie auf die Möglichkeit einer "doppelten Kausalkette".
13Das Gutachten von Prof. Dr. X2. , Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität C. , vom 20. April 1971 beschreibt die einzelnen Fehlbildungen beim Kläger, wobei er auch noch die Möglichkeit eines linksseitigen Enophthalmus (Einsinken des Augapfels in die Augenhöhle) erwähnt, und kommt abschließend zu der Einschätzung, dass es eine derartige Fehlbildungskombination im Rahmen einer Thalidomid-Embryopathie nicht gebe. Er erörtert demgegenüber nicht die Frage, ob die Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte ‑ gegebenenfalls auch der Enophthalmus ‑ isoliert betrachtet auf Thalidomid zurückzuführen sein könnte und nimmt folglich auch die Möglichkeit einer Doppelkausalität nicht in den Blick.
14Auch das im laufenden Anerkennungsverfahren erstattete Gutachten von Frau Prof. Dr. L. , Universität N. , vom 1. August 2012 kommt zu dem Ergebnis, dass an der schon in der Vergangenheit gestellten Diagnose einer ‑ von ihr so bezeichneten ‑ "Amnionbänder Sequenz" auch aus heutiger Sicht nicht zu zweifeln sei. Die amniotischen Abschnürungen (Schnürfurchen) an den Fingern, Unterschenkeln und Füßen seien auf vorliegenden Fotos gut zu erkennen; auch die Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte gehöre zu diesem Fehlbildungskomplex. In der humangenetischen Literatur seien unzählige Patienten dokumentiert, die dem Phänotyp des Klägers ähnelten. Hingegen handele es sich nicht um ein teratogenes (u.a. durch Chemikalien hervorgerufene Einwirkungen auf den Embryo) Krankheitsbild, schon gar nicht um einen thalidomidbedingten Fehlbildungskomplex. Im Zusammenhang mit Thalidomidschädigungen seien die beim Kläger vorzufindenden Hand‑ und Fußfehlbildungen mit Syndaktylien (Verwachsungen bzw. Nichttrennung von Finger‑ oder Zehengliedern) und Schnürfurchen nie aufgetreten. Vielmehr seien für eine Conterganschädigung je nach dem Zeitpunkt der Einnahme spezifische und relativ symmetrisch angelegte Missbildungen an Händen, Füßen und Unterschenkeln charakteristisch, wie sie beim Kläger gerade nicht vorlägen. Aus diesen gutachterlichen Äußerungen geht mithin hervor, dass ‑ wie schon oben festgehalten ‑ die Schädigungen an den äußeren Extremitäten des Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mit der Conterganeinnahme durch seine Mutter während der Schwangerschaft zusammenhängen. Indessen beschränken sich die Angaben der Gutachterin zu der seit der Geburt des Klägers vorliegenden Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte darauf, dass auch diese zu dem Fehlbildungskomplex "Amnionbänder Sequenz" gehöre. Eine klare Abgrenzung zu einer möglichen teratogenen Schädigung wird ‑ anders als in Bezug auf die Missbildungen an den Gliedmaßen ‑ mit Blick auf die Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte hingegen nicht gezogen. Nach Auffassung des Senats bleibt damit im Anschluss an die Auffassung von Prof. Dr. Dr. M. , dass eine Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte ‑ wenngleich wohl eher selten ‑ auch in Conterganfällen angetroffen worden sei, die Frage einer "doppelten Kausalität" offen. Allein der von Frau Prof. Dr. L. erneut hervorgehobene Umstand, dass Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalten häufig ‑ und ohne Anhaltspunkte für teratogene Ursachen ‑ im Zusammenhang mit amniogenen Schädigungsbildern auftrete, widerlegt nicht die aufgrund der sicheren Conterganeinnahme durch die Mutter des Klägers mehr als nur rein theoretische Möglichkeit, dass im Fall des Klägers eine Kombination aus einer teratogenen und einer amniogenen Schädigung gegeben ist. Eine solche Möglichkeit könnte nur dann ausgeschlossen werden, wenn entweder auch in Hinblick auf die Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte des Klägers Spezifika vorlägen, die eindeutig auf eine amniotische Verursachung hinweisen, oder aber wenn verdeutlicht worden wäre, dass im Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid nie ausschließlich eine Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte festgestellt worden wäre. Daran fehlt es aber auch mit Blick auf das Gutachten von Frau Prof. Dr. L. nach wie vor.
15Die Stellungnahme von Privatdozent Dr. H1. aus O. ‑ Facharzt für Orthopädie/Unfallchirurgie/Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sportmedizin/Kinder-orthopädie ‑ vom 29. Dezember 2011 verhält sich ausschließlich zu den Missbildungen des Klägers an den Händen bzw. am linken Bein und kommt wie die vorherigen Gutachter und nachfolgend Frau Prof. Dr. L. zu der Einschätzung, dass diese Befunde nicht typisch für einen Conterganschaden seien und daher insgesamt der Antrag des Klägers abzulehnen sei. Eine spezielle Auseinandersetzung mit der Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte des Klägers bzw. mit den insoweit in Frage kommenden Ursachen findet sich in dieser Stellungnahme nicht. Frau Dr. X3. aus L1. kommt schließlich in ihrer Stellungnahme vom 29. Juli 2010 ‑ wie schon Prof. Dr. Dr. M. ‑ zu der Einschätzung, dass die beim Kläger bestehende beiderseitige Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte (jedenfalls für sich betrachtet) mit einem Conterganschaden vereinbar sei und mit 25 Punkten veranschlagt werden sollte.
16Abschließend weist der Senat noch darauf hin, dass die diversen Diagnosen von den Kläger behandelnden Ärzten, die fast durchweg (insgesamt) von einer thalidomidbe-dingten Schädigung des Klägers berichten, neben den oben wiedergegebenen Fachgutachten nicht ins Gewicht fallen. Es spricht weit Überwiegendes dafür, dass diese Mediziner keine genaue und abschließende Beurteilung der Schädigungsursache abgeben wollten und mussten und sich daher auf die anamnestischen Angaben des Klägers bzw. auf einen "ersten Eindruck" verlassen haben. Erwähnenswert erscheint dem Senat in diesem Zusammenhang aber die Diagnose von Dr. M1. und Dr. X4. von der Westfälischen Wilhelms‑Universität N1. ‑ Klinik und Poliklinik für Technische Orthopädie und Rehabilitation ‑ im Arztbrief vom 19. März 1990, in dem neben der Angabe "Angeborene Fehlbildung an den Extremitäten durch Amnionabschnürungen" weiter von "Verdacht auf Thalidomidschaden" und (beziehungslos dahinterstehend) "Lippen‑, Kiefer‑, Gaumenspalte" die Rede ist. Nachfolgend wird ausgeführt, neben den Fehlbildungen an den äußeren Extremitäten, die klinisch eher einer Amnion-Abschnürung entsprächen, seien in der Folge auch Fehlbildungen am Schädel wie eine Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte, eine Fehlstellung der Zähne, eine einseitige Schwerhörigkeit sowie eine Zwerchfellhernie aufgefallen; alle diese Schäden sprächen "eher wieder für einen Conterganschaden". Damit schließen diese Mediziner die Möglichkeit von Schädigungen unterschiedlicher Genese offensichtlich nicht aus. In eine ähnliche Richtung könnte auch die ärztliche Bescheinigung des Prof. Dr. S. , Städtische Krankenanstalten C1. ‑ Chirurgische Abteilung der Kinderklinik ‑, vom 13. Februar 1965 weisen, in der die Diagnose einer doppelseitigen Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte (und auch die bis in die Stirn hinein klaffende Sagittalnaht) den "multiplen Amnionabschnürungen" zur Seite gestellt ‑ und gerade nicht in das Bild einer insgesamt amniogenen Schädigung einbezogen ‑ werden; entsprechend verhält es sich auch in der Stellungnahme der Stationsärztin Dr. G. , Städtische Krankenanstalten C1. , vom 3. Oktober 1962 ("Es handelte sich um eine doppelseitige Lippen‑Kiefer‑Gaumenspalte; gleichzeitig bestehen multiple Amnionabschnürungen").
17Die Kostenentscheidung folgt aus § 188 Satz 2 VwGO sowie aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
18Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 23. Juni 2015 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungszulassungsverfahrens.
1
Gründe
2Der sinngemäß auf die Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils), des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache) und des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann) zu beziehende Zulassungsantrag der Klägerin bleibt ohne Erfolg, weil die genannten Zulassungsgründe nicht hinreichend dargelegt sind bzw. in der Sache nicht eingreifen.
3Soweit die Klägerin einen Verfahrensmangel darin sieht, dass das Verwaltungsgericht zu der Frage der Verursachung ihrer diversen Gesundheitsbeeinträchtigungen durch thalidomidhaltige Arzneimittel kein (zusätzliches) Sachverständigengutachten eingeholt hat, führt das nicht zur Annahme des Berufungszulassungsgrundes nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Eine prozessrechtswidrige Verletzung der Aufklärungspflicht ist nämlich grundsätzlich nicht gegeben, wenn das Gericht von einer Beweiserhebung absieht, die eine durch einen Rechtsanwalt vertretene Partei wie hier nicht förmlich ‑ das heißt im Rahmen der mündlichen Verhandlung (§ 86 Abs. 2 VwGO) ‑ beantragt hat.
4Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. August 2015 ‑ 1 B 37.15 ‑, juris, Rn. 11; OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juli 2012 ‑ 16 A 1165/12 ‑, juris, Rn. 21 f., und zuletzt vom 1. Dezember 2015 ‑ 16 A 1976/12 ‑; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, 4. Auflage (2014), § 124 Rn. 191; Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 21. Auflage (2015), § 124 Rn. 13; Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, Kommentar, 6. Auflage (2014), § 124, Rn. 65; Dietz, in: Gärditz, VwGO, Kommentar 2013, § 124 Rn. 49.
5Ein solcher Antrag geht aus dem Sitzungsprotokoll vom 23. Juni 2015 nicht hervor. Dass während der mündlichen Verhandlung das Thema einer möglichen Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens angesprochen oder ein solches schon zuvor schriftsätzlich angeregt worden ist, ersetzt einen Beweisantrag nach § 86 Abs. 2 VwGO nicht.
6Es ist auch nicht unter Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts dargelegt, dass sich diesem eine (weitere) Beweiserhebung zu dem oben genannten Punkt aufdrängen musste. Die Klägerin hat nicht verdeutlicht, warum die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten und insbesondere das im Widerspruchsverfahren erstellte Gutachten von Frau Prof. Dr. L., der auch Bildmaterial zur Verfügung gestanden hat, unzutreffend bzw. unvollständig sein könnten. Dass diese Gutachten nach Aktenlage, also ohne körperliche Untersuchung der Klägerin, erstellt worden sind, kann sich schon deshalb nicht zu deren Nachteil ausgewirkt haben, weil die von der Klägerin geltend gemachten Erkrankungen und körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen als solche nicht streitig sind. Die maßgebliche Frage, ob vorhandene Leidenszustände mit der Einnahme von Thalidomid durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können, beruht demgegenüber weiten Umfangs auf Erfahrungswissen und erfordert daher keiner gesonderten körperlichen Untersuchung. Dass der Gutachter für den orthopädischen Bereich, Privatdozent Dr. H., die Ursächlichkeit von Thalidomid für die Schädigungen der Klägerin nicht ausgeschlossen habe, ergibt sich aus seiner Stellungnahme vom 26. November 2011 entgegen der klägerischen Darstellung nicht. Soweit in dieser Stellungnahme ausgeführt ist, "Ich kann in der Akte keine Hinweise auf einen Conterganschaden finden", spricht diese Feststellung vielmehr für die gegenteilige Annahme. Lediglich dem der Stellungnahme von Dr. H. vorangegangenen Gutachten des Dr. T.-I. vom 3. Juni 2011 konnte eine gewisse Ergebnisoffenheit entnommen werden, die darauf beruhte, dass die Begutachtung der orthopädischen Befunde durch Dr. H. noch ausstand und für den Fall einer positiven Bewertung durch Dr. H. offensichtlich in Betracht kam, nach Maßgabe dann noch einzuholender weiterer Gutachten auch andere körperliche Beeinträchtigungen der Klägerin in einen Gesamtkomplex teratogener Schädigungen einzubeziehen; für den Fall einer negativen Begutachtung für das orthopädische Fachgebiet ‑ wie sie dann auch erfolgte ‑ kann dem Gutachten von Dr. T.-I. indes eine solche Ergebnisoffenheit nicht mehr zugesprochen werden. Schließlich hat die Klägerin auch nicht dargelegt, inwiefern weitere körperliche Untersuchungen zu von der gegebenen Begutachtungslage abweichenden Erkenntnissen hätten führen können.
