Verwaltungsgericht Köln Beschluss, 30. Apr. 2015 - 1 L 357/15.A
Gericht
Tenor
Den Antragstellern wird für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe bewilligt.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 1 K 838/15.A gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 04.02.2015 unter Ziffer 2. verfügte Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe
2Den Antragstellern war Prozesskostenhilfe antragsgemäß zu bewilligen, weil ihre Rechtsverfolgung aus den nachfolgenden Gründen Erfolgsaussichten bietet.
3Der schriftsätzlich sinngemäß gestellte Antrag der Antragsteller,
4die aufschiebende Wirkung der gegen die im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 04.02.2015 erhobenen Klage – 1 K 838/15.A – anzuordnen,
5hat als Antrag nach § 34a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) i.V.m. § 80 Abs. 5 Verwaltungsgericht (VwGO) Erfolg.
6Die Anfechtungsklage gegen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) ausgesprochene Abschiebungsanordnung hat keine aufschiebende Wirkung, vgl. § 75 AsylVfG. Zwar kann das Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Das setzt aber voraus, dass das Aussetzungsinteresse der Antragsteller das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt. Dies ist der Fall, wenn sich der angegriffene Verwaltungsakt als rechtswidrig erweist oder eine von den Erfolgsaussichten losgelöste Interessenabwägung den Vorrang des Aussetzungsinteresses ergibt.
7Zwar kann im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung nicht abschließend festgestellt werden, ob die angegriffene Entscheidung der Antragsgegnerin, den Asylantrag der Antragsteller gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abzulehnen und gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ihre Abschiebung nach Ungarn anzuordnen, rechtmäßig ist oder nicht. Insoweit bedarf es im Hauptsacheverfahren voraussichtlich der weiteren Aufklärung, ob das ungarische Asylsystem systemische Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung aufweist, die einer Überstellung der Antragstellerin nach Ungarn entgegenstehen. Allerdings gibt es nach derzeitigem Erkenntnisstand hierfür zumindest erhebliche Anhaltspunkte.
8Hierbei ist auf die Umstände abzustellen, die auf die Situation der Antragsteller zutreffen,
9vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 07.03.2014, - 1 A 21/12 -, juris.
10Dies ist vorliegend die Situation von Dublin-Rückkehrern, die vor ihrer Ausreise aus Ungarn dort bereits einen ersten Asylantrag gestellt haben und dann in die Bundesrepublik Deutschland weitergereist sind. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sie Eltern des Antragstellers zu 1.) bzw. Großeltern der dortigen Antragsteller zu 2.) und 3.) des Verfahrens 1 L 358/15.A sind, also im Zweifel als Familie nach Ungarn zurückkehren würden.
11Maßgeblich ist das in Ungarn seit dem 01.07.2013 gültige Asylrechtssystem, das umfassende Gründe für die Inhaftierung von Asylsuchenden (sog. asylum detention) vorsieht. Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sich in seinem Urteil vom 03.07.2014 – N. v. Austria – umfassend mit dem ungarischen Asylsystem nach dem 01.07.2013 auseinandergesetzt und im Ergebnis festgestellt, dass nach den ihm vorliegenden Länderberichten die Situation von Asylsuchenden in Ungarn und im besonderen von Dublin-Rückkehrern keine Anhaltspunkte für systemische Schwachstellen des ungarischen Asylsystem und insbesondere des Asylhaftsystems aufweisen,
12vgl. EGMR, Urteil vom 06.06.2013, Mohammed ./. Österreich, Nr. 2283/12, Rn. 32-50, 65, 69 f., 74 f. (in Englischer Sprache; abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/Pages/search.aspx#{%22fulltext%22:[%22Mohammadi%22],%22itemid%22:[%22001-145233%22]} .
