Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz Urteil, 14. Feb. 2012 - VGH N 3/11

ECLI:ECLI:DE:VERFGRP:2012:0214.VGHN3.11.0A
bei uns veröffentlicht am14.02.2012

Tenor

§§ 5 bis 13 des Landesfinanzausgleichsgesetzes vom 30. November 1999 (GVBl. S. 415) in der Fassung des Dritten Landesgesetzes zur Änderung des Landesfinanzausgleichsgesetzes vom 12. Juni 2007 (GVBl. S. 80) in Verbindung mit § 1 Abs. 1 des Landeshaushaltsgesetzes 2007/2008 vom 19. Dezember 2006 (GVBl. S. 421) und den Ansätzen für die Finanzausgleichsmasse im Haushaltsplan für das Jahr 2007 sind nach Maßgabe der Gründe mit Art. 49 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 bis 3 der Verfassung für Rheinland-Pfalz unvereinbar.

Dasselbe gilt für die entsprechenden Vorschriften über die Finanzausgleichsmasse und die Schlüsselzuweisungen sämtlicher Folgejahre.

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum 1. Januar 2014 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Diese Neuregelung kann sich auf die Zeit ab dem 1. Januar 2014 beschränken. Bis zum Inkrafttreten der Neuregelung – längstens bis zum 31. Dezember 2013 – bleiben die von der Unvereinbarkeitserklärung erfassten Vorschriften in ihrer jeweils geltenden Fassung weiterhin anwendbar.

Gründe

A.

1

Die Richtervorlage wirft die Frage auf, ob die Finanzausgleichsmasse und die Schlüsselzuweisungen des Jahres 2007 angesichts stark gestiegener Sozialausgaben noch den Anforderungen an eine verfassungsgemäße Finanzausstattung der Kommunen genügten.

I.

2

Die finanzielle Lage der Kommunen in Rheinland-Pfalz ist seit Jahrzehnten angespannt. Bereits im 22. Jahr in Folge blieben 2011 die Einnahmen hinter den Ausgaben zurück. Gleichzeitig steigen die von Gesetzes wegen nur zur Überbrückung kurzfristiger Liquiditätsengpässe vorgesehenen Kassenkredite weiter an. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung näherte sich die Kassenkreditbelastung der rheinland-pfälzischen Kommunen der Marke von 6 Milliarden Euro. Die Pro-Kopf-Verschuldung aus Investitions- und Kassenkrediten lag 2010 um 52 Prozent über dem Durchschnitt der westlichen Flächenländer. Bei isolierter Betrachtung der Kassenkredite wurde der Vergleichswert sogar um 122 Prozent überschritten. Eine wesentliche Ursache hierfür liegt in der stetig steigenden Aufgabenzuweisung durch Bund und Land, der nur unzureichende Zuwächse auf der Einnahmenseite gegenüberstehen. Besonders signifikant ist diese Entwicklung im Sozialwesen. Die Ausgaben der Gemeinden und Gemeindeverbände für soziale Leistungen stiegen von 1990 bis 2010 um etwa 220 Prozent auf 2.272 Millionen Euro und damit fast dreimal so schnell wie ihre Einnahmen. Hiervon betroffen sind vor allem die Landkreise und kreisfreien Städte, die einen Großteil der sozialen Lasten zu tragen haben.

II.

3

1. Im Ausgangsverfahren vor den Verwaltungsgerichten nimmt der Landkreis Neuwied das Land auf Erhöhung der Schlüsselzuweisungen für das Jahr 2007 in Anspruch. Zur Begründung macht er geltend, die ihm im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs 2007 gewährten Leistungen entsprächen nicht den Anforderungen an eine aufgabenangemessene Finanzausstattung im Sinne des Art. 49 Abs. 6 LV. Seine finanzielle Situation sei dramatisch. Seit 1992 sei sein Haushalt nicht mehr ausgeglichen. Die Defizite hätten vor allem strukturelle Gründe. In der großen kreisangehörigen Stadt Neuwied entstünden hohe Soziallasten. Außerdem seien im Landkreis zahlreiche Pflege- und Behinderteneinrichtungen sowie Förderschulen mit überregionalem Einzugsbereich ansässig. Auch insgesamt sei die finanzielle Lage der rheinland-pfälzischen Landkreise desolat. Sie wiesen im Ländervergleich außerordentlich hohe Fehlbeträge auf.

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2. Das Oberverwaltungsgericht hat das Verfahren in der Berufungsinstanz ausgesetzt und eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs darüber eingeholt,

5

ob § 5 des Landesfinanzausgleichsgesetzes – LFAG – in Verbindung mit § 1 Abs. 1 des Landeshaushaltsgesetzes – LHG – 2007/2008 und den Ansätzen für die Finanzausgleichsmasse im Haushaltsplan für das Jahr 2007 sowie §§ 5a, 6, 7, 8, 9, 10 in Verbindung mit §§ 11, 12 und 13 LFAG mit Art. 49 Abs. 6 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV – vereinbar sind.

6

Zur Begründung heißt es in dem Vorlagebeschluss, aus Art. 49 Abs. 6 LV lasse sich ein Gebot der Verteilungssymmetrie ableiten, welches eine aufgabengerechte Verteilung der nur begrenzt verfügbaren Finanzmittel zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen verlange. Bei der Bemessung der Finanzausgleichsmittel sei daher auch der Anstieg von Ausgaben der kommunalen Gebietskörperschaften aus gesetzlich übertragenen Aufgabenbereichen angemessen zu berücksichtigen. Dies gelte besonders für die Aufwendungen der Landkreise im Sozialbereich, die in der Vergangenheit stark gewachsen seien und inzwischen einen Anteil von mehr als 40 Prozent an den Gesamtausgaben der Landkreise erreicht hätten. Angemessen in diesem Sinne sei eine prozentuale Steigerung der Schlüsselzuweisungen, die jedenfalls die Hälfte der prozentualen Steigerung der Sozialaufwendungen ausmache. Diesem Erfordernis genügten die Schlüsselzuweisungen des Jahres 2007 nicht. Während die Sozialausgaben der Landkreise von 1990 bis 2007 um 325 Prozent gestiegen seien, habe das Land die Schlüsselzuweisungen im gleichen Zeitraum lediglich um 27 Prozent erhöht.

III.

7

1. Der Verfassungsgerichtshof hat dem Landtag, der Landesregierung, dem Landkreis Neuwied, dem Vertreter des öffentlichen Interesses, den Präsidenten des Rechnungshofs und des Statistischen Landesamtes sowie der Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände Rheinland-Pfalz Gelegenheit zur Äußerung gegeben.

8

a) Der Landtag hält die Vorlage für unbegründet. Das Land habe den Kommunen im Rahmen seiner eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten stets eine angemessene Finanzausstattung gesichert. Ihre Finanzkraft sei durch zahlreiche Maßnahmen – etwa die wiederholte Erhöhung des Verbundsatzes, den Beistandspakt und den Stabilisierungsfonds – gestärkt worden. Angesichts der Schuldenlast des Landes erscheine es allerdings angemessen, auch den Kommunen eine gewisse Verschuldung zuzumuten. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verteilungssymmetrie sei auch mit Blick auf die gestiegenen Soziallasten nicht gegeben. Die Aufgaben der Kommunen im Sozialbereich beruhten überwiegend auf Bundesgesetzen. Nach Art. 49 Abs. 6 LV bestehe eine Ausgleichspflicht jedoch nur für Kosten aus landesgesetzlichen Aufgabenzuweisungen. Auch eine etwaige Zustimmung der Landesregierung im Bundesrat begründe keine Einstandspflicht für bundesgesetzlich begründete Aufgaben. Die Exekutive könne den Landtag als Finanzausgleichsgesetzgeber durch ihr Abstimmungsverhalten nicht binden. Im Übrigen bestünden Anhaltspunkte dafür, dass die bundesgesetzlichen Aufgabenzuweisungen im Sozialbereich ihrerseits verfassungswidrig seien. Jedenfalls dies spreche gegen eine Einstandspflicht des Landes im Rahmen des Art. 49 Abs. 6 LV.