7Auch ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergeben sich nicht. Solche Zweifel liegen vor, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angegriffenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
8Vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. März 2007 ‑ 1 BvR 2228/02 ‑, NVwZ‑RR 2008, 1 = GewArch 2007, 242 = juris, Rn. 25.
9Ernstliche Zweifel werden zunächst nicht dadurch aufgeworfen, dass das Verwaltungsgericht seiner Prüfung einen unzutreffenden Maßstab für die zu fordernde Wahrscheinlichkeit der Thalidomid‑Verursachung zugrundegelegt hätte. Das Verwaltungsgericht hat im Einklang mit der ständigen Senatsrechtsprechung hervorgehoben, dass der Kreis der Anspruchsberechtigten nach § 12 Abs. 1 ContStifG weit gefasst sei, weil angesichts der Komplexität insbesondere der medizinischen Fragestellungen eine über jeden Zweifel erhabene Kausalitätsfeststellung ‑ in die eine wie in die andere Richtung ‑ kaum jemals möglich sein dürfte. Soweit das Verwaltungsgericht weiter ausführt, für die Zuerkennung der Leistungsberechtigung könne es jedoch nicht ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen sei, weil sich sonst der anspruchsberechtigte Personenkreis nicht verlässlich eingrenzen lasse, stimmt das mit dem auch vom Senat eingenommenen Standpunkt überein. Denn auch bei zugunsten potenzieller Anspruchsberechtigter relativ weit gefassten Voraussetzungen muss angesichts der theoretisch durchaus vielfältigen und wohl noch nicht bis ins Letzte ergründeten Ursachen für kongenitale Missbildungen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine gerade auf Thalidomideinnahme beruhende Schädigung werdenden Lebens vorliegen.
10Eine solche Wahrscheinlichkeit hat das Verwaltungsgericht mit Gründen verneint, denen die Klägerin keine schlüssigen Argumente entgegenzusetzen vermag. Soweit sie die Notwendigkeit einer unmittelbaren körperlichen Untersuchung behauptet, ist ‑ wie auch schon im Zusammenhang mit dem Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO ‑ darauf hinzuweisen, dass die ursächliche Zuordnung des Schädigungsbildes auch aufgrund der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen und ergänzend aufgrund der vorgelegten Fotografien und Röntgenaufnahmen getroffen werden konnte und nichts dafür spricht, dass etwaige Details, die erst nach einer vertiefenden Diagnostik hervorträten, diese Zuordnung ändern könnten. Soweit die Klägerin auf eine in Eigeninitiative in die Wege geleitete Befunderhebung mit einem Untersuchungstermin am 2. September 2015 hinweist, ist sie darauf nachfolgend nicht mehr zurückgekommen.
11Nach alledem weist die Sache auch keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.
12Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 188 Satz 2 VwGO.
13Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Klägerin.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
Tatbestand
2Der am 00.00.1961 geborenen Klägerin wurden aufgrund eines Antrages vom 20.11.1972 mit Bescheid vom 04.02.1974 Leistungen nach dem Gesetz über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ bewilligt. Als conterganbedingte Fehlbildungen wurden in dem Bescheid die folgenden Körperschäden aufgeführt:
3Daumenschaden zweigliedrig, zweiseitig
4Langfingerschaden, zweiseitig
5Mittelschwerer Unterarm- mit Ellenbogenschaden, einseitig
6Schwerer Unterarm- mit Ellenbogenschaden, einseitig
7Rechte Hüfte pauschal
8Linke Hüfte pauschal
9Wirbelsäule pauschal.
10Für diese Schädigung wurde auf der Grundlage einer orthopädischen Punktebewertung von Prof. Dr. E. N. vom 21.04.1973 mit 132,5 Punkten (alte Bewertung) eine Gesamtpunktzahl von 26,50 nach der aktuellen medizinischen Punktetabelle festgesetzt.
11Im Jahr 1979 wurde im Zusammenhang mit der erforderlichen Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Überprüfung der conterganbedingten Körperschäden der Klägerin durch Prof. Dr. E. N. durchgeführt. Hierbei revidierte Prof. N. die am 21.04.1973 dokumentierten Diagnosen. Im Bereich der unteren Extremitäten (Ziff. III und IV) vermerkte Prof. N. , dass kein Hüftschaden, aber stattdessen ein Knieschaden beidseits vorliege. Dieser Beurteilung lagen u.a. aktuell gefertigte Röntgenaufnahmen des Beckens, der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten zugrunde (vgl. Befundbericht Dr. N. , Anlage K 11 zum Schriftsatz der Kl./PB vom 11.11.2013, Bl. 78 d. A.). Im Befundbericht wurde u.a. festgestellt, dass die linke Beckenhälfte um knapp 1 cm tiefer als die rechte stehe. Krankhafte Veränderungen im Bereich des Beckens seien nicht erkennbar. Die geringe Cox valga könne noch als physiologisch angesehen werden. Da die Schwere der Körperschäden im Bereich der hauptsächlich betroffenen oberen Gliedmaßen und der Wirbelsäule (Skoliose) aber deutlich höher als im Jahr 1973 beurteilt wurde, ermittelte Prof. N. eine orthopädische Punktzahl von nunmehr 172,5 Punkten nach alter Bewertung. Eine Weiterleitung dieser neuen Begutachtung an die Conterganstiftung und eine entsprechende Änderung des Bewilligungsbescheides erfolgten 1979 nicht.
12Am 11.09.2009 stellte die Klägerin einen Revisionsantrag. Zur Begründung trug sie vor, es sei für sie nicht ersichtlich, dass ihr Schulterschaden, die überzähligen Finger beidseits sowie der Wirbelsäulenschaden (Skoliose) berücksichtigt worden seien. Ferner bat sie um eine Überprüfung, ob die festgestellten Schäden korrekt bepunktet worden seien. Mit e-mail vom 22.01.2010 bat die Klägerin um Übersendung ihrer Begutachtungsunterlagen.
13Im Änderungsbescheid vom 30.03.2010 wurde die Beurteilung der conterganbedingten Körperschäden auf der Grundlage der geänderten Bewertung von Prof. N. aus dem Jahr 1979 revidiert. Der bisher zuerkannte Hüftschaden wurde dementsprechend nunmehr verneint, die Punkte nach der medizinischen Punktetabelle für den Schaden „rechte Hüfte pauschal“ und „linke Hüfte pauschal“ (4 Punkte) wurden abgezogen. Dafür wurden der Klägerin 4 Punkte für die bisher nicht anerkannten Knieschäden angerechnet. Insgesamt erhöhte sich die Gesamtpunktzahl jedoch wegen der höher bewerteten Körperschäden im Bereich von oberen Extremitäten und Wirbelsäule auf 34,50 Punkte nach der medizinischen Punktetabelle. Mit dem Änderungsbescheid wurden der Klägerin daher eine höhere Kapitalentschädigung einschließlich Zinsen, sowie rückwirkend eine höhere Rente und eine höhere jährliche Sonderzahlung bewilligt. Der Nachzahlungsbetrag belief sich auf 27.891,14 Euro.
14Der Bescheid war mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen und wurde am 03.04.2010 mit Einschreiben/Rückschein zugestellt.
15Mit Schreiben der Beklagten vom 21.06.2010 wurden der Klägerin die von ihr gewünschten Kopien der ärztlichen Unterlagen übersandt. Mit e-mail vom 21.08.2010 wandte sich die Klägerin sodann an die Beklagte und bat um Überprüfung der Berechnung ihrer Schadenspunkte im Bescheid vom 30.03.2010, insbesondere im Hinblick auf den Abzug der Punkte für den Hüftschaden. Mit Schreiben vom 25.01.2012 und vom 03.12.2012 erläuterte die Beklagte die Vergabe der Punkte im Änderungsbescheid vom 30.03.2010.
16Mit Schreiben vom 09.03.2012 stellte die Klägerin einen weiteren Revisionsantrag. Sie beanstandete im Wesentlichen, dass ihr die bisher für den Hüftschaden anerkannten Punkte (4 Punkte) gestrichen worden seien und bat um Mitteilung der Rechtsgrundlage. Außerdem sei ihr durch das Verschulden der Conterganstiftung bisher zu wenig Rente gezahlt worden, ohne dass die Nachzahlung nunmehr verzinst werde. Leider habe sie seinerzeit den Widerspruch gegen den Revisionsbescheid nicht fristgerecht einlegen können, weil sie sämtliche Unterlagen, die sie von der Stiftung angefordert habe, nicht rechtzeitig erhalten habe.
17Mit einem Nachtrag vom 19.03.2012 machte sie darüber hinaus geltend, dass sie ausweislich einer Röntgenuntersuchung vom 31.08.1979 an der Uniklinik Heidelberg an einem Beckenschiefstand leide; die linke Beckenhälfte stehe knapp 1 cm tiefer als die rechte. Ferner seien die Dysplasien beider Schulter- und Ellenbogengelenke bisher nicht zutreffend berücksichtigt.
18Mit Bescheid der Conterganstiftung vom 14.03.2013 wurde dem Revisionsantrag teilweise stattgegeben. Der Bescheid wurde am 15.03.2013 bei der Post aufgegeben. Die Anerkennung der Dysplasien beider Schulter- und Ellenbogengelenke führte zu einer Erhöhung der Gesamtpunktezahl von 34,50 auf 38,50 und einer entsprechenden rückwirkenden Erhöhung der Rente.
19Hinsichtlich des geltend gemachten Hüftschadens (Beckenschiefstand) wurde der Antrag abgelehnt. Zur Begründung wurde angegeben, beide Hüftgelenke seien ohne Hinweis auf eine Dysplasie.
20Im Hinblick auf die Aufhebung der Anerkennung des Hüftschadens durch den Änderungsbescheid vom 30.03.2010 wurde ausgeführt, es habe sich hierbei nur um eine Änderung in der Begründung des Bewilligungsbescheides gehandelt, nicht um eine Änderung im regelnden Teil des Bescheides. Die aberkannten Punkte für den Hüftschaden seien mit den Punkten für die zusätzlich festgestellten Knie-Schäden verrechnet worden. Da im Ergebnis die Gesamtpunkte sowie die bewilligten Leistungen gestiegen seien, liege auch kein Widerruf oder Teilwiderruf des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nach § 49 VwVfG vor. Jedenfalls habe die Klägerin keinen Widerspruch gegen den Bescheid vom 30.03.2010 eingelegt. Dieser sei somit bestandskräftig.
21Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben ihrer früheren Prozessbevollmächtigten am 16.04.2013 Widerspruch ein, den sie mit Schreiben vom 25.04.2013 ergänzend begründete.
22Am 26.07.2013 hat die Klägerin Untätigkeitsklage erhoben, nachdem die Beklagte in der Zwischenzeit nicht über den Widerspruch entschieden hatte.
23Mit Widerspruchsbescheid vom 07.10.2013 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. In der Begründung wurde ausgeführt, ein thalidomidbedingter, nach den Richtlinien anzuerkennender Hüftschaden oder eine Hüftfehlbildung habe bei der Klägerin zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Beide Hüftgelenke seien radiologisch völlig unauffällig. Dies habe Herr Prof. N1. bereits in seiner Begutachtung 1979 festgestellt und Herr Prof. G. in seinem Gutachten vom 02.02.2013 bestätigt.
24Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens habe sich Herr Dr. O. erneut mit der Frage befasst und in seiner Stellungnahme vom 09.06.2013 festgestellt, dass keine Fehlbildung der Hüfte vorliege. Es sei allenfalls eine leichte Beinlängendifferenz zu verzeichnen, die sich aber innerhalb der Spanne bewege, die auch bei gesunden Menschen ohne conterganbedingte Schädigung möglich sei. Die medizinische Punktetabelle sehe hierfür keine Schadenspunkte vor.
25Die Klägerin vertritt weiterhin die Auffassung, dass ihr die 4 Punkte für den pauschalen Hüftschaden zu Unrecht aberkannt worden seien. Ein Beckenschiefstand liege ausweislich der vorliegenden Röntgenbilder und ärztlichen Gutachten seit 1968 vor und sei im Bescheid von 1974 bestandskräftig anerkannt worden. Die Änderung der Beurteilung im Jahr 1979 sei nicht nachvollziehbar. Das Conterganstiftungsgesetz sehe vor, dass im Zweifel eine Thalidomidschädigung angenommen werden müsse.
26Die Aberkennung des Hüftschadens sei weder gemäß § 49 VwVfG noch gemäß § 48 VwVfG zulässig. Diese Vorschriften könnten auch nicht durch eine Verrechnung der Punkte umgangen werden. Bei der Aberkennung des Hüftschadens handele es sich um einen selbständigen, belastenden Verwaltungsakt. Bei der Anerkennung der Punkte für den Knieschaden handele es sich um einen davon unabhängigen, begünstigenden Verwaltungsakt. Eine andere Sichtweise würde die Klägerin rechtsschutzlos stellen und gegen das Rechtsstaatsprinzip und das rechtliche Gehör verstoßen. Die Klägerin sei nämlich vor Erlass des Änderungsbescheides entgegen § 28 VwVfG nicht angehört worden.
27Eine Änderung der Sachlage nach § 49 Abs. 2 Satz 1 VwVfG liege nicht vor, da der Beckenschiefstand bereits seit der Geburt bestehe. Es komme jedoch auch eine Rücknahme des Bescheides von 1974 gemäß § 48 VwVfG nicht in Betracht, da der ursprüngliche Bewilligungsbescheid rechtmäßig gewesen sei. Die Beklagte habe den Sachverhalt des Hüftschiefstandes seinerzeit zutreffend ermittelt und als pauschalen Hüftschaden mit 4 Punkten bewertet. Selbst im Fall einer Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides von 1974 stehe einer Rücknahme § 48 Abs. 2 VwVfG entgegen, da die Klägerin auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides vertraut und im Vertrauen darauf die gewährte Geldleistung verbraucht habe. Darüber hinaus sei die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG bereits abgelaufen gewesen.
28Die Verrechnung mit dem Punktwert für den Knieschaden sei nicht zulässig gewesen. Hierdurch habe die Beklagte eine „unrechtmäßige Rentenrückforderung“ bei der Klägerin vollzogen. Eine Rückforderung für die Vergangenheit scheide aber aus Rechtsgründen aus, wie sich auch aus dem von der Beklagten eingeholten Rechtsgutachten der Kanzlei Himmelreich vom 09.01.2013 ergebe, das von der Klägerin in Auszügen vorgelegt wird.
29Der Änderungsbescheid vom 30.03.2010 stehe einer Geltendmachung der Rechte der Klägerin nicht entgegen. Der Revisionsantrag stelle einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 VwVfG dar, dem mit Bescheid vom 14.03.2013 stattgegeben worden sei. Außerdem seien mit Bescheid vom 14.03.2013 der Bescheid vom 04.02.1974, aber auch der Änderungsbescheid vom 30.03.2010 abgeändert worden. Daher handele es sich um eine neue Beschwer.
30In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten übereinstimmend mitgeteilt, dass der Klägerin zwischenzeitlich durch die Beklagte weitere 4 Schadenspunkte für ein Carpaltunnelsyndrom zuerkannt worden sind, sodass die bisher festgestellte Gesamtpunktzahl nunmehr bei 42 Punkten liegt.
31In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
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1. die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 14.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2013 zu verpflichten, ihr eine Rente nach dem Conterganstiftungsgesetz auf der Basis einer Gesamtpunktzahl von 46,00 in gesetzlicher Höhe zu gewähren,
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2. der Klägerin rückwirkend zum 01.10.1972 eine monatliche Rente auf dieser Basis in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Nach der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit einem Schriftsatz, der am 24.02.2015 um 18.43 bei Gericht einging, über die in der mündlichen Verhandlung gestellten Anträge hinaus zusätzlich die rückwirkende Bewilligung einer Jahressonderzahlung sowie die rückwirkende Bewilligung einer Kapitalentschädigung zuzüglich Zinsen auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46, hilfsweise 42 Punkten und ferner die Zahlung von Prozesszinsen auf die Nachzahlungsbeträge beantragt.
37Die Beklagte beantragt,
38die Klage abzuweisen.
39Die Klage sei unbegründet. Die medizinischen Sachverständigen der Beklagten seien seit 1979 übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass Schäden an den Hüftgelenken im Sinne von Nr. 1.A.3. lit a) bis d) der Medizinischen Punktetabelle nicht vorlägen. Bei der Klägerin sei weder eine präarthrotische Deformität der Hüftgelenke zu verzeichnen, noch eine Hüftgelenksluxation oder –aplasie. Dies bestreite die Klägerin auch nicht.
40Bei der Klägerin bestehe auch keine sonstige, nach Ziff. III. Unterabsatz 2. der Richtlinien zu bewertende thalidomidbedingte Fehlbildung der Hüfte. Insbesondere stehe aufgrund der Gutachten von Prof. G. und Dr. O. fest, dass ein Beckenschiefstand für sich genommen keine Hüftfehlbildung darstelle, da Ursache für den Beckenschiefstand eine Verkürzung des linken Beines sei und eine Thalidomidbedingtheit der Beinverkürzung nicht festgestellt werden könne. Vielmehr sei der bei der Klägerin vorliegende geringfügige Beckenschiefstand ein auch in der Normalbevölkerung nicht selten vorkommendes Phänomen, welches nicht auf die Einnahme von Thalidomid zurückgeführt werden könne. Dies habe auch Prof. N1. im Jahr 1979 so gesehen, da er zwar den Beckenschiefstand festgestellt habe, die zuvor für einen Hüftschaden angesetzten Schadenspunkte aber gestrichen habe. Ein Zweifelsfall, in dem die Anerkennung eines thalidomidbedingten Schadens möglich sei, liege also gerade nicht vor. Im Übrigen werde mit Nichtwissen bestritten, ob der Beckenschiefstand tatsächlich bereits bei der Geburt vorgelegen habe.
41Schließlich halte die Beklagte daran fest, dass es sich bei der im Bescheid vom 30.03.2010 enthaltenen Aberkennung von 4 Punkten für den Hüftschaden lediglich um eine Änderung der Begründung handele. Diese habe sich auch nicht zum Nachteil der Klägerin ausgewirkt, da sie durch die Zuerkennung des Knieschadens mit 4 Punkten ausgeglichen worden sei. Die Vorschriften für die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten in §§ 48, 49 VwVfG fänden daher keine Anwendung. Eine Anhörung der Klägerin vor Erlass des begünstigenden Änderungsbescheides sei entbehrlich gewesen.
42Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
43E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
44Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung beantragt hat, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2013 zu verpflichten, ihr auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten eine höhere Conterganrente – auch rückwirkend – zu bewilligen, ist die Klage als Verpflichtungsklage zulässig. Die Bewilligung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz erfolgt gemäß § 16 Abs. 6 ContStifG in Form eines begünstigenden Verwaltungsakts. Daher ist die Ablehnung eines Antrags auf Erhöhung der Leistungen (Revisionsantrag) ebenfalls ein Verwaltungsakt. Die statthafte Klageart ist somit die Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 2. Alt. VwGO.
45Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer höheren Conterganrente auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten. Der Bescheid der Beklagten vom 14.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2013 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO. Die Beklagte hat die Anerkennung von 4 zusätzlichen Punkten für einen Beckenschiefstand oder einen sonstigen Hüftschaden, die zur Berechnung einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten erforderlich wäre, zu Recht abgelehnt.
46Anspruchsgrundlage für die begehrte Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin eine höhere Rente nach dem ContStifG zu gewähren, ist § 12 Abs. 1 ContStifG i.d.F. der Bekanntmachung vom 25.06.2009 (BGBl. I 1537), zuletzt geändert durch das Dritte Gesetz zur Änderung des ContStifG vom 26.06.2013 (BGBl. I 1847) i.V.m. § 13 Abs. 2 ContStifG. Nach diesen Vorschriften setzt die Gewährung von Leistungen nach § 12 ContStifG voraus, dass der Antragsteller Fehlbildungen aufweist, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH durch die Mutter in der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können.
47Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist bewusst weit gefasst, um zugunsten etwaiger Betroffener der Unmöglichkeit einer über jeden Zweifel erhabenen Kausalitätsfeststellung Rechnung zu tragen,
48vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 02.12.2011 - 16 E 723/11 - , vom 25.03.2013 - 16 E 1139/12 - und vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 - .
49Aus Sicht der Kammer muss es jedoch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gerade die Einwirkung von Thalidomid während der Embryonalentwicklung gewesen sein, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit den Fehlbildungen des Antragstellers steht. Würde es dagegen ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen ist, ließe sich der anspruchsberechtigte Personenkreis, der nach dem Willen des Gesetzgebers von Leistungen aus dem Stiftungsvermögen profitieren soll, nicht verlässlich eingrenzen,
50vgl. Urteile der Kammer vom 20.01.2015 - 7 K 7276/12 - und 7 K 1942/13 - .
51Im vorliegenden Verfahren ist es zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Klägerin wegen einer Conterganeinnahme ihrer Mutter in der Schwangerschaft Fehlbildungen aufweist, die durch dieses Medikament verursacht worden sind. Insbesondere wurden bei der Klägerin mit den Bescheiden vom 04.02.1974, 30.03.2010 und 14.03.2013 erhebliche orthopädische Schädigungen im Bereich der oberen Extremitäten, eine Schädigung der Kniegelenke sowie eine Skoliose 1. Grades der Brustwirbelsäule anerkannt.
52Jedoch lässt sich nicht feststellen, dass die Klägerin darüber hinaus unter einer thalidomidbedingten Schädigung ihres Hüftgelenkes oder des Beckens leidet. Daher können ihr für diesen geltend gemachten Körperschaden die begehrten 4 zusätzlichen Punkte nach der Medizinischen Punktetabelle nicht angerechnet werden, die zu einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten und damit zu einer Rentensteigerung von 3.075 Euro auf 3.686 Euro gemäß der Anlage 3 der „Richtlinien für die Gewährung von Leistungen wegen Contergan-Schadensfällen“ vom 16.07.2013 führen würden.
53Der bei der Klägerin unstreitig vorliegende Beckenschiefstand ist keine Fehlbildung, die nach ihrem „Erscheinungsbild“,
54vgl. zu dessen Bedeutung für die Annahme einer ursächlichen Verbindung: Begründung des Gesetzentwurfs für die Errichtung einer nationalen Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“, BT-Drs. VI/926, S. 8 zu § 13,
55so beschaffen ist, dass sie mit Wahrscheinlichkeit auf die Einwirkung von Thalidomid während der Frühschwangerschaft der Mutter zurückzuführen ist. Diese - geringe - Fehlstellung der Hüfte gehört nicht zu den charakteristischen thalidomidbedingten Fehlbildungen, wie sie in der Medizinischen Punktetabelle und der wissenschaftlichen Literatur ihren Ausdruck gefunden haben. Sie ist auch nicht vereinzelt im Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid in der Schwangerschaft festgestellt worden,
56vgl. zu diesem Kriterium: OVG NRW, Beschluss vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 - juris.