13Nach aktuellen Berichten des UNHCR und von Pro Asyl wird von der gesetzlich vorgesehenen Inhaftierungsmöglichkeit von Asylsuchenden bei Dublin-Rückkehrern jedoch nahezu flächendeckend und ohne eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung Gebrauch gemacht,
14vgl. Auskunft des UNHCR an das VG Düsseldorf vom 30.09.2014 zum Verfahren 13 K 501/14.A, zu Frage 3, S. 2, abrufbar unter http://www.frnrw.de/index.php/inhaltliche-themen/eu-fluechtlingspolitik/dublin-iii/item/3952-unhcr-stellungnahme-zur-inhaftierung-von-dublin-rueckkehrern-in-ungarn, vgl. außerdem Auskunft von Pro Asyl an das VG Düsseldorf vom 31.10.2014, zu Frage 3.b), S. 2.
15Nach den vorliegenden neuesten Erkenntnissen dürfte eine Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern sogar bei Familien mit minderjährigen Kindern jedenfalls seit September 2014 nicht mehr ausgeschlossen sein, sondern von der nach dem ungarischen „Asylum Act“ bestehenden Möglichkeit einer Inhaftierung von Familien mit Kindern von bis zu 30 Tagen Gebrauch gemacht werden,
16vgl. Auskunft von ProAsyl an das VG Düsseldorf vom 31.10.2014 im Verfahren 13 K 501/14.A zu Frage 5 j); Aida, Asylum Information Database, National Country Report Hungary, abrufbar unter http://www.asylumineurope.org/reports/country/hungary, S. 54.
17Hinzu kommt, dass nicht nur hinsichtlich des Verfahrens der Haftanordnung, sondern auch bezüglich der Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Haftanordnung Anhaltspunkte für eine grundrechtsverletzende, insbesondere willkürliche und nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügende Inhaftierungspraxis bestehen,
18vgl. Auskunft des UNHCR an das VG Düsseldorf vom 30.09.2014 zum Verfahren 13 K 501/14.A, zu Frage 4, S. 2, und zu Frage 11, S. 6 ff., abrufbar unter http://www.frnrw.de/index.php/inhaltliche-themen/eu-fluechtlingspolitik/dublin-iii/item/3952-unhcr-stellungnahme-zur-inhaftierung-von-dublin-rueckkehrern-in-ungarn, sowie Auskunft von Pro Asyl an das VG Düsseldorf vom 31.10.2014, zu Frage 9, S. 8, und zu Frage 11, S. 9 f,
19Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse ist das erkennende Gericht der Auffassung, dass auch unter Berücksichtigung der oben zitierten Rechtsprechung des EGMR derzeit jedenfalls ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Asyl- und Aufnahmeverfahren in Ungarn seit der Rechtsänderung vom 01.07.2013 in Ungarn systemische Schwachstellen im Sinne von § 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-Verordnung aufweist,
20vgl. so auch u.a.: VG Frankfurt, Beschluss vom 15.10.2014 – 7 L 3004/14.F.A. –, juris; VG München, Beschluss vom 31.10.2014 – M 16 S 14.50535 –, juris; VG Magdeburg, Beschluss vom 11.12.2014 – 9 B 449/14 –, juris; VG Köln, Beschluss vom 25.02.2014, - 17 L 238/15.A; VG Bremen, Beschluss vom 01.04.2015, - 3 V 145/15 -, juris, jeweils m.w.N.; zur anderen Ansicht vgl. die umfangreichen Nachweise im Beschluss des VG Bremen, a.a.O., Rn. 17,
21was im Hauptsacheverfahren noch aufzuklären sein wird.
22Angesichts dessen, dass mögliche Grund- und Menschenrechtsverletzungen der Antragsteller bei einer Abschiebung nach Ungarn in Rede stehen, fällt die gebotene Abwägung des privaten Interesses, vorerst von einer Abschiebung nach Ungarn verschont zu bleiben, mit dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung zugunsten der Antragsteller aus.
23Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
Annotations
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.