9

b) Auch die Landesregierung tritt dem Vorlagebeschluss entgegen. Zwar gehe das Oberverwaltungsgericht im Ansatz zutreffend davon aus, dass die vom Gesetzgeber im Rahmen eines weiten Gestaltungsspielraums auszufüllende Finanzausstattungsgarantie des Art. 49 Abs. 6 LV unter dem Vorbehalt der finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes stehe. Es sei jedoch fraglich, ob dieser Leistungsfähigkeitsvorbehalt tatsächlich durch einen Grundsatz der Verteilungssymmetrie begrenzt werde. Jedenfalls könne aus einem solchen Symmetriegebot nicht geschlossen werden, dass die in den Jahren 1990 bis 2007 eingetretenen Ausgabensteigerungen der Landkreise im Bereich Soziales über die Schlüsselzuweisungen mindestens hälftig auszugleichen seien. Denn eine solche Ausgleichspflicht führe letztlich zu einer sachwidrigen finanziellen Privilegierung der kommunalen Aufgaben im Sozialwesen gegenüber anderen gleichwertigen öffentlichen Aufgaben. Außerdem stehe sie im Widerspruch zu Art. 49 Abs. 5 LV, der eine Anwendung des Konnexitätsprinzip auf den hier in Rede stehenden Altaufgabenbestand der Kommunen ausschließe. Im Übrigen ergebe es keinen Sinn, im Rahmen einer Symmetriebetrachtung allein auf die Sozialausgaben der Landkreise abzustellen. Vielmehr sei die Verteilung der Einnahmen und Ausgaben zwischen Land und Kommunen insgesamt in den Blick zu nehmen. Ein Anspruch auf höhere Schlüsselzuweisungen bestehe danach nicht. Finanzwissenschaftliche Berechnungen zeigten, dass die Einnahmenverteilung von 2000 bis 2007 sogar leicht zugunsten der kommunalen Ebene verschoben gewesen sei. Außerdem seien der Bund und das Land wesentlich höher verschuldet als die Kommunen. Allerdings seien die Zentralkreise in der Zeit von 2001 bis 2007 gegenüber den kreisangehörigen Gemeinden und Verbandsgemeinden finanziell benachteiligt gewesen. Dieses Ungleichgewicht sei jedoch nicht durch höhere Zuweisungen des Landes an die Zentralkreise zu beseitigen, sondern durch eine starke Anhebung der Kreisumlagesätze. Schon wegen der Schuldenbremse könne das Land nicht gezwungen werden, sich zugunsten der Kommunen weiter zu verschulden. Auch sonst habe es – abgesehen von der Grunderwerbsteuer – auf der Einnahmenseite kaum Spielräume. Dennoch habe es den finanziellen Problemen der Kommunen angemessen Rechnung getragen, etwa durch den Stabilisierungsfonds und den Kommunalen Entschuldungsfonds.

10

c) Der Landkreis Neuwied und die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände Rheinland-Pfalz begrüßen den Vorlagebeschluss hingegen. Die vorgelegten Bestimmungen stünden schon deshalb im Widerspruch zu Art. 49 Abs. 6 LV, weil das Landesfinanzausgleichsgesetz kein Verfahren zur Ermittlung des tatsächlichen kommunalen Finanzbedarfs vorsehe. Jedenfalls aber sei die Finanzausstattung der Kommunen völlig unzureichend, was maßgeblich auf die hohen und nur unzureichend gegenfinanzierten Soziallasten zurückzuführen sei. Nicht zu folgen sei dem Oberverwaltungsgericht, wenn es den Anspruch der Kommunen auf eine angemessene Finanzausstattung unter den Vorbehalt der Leistungsfähigkeit des Landes stelle. Verweigere man den Kommunen eine von der Finanzsituation des Landes unabhängige Mindestausstattung, so laufe die Finanzausstattungsgarantie des Art. 49 Abs. 6 LV leer. Selbst wenn man jedoch von einem Gebot der Verteilungssymmetrie ausgehe, so habe das Land gerechterweise die Hauptlast aus der desolaten Finanzlage der Kommunen zu tragen. Denn es trage die Verantwortung für die Misere und habe die Mittel zu deren Überwindung.

11

d) Die Präsidenten des Rechnungshofs und des Statistischen Landesamtes haben sich im Wesentlichen zu den tatsächlichen Annahmen des Oberverwaltungsgerichts bezüglich der Finanzsituation der Kommunen geäußert. Der Vertreter des öffentlichen Interesses hat von einer Stellungnahme abgesehen.

12

2. Die Landesregierung und die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände Rheinland-Pfalz haben dem Verfassungsgerichtshof finanzwissenschaftliche Sachverständigengutachten vorgelegt.

13

a) Nach den Berechnungen des von der Landesregierung beauftragten Gutachters Prof. Dr. Scherf war der kommunale Bereich in Rheinland-Pfalz in der Zeit von 2000 bis 2007 finanziell leicht besser ausgestattet als das Land selbst. Der Anteil der Kommunen an den gesamten im Land verfügbaren Einnahmen habe den Kommunalisierungsgrad – also den Anteil der kommunalen Ausgaben an den Gesamtausgaben im Land – durchschnittlich um 0,7 Prozentpunkte überstiegen. Die Deckungsquote, welche die Einnahmen einer Ebene ins Verhältnis zu ihren Ausgaben setze, habe für den kommunalen Bereich im Durchschnitt um 2,7 Prozentpunkte höher gelegen als auf Ebene des Landes. Allerdings sei es im genannten Zeitraum zu erheblichen Ungleichgewichten innerhalb der Landkreise gekommen. Der Saldo der Einnahmen und Ausgaben weise auf der zentralen Kreisebene in allen Jahren ein Defizit, bei den Kreisgemeinden dagegen einen Überschuss aus. Insgesamt lägen die Zentralkreise von 2001 bis 2007 mit 2,3 Milliarden Euro im Minus, die Kreisgemeinden dagegen mit 2,2 Milliarden Euro im Plus.