57Hiervon ist die Kammer nach der Auswertung der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen der Mitglieder der Medizinischen Kommission der Beklagten überzeugt.
58In der Medizinischen Punktetabelle in Anlage 2 der „Richtlinien für die Gewährung von Leistungen wegen Contergan-Schadensfällen“ vom 16.07.2013 sind unter Ziff. 1. „Orthopädische Schäden“, B.3 Schäden an den Hüftgelenken aufgeführt. Die dort genannten Deformitäten des Hüftgelenks (Ziff. 3. a – c), eine Hüftgelenksluxation (Verrenkung des Hüftgelenks) oder eine Hüftgelenksaplasie (Nichtanlage des Hüftgelenks) liegen nach den vorliegenden Röntgenbildern unstreitig nicht vor.
59Dies haben Prof. Dr. N1. im Befundbericht vom 31.08.1979 (Bl. 78 d. A.), Prof. Dr. G. im Gutachten vom 02.02.2013 (Bl. 85 d. A.) und Dr. O. in der Stellungnahme vom 09.06.2013 (Bl. 154 d. A.) übereinstimmend und plausibel festgestellt. Vielmehr sind die Hüftgelenke der Klägerin radiologisch unauffällig. Sie weisen keine „Fehlbildung“, also keine geburtsbedingte Fehlgestaltung eines Organs in Form oder Größe oder das Fehlen eines Organs, im Sinne des § 12 Abs. 1 ContStifG auf.
60Es kann auch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass eine in Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid stehende atypische Fehlbildung der Hüfte oder des Beckens vorliegt, die nicht in der Punktetabelle aufgeführt ist (Ziff. III der Medizinischen Punktetabelle).
61Vielmehr ist der bei der Klägerin unstreitig vorliegende Beckenschiefstand, bei dem die linke Hälfte des Beckens ca. 1 cm tiefer steht als die rechte Hälfte, überhaupt keine „Fehlbildung“ eines Organs oder Organsystems, die durch eine Störung der Organentwicklung in der Frühschwangerschaft hervorgerufen wird. Es handelt sich um eine sehr häufig auftretende „Fehlstellung“, die auch bei ansonsten gesunden Menschen entweder seit Geburt vorliegen oder im Lauf des Lebens erworben werden kann und auf zahlreichen verschiedenen Ursachen beruhen kann.
62Laut einer Analyse der WHO aus dem Jahr 2007 liegt bei rund 70 % aller Menschen mindestens eine leichte Schiefstellung des Beckens vor, die jedoch nur selten zu ernsthaften Beschwerden führt. Damit ist ein wirklich gerades Becken also eher die Ausnahme,
63vgl. www.apotheken-umschau.de/Knochen/Was-hilft-bei-einem Beckenschiefstand?, Abruf vom 18.02.2015; www.onmeda.de/krankheiten/beckenschiefstand.html, Abruf vom 18.02.2015.
64Ein Beckenschiefstand kann auf muskulären Verspannungen der Gesäßmuskulatur und der unteren Rückenmuskulatur beruhen („funktionelle Kippung“) oder auch anatomische Ursachen haben, z.B. eine Beinlängendifferenz oder eine verkrümmte Wirbelsäule („strukturelle Kippung“),
65vgl. www.apotheken-umschau.de/Knochen/Was-hilft-bei-einem Beckenschiefstand?, Abruf vom 18.02.2015; www.onmeda.de/krankheiten/beckenschiefstand.html, Abruf vom 18.02.2015; www.apotheken-umschau.de „Skoliose“, Abruf vom 18.02.2015.
66Der Beckenschiefstand ist somit eine Folgeerscheinung anderer körperlichen Fehlfunktionen (Muskelverspannungen) oder Anomalien anderer Organe (Beinlängendifferenz, Skoliose), die auch bei nicht thalidomidgeschädigten Personen häufig auftreten. Dies spricht entscheidend dagegen, dass ein Beckenschiefstand durch eine Thalidomideinnahme während der Schwangerschaft entstehen kann.
67Diese Annahme wird bestätigt durch die wissenschaftliche Literatur zu den Erscheinungsformen der thalidomidbedingten Körperschäden, in denen ein Beckenschiefstand nicht erwähnt wird. Dort werden als thalidomidbedingte Hüftschäden beschrieben: Dysplasien der Hüftgelenke, Hüftgelenksluxationen und Perthes-ähnliche Befunde des Femurknochens, aber kein Beckenschiefstand,
68Vgl. R W Smithells/C G H Newman, Recognition of thalidomide defects, J. Med Genet 1992, 716, 719 f.; Peters, Thalidomid-Embryopathie: eine vielfältige Katastrophe, Pädiatrie hautnah 2014, 44, 46.
69Sämtliche Mitglieder der Medizinischen Kommission der Beklagten, die seit 1979 mit dem Fall befasst waren, nämlich Prof. N1. , Prof. G. und Dr. O. haben in Kenntnis des Beckenschiefstandes eine thalidomidbedingte Fehlbildung der Hüfte eindeutig und übereinstimmend verneint.
70Die Klägerin hat auch keine ärztlichen Gutachten vorgelegt, aus denen sich Anhaltspunkte dafür ergeben könnten, dass der Beckenschiefstand auf die Einnahme von Contergan zurückzuführen sein könnte. Sie kann sich allein auf die frühere Bewertung von Prof. N1. aus dem Jahr 1973 berufen, der bei der Klägerin seinerzeit einen „Hüftschaden pauschal“ diagnostiziert hat.
71Diese sehr vage Diagnose ist jedoch von Prof. N1. nicht begründet worden und aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen auch nicht nachvollziehbar. Ein konkreter Befund hinsichtlich der Hüfte oder des Beckens lässt sich aus dem Bewertungsbogen vom 21.04.1973 nicht entnehmen (vgl. Bl. 006 und 001 BA 5). Insbesondere gibt es keinerlei schriftlichen Hinweis auf einen Beckenschiefstand.
72Auch aus den übrigen ärztlichen Unterlagen und Schreiben der Eltern, die der Medizinischen Kommission im Jahr 1973 vorlagen (Bl. 061 BA 5), ergeben sich keine Anhaltspunkte für einen Hüftschaden oder Beckenschiefstand. Vielmehr ist die Klägerin bis 1973 ausweislich des Briefes ihres Vaters vom 29.08.1973 (Bl. 062 BA 5) ausschließlich wegen der deutlich sichtbaren Schäden der oberen Extremitäten untersucht und behandelt worden.
73Jedenfalls kann sich die Klägerin auf die Feststellung eines Hüftschadens durch Prof. N1. aus dem Jahr 1973 heute nicht mehr berufen, weil Prof. N1. die Diagnose im Jahr 1979 selbst widerrufen hat. Obwohl auf den neu angefertigten Röntgenbildern des Beckens, der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten ein Beckenschiefstand sichtbar war, hat Prof. N1. einen Hüftschaden klar verneint und stattdessen einen Knieschaden festgestellt (Bl. 013 BA 5 und Bl. 78 R und 79 Gerichtsakte). Diese Änderung der Begutachtung ist – im Gegensatz zu der ursprünglichen Diagnose im Jahr 1973 – auf der Grundlage der Erkenntnisse aus den Röntgenbildern von 1979 auch nachvollziehbar und plausibel.
74Damit kann der bei der Klägerin vorliegende Beckenschiefstand mit der Einnahme von Thalidomid durch die Mutter in der Schwangerschaft nicht in Verbindung gebracht werden.
75Die Klägerin kann sich auch nicht darauf berufen, dass die im Bewilligungsbescheid vom 04.02.1974 aufgeführten 4 Punkte für einen „Hüftschaden pauschal“ bestandskräftig anerkannt sind und daher - unabhängig von einem tatsächlich bestehenden Thalidomid schaden - weiterhin angerechnet werden müssen.
76Eine bestandskräftige Anerkennung eines Hüftschadens im Umfang von 4 Punkten liegt nicht vor. Die mit der materiellen Bestandskraft eines Verwaltungsaktes verbundene Bindungswirkung bezieht sich nur auf den Entscheidungssatz, aber nicht auf die wesentlichen Gründe oder Vorfragen,
77vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG 14. Aufl. 2013, § 43, Rn. 31.
78Der Bewilligungsbescheid vom 04.02.1974 ist daher nur hinsichtlich der darin ausgesprochenen Festsetzung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz, hier der Festsetzung einer Rente und einer Kapitalentschädigung, in Bestandskraft erwachsen, aber nicht hinsichtlich der festgestellten Körperschäden. Dies ist aus § 16 Abs. 6 ContStifG abzuleiten, wonach der Stiftungsvorstand auf der Grundlage der Entscheidung und Bewertung der Kommission nach § 6 Abs. 2 die Leistungen nach Maßgabe der Richtlinien durch schriftlichen Verwaltungsakt festsetzt. Diese Bestimmung wird in § 9 Abs. 8 der Satzung der Conterganstiftung für behinderte Menschen vom 19.06.2013 nochmals aufgegriffen und bestätigt. Danach setzt der Stiftungsvorstand beim Verfahren nach Abschnitt 2 ContStifG die Leistungen fest, erteilt der Antrag stellenden Person einen Bescheid und entscheidet über eventuell erhobene Widersprüche.
79Die von der Medizinischen Kommission nach § 16 Abs. 2 ContStifG zu treffende Entscheidung darüber, ob ein Körperschaden nach § 12 ContStifG vorliegt und wie dieser zu bewerten ist, dient lediglich der Vorbereitung des anschließenden Leistungsbescheides. Sie dient zwar der Feststellung der wesentlichen Anspruchsvoraussetzungen und ist daher hinsichtlich des einzuhaltenden Verfahrens in § 16 Abs. 2 bis Abs. 5 ContStifG ausführlich geregelt. Es handelt sich jedoch nicht um einen selbständigen Verwaltungsakt, der dem eigentlichen Leistungsbescheid vorgelagert wäre. Ein Verwaltungsakt ist entsprechend der Definition in § 35 VwVfG jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Diese Voraussetzungen werden durch die Entscheidung der Kommission über den Schadensfall nicht erfüllt. Denn die Medizinische Kommission ist zum einen keine Behörde. Behörde ist allein der Stiftungsvorstand, der die Geschäfte der Stiftung führt, insbesondere über die Vergabe der Stiftungsmittel entscheidet sowie die Stiftung nach § 7 Abs. 5 ContStifG gerichtlich und außergerichtlich vertritt. Die Medizinische Kommission ist ein dem Stiftungsvorstand untergeordneter Ausschuss (§ 16 Abs. 2 ContStifG), der nicht mit Hoheitsrechten ausgestattet ist, sondern lediglich eine sachverständige Beurteilung einer Vorfrage des Leistungsanspruchs vornimmt. Zum anderen hat diese Entscheidung der Kommission keine Außenwirkung, da sie nicht unmittelbar Rechte des Betroffenen begründet. Dies zeigt sich bereits darin, dass die Entscheidung der Kommission über den Schadensfall dem Betroffenen gegenüber nicht als selbständiger Verwaltungsakt bekanntmacht wird. Rechte des Betroffenen werden erst durch den nachfolgenden Bescheid der Conterganstiftung über die Festsetzung der Leistungen begründet. Die darin mitgeteilten Feststellungen der Kommission zur Frage des Vorliegens eines thalidomidbedingten Geburtsschadens und seiner Schwere sind somit lediglich Teil der Begründung des Bescheides, die grundsätzlich nicht bestandskräftig wird.
80Die wesentlichen Gründe oder Vorfragen der Entscheidung nehmen nur ausnahmsweise an der Bestandskraft des Verwaltungsakts teil, wenn das Fachgesetz bestimmte Feststellungen mit einer speziellen Wirkung ausstattet,
81vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG,14. Aufl.2013, § 43 Rn. 31 und 26.
82Dies ist hier aber nicht der Fall. Aus § 16 ContStifG ergibt sich nicht, dass die Entscheidung der Kommission über den Schadensfall mit einer bestimmten Feststellungswirkung ausgestattet ist oder an der Bestandskraft des Bewilligungsbescheides teilnimmt. Dies wäre auch nicht im Interesse der Anspruchsberechtigten. Wenn die einzelnen zuerkannten Körperschäden bestandskräftige Feststellungen wären, könnte der Berechtigte eine Änderung dieser Feststellungen mit der Folge der Leistungserhöhung nicht mehr mit einem einfachen Änderungsantrag (Revisionsantrag verlangen), sondern nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 51 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens.
83Da die Feststellungen des Leistungsbescheides vom 04.02.1974 zu den Körperschäden somit nicht an der Bestandskraft des Bescheides teilhaben, war die Beklagte an die Anerkennung des Hüftschadens mit 4 Punkten nicht gebunden. Da ein thalidomidbedingter Hüftschaden nach den obigen Ausführungen tatsächlich nicht vorliegt, war die Beklagte berechtigt, die 4 Punkte für diesen zu Unrecht anerkannten Schaden bei der Neuberechnung abzuziehen.
84Einer teilweisen Rücknahme des Bewilligungsbescheides nach § 48 VwVfG oder eines teilweisen Widerrufs der Bewilligung nach § 49 VwVfG bedurfte es hierzu nicht. Bei der Rücknahme und dem Widerruf handelt es sich um eine Aufhebung oder eine teilweise Aufhebung eines Verwaltungsakts. Gegenstand der Aufhebung kann auch in diesem Zusammenhang nur die in dem Verwaltungsakt getroffene Regelung sein, hier also der Leistungsausspruch. Werden durch einen Änderungsbescheid daher Leistungen für die Vergangenheit oder die Zukunft gekürzt, handelt es sich um eine Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes, die den Einschränkungen der §§ 48 Abs. 1 Satz 2 und 49 Abs. 2 VwVfG unterliegt. Da im vorliegenden Verfahren durch den Änderungsbescheid vom 10.03.2010 Leistungen aber nicht gekürzt oder zurückgefordert wurden, sondern nach einer Verrechnung der neu zuerkannten Punkte mit den abgezogenen Punkten die Leistungen erhöht wurden, liegt keine Rücknahme bzw. kein Widerruf eines Verwaltungsaktes vor.
85Die berechtigten Interessen der Betroffenen werden auch durch die Möglichkeit der Behörde, die Feststellung der Körperschäden ohne Bindung an den Bewilligungsbescheid zu ändern und Punkte im Rahmen der Gesamtberechnung zu verrechnen, nicht unzumutbar beeinträchtigt. Führt die Aberkennung eines Körperschadens und der Abzug der dazugehörigen Punkte zu einer Reduzierung oder Rückforderung der Leistungen, sind die Vorschriften in § 48 Abs. 2 oder § 49 Abs. 2 VwVfG anwendbar, die eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Bewilligung vorsehen und den Vertrauensschutz des Betroffenen berücksichtigen.
86Führt die Neuberechnung nicht zu einer Reduzierung, sondern zu einer Erhöhung der Leistungen oder zu gleichbleibenden Leistungen, kommen zwar die §§ 48 ff. VwVfG nicht zu Anwendung. Ein Vertrauensschutz ist auch nicht geboten, weil das Vertrauen in den Bestand und die Fortgewährung der einmal bewilligten Leistungen nicht enttäuscht wird. Jedoch ist der Änderungsbescheid mit Widerspruch und Verpflichtungsklage überprüfbar, wenn der Betroffene geltend macht, dass ihm noch höhere Leistungen zu Unrecht verweigert wurden. Im Rahmen dieser Klage kann überprüft werden, ob der - bisher anerkannte - Körperschaden zu Unrecht verneint wurde und dem Antragsteller daher höhere Leistungen zustehen.
87Ungeachtet dieser Möglichkeit, von der die Klägerin keinen Gebrauch gemacht hat, hat sie aber auch deshalb keinen Rechtsnachteil erlitten, weil die Beklagte einen Hüftschaden im Rahmen des Revisionsantrages vom 09.03.2012 im Verlauf des Widerspruchsverfahrens erneut geprüft und zu Recht verneint hat. Ein berechtigtes Interesse an der Erhöhung der zuerkannten Leistungen auf der Grundlage einer unrichtigen Schadensfeststellung ist aber nicht erkennbar.
88Soweit die Klägerin nach Schluss der mündlichen Verhandlung weitere Klageanträge gestellt hat, die als Klageänderung gemäß § 91 VwGO einzustufen wären, ist die Klage bereits unzulässig. Eine Klageerweiterung nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung ist unzulässig, wenn nicht die Stellung weiterer Anträge oder die Ergänzung der Klageanträge durch einen Schriftsatznachlass gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 283 ZPO durch Beschluss des Gerichts vorbehalten worden ist,
89vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.11.2001 – 9 B 50/01 – juris.
90Ein derartiger Schriftsatznachlass ist nicht beschlossen und von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin auch nicht beantragt worden, obwohl die Ansprüche der Klägerin auf weitere Leistungen nach dem ContStifG (Kapitalentschädigung, Sonderzahlung) in der mündlichen Verhandlung zur Sprache gekommen sind.
91Es gab auch keine Veranlassung, die Wiedereröffnung der Verhandlung zu beschließen, um dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Stellung weiterer Anträge zu ermöglichen, § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO. Ein Anspruch auf Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung besteht bei versäumten Klageanträgen nicht,
92vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.11.2001 – 9 B 50/01 – juris.
93Dem Schriftsatz vom 24.02.2015 ist auch kein weiterer wesentlicher Sachvortrag zu entnehmen, der für die Entscheidung in der Sache erheblich wäre.
94Ungeachtet dessen wäre die Klage auf weitere Leistungen nach dem ContStifG auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten aus den oben erörterten Gründen auch unbegründet, da die Klägerin keine Zusatzpunkte für einen Hüftschaden verlangen kann. Aus diesem Grund besteht auch kein Anspruch auf Prozesszinsen auf Nachzahlungsbeträge. Soweit die Klägerin eine Erhöhung der Leistungen hilfsweise auf der Grundlage von 42 Punkten beantragt hat, ist ein Rechtsschutzinteresse nicht ersichtlich. Denn diese Punktzahl ist der Klägerin von der Beklagten bereits zuerkannt worden. Es ist bisher weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Beklagte der Klägerin die aus dieser Punktzahl zustehenden Leistungen verweigert hätte.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
Tatbestand
2Die am 00.00.1973 in München geborene Klägerin begehrt die Anerkennung als Contergangeschädigte und die Gewährung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz (ContStifG).
3Unter dem 09.11.2009 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Conterganrente und Kapitalentschädigung. Sie weise eine orthopädische Fehlbildung in Form der Radiusaplasie links auf. Auch sei die angeborene Analatresie auf Thalidomid zurückzuführen. Dem Antrag waren verschiedene medizinische Unterlagen und Lichtbilder sowie eine persönliche Erklärung der Klägerin beigefügt. In letzterer gab die Klägerin an, ihre Mutter habe von ihrem behandelnden Arzt in der Frauenklinik in München Tabletten bekommen gegen Übelkeit und Kopfschmerzen in der Schwangerschaft. Nach der Geburt der Klägerin sei die Mutter gefragt worden, was sie eingenommen habe. Die Mutter habe den Ärzten die Schachtel Tabletten gezeigt, woraufhin die Ärzte gesägt hätten, dass sie die Tabletten nicht hätte nehmen dürfen.
4Die Beklagte legte den Fall der medizinischen Kommission zur Beurteilung vor.
5PD Dr. H. kam aus orthopädischer Sicht in seiner Stellungnahme vom 17.04.2010 zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Fehlbildung des linken Armes wahrscheinlich um einen Conterganschaden handeln könne. Auch nicht sehr symetrische Veränderungen an den oberen Extremitäten habe es bei Contergan gegeben. Das Geburtsdatum passe hingegen überhaupt nicht. Er bitte um Nachfrage bei Kollegen anderer Fachrichtungen, ob die nicht-orthopädischen Schäden typisch oder untypisch seien.PD Dr. X. nahm auf urologischem Fachgebiet unter dem 14.09.2010 Stellung und führte aus, dass er grundsätzlich die Analatresie für einen möglichen Thalidomidschaden halte. Bezüglich der Biographie der Klägerin sei es seines Erachtens nahezu undenkbar, dass 10 Jahre nach Verkaufsende von Contergan in einem Krankenhaus ein thalidomidhaltiges Medikament verordnet worden sein soll. Die natürliche Inzidenz für die Analatresie der Klägerin sei sehr hoch und betrage 1 von 2400 bis 2600 Geburten. Aufgrund der gesamten Befundkonstellation halte er einen Conterganschaden trotz des nicht ganz untypischen Verteilungsmusters für äußerst unwahrscheinlich.Prof. Dr. L. gab unter dem 19.07.2011 an, dass die Klägerin auf der rechten Seite überhaupt keine Auffälligkeiten aufweise, während ausschließlich die linke Seite der oberen Extremitäten geschädigt sei. Eine solche streng einseitige Ausprägung einer Gliedmaßenfehlbildung spreche absolut gegen das Vorliegen einer Thalidomidembryopathie. Die Fehlbildungen der Klägerin könnten am ehesten mit einer VACTERL-Assoziation in Verbindung gebracht werden.
6Im Wesentlichen unter Wiedergabe der Ergebnisse der Stellungnahmen von PD Dr. X. und Prof. Dr. L. lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 02.04.2012 ab.
7Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und legte unter dem 08.10.2012 eine notariell beurkundete Erklärung ihrer Mutter vor. Darin erklärt diese, die Tabletten im Jahr 1972 von ihrer behandelnden Ärztin in einer Münchner Kinderklinik zur Behandlung von Übelkeit und Kopfschmerzen in der Schwangerschaft erhalten zu haben. Die Ärztin, deren Namen sie nicht kenne, habe die Tabletten aus ihrem Praxisvorrat heraus gegeben. Nach der Geburt habe sie – die Mutter der Klägerin – auf Befragen die Tabletten gezeigt und von den Ärzten erfahren, dass es sich um Contergan handele und sie die Tabletten nicht hätte einnehmen dürfen. Weitere Erklärungen seien ihr gegenüber – auch später – nicht erfolgt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Blatt 55 des Verwaltungsvorgangs (Beiakte 1) Bezug genommen.
8Die Beklagte legte den Fall Prof. Dr. G. zur fachlichen Stellungnahme aus orthopädischer Sicht vor, die dieser unter dem 24.01.2013 erstellte. Darin führt Prof. Dr. G. aus, dass bedacht werden müsse, dass die Erscheinungsbilder der Dysmelie keineswegs neu und deshalb auch kein spezifisches Merkmal der Thalidomidembryopathie seien. Die bei der Klägerin vorliegende Form der Dysmelie werde auch bei sporadisch auftretenden Fällen beobachtet und komme zudem im Rahmen bestimmter Syndrome vor. Die Thalidomid-induzierte Entwicklungsstörung der Gliedmaßen kopiere nur das Muster longitudinaler, radialer bzw. tibialer Skeletteffekte – und nur dieses. Die longitudinalen Thalidomid-induzierten Dysmelien träten jedoch in der Regel beidseitig auf und gingen weitgehend symmetrisch. Nicht zuletzt aufgrund des ungewöhnlichen Zeitraums der vorgetragenen Einnahme eines thalidomidhaltigen Präparates spreche im konkret vorliegenden Fall aufgrund der Einseitigkeit der Dysmelie der linken oberen Extremität ungleich mehr gegen eine Thalidomid-induzierte Dysmelie als dafür. Die von Prof. Dr. L. angesprochene VACTERL-Assoziation stelle zweifellos diejenige Differentialdiagnose dar, die ungleich wahrscheinlicher sei.