14

b) Die Finanzwissenschaftler Prof. Dr. Junkernheinrich und G. Micosatt sind diesem Gutachten in einer von den kommunalen Spitzenverbänden veranlassten Stellungnahme entgegen getreten. Prof. Dr. Scherf stelle im Rahmen der Deckungsquotenberechnung die Einnahmen des Landes und der Kommunen den um Zahlungen vom öffentlichen Bereich sowie um Gebühren und Entgelte bereinigten unmittelbaren Ausgaben gegenüber. Sachgerecht sei es indes, die allgemeinen Deckungsmittel in ein Verhältnis zu den um Zinsausgaben bereinigten Zuschussbedarfen (aufgabenspezifische Ausgaben abzüglich aufgabenspezifischer Einnahmen) zu setzen. Eine Berechnung auf dieser Grundlage zeige im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2007 einen Symmetriekoeffizienten von 0,980 und damit eine unsymmetrische Verteilung zulasten der kommunalen Ebene in Höhe von 73 Millionen Euro pro Jahr (gegenüber der Rechnung von Prof. Dr. Scherf mit 95 Millionen Euro zugunsten der Kommunen). Das bisherige Verständnis des Symmetriegrundsatzes greife ohnehin zu kurz. Es übersehe, dass sich mit dem Land und den Kommunen zwei ungleiche Partner im Symmetrievergleich gegenüber stünden. Insbesondere habe das Land bis zum Inkrafttreten der Schuldenbremse wesentlich weitergehende Verschuldungsmöglichkeiten gehabt. Außerdem seien die Kommunen in ihrer Aufgabenwahrnehmung in höherem Maße fremdbestimmt als das Land. Diese Ungleichheit führe zu einer Verzerrung ausgabenorientierter Symmetrievergleiche zugunsten des Landes.

B.

15

Die Vorlage ist zulässig.

16

1. Gegenstand des Verfahrens sind die im Tenor des Vorlagebeschlusses benannten Vorschriften über die Finanzausgleichsmasse und die Schlüsselzuweisungen des Jahres 2007. Die Vorlage erfasst diese Bestimmungen nicht nur insoweit, als sie der Gewährung von Schlüsselzuweisungen an die Landkreise zugrunde liegen, sondern insgesamt. Die Vorschriften bilden ein zusammenhängendes Regelwerk, welches im Rahmen der hier vorzunehmenden verfassungsgerichtlichen Prüfung nicht nach Gebietskörperschaftsgruppen aufgespalten werden kann.

17

2. Die Vorlage ist ordnungsgemäß begründet. Nach § 24 Abs. 2 Satz 1 des Landesgesetzes über den Verfassungsgerichtshof – VerfGHG – ist in der Begründung einer Richtervorlage anzugeben, inwiefern die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung von der Gültigkeit des Landesgesetzes abhängt und mit welcher Vorschrift der Landesverfassung dieses unvereinbar ist. Der Vorlagebeschluss genügt diesen Anforderungen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten landesgesetzlichen Bestimmungen über den kommunalen Finanzausgleich aufgezeigt und eingehend dargetan, weshalb es diese für unvereinbar mit Art. 49 Abs. 6 LV hält.

C.

18

Die zur Überprüfung gestellten Vorschriften sind mit Art. 49 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV unvereinbar.

I.

19

Art. 49 LV gewährleistet den Gemeinden und Gemeindeverbänden das Recht der Selbstverwaltung (Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV) und verpflichtet das Land, den Kommunen die zur Erfüllung ihrer eigenen und der übertragenen Aufgaben erforderlichen Mittel im Wege des Lasten- und Finanzausgleichs zu sichern (Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV).

20

1. Hieraus hat der Verfassungsgerichtshof in gefestigter Rechtsprechung abgeleitet, dass den Gemeinden und Gemeindeverbänden eine angemessene Finanzausstattung verfassungsrechtlich verbürgt ist. Art. 49 Abs. 6 LV gewährleistet den Kommunen die Finanzhoheit verstanden als Ausgabenhoheit auf der Grundlage einer angemessenen Finanzausstattung. Die Regelung geht dabei vom Grundsatz einheitlicher Aufgabenerfüllung und einheitlicher Ausgleichsleistung aus und beinhaltet eine einheitliche Finanzgarantie. Sie lässt – vorbehaltlich der hier nicht einschlägigen Konnexitätsregelung des Art. 49 Abs. 5 LV – grundsätzlich keinen Raum für einen Anspruch der Gemeinden und Gemeindeverbände auf eine gesonderte Erstattung der Kosten für die Wahrnehmung staatlicher Auftragsangelegenheiten oder bestimmter Aufgabenbereiche (vgl. VerfGH RP, AS 23, 434 [437]; AS 33, 66 [69 f.]).

21

Der von Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV geforderte kommunale Lasten- und Finanzausgleich verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: Zum einen ergänzt er die Finanzquellen der Kommunen und stockt deren Finanzmasse insgesamt auf (vertikale oder fiskalische Funktion). Zum anderen bezweckt er, die Finanzkraftunterschiede zwischen den Kommunen abzubauen (horizontale oder distributive Funktion). Diese horizontale oder distributive Funktion wird auch als interkommunaler Lasten- und Finanzausgleich bezeichnet (vgl. VerfGH RP, AS 26, 391 [396]; AS 33, 66 [70]).

22

2. Bei der Bemessung der den Kommunen im vertikalen Finanzausgleich insgesamt zu gewährenden Mittel steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu, der Grund und Grenzen in Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV findet.

23

a) Angemessen ist die Finanzausstattung der Kommunen grundsätzlich nur dann, wenn die kommunalen Finanzmittel ausreichen, um den Gemeinden und Gemeindeverbänden die Erfüllung aller zugewiesenen und im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung auch die Wahrnehmung selbstgewählter Aufgaben zu ermöglichen. Die Finanzausstattungsgarantie ist in der Regel jedenfalls dann verletzt, wenn den Kommunen die zur Wahrnehmung eines Minimums freier Aufgaben zwingend erforderliche Mindestfinanzausstattung vorenthalten und so einer sinnvollen Betätigung der Selbstverwaltung die Grundlage entzogen wird (vgl. VerfGH RP, AS 19, 339 [341]; AS 29, 75 [82]; BVerwGE 106, 280 [287]).

24

b) Inhalt und Umfang einer angemessenen Finanzausstattung der Gemeinden und Gemeindeverbände richten sich allerdings nicht ausschließlich nach den Erfordernissen der kommunalen Selbstverwaltung. Die Frage der Angemessenheit kann vielmehr nur unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Belange des Landes beantwortet werden, mit dem die Gemeinden und Gemeindeverbände in einem Finanzverbund zusammengeschlossen sind. Zwar stellt die Verfassung für Rheinland-Pfalz die Finanzausstattungsgarantie nicht ausdrücklich unter den Vorbehalt der finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes. Ein von der Finanzkraft des Landes losgelöster Anspruch der Kommunen stünde jedoch im Widerspruch zur grundsätzlichen Gleichwertigkeit staatlicher und kommunaler Aufgaben. Der kommunalen Selbstverwaltung würde hierdurch einseitig der Vorrang gegenüber anderen, verfassungsrechtlich gleichwertigen Gütern wie etwa der inneren Sicherheit, dem Bildungswesen oder der Justizgewährung eingeräumt (vgl. VerfGH RP, AS 15, 66 [68 f., 75]; BayVerfGH, Urteil vom 28. November 2007 – Vf. 15-VII-05 – juris, Rn. 204; VerfGH NW, Urteil vom 19. Juli 2011 – 32/08 – juris, Rn. 56).

25

c) Bei der Bemessung der Finanzzuweisungen an die Kommunen sind also die widerstreitenden finanziellen Belange des Landes und der Kommunen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Angesichts der grundsätzlichen Gleichwertigkeit von staatlichen und kommunalen Aufgaben wird der vertikale Finanzausgleich danach durch den Grundsatz der Verteilungssymmetrie bestimmt, der eine gleichmäßige und gerechte Aufteilung der verfügbaren Finanzmittel auf die verschiedenen Ebenen gebietet. Dabei setzt das Erfordernis einer symmetrischen Finanzmittelverteilung der gesetzgeberischen Gestaltungsmacht umso engere Grenzen, je knapper die zu verteilenden Finanzmittel sind (vgl. VerfGH RP, AS 15, 66 [75];AS 26, 391 [396]; AS 33, 66 [70]; NdsStGH, Urteil vom 7. März 2008 – 2/05 – juris, Rn. 68 ff.; StGH BW, Urteil vom 10. Mai 1999 – 2/97 – juris, Rn. 87 ff.)

26

d) Ausgangspunkt jeder Symmetriebetrachtung ist ein Vergleich der Finanzlage des Landes und der kommunalen Ebene anhand finanzwissenschaftlicher Kennzahlen. Anhaltspunkte hierfür lassen sich beispielsweise aus einer Gegenüberstellung der Kommunalisierungsgrade von Ausgaben und Einnahmen, einem Vergleich der Deckungsquoten auf Landes- und Kommunalebene oder auch aus einer vergleichenden Betrachtung der Finanzierungssalden und der jeweiligen Verschuldungssituation gewinnen. Auch ein Vergleich mit der finanziellen Lage der Kommunen in anderen Bundesländern, wie er von dem Statistischen Landesamt im „Index der Finanzzuweisungen an die Kommunen“ angestellt wird, kann unter Umständen gewisse Hinweise liefern.

27

e) Der aus Art. 49 Abs. 6 Satz 1 GG abzuleitende Grundsatz der Verteilungssymmetrie lässt sich jedoch nicht auf eine bloße Rechengröße reduzieren. Vielmehr kann die rein mathematische Betrachtung im Einzelfall aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit durch verfassungsrechtlich gebotene Wertungen überlagert sein.

28

So könnte sich das Land – beispielsweise – gegenüber einer Forderung der Kommunen auf Gewährung zusätzlicher Finanzmittel nicht auf das Bestehen rechnerischer Verteilungssymmetrie berufen, wenn es trotz finanzieller Notlage einen angemessenen Sparwillen vermissen ließe. Andernfalls könnte das Land sein Ausgabenniveau anheben und so berechtigte Ansprüche der Kommunen mindern. Es entstünde der Anreiz für einen wirtschaftlich unvernünftigen „Ausgabenwettlauf“ zwischen Land und Kommunen (vgl. LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. Juli 1999 – LVG 20/97 – NVwZ-RR 2000, 1 [6 f.]; auch Boettcher/Holler, in: Hansmann, Kommunalfinanzen in der Krise, 2011, S. 72 [79]).

29

Vor allem aber ist dem Land die Berufung auf eine rechnerisch bestehende Verteilungssymmetrie dann abgeschnitten, wenn die Kommunen unter finanziellen Schwierigkeiten leiden, die maßgeblich auf eine signifikant hohe und von ihnen selbst nur begrenzt beeinflussbare Kostenbelastung aus staatlich zugewiesenen Aufgaben zurückzuführen sind. Hier hat das Land gleichwohl einen angemessenen Beitrag zur Bewältigung der kommunalen Finanzprobleme zu leisten. Denn es verfügt im Hinblick auf die Kosten aus staatlich zugewiesenen Aufgaben über Einwirkungsmöglichkeiten, die den Kommunen selbst nicht zu Gebote stehen: Landesrechtliche Aufgabenzuweisungen kann es kraft eigener Gestaltungsmacht aufheben oder kostensenkend abändern. Bei bundesrechtlich zugewiesenen Aufgaben kann es von seinen politischen Mitwirkungsrechten im Bund Gebrauch machen. Hinreichender Anreiz hierfür besteht jedoch nur, wenn die Kosten einer Untätigkeit jedenfalls anteilig auch dem Land selbst zur Last fallen (vgl. NdsStGH, Urteil vom 25. November 1997 – StGH 14/95 u.a. – juris, Rn. 98).

30

Eine wertende Korrektur des rechnerischen Symmetrievergleichs im vorbeschriebenen Sinne gebieten – neben den bereits genannten Gründen – auch die strukturellen Unterschiede zwischen Land und Kommunen, die eine nach derzeitigem Stand der Finanzwissenschaft allein mögliche, ausgabenbezogene Symmetrieberechnung verzerren können.

31

So hatte das Land jedenfalls bislang größere rechtliche Möglichkeiten, Ausgabenerhöhungen über Kredite zu finanzieren und auf diese Weise einen Symmetrievergleich zu seinen Gunsten zu verschieben. Art. 117 Satz 2 LV in seiner bis zum 30. Dezember 2010 geltenden Fassung erlaubte eine Neuverschuldung bis zur Höhe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen. Hieraus folgte für das Land eine große haushaltspolitische Flexibilität. Demgegenüber bedurften und bedürfen Investitionskredite der Gemeinden und Gemeindeverbände gemäß § 103 Abs. 2 Gemeindeordnung – GemO – der kommunalaufsichtlichen Genehmigung und setzen in der Regel die dauernde Leistungsfähigkeit der Kommune voraus. Kredite zur Liquiditätssicherung dürfen nach § 105 Abs. 2 Satz 1 GemO nur ausnahmsweise aufgenommen werden, soweit dies zur rechtzeitigen Leistung von Auszahlungen erforderlich ist und keine anderen Mittel zur Verfügung stehen.

32

Auch im Übrigen hat das Land – ausgabenseitig – weiterreichende haushaltspolitische Gestaltungsspielräume. Es verfügt über einen großen und einheitlich bewirtschafteten Haushalt, während der kommunale Raum in zahlreiche Klein- und Kleinsthaushalte zerfällt. Außerdem ist das Land in seiner Aufgabenwahrnehmung vergleichsweise weniger fremdbestimmt als die Kommunen, deren Leistungserbringung ganz maßgeblich durch die Erfüllung staatlich vorgegebener Aufgaben und Standards geprägt ist.

33

Infolge dieser strukturellen Nachteile der Kommunen kann es in Zeiten finanzieller Knappheit auf kommunaler Ebene zu einer Verdrängung der verfassungsrechtlich besonders abgesicherten, freien Selbstverwaltungsaufgaben kommen. Denn im Spannungsfeld von Haushaltsausgleichsgebot und gesetzlich begründeten Pflichten stellt sich der Verzicht auf frei gewählte Aufgaben – neben der Zweckentfremdung von Kassenkrediten – häufig als nächstliegende, wenn nicht sogar einzige Möglichkeit zum Haushaltsausgleich dar.

34

Dies alles spricht auf der Grundlage von Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV dafür, das Ergebnis eines rein rechnerischen Symmetrievergleichs zu korrigieren, wenn es aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit geboten erscheint.

35

3. Auch im Rahmen des interkommunalen Finanzausgleichs – also bei der Verteilung der Finanzausgleichsmittel innerhalb des kommunalen Raums – sind dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers durch Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV rechtliche Grenzen gesetzt. Insbesondere muss er das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung beachten. Die Entscheidung des Gesetzgebers für ein bestimmtes Verteilungssystem und dessen Ausgestaltung darf deshalb jedenfalls nicht willkürlich sein (vgl. VerfGH RP, AS 26, 391 [396]; AS 33, 66 [70]).

36

4. Für das Verfahren des Finanzausgleichs enthält die Landesverfassung dem Wortlaut nach keine Vorgaben. Dennoch ergeben sich aus der Struktur der gesetzgeberischen Entscheidung über den Finanzausgleich und dem Schutzzweck des Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV einige verfahrensrechtliche Mindestanforderungen.

37

a) So hat der Gesetzgeber seinen Entscheidungen über Umfang und Verteilung der Finanzausgleichsmittel eine Land und Kommunen erfassende Betrachtung der Aufgaben- und Ausgabenlasten sowie der Einnahmensituation zugrunde zu legen. Ein aufgabengerechter Finanzausgleich setzt voraus, dass der Gesetzgeber sich zunächst ein Bild von der Höhe der erforderlichen Finanzmittel macht, wobei er auch schätzen und pauschalieren darf (vgl. StGH BW, Urteil vom 10. Mai 1999 – 2/97 – juris, Rn. 98; BayVerfGH, Urteil vom 28. November 2007 – Vf. 15-VII-05 – juris, Rn. 217).

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b) Die wesentlichen Ergebnisse seiner Ermittlungen und seine hierauf fußenden Erwägungen hat der Gesetzgeber durch Aufnahme in die Gesetzesmaterialien transparent zu machen. Nur so werden die Entscheidungen des Finanzausgleichsgesetzgebers für die Kommunen nachvollziehbar. Dies trägt zur Akzeptanz bei und vermittelt den Kommunen eine gewisse Rechts- und Planungssicherheit. Außerdem wäre ohne eine Begründung – angesichts des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers – die verfassungsgerichtliche Überprüfung des kommunalen Finanzausgleichs deutlich erschwert (vgl. BVerfGE 86, 90 [107 ff.]; BayVerfGH, Urteil vom 28. November 2007 – Vf. 15-VII-05 – juris, Rn. 216 ff.).

39

c) Schließlich trifft den Gesetzgeber eine Beobachtungs- und Anpassungspflicht im Hinblick auf einmal getroffene finanzausgleichsrechtliche Entscheidungen. Die Einnahmen- und Ausgabensituation des Landes und der Kommunen ist fortwährenden Veränderungen unterworfen. Ohne eine regelmäßige Kontrolle und Korrektur des bestehenden Finanzausgleichssystems könnten die Kommunen daher allein durch tatsächliche Entwicklungen in eine mit Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV nicht mehr vereinbare finanzielle Lage geraten (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom 21. Juni 2005 – 28/03 – juris, Rn. 163; NdsStGH, Urteil vom 7. März 2008 – 2/05 – juris, Rn. 76).

40

5. Angesichts des Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers sind gesetzliche Bestimmungen über den kommunalen Finanzausgleich gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbar. Der Verfassungsgerichtshof hat lediglich zu prüfen, ob der Gesetzgeber die im Einzelfall erheblichen Belange zutreffend ermittelt und zu einem angemessenen Ausgleich gebracht hat. Er kann eine Entscheidung beanstanden, wenn sie im Hinblick auf die dargelegten Maßstäbe oder sonst eindeutig gegen die Landesverfassung verstößt (vgl. VerfGH RP, AS 17, 268 [278 f.]; AS 19, 339 [341 ff., insb. 344]).

II.

41

Die Bestimmungen über die Finanzausgleichsmasse und die Schlüsselzuweisungen des Jahres 2007 stehen danach im Widerspruch zu Art. 49 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV.

42

Der Gesetzgeber hat bei der Bemessung und Verteilung der Finanzausgleichsmittel des Jahres 2007 die signifikant hohe Belastung zahlreicher Kommunen mit Sozialausgaben nicht angemessen berücksichtigt. Die zur Überprüfung stehenden Regelungen verstoßen daher sowohl gegen den Grundsatz der Verteilungssymmetrie (1.) als auch gegen das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung (2.).

43

1. Eine Symmetriestörung zum Nachteil des kommunalen Bereichs ist bei rein rechnerischer Betrachtung allerdings nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit feststellbar: Die finanzielle Lage des Landes war 2007 ähnlich angespannt wie diejenige der Kommunen (a)). Dennoch hätte die stark gestiegene Belastung zahlreicher Kommunen mit Sozialausgaben den Gesetzgeber zu einer spürbaren Anhebung seiner Finanzausgleichsleistungen veranlassen müssen (b)).

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a) aa) Die Finanzlage der rheinland-pfälzischen Kommunen war bereits 2007 prekär. Trotz Rekordergebnissen bei den Einnahmen – das Jahr brachte die beste Kassenentwicklung seit Gründung der Bundesrepublik – wiesen die Gemeinden und Gemeindeverbände im 18. Jahr in Folge einen negativen Finanzierungssaldo aus. Sie schlossen das Jahr mit einem Defizit je Einwohner von 43 Euro (insgesamt 170 Millionen Euro) ab, während die Kommunen im Bundesdurchschnitt einen Überschuss von 107 Euro je Einwohner (insgesamt 8.200 Millionen Euro) erwirtschafteten (vgl. Kommunalbericht 2009 des Rechnungshofs Rheinland-Pfalz, LT-Drs. 15/3500, S. 16 u. 18; Junkernheinrich u.a., Kommunaler Finanz- und Schuldenreport Rheinland-Pfalz, 2010, S. 18 f., abrufbar unter www.wegweiser-kommune.de).

45

Die Gesamtschulden der rheinland-pfälzischen Kommunen stiegen bis Ende 2007 auf 14.242 Millionen Euro. Dies entsprach einer Pro-Kopf-Verschuldung von 3.517 Euro. Trotz Rekordeinnahmen erreichten die gesetzlich nur zur Überbrückung von kurzfristigen Liquiditätsengpässen vorgesehenen Kassenkredite Ende 2007 mit 3.283 Millionen Euro einen neuen Höchststand. Mit 811 Euro je Einwohner übertrafen sie den Durchschnitt der deutschen Flächenländer (376 Euro) um fast 116 Prozent. Als Folge der massiven Verschuldung hatten die rheinland-pfälzischen Kommunen in ihren Kernhaushalten schon 2007 die bundesweit höchsten Kreditfinanzierungskosten von 79 Euro (netto) je Einwohner zu tragen (vgl. Kommunalbericht 2009, LT-Drs. 15/3500, S. 21 u. 33 ff.; Bundesministerium der Finanzen, Eckdaten zur Entwicklung und Struktur der Kommunalfinanzen 2001 bis 2010, Stand: Oktober 2011, S. 27; Junkernheinrich u.a., Kommunaler Finanz- und Schuldenreport Deutschland 2008 – Ein Ländervergleich, 2008, S. 70, abrufbar unter www.wegweiser-kommune.de).

46

bb) Die finanzielle Lage des Landes war jedoch ebenfalls äußerst angespannt. Auch seine Finanzierungssalden waren seit 1990 durchweg negativ. Das Defizit erreichte im Jahr 2002 eine Rekordhöhe von 1.532 Millionen Euro. 2007 betrug es immerhin 345 Millionen Euro. In den Jahren 2002 bis 2004 überschritt die Nettokreditaufnahme die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze des Art. 117 Satz 2 Halbs.1 LV a.F. deutlich, im Jahr 2002 sogar um 545 Millionen Euro. Die Verschuldung des Landes einschließlich der Landesbetriebe stieg bis Ende 2007 auf 27.400 Millionen Euro. Die Pro-Kopf-Verschuldung lag mit 6.348 Euro um fast 25 Prozent über dem Durchschnitt der deutschen Flächenländer (5.091 Euro). Die Zinsausgaben des Landes lagen mit 276 Euro je Einwohner um 23 Prozent über dem Vergleichswert (vgl. den Jahresbericht 2003 des Rechnungshofs Rheinland-Pfalz, LT-Drs. 14/2900, S. 15; Jahresbericht 2009, LT-Drs. 15/3100, S. 20, 37, 39 u. 41 f.; Jahresbericht 2011, LT-Drs. 15/5290, S. 17).

47

cc) Vor diesem Hintergrund lässt sich bei rein rechnerischer Betrachtung für das Jahr 2007 eine Symmetriestörung zulasten des kommunalen Bereichs mit der erforderlichen Eindeutigkeit nicht feststellen.

48

(1) Nach dem Gutachten von Prof. Dr. Scherf war die Einnahmenverteilung in der Zeit von 2000 bis 2007 sogar zugunsten der kommunalen Ebene verschoben: Der Kommunalisierungsgrad der Einnahmen habe den Kommunalisierungsgrad der Ausgaben um durchschnittlich 0,7 Prozentpunkte überstiegen. Die Deckungsquote, welche die Einnahmen einer Ebene ins Verhältnis zu ihren Ausgaben setze, habe für den kommunalen Bereich im Durchschnitt um 2,7 Prozentpunkte höher gelegen als auf Landesebene. Absolut habe der Symmetrievorteil des kommunalen Bereichs etwas mehr als 95 Millionen Euro pro Jahr betragen.

49

(2) Zu einem abweichenden Ergebnis gelangen Prof. Dr. Junkernheinrich und G. Micosatt in ihrer von den kommunalen Spitzenverbände veranlassten Stellungnahme. Ihre Berechnungen zeigen für den Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2007 einen Symmetriekoeffizienten von 0,980 und damit eine unsymmetrische Verteilung zu Lasten der kommunalen Ebene in Höhe von 73 Millionen Euro pro Jahr.

50

(3) Ein Symmetrienachteil der Kommunen ist angesichts dieser gegenläufigen Feststellungen nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennbar. Denn keine der beiden Vergleichsberechnungen ist offenkundig vorzugswürdig.

51

Die Differenz in den Ergebnissen ist auf die unterschiedlichen Methoden zurückzuführen, deren sich die Gutachter bei der Deckungsquotenberechnung bedienen. Prof. Dr. Scherf setzt die bereinigten Einnahmen des Landes und der Kommunen in ein Verhältnis zu den um Zahlungen an den öffentlichen Bereich sowie Gebühren und Entgelte korrigierten Ausgaben. Prof. Dr. Junkernheinrich und G. Micosatt stellen hingegen einen Bezug zwischen den allgemeinen Deckungsmitteln des Landes und der Kommunen und den jeweiligen Zuschussbedarfen (aufgabenspezifische Ausgaben abzüglich aufgabenspezifischer Einnahmen) her. Prof. Dr. Scherf stellt die zweckgebundenen Mittel und die Zinsausgaben der beiden Ebenen in seine Betrachtung ein, während Prof. Dr. Junkernheinrich und G. Micosatt diese beiden Größen unberücksichtigt lassen.

52

Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs, diesen Methodenstreit zu entscheiden. Keine der beiden Berechnungsmethoden begründet so gravierende Richtigkeitszweifel, dass ihre Ergebnisse im vorliegenden Zusammenhang unberücksichtigt bleiben müssten. Selbst aus finanzwissenschaftlicher Sicht scheinen beide Herangehensweisen vertretbar (vgl. hierzu Boettcher/Holler, in: Hansmann, Kommunalfinanzen in der Krise, 2011, S. 72 [77 ff.]).

53

b) Obwohl somit rein rechnerisch keine Anhaltspunkte für eine Symmetriestörung zu Lasten des kommunalen Bereichs vorliegen, hat der Gesetzgeber bei der von Verfassungs wegen gebotenen wertenden Betrachtungsweise gegen den Grundsatz der Verteilungssymmetrie verstoßen.

54

Denn die prekäre Finanzlage der rheinland-pfälzischen Kommunen im Jahr 2007 war wesentlich auf die signifikant hohen Sozialausgaben und damit auf die Kosten eines weit überwiegend aus staatlicher Zuweisung folgenden Aufgabenbereichs zurückzuführen (aa)). Dies hätte den Gesetzgeber zu einer spürbaren Anhebung der Finanzausgleichsleistungen veranlassen müssen (bb)).

55

aa) Die Sozialausgaben der rheinland-pfälzischen Kommunen sind bis Ende 2007 stark gestiegen. Auf sehr hohem Niveau wuchsen sie allein im Zeitraum 2000 bis 2007 nochmals um etwa 51,3 Prozent von 1.198,8 auf 1.813,8 Millionen Euro. Sie stiegen damit fast dreimal so schnell wie die Gesamtausgaben, die in demselben Zeitraum nur um rund 18,1 Prozent von 8.015 auf 9.465 Millionen Euro anwuchsen (vgl. Kommunalbericht 2004, Teil I, LT-Drs. 14/4070, S. 6 u. 16; Kommunalbericht 2009, LT-Drs. 15/3500, S. 19 u. 30).

56

Die Einnahmensituation der Kommunen konnte mit der Entwicklung der Sozialausgaben ebenfalls nicht Schritt halten. Ihre Gesamteinnahmen verharrten zunächst bis 2003 in etwa auf dem Niveau des Jahres 2000 und stiegen sodann um rund 18,4 Prozent auf 9.295 Millionen Euro. Die Steuereinnahmen sanken zunächst sogar von 2.567 Millionen Euro im Jahr 2000 auf 2.185 Millionen Euro im Jahr 2003, um sodann bis 2007 schrittweise auf 3.010 Millionen Euro anzusteigen. Auch die allgemeinen Zuweisungen des Landes entwickelten sich nur mäßig. Ihr Betrag schwankte zwischen 1.004 Millionen Euro im Jahr 2000 und 1.141 Millionen Euro in 2007. Die Höhe der Schlüsselzuweisungen bewegte sich im Zeitraum von 2000 bis 2007 zwischen 773 und 892 Millionen Euro (vgl. Kommunalbericht 2004, Teil I, LT-Drs. 14/4070, S. 6 u. 9; Kommunalbericht 2009, LT-Drs. 15/3500, S. 19 u. 23; Kompendium der Finanzstatistik 2007, S. 149; Kompendium der Finanzstatistik 2009, S. 150).

57

Die hohen Sozialausgaben schränkten den haushaltspolitischen Gestaltungsspielraum der rheinland-pfälzischen Kommunen daher zusehends ein und trugen maßgeblich zu deren prekärer Finanzlage bei. Nach einem Gutachten des Niedersächsischen Wirtschaftsforschungsinstituts wurden in Rheinland-Pfalz schon im Jahr 2006 auf kommunaler Ebene fast die Hälfte der für laufende Zwecke eingesetzten allgemeinen Deckungsmittel für Aufgaben der sozialen Sicherung verausgabt (vgl. Hardt/Schiller, Finanzwissenschaftliche Benchmarkinganalyse der kommunalen Haushalte in Rheinland-Pfalz, 2010, S. 109, abrufbar unter www.niw.de).

58

Die Berechnungen von Prof. Dr. Junkernheinrich und G. Micosatt stützen diesen Befund. Danach haben im Jahr 2006 die Zuschussbedarfe im Einzelplan 4 (Soziale Sicherung) des Verwaltungshaushalts 42,9 Prozent der allgemeinen Deckungsmittel der Kommunen in Anspruch genommen. Bei den mit Sozialausgaben besonders belasteten kreisfreien Städten habe diese Absorptionsquote bei 50,7 Prozent, auf der zentralen Kreisebene sogar bei über 74,4 Prozent gelegen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2010 kommt zu dem Ergebnis, dass sich mittels einer Regressionsanalyse nahezu zwei Drittel der Kassenkreditstreuung auf Kreisebene durch die Höhe der Sozialleistungen erklären lassen (vgl. Junkernheinrich u.a., Kommunaler Finanz- und Schuldenreport Rheinland-Pfalz, 2010, insb. S. 115 ff.).

59

Danach steht zur Überzeugung des Verfassungsgerichtshofs fest, dass die signifikant hohen Sozialausgaben maßgeblich zur finanziellen Schieflage der Kommunen im Jahr 2007 beigetragen haben. Dieser Zusammenhang wird von keinem der im vorliegenden Verfahren Beteiligten in Abrede gestellt.

60

bb) Unabhängig vom Vorliegen einer rechnerischen Symmetriestörung hätte das Land daher seine Finanzausgleichsleistungen aus Gründen der verfassungsrechtlich gebotenen Verteilungsgerechtigkeit spürbar erhöhen und stärker zur Bewältigung der kommunalen Finanzkrise beitragen müssen.

61

(1) Denn die Aufgaben der Kommunen im Sozialbereich ergeben sich größtenteils aus staatlicher Zuweisung. Auf die Höhe der hieraus folgenden Kosten haben die Kommunen nur begrenzten Einfluss. Zwar verbleiben den Kommunen in weniger regulierungsintensiven Bereichen des Sozialwesens Gestaltungsspielräume. Der wesentliche Teil der Soziallasten ist aber durch die gesetzlichen Bestimmungen und die örtlichen Sozialstrukturen unausweichlich vorgegeben (vgl. Kommunalbericht 2011, LT-Drs. 16/30, S. 78; Junkernheinrich u.a., Kommunaler Finanz- und Schuldenreport Rheinland-Pfalz, 2010, S. 106 ff.).

62

(2) Dem kann das Land mit Erfolg nicht entgegen halten, die Aufgaben im Bereich der sozialen Sicherung folgten ganz überwiegend nicht aus Landes-, sondern aus Bundesgesetzen. Denn das Land hat den Gemeinden und Gemeindeverbänden nach Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Mittel umfassend, also auch in Bezug auf bundesgesetzliche Aufgabenzuweisungen zu sichern. Hierfür sprechen – neben dem Wortlaut, der nicht zwischen landes- und bundesgesetzlich zugewiesenen Aufgaben unterscheidet – auch und vor allem Sinn und Zweck der Vorschrift. Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV soll die finanziellen Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung gewährleisten. Dieser Schutz drohte leer zu laufen, beschränkte man die finanzielle Einstandspflicht des Landes für die Kommunen auf deren eigene und landesgesetzlich zugewiesene Aufgaben. Insbesondere können die Kommunen zwecks Kostenerstattung nicht an den Bund verwiesen werden. Denn entsprechende Ansprüche sind von vornherein ausgeschlossen. Im zweistufigen Aufbau des grundgesetzlichen Bundesstaates sind die Kommunen Teile der Länder. Sie unterhalten grundsätzlich keine Rechtsbeziehungen zum Bund. Art. 106 Abs. 9 GG bringt dies für den Bereich der Finanzverfassung unmissverständlich zum Ausdruck, wenn er bestimmt, dass Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden und Gemeindeverbände den Ländern zuzurechnen sind. Die Kommunen sind mithin zur Sicherung ihrer finanziellen Grundlagen auf den Finanzausstattungsanspruch aus Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV angewiesen. Das Land wiederum ist verpflichtet, die finanziellen Belange seiner Kommunen auf Bundesebene als eigene zu wahren und durchzusetzen (vgl. BVerfGE 86, 148 [215]; VerfGH NW, Urteil vom 9. Dezember 1996 – 11/95 u.a. – NVwZ 1997, 793 [795 f.]; Korioth, NVwZ 2005, 503 [504 f.]; Siekmann, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Vor Art. 104a Rn. 9 f.).

63

(3) Seiner demnach bestehenden Mitverantwortung für die Finanzierung der signifikant hohen Sozialausgaben und die hieraus folgende finanzielle Schieflage der Kommunen im Jahr 2007 hat der Gesetzgeber bei der Bemessung der Finanzausgleichsmittel – unter dem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit – nicht angemessen Rechnung getragen.

64

Es ist nicht erkennbar, dass der Anteil der Kommunen an den im Land insgesamt verfügbaren Finanzmitteln im hier in Rede stehenden Zeitraum von 2000 bis 2007 mit Blick auf die stark gestiegenen Sozialausgaben spürbar erhöht worden wäre. Eine solche effektive Verbesserung der Finanzlage der Kommunen erfolgte insbesondere nicht durch den Beistandspakt und den Stabilisierungsfonds. Denn die zusätzlichen Finanzmittel aus diesen beiden Instrumenten wurden (und werden) den Kommunen nur darlehensweise gewährt. Der Stabilisierungsfonds bietet im Kern eine neue Form des kommunalen Überziehungskredits, für dessen Kosten die Kommunen selbst aufkommen müssen (vgl. den Bericht der Enquête-Kommission 14/1 „Kommunen“, LT-Drs. 14/4600, S. 146; auch Müller/Meffert, Der kommunale Finanzausgleich in Rheinland-Pfalz, 2008, S. 218 ff.).

65

Im Gegenteil wurde die Finanzmittelverteilung im Betrachtungszeitraum sogar zu Lasten des kommunalen Bereichs verschoben. So wurden die Mittel der Kommunen durch das Erste Landesgesetz zur Änderung des Landesfinanzausgleichsgesetzes vom 9. April 2002 (GVBl. S. 159) – zugunsten des Landes – effektiv um rund 40 Millionen Euro vermindert. Die Hauptlast aus dieser Umverteilung hatten die mit Sozialausgaben ohnehin hoch befrachteten Landkreise und kreisfreien Städte zu tragen (vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs, LT-Drs. 14/572, S. 8 f.).

66

c) Die zur Überprüfung gestellten Bestimmungen über die Finanzausgleichsmasse und die Schlüsselzuweisungen des Jahres 2007 verstoßen nach alledem gegen den aus Art. 49 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV abzuleitenden Grundsatz der Verteilungssymmetrie. Das Land hätte – bei der von Verfassungs wegen gebotenen wertenden Betrachtungsweise – seine Finanzausgleichsleistungen mit Rücksicht auf die signifikant hohen Sozialausgaben spürbar anheben und so zu einer Bewältigung der kommunalen Finanzkrise beitragen müssen.

67

2. Die Bestimmungen über die Schlüsselzuweisungen des Jahres 2007 verletzen – darüber hinaus – das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung aus Art. 49 Abs. 6 Satz 1 LV.

68

a) Das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung verpflichtet den Finanzausgleichsgesetzgeber, bei der Verteilung der Finanzausgleichsmittel die unterschiedlichen finanziellen Belange der Kommunen zu einem angemessenen und gerechten Ausgleich zu bringen. Es ist verletzt, wenn bei der Finanzmittelverteilung bestimmte Gebietskörperschaften oder Gebietskörperschaftsgruppen sachwidrig benachteiligt werden. Mit Rücksicht auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers prüft der Verfassungsgerichtshof dabei nicht, ob der Gesetzgeber die bestmögliche oder gerechteste Lösung gewählt hat. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob die gesetzgeberischen Einschätzungen unter dem Gesichtspunkt der Sachgerechtigkeit vertretbar sind. Außerdem dürfen die Maßstäbe, denen der Finanzausgleich nach dem Willen des Gesetzgebers folgen soll, nicht im Widerspruch zueinander stehen und nicht ohne einleuchtenden Grund verlassen werden. Die gesetzliche Regelung muss ferner berücksichtigen, dass Finanzkraftunterschiede im Wege des Finanzausgleichs grundsätzlich nur abgemildert, nicht aber nivelliert oder gar übernivelliert werden dürfen (vgl. zum Ganzen VerfGH RP, AS 26, 391 [396]; AS 33, 66 [71]; VerfGH NW, Urteil vom 19. Juli 2011 – 32/08 – juris, Rn. 55 u. 60 ff.; LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. Juni 2006 – LVG 7/05 – juris).

69

b) Die zur Überprüfung stehenden Bestimmungen verstoßen danach auch gegen das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung.

70

Bei der Verteilung der Finanzausgleichsmittel des Jahres 2007 sind die Landkreise und die kreisfreien Städte gegenüber den Gebietskörperschaften unterhalb der Kreisebene sachwidrig benachteiligt worden. Während die Sozialausgaben der Landkreise und kreisfreien Städte von 2000 bis 2007 stark anwuchsen, waren die von den kreisangehörigen Gemeinden und Verbandsgemeinden zu tragenden Soziallasten sogar rückläufig (aa)). Hierdurch ist es zu erheblichen finanziellen Ungleichgewichten zwischen den Gebietskörperschaftsgruppen gekommen (bb)). Dieser Entwicklung hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des kommunalen Finanzausgleichs des Jahres 2007 nicht angemessen Rechnung getragen (cc)).

71

aa) Die Sozialausgaben der Landkreise sind von 2000 bis 2007 besonders stark angewachsen. Beliefen sie sich im Jahr 2000 noch auf rund 490 Millionen Euro, so betrugen sie 2007 schon 1.078 Millionen Euro, was einem Zuwachs von etwa 120 Prozent entspricht (Schriftsatz des Rechnungshofs vom 22. November 2011). Der haushaltspolitische Handlungsspielraum der Landkreise wurde hierdurch weiter massiv eingeschränkt. Verbrauchten die Landkreise im Jahr 2000 nach den Berechnungen von Prof. Dr. Junkernheinrich und G. Micosatt noch 60,8 Prozent der allgemeinen Deckungsmittel für Zuschussbedarfe im Einzelplan 4 (Soziale Sicherung) des Verwaltungshaushalts, so betrug diese Absorptionsquote im Jahr 2006 schon 74,4 Prozent.

72

Eine ähnliche – angesichts des hohen Ausgangsniveaus allerdings nicht ganz so rasante – Entwicklung war bei den kreisfreien Städten zu beobachten. Dort beliefen sich die Sozialausgaben im Jahr 2000 auf 443 Millionen Euro. Bis 2007 wuchsen sie auf 629 Millionen Euro, also um immerhin 42 Prozent. Die Belastung der allgemeinen Deckungsmittel mit Zuschussbedarfen im Einzelplan 4 (Soziale Sicherung) des Verwaltungshaushalts stieg bei den kreisfreien Städten von 44,9 Prozent im Jahr 2000 auf 50,7 Prozent in 2006.

73

Bei den kreisangehörigen Gemeinden und Verbandsgemeinden war in demselben Zeitraum eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten. Ihre Sozialausgaben sanken von 266 Millionen Euro im Jahr 2000 auf 107 Millionen Euro in 2007, also um fast 60 Prozent. Die Belastung der allgemeinen Deckungsmittel mit Zuschussbedarfen im Einzelplan 4 (Soziale Sicherung) des Verwaltungshaushalts fiel bei den kreisangehörigen Gemeinden von 20,3 Prozent im Jahr 2000 auf 15,5 Prozent in 2006. Bei den Verbandsgemeinden stieg sie nur geringfügig und auf sehr niedrigem Niveau von 7,4 auf 10,5 Prozent.

74

bb) Diese Entwicklung hat – angesichts der hohen Bedeutung der Sozialausgaben für die Haushalte der Landkreise und kreisfreien Städte – wesentlich dazu beigetragen, dass es im Betrachtungszeitraum zu erheblichen finanziellen Ungleichgewichten zwischen den Gebietskörperschaftsgruppen kam (vgl. Junkernheinrich u.a., Kommunaler Finanz- und Schuldenreport Rheinland-Pfalz, 2010, S. 15 ff.; Hardt/Schiller, Finanzwissenschaftliche Benchmarkinganalyse der kommunalen Haushalte in Rheinland-Pfalz, 2010, S. 109).

75

Während bei den kreisfreien Städten und Landkreisen in der laufenden Rechnung des Jahres 2007 Fehlbeträge von 110 bzw. 23 Millionen Euro aufliefen, erwirtschafteten die kreisangehörigen Gemeinden und Verbandsgemeinden einen Überschuss von 375 Millionen Euro. Als Finanzierungssaldo aus laufender Rechnung und Kapitalrechnung wiesen die kreisangehörigen Gemeinden und Verbandsgemeinden immerhin noch einen Überschuss von 40 Millionen Euro aus, während bei den kreisfreien Städten und Landkreisen Defizite von 122 bzw. 88 Millionen Euro auftraten. Ganz ähnlich stellten sich die Finanzierungssalden der betreffenden Gebietskörperschaftsgruppen auch in den Jahren 2005 und 2006 dar (vgl. Kommunalbericht 2006, LT-Drs. 15/1008, S. 5; Kommunalbericht 2009, LT-Drs. 15/3500, S. 18).

76

Laut Prof. Dr. Scherf weist der Saldo der Einnahmen und Ausgaben bei den Landkreisen in allen Jahren von 2001 bis 2007 ein Defizit, bei den kreisangehörigen Gemeinden und Verbandsgemeinden hingegen durchgehend einen Überschuss aus. Insgesamt hätten die Landkreise dabei mit 2,3 Milliarden Euro im Minus, die Kreisgemeinden mit 2,2 Milliarden Euro im Plus gelegen.

77

Die Kassenkredite der Landkreise wuchsen von 50 Millionen Euro im Jahr 2000 auf 704 Millionen Euro in 2007, diejenigen der kreisfreien Städte von 589 auf fast 2.100 Millionen Euro. Unterhalb der Kreisebene fiel der Anstieg der Kassenkreditverschuldung deutlich moderater aus. Bei wesentlich höheren Gesamtausgaben wuchsen die Kassenkredite der kreisangehörigen Gemeinden und Verbandsgemeinden im Betrachtungszeitraum „nur“ von 138 auf 481 Millionen Euro (Schriftsatz des Rechnungshofs vom 22. November 2011).

78

cc) Dieser Entwicklung hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des interkommunalen Finanzausgleichs im Jahr 2007 nicht angemessen Rechnung getragen.

79

(1) Der Soziallastenansatz des § 11 Abs. 4 Nr. 3 LFAG war angesichts der hohen und ständig weiter steigenden Sozialausgaben offensichtlich nicht geeignet, für einen angemessenen Ausgleich unter den