9Unter Hinweis auf dieses Fachgutachten wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 25.02.2013 zurück.
10Hiergegen hat die Klägerin am 06.03.2013 Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen Folgendes vorträgt:
11Sie weise die typischen Fehlbildungen der Thalidomidembryopathie. Zudem sei die Einnahme von Contergan durch die Mutter der Klägerin durch deren Erklärung belegt.
12Die Klägerin beantragt,
13die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.04.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2013 zu verpflichten, ihr Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz zu gewähren.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Sie tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und verweist im Wesentlichen auf die angefochtenen Bescheide.
17Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
18Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe
20Das Gericht konnte über die Klage ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
21Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber nicht begründet.
22Der Bescheid der Beklagten vom 02.04.2012 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 25.02.2013 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem ContStifG, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
23Anspruchsgrundlage für die begehrte Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin Leistungen nach dem ContStifG zu gewähren, ist § 12 Abs. 1 ContStifG i.d.F. der Bekanntmachung vom 25.06.2009 (BGBl. I 1537), zuletzt geändert durch das dritte Gesetz zur Änderung des ContStifG (BGBl. I 1847). Nach dieser Vorschrift setzt die Gewährung von Leistungen nach § 13 ContStifG voraus, dass der Antragsteller Fehlbildungen aufweist, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH, Aachen, durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können. Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist weit gefasst, um zugunsten etwaiger Betroffener der Unmöglichkeit einer über jeden Zweifel erhabenen Kausalitätsfeststellung Rechnung zu tragen.
24Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschlüsse vom 02.12.2011 – 16 E 723/11 –, vom 25.03.2013 – 16 E 1139/12 – und vom 14.01.2015 – 16 E 435/13 –, juris.
25Aus Sicht der Kammer muss jedoch mit Wahrscheinlichkeit gerade die Einwirkung von Thalidomid während der Embryonalentwicklung gegeben sein, die in ursächlichem Zusammenhang mit Fehlbildungen des Antragstellers steht. Würde es dagegen ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen ist, ließe sich der anspruchsberechtigte Personenkreis, der nach dem Willen des Gesetzgebers von Leistungen aus dem Stiftungsvermögen profitieren soll, nicht verlässlich eingrenzen. Die Argumente der Klägerin zielen jedoch lediglich darauf, dass eine Thalidomidschädigung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen ist.
26Die von der Klägerin geltend gemachten Fehlbildungen können nicht mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH, Aachen, durch die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden.
27Es erscheint aus Sicht des Gerichts bereits als nahezu ausgeschlossen, dass die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft Contergan einnahm.
28Dass der Mutter der Klägerin in dem Zeitraum zwischen dem 14.05.1972 und 01.06.1972 (in diesem Zeitraum befand sich laut Prof. Dr. L. die teratogene Phase der Schwangerschaft) während eines stationären Aufenthalts in einem Münchner Kinderklinikum von der diensthabenden Ärztin Contergan verabreicht worden sein soll, ist nicht glaubhaft. Das Arzneimittel Contergan ist bereits am 27.11.1961, begleitet von einem Informationsbrief der Firma Grünenthal an die deutschen Ärzte vom 25.11.1961 vom Markt genommen worden. Die Ärzteschaft war spätestens ab diesem Zeitpunkt über die Gefahren der Conterganeinnahme während der Schwangerschaft informiert. Es ist schon nicht anzunehmen, dass das Präparat über 10 Jahre (!) nach der Einstellung des Handels in einem deutschen Krankenhaus (!) überhaupt noch vorhanden war. Gerade in der Bundesrepublik Deutschland, in der die meisten Thalidomid-geschädigten Kinder geboren wurden und die Fa. Chemie Grünenthal ihren Sitz hat, waren Behörden, Apotheker- und Ärzteschaft, pharmazeutische Industrie, Politik, Medien und die Öffentlichkeit in besonderem Maße alarmiert und für Thalidomid als Auslöser der angeborenen Fehlbildungen sensibilisiert.
29Vgl. hierzu ausführlich Kirk, Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid, 1999, S. 156.
30Vor diesem Hintergrund spricht nichts dafür, dass eine Ärztin trotz Kenntnis von der Schwangerschaft der Mutter der Klägerin Contergan zur Anwendung herausgegeben haben soll, obwohl sie von der Marktrücknahme und den Auswirkungen des Präparates gewusst haben muss. Dementsprechend sind auch keine Fälle bekannt, in denen Krankenhäuser mehrere Jahre nach dem Verkaufsstopp Contergan an Schwangere ausgehändigt haben.Nicht nachvollziehbar ist, dass die Mutter der Klägerin nach Aufklärung über das Verbot von Contergan keinerlei Anstrengungen unternommen haben will, um die Ärztin oder die Klinik zur Verantwortung zu ziehen. Ebenso wenig erklärlich ist, dass sie trotz des gewaltigen Medienechos aufgrund des Strafverfahrens, das am 18.12.1970 endete, und des Inkrafttretens des Stiftungsgesetzes am 31.10.1972 bis zum Ablauf der früheren Antragsfrist am 31.12.1983 nichts unternahm, um die Klägerin als Contergangeschädigte anerkennen zu lassen. Nur am Rande sei angemerkt, dass auch der vorliegende ärztliche Bericht der Frauenklinik der Universität München vom 22.05.1973 eine Schädigung aufgrund von Contergan nicht erwähnt, obwohl dort die Einnahme von Contergan durch die Mutter der Klägerin bekannt gewesen sein soll.
31Auch eine Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung des Erscheinungsbilds der geltend gemachten Fehlbildungen und den sonstigen tatsächlichen Umständen,
32vgl. zur Bedeutung dieser Parameter für die Annahme einer ursächlichen Verbindung: Begründung des Gesetzesentwurfs über die Errichtung einer nationalen Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“, BT-Drs. VI/926, S. 8 zu § 13,
33führt nicht zu der Annahme, dass die Fehlbildungen der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit mit einer Conterganeinnahme der Mutter während der sensiblen Phase in Verbindung gebracht werden können.
34Hiervon ist das Gericht nach Auswertung sämtlicher ärztlichen Stellungnahmen, insbesondere der von der Medizinischen Kommission der Beklagten eingeholten gutachterlichen Stellungnahmen überzeugt.
35Zwar kommen die geltend gemachte Analatresie und Dysmelie des Armes und der Hand bei der Thalidomidembryopathie vor. Dementsprechend halten PD Dr. X. und PD Dr. H. die Analatresie bzw. den Schaden an der oberen linken Extremität für sich gesehen für einen möglichen Conterganschaden. Allerdings verweist PD Dr. X. auf eine sehr hohe natürliche Inzidenz der Analatresie, weshalb er mit Blick auf die gesamte Befundkonstellation das Vorliegen eines Conterganschadens für äußerst unwahrscheinlich hält. Auch PD Dr. H. vermag sich nicht für die Anerkennung des orthopädischen Schadens als Conterganschaden auszusprechen, sondern bittet um ergänzende Einschätzung zur Typik der Schäden auf nicht-orthopädischem Fachgebiet. Soweit die geltend gemachten Fehlbildungen für sich genommen bei der Thalidomidembryopathie beobachtet wurden, ist darauf hinzuweisen, dass keine dieser Fehlbildungen ausschließlich auf Thalidomid zurückzuführen ist. Die von Thalidomid hervorgerufenen angeborenen Fehlbildungen können für sich genommen auch andere Ursachen haben.
36Vgl. Smithells/Newman, Recognition of thalidomide defects, J. Med. Genet. 1992, 29, 716 f.. Zu den möglichen Ursachen angeborener Fehlbildungen vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 02.12.2011 – 16 E 723/11 –, juris Rn. 6 f.
37In dieser Weise äußert sich auch Prof. Dr. G. , der darauf hinweist, dass die Erscheinungsbilder der Dysmelie bei der Thalidomidembryopathie keineswegs neu und deshalb auch kein spezifisches Merkmal der Thalidomidembryopathie seien. Vielmehr würden die bei der Klägerin vorliegenden Formen der Dysmelie auch bei sporadisch auftretenden Fällen beobachtet und kämen zudem im Rahmen bestimmter Syndrome vor. Auch Prof. Dr. L. verneint das Vorliegen eines Conterganschadens und kann die Fehlbildungen der Klägerin am ehesten mit der VACTERL-Assoziation in Verbindung bringen. Ob diese Differentialdiagnose, die auch Prof. Dr. G. befürwortet, tatsächlich zutrifft, bedarf keiner Entscheidung. Es genügt vielmehr, dass nach den überzeugenden Ausführungen in allen sachverständigen Stellungnahmen – mit Ausnahme von PD. Dr. H. , der sich nicht festlegen wollte – ein Conterganschaden nicht wahrscheinlich bzw. äußerst unwahrscheinlich ist. Die Annahme der Wahrscheinlichkeit einer Thalidomidschädigung drängt sich schließlich auch deswegen nicht auf, weil – worauf Prof. Dr. G. und Prof. Dr. L. nachvollziehbar hinweisen – die bei der Klägerin vorliegende strenge Einseitigkeit der Fehlbildung an den oberen Extremitäten nur schwer mit einer Thalidomidembryopathie in Einklang gebracht werden kann. Dabei bedarf es hier keiner abschließenden Entscheidung, ob das Wirkprinzip von Thalidomid in jedem Fall das Vorkommen einseitiger Thalidomidschäden (an den oberen Extremitäten) ausschließt. Wie die Kammer aus verschiedenen Verfahren ersehen kann, konnte die Medizinische Kommission der Beklagten zu dieser Frage selbst offenbar noch keine einheitliche Haltung finden. Dies betrifft aber bezogen auf Extremitäten den Grad der Asymmetrie bzw. die Größe des Unterschieds zwischen der linken und rechten Extremität. Selbst wenn demnach in Betracht kommen sollte, dass die Einseitigkeit einer Dysmelie zumindest dann einem Zusammenhang mit Thalidomid nicht notwendig entgegensteht, wenn bei Vorhandensein einer normal ausgebildeten Seite die Fehlbildung auf der anderen Seite selbst nur milde ausfällt und damit lediglich ein geringfügiger Unterschied zwischen beiden Seiten besteht,
38vgl. hierzu auch Smithells/Newman, Recognition of thalidomide defects, J. Med. Genet. 1992, 29, 716 ff., wonach die Wahrscheinlichkeit einer genetischen oder stofflichen (wie Thalidomid) Ursache mit der Zunahme der Unterschiede zwischen den Seiten abnimmt,
39führt dies hier zu keiner abweichenden Bewertung. Denn die Fehlbildung der Klägerin ist an der linken oberen Extremität sehr deutlich ausgeprägt, während die rechte Seite überhaupt keine Fehlbildung aufweist. Die Dysmelie des linken Armes zeigt sich nach den übereinstimmenden sachverständigen Stellungnahmen im Wesentlichen im Fehlen des Daumens und der Speiche sowie der Verkürzung der Elle. Das Schultergelenk links weist eine geringe Dysplasie auf. Der rechte Arm hingegen zeigt keine Auffälligkeiten.
40Die vorliegenden sachverständigen Stellungnahmen sind auch hinreichend geeignet, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Sie weisen keine auch für den Nichtsachkundigen erkennbaren (groben) Mängel auf, beruhen vielmehr auf dem anerkannten Wissensstand insbesondere auch zu den Fehlbildungsmustern bei der Thalidomidembryopathie. Sie gehen von zutreffenden tatsächlichen Verhältnissen aus, enthalten keine unlösbaren Widersprüche und geben keinen Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit der Sachverständigen.
41Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 06.02.2012 – 1 A 1337/10 –; BVerwG, Beschluss vom 09.08.1983 – 9 B 1024/83 –.
42Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem ärztlichen Attest der Ärzte Dr. T. und Dr. C. vom 14.01.2011. Soweit darin das Bestehen von angeborenen Fehlbildungen infolge einer Conterganschädigung bei der Klägerin bestätigt wird, fehlt es an jeglicher Begründung für diese Aussage. Es fehlen Angaben zur Schadenstypik oder zur Problematik der strengen Einseitigkeit der Fehlbildungen, die geeignet wären, die Ausführungen der übrigen Sachverständigen zu erschüttern oder durchgreifend in Zweifel zu ziehen.
43Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 15. April 2015 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungszulassungsverfahrens.
1
Gründe
2Der auf die Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils) und des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
3Ernstliche Zweifel i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind gegeben, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angegriffenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
4Vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. März 2007 ‑ 1 BvR 2228/02 ‑, NVwZ‑RR 2008, 1 = GewArch 2007, 242 = juris, Rn. 25.
5Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich zunächst nicht daraus, dass diesem ein unzutreffender Maßstab für die zu fordernde Wahrscheinlichkeit der Thalidomid‑Verursachung zugrundeläge. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend und im Einklang mit der ständigen Senatsrechtsprechung hervorgehoben, dass der Kreis der Anspruchsberechtigten nach § 12 Abs. 1 ContStifG weit gefasst sei, weil angesichts der Komplexität insbesondere der medizinischen Fragestellungen eine über jeden Zweifel erhabene Kausalitätsfeststellung ‑ in die eine wie in die andere Richtung ‑ kaum jemals möglich sein dürfte. Soweit das Verwaltungsgericht weiter ausführt, für die Zuerkennung der Leistungsberechtigung könne es nicht ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen sei, weil sich sonst der anspruchsberechtigte Personenkreis nicht verlässlich eingrenzen lasse, stimmt auch diese Annahme mit dem vom Senat eingenommenen Standpunkt überein. Denn auch bei zugunsten potenzieller Anspruchsberechtigter relativ weit gefassten Voraussetzungen muss angesichts der theoretisch durchaus vielfältigen und wohl noch nicht bis ins Letzte ergründeten Ursachen für kongenitale Missbildungen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine gerade auf Thalidomideinnahme beruhende Schädigung werdenden Lebens vorliegen.
6Eine solche Wahrscheinlichkeit hat das Verwaltungsgericht mit zutreffenden Gründen verneint, wobei vorliegend gerade die Kombination einer sehr unwahrscheinlichen Thalidomideinnahme mit einem atypischen Schädigungsbild nachgerade zu der Annahme zwingt, dass kein Fall nach § 12 Abs. 1 ContStifG gegeben ist. Die Angriffe der Klägerin gegen die Argumentation des Verwaltungsgerichts im Einzelnen führen daher jedenfalls nicht zu ernstlichen Richtigkeitszweifeln.
7Zunächst spricht nichts dafür, das Verwaltungsgericht könne übersehen haben, dass Thalidomid bis zum Verkaufsstopp Ende November 1961 nicht nur unter den Markennamen "Contergan" bzw. "Contergan forte" und auch nicht nur als Beruhigungs‑ und Schlafmittel, sondern auch unter anderen Bezeichnungen bzw. mit anderem Wirkungsspektrum auf dem Arzneimittelmarkt vertreten war. Das Verwaltungsgericht verwendet wiederholt Formulierungen wie "Einnahme thalidomidhaltiger Präparate" oder "Einnahme von Thalidomid", was nahelegt, dass der Kammer das Vorhandensein anderer thalidomidhaltiger Produkte als "Contergan" oder "Contergan forte" vor Augen stand, zumal dies zu dem Grundwissen aller gehört, die sich regelmäßig mit der juristischen Aufarbeitung dieses besonders spektakulären Arzneimittelskandals befassen.
8Vgl. dazu insbesondere die auch vom Verwaltungsgericht zitierte Monografie von Kirk, Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid, 1999, Anhang I (S. 241 f.).
9Soweit das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils daneben auch von "Contergan" spricht, erklärt sich dies zwanglos zum einen damit, dass gerade dieses Medikament in den fraglichen Jahren 1957 bis 1961 besonders oft eingenommen wurde und später dem gesamten Skandal ‑ und nicht zuletzt der beklagten Stiftung ‑ den Namen gab, und zum anderen damit, dass auch in der vorprozessualen Korrespondenz der Klägerseite und vor allem in der schriftlichen Erklärung der Mutter der Klägerin von Contergan (oder Contregan) die Rede war. Abgesehen davon ist kaum anzunehmen, dass einer Klinikärztin die sonstigen thalidomidhaltigen Arzneien (außer Contergan) unbekannt waren, sofern nicht ohnehin bei einer Medikamentenausgabe eher auf die enthaltenen Wirkstoffe (also Thalidomid) als auf den Markennamen des Präparates geachtet wird.
10Der Antrag greift auch ohne Erfolg das Argument des Verwaltungsgerichts an, wonach nicht nachvollziehbar sei, warum die Mutter der Klägerin nichts gegen die Klinik bzw. die behandelnde Ärztin unternommen habe, wenn es doch so offensichtlich gewesen sei, dass die Behinderungen der Klägerin mit der Gabe eines schädlichen Medikaments zusammengehangen hätten. Soweit die Klägerin hierzu darauf hinweist, ihre Eltern hätten kaum Deutsch gesprochen und seien kurz nach ihrer, der Klägerin, Geburt wieder in das damalige Jugoslawien zurückgekehrt, erklärt das nicht erschöpfend, warum die auch für juristische Laien naheliegende Möglichkeit einer Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen nicht ergriffen worden ist. Im Übrigen dürfte die Darstellung über die Rückkehr der Eltern in ihre Heimat im Jahr 1973 auch nicht zutreffen, denn die Klägerin hat in ihrer ausführlichen persönlichen Stellungnahme ("Biographie") vom 15. Februar 2010 ausdrücklich geschildert, dass nur sie und ihre Mutter nach Bosnien-Herzegowina zurückgekehrt seien, wohingegen ihr Vater als Gastarbeiter in Deutschland geblieben sei.
11Soweit es die ätiologische Einordnung der Körper‑ und Gesundheitsbeeinträchtigungen der Klägerin betrifft, dürfte deren Ansicht zutreffen, dass die in den Gutachten von Prof. Dr. L. vom 19. Juli 2011 und von Prof. Dr. G. vom 24. Januar 2013 ausdrücklich oder sinngemäß vorgenommene Einstufung der sog. VACTERL‑Asso-ziation als Differenzialdiagnose zu einer Verursachung durch Thalidomid zumindest missverständlich ist. Daraus kann aber nichts Entscheidendes in Richtung auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden, dass die Missbildungen bei der Klägerin auf Thalidomid zurückzuführen sind. Denn auch wenn die Bezeichnung "VACTERL‑Assoziation" üblicherweise lediglich eine symptombeschreibende Funktion haben und deren Feststellung ‑ d.h. das Vorliegen von mindestens drei der sieben unter dem Akronym "VACTERL" zusammengefassten Anomalien ‑ nichts über die Entstehungsursache aussagen sollte, käme nicht umgekehrt in Frage, die Bejahung einer VACTERL‑Assoziation als Hinweis auf eine hohe Wahrscheinlichkeit einer Thalidomidverursachung anzuführen. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus dem von der Klägerin beigefügten Aufsatz von Stevenson und Hunter ("Considering the Embryopathogenesis of VACTERL Association", Molecular Syndromology 2013; 4:7‑15), in dem vielmehr neben einer Verursachung durch Thalidomid eine Anzahl weiterer teratogener sowie nicht-teratogener Entstehungsursachen diskutiert wird. Der vom Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die Gutachten von Prof. Dr. L. und Prof. Dr. G. eingenommene Standpunkt, jedenfalls bei der vorliegend gegebenen ausgeprägten Einseitigkeit der Armfehlbildungen sei eine teratogene Schädigung durch Thalidomid unwahrscheinlich, wird weder durch den genannten Aufsatz von Stevenson und Hunter noch durch die beigebrachte Stellungnahme des sich auf Stevenson und Hunter beziehenden Internisten und Kardiologen sowie Klinischen Pharmakologen Prof. Dr. L1. vom 12. Juni 2015 erschüttert.
12Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass selbst im Falle einer Verabreichung eines thalidomidhaltigen Medikaments an die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft und dadurch hervorgerufener Missbildungen bei der Klägerin eine Anspruchsberechtigung nach den §§ 12 und 13 ContStifG schwerwiegenden Zweifeln ausgesetzt wäre, denen hier aber nicht abschließend nachgegangen werden muss. Denn die zur Gründung der sog. Conterganstiftung führende (Selbst‑)Verpflichtung der Fa. H. ‑GmbH und insbesondere die im Laufe der Jahre erheblichen Zuschüsse aus Bundesmitteln beruhen letztlich auf einer anerkannten fortwirkenden Verantwortlichkeit dafür, dass in den Jahren 1957 bis Ende 1961 Arzneien wie Contergan in der Bundesrepublik Deutschland ‑ weithin rezeptfrei ‑ vertrieben wurden bzw. vertrieben werden konnten. In diesem Zusammenhang ist etwa darauf hinzuweisen, dass es in Deutschland bis zum sog. Conterganskandal nicht einmal ein Arzneimittelgesetz gab, das eine Katastrophe dieses Ausmaßes zumindest deutlich unwahrscheinlicher hätte machen können; bemerkenswert ist auch, dass es in einer Reihe von Staaten, etwa den USA und der DDR, wegen frühzeitig gesehener Risiken nicht zu einer Lizenzvergabe für Thalidomid gekommen ist, während in anderen Staaten, so in Österreich und der Schweiz, von vornherein eine Rezeptpflicht bestand und daher Schädigungsfälle relativ selten blieben.
13Vgl. Kirk, a. a. O., S. 20 bis 33, 70 bis 83, 107 bis 113, 135 f. und 191 bis 203; Wikipedia unter: "Contergan-Skandal".
14Dieser ‑ vorstehend nur schlagwortartig umrissene ‑ Entstehungsgrund für die Conterganstiftung dürfte Auswirkungen auch auf den sachlichen Anwendungsbereich des Conterganstiftungsgesetzes haben, so dass dieser vermutlich nicht Fälle umfasst, die nicht in erster Linie auf dem seinerzeit legalen Vertrieb derartiger Mittel in den Jahren 1957 bis 1961 beruhten, sondern in denen ‑ Jahre später ‑ ein zusätzliches erhebliches Verschulden Dritter den unter wertenden Gesichtspunkten klar im Vordergrund stehenden Verursachungsbeitrag bildet. Ein solcher Fall wäre auf der Grundlage der klägerischen Schilderungen vorliegend anzunehmen.
15Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich zugleich, dass die Rechtssache keine tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist.
16Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und §188 Satz 2 VwGO.
17Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 24. Februar 2015 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungszulassungsverfahrens.
1
Gründe
2Der auf die Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils) und des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann) gestützte Zulassungsantrag der Klägerin bleibt ohne Erfolg, weil die genannten Zulassungsgründe nicht hinreichend dargelegt sind bzw. in der Sache nicht greifen.
3Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergeben sich nicht. Solche Zweifel liegen vor, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angegriffenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
4Vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. März 2007 ‑ 1 BvR 2228/02 ‑, NVwZ‑RR 2008, 1 = GewArch 2007, 242 = juris, Rn. 25.
5Ernstliche Zweifel werden zunächst nicht dadurch aufgeworfen, dass das Verwaltungsgericht seiner Prüfung einen unzutreffenden Maßstab für die zu fordernde Wahrscheinlichkeit einer Verursachung des Beckenschiefstandes bei der Klägerin durch Thalidomid zugrundegelegt hätte. Das Verwaltungsgericht hat im Einklang mit der ständigen Senatsrechtsprechung hervorgehoben, dass der Kreis der Anspruchsberechtigten nach § 12 Abs. 1 ContStifG weit gefasst sei, weil angesichts der Komplexität insbesondere der medizinischen Fragestellungen eine über jeden Zweifel erhabene Kausalitätsfeststellung ‑ in die eine wie in die andere Richtung ‑ kaum jemals möglich sein dürfte; das gilt auch, sofern wie vorliegend die Anspruchsberechtigung dem Grunde nach außer Frage steht und lediglich über die Anerkennung einzelner (weiterer) Schadensbilder als thalidomidverursacht gestritten wird. Soweit das Verwaltungsgericht weiter ausführt, für die Zuerkennung der Leistungsberechtigung könne es jedoch nicht ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen sei, weil sich sonst der anspruchsberechtigte Personenkreis nicht verlässlich eingrenzen lasse, stimmt auch dies mit dem vom Senat eingenommenen Standpunkt überein. Denn auch bei zugunsten potenzieller Anspruchsberechtigter relativ weit gefassten Voraussetzungen muss angesichts der theoretisch durchaus vielfältigen und wohl noch nicht bis ins Letzte ergründeten Ursachen für kongenitale Missbildungen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine gerade auf Thalidomideinnahme beruhende Schädigung werdenden Lebens vorliegen.
6Eine solche Wahrscheinlichkeit hat das Verwaltungsgericht in Bezug auf den leistungserhöhend geltend gemachten Beckenschiefstand der Klägerin aus Gründen verneint, denen diese keine schlüssigen Argumente entgegenzusetzen vermag. Das Verwaltungsgericht hat seine Auffassung im Wesentlichen mit den in der "Medizinischen Punktetabelle" beschriebenen, auf die Hüfte bezogenen Schadensfällen, die einen Beckenschiefstand gerade nicht beinhalten, sowie mit den in der Akte enthaltenen ärztlichen Stellungnahmen über das Schadensbild bei der Klägerin und dessen Einordnung begründet. Auch für den Senat ist unter Berücksichtigung der Befundberichte von Prof. Dr. N. schon aus dem Jahr 1979 sowie von Prof. Dr. G. und dem Orthopäden Dr. O. aus neuerer Zeit nicht zweifelhaft, dass die Hüftgelenke der Klägerin keine Missbildungen aufweisen und lediglich ein geringgradiger Beckenschiefstand vorliegt, der als solcher keinen Zusammenhang mit einer Thalidomidschädigung hat. Die Klägerin hat auch nichts anführen können, was unter Anlegung des oben angegebenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes die Einstufung des Beckenschiefstandes als thalidomidverursachte Schädigung tragen könnte. Soweit sie sich darauf beruft, dass Prof. Dr. N. im Jahr 1973 eine beidseitige Hüftschädigung angenommen hat, wird das entscheidend dadurch relativiert, dass es sich seinerzeit um eine pauschale, also gerade nicht auf der Feststellung eines konkreten Schadensbildes beruhende Feststellung gehandelt hat, die ‑ wie auch die von der Klägerin außerhalb der Darlegungsfrist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) gemachten Ausführungen (E-Mail vom 25. August 2015) nahelegen ‑ aller Wahrscheinlichkeit nach lediglich prospektiv im Hinblick auf für möglich gehaltene Langzeitfolgen erfolgt ist, wobei jedenfalls die aktuellen ärztlichen Stellungnahmen klar belegen, dass sich derartige Folgeschäden bis heute nicht eingestellt haben. Wenn die Klägerin des Weiteren behauptet, bei einer festgestellten auf der Einnahme von Contergan beruhenden Schädigung der Wirbelsäule sowie der unteren Extremitäten sei ausgeschlossen, dass eine Hüftfehlbildung nicht thalidomidbedingt sei, geht das daran vorbei, dass die genannten medizinischen Sachverständigen eine Hüftfehlbildung gerade verneint haben. Auch die weitere Darlegung, ein ‑ etwa ‑ auf muskulärer Verspannung der Gesäßmuskulatur und der unteren Rückenmuskulatur beruhender Beckenschiefstand sei "in einem solch jungen Alter schier unwahrscheinlich", wird nicht in einer Weise untermauert, der Zweifel an den fachlichen Aussagen der beteiligten Mediziner, denen auch das Alter der Klägerin vor Augen gestanden hat, wecken könnte. Vor dem Hintergrund der vorliegenden ärztlichen Gutachten kommt es folglich auch nicht auf die Beantwortung der Frage an, inwieweit mittelbare Schäden als Schädigungen im Sinne von § 2 sowie § 12 Abs. 1 ContStifG Anerkennung finden können.
7Auch ein Verfahrensmangel in der Gestalt einer unzulänglichen Sachverhalts-ermittlung tritt auf der Grundlage der klägerischen Darlegungen nicht hervor. Es führt insbesondere nicht zur Annahme des Berufungszulassungsgrundes nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, dass das Verwaltungsgericht zu der Frage der Verursachung eines Beckenschiefstandes bzw. des Vorhandenseins von Hüftfehlbildungen durch thalidomidhaltige Arzneimittel kein (zusätzliches) Sachverständigengutachten eingeholt hat. Eine prozessrechtswidrige Verletzung der Aufklärungspflicht ist nämlich grundsätzlich nicht gegeben, wenn das Gericht von einer Beweiserhebung absieht, die eine durch einen Rechtsanwalt vertretene Partei wie hier nicht förmlich ‑ das heißt im Rahmen der mündlichen Verhandlung (§ 86 Abs. 2 VwGO) ‑ beantragt hat.
8Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. August 2015 ‑ 1 B 37.15 ‑, juris, Rn. 11; OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juli 2012 ‑ 16 A 1165/12 ‑, juris, Rn. 21 f., und zuletzt vom 30. Dezember 2015 ‑ 16 A 1852/15 ‑; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, 4. Auflage (2014), § 124 Rn. 191; Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 21. Auflage (2015), § 124 Rn. 13; Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, Kommentar, 6. Auflage (2014), § 124 Rn. 65; Dietz, in: Gärditz, VwGO, Kommentar, 2013, § 124 Rn. 49.
9Ein solcher Antrag geht aus dem Sitzungsprotokoll des Verwaltungsgerichts vom 24. Februar 2015 nicht hervor. Das Anregen einer Beweiserhebung durch ein (weiteres) medizinisches Gutachten etwa im Rahmen vorbereitender Schriftsätze ersetzt einen Beweisantrag nach § 86 Abs. 2 VwGO nicht.
10Es ist auch nicht unter Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts dargelegt, dass sich diesem eine (weitere) Beweiserhebung zu dem oben genannten Punkt aufdrängen musste. Die Klägerin hat nicht verdeutlicht, warum die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten unzutreffend bzw. unvollständig sein könnten. Sie beruft sich in diesem Zusammenhang auch zu Unrecht darauf, die Gutachten stellten gleichsam Beklagtenvorbringen dar. Der bloße Umstand, dass die beiden im Jahr 2013 mit dem Fall der Klägerin befassten medizinischen Sachverständigen (Prof. Dr. G. und Dr. O. ) von der Beklagten beauftragt worden sind, führt nicht zu der Annahme, dass diese gleichsam "im Lager der Beklagten" stehen und einseitig deren Interessen wahrnehmen; die Klägerin trägt auch über den für sich genommen unergiebigen Hinweis auf die Auftragserteilung durch die Beklagte hinaus nichts vor, was Zweifel an der Objektivität und Fachkunde der beteiligten Gutachter erzeugen könnte, wobei überdies darauf hinzuweisen ist, dass die Zahl der Fachärzte und ‑ärztinnen mit speziellen Kenntnissen und ‑ vor allem ‑ Erfahrungen auf dem Gebiet der Einordnung von Contergan-Schädigungen eng begrenzt ist.
11Im Übrigen ergibt sich aus den Darlegungen der Klägerin nicht, welche tatsächlichen Umstände über die bereits von den genannten Gutachten behandelten Punkte hinaus einer Klärung bedürfen. Es verfängt auch nicht der Hinweis der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe ‑ statt ein weiteres Gutachten einzuholen ‑ durch die Auswertung von Onlineinformationen allgemeiner Art eine eigene Sachkunde herzustellen versucht und diese dann in das Urteil einfließen lassen. Soweit das Verwaltungsgericht auf medizinische Erklärungen insbesondere aus Internetveröffentlichungen wie "apothekenumschau.de" oder "onmeda.de" zurückgegriffen hat, diente das ersichtlich nicht der (zusätzlichen) Erkenntnisgewinnung, sondern erklärt sich hinlänglich aus dem Bemühen der Kammer, dem Urteil durch den ergänzenden Verweis auf allgemein zugängliches medizinisches Wissen zusätzliche Überzeugungskraft zu geben. Daraus kann weder der Schluss gezogen werden, dass aus der Sicht des Verwaltungsgerichts ‑ oder auch aus objektiver Sicht ‑ die Faktengrundlage für eine negative Bewertung der Thalidomidbedingtheit etwaiger Hüft‑/Beckenschädigungen der Klägerin ergänzungsbedürftig war, noch dass das Verwaltungsgericht eine ihm nicht zustehende Fachkompetenz in Anspruch genommen hätte. Unzutreffend ist schließlich auch die Auffassung der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe ihr mit dem Hinweis auf fehlende ärztliche Stellungnahmen, die für eine hüft‑/becken-bezogene Thalidomidschädigung sprechen könnten, eine "Beibringungslast" auferlegt und so den Grundsatz der Amtsermittlung missachtet. Diese Auffassung könnte nur dann in dem von der Klägerin gewünschten Sinne tragfähig sein, wenn das Verwaltungsgericht von einer offenen Sachlage ausgegangen wäre und auf dieser gedanklichen Grundlage eine Beweislastentscheidung zum Nachteil der Klägerin getroffen hätte. Das trifft aber, wie dargestellt, nicht zu; vielmehr hat sich das Verwaltungsgericht die volle Überzeugung verschafft, dass die im Streit stehenden Beschwerden der Klägerin nicht vorliegen bzw. nicht thalidomidverursacht sind.
12Soweit der Antrag einen (weiteren) Verfahrungsmangel darin sieht, dass die Rücknahme des Bewilligungsbescheides ‑ vom 4. Februar 1974 ‑ u. a. wegen des Fehlens einer vorherigen Anhörung gegen das Rechtsstaatsprinzip und gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen habe, ist das schon im Ansatz nicht geeignet, den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO darzulegen. Denn diese Bestimmung bezieht sich lediglich auf Mängel des gerichtlichen Verfahrens, nicht aber auf etwaige Fehler im vorangegangenen behördlichen Verfahren.
13Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 10. Juni 1997 ‑ 8 B 852/97 ‑ und vom 29. Mai 2000 ‑ 22 A 852/99 ‑, jeweils m. w. N.
14Entsprechendes gilt für einen etwaigen Verstoß gegen § 51 VwVfG, wie er von der Klägerin unter Hinweis auf eine verspätete Zusendung erbetener Unterlagen durch die Beklagte in den Raum gestellt wird.
15Soweit die Klägerin schließlich im Zusammenhang mit dem Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO ausführt, die "Aberkennung von 4 Versorgungspunkten" (rechte bzw. linke Hüfte pauschal) habe einen eigenständigen Verwaltungsakt dargestellt und daran habe sich durch die "Verrechnung" mit anderen Punkten nichts geändert, bleibt das auch dann ohne Erfolg, wenn zu ihren Gunsten davon ausgegangen wird, dass sie damit auch im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Richtigkeit entsprechender Ausführungen des angefochtenen Urteils in Zweifel ziehen möchte. Denn sie widerspricht der Auffassung des Verwaltungsgerichts, das eine an den §§ 48 f. VwVfG zu messende Regelung der Beklagten verneint hat, ohne den eingehenden Ausführungen im Urteil eigene Argumente von hinlänglichem Gewicht entgegenzusetzen. Insbesondere fehlt es an jeglicher Darlegung, aus welchem Grund eine Verwaltungsaktsqualität der "Aberkennung" bzw. der "Gesamtverrechnung" von Punkten durch die Beklagte zu einem Anspruch auf Stiftungsleistungen in der von ihr begehrten Höhe und damit zur Ergebnisunrichtigkeit des angegriffenen Urteils geführt haben könnte.
16Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 188 Satz 2 VwGO.
17Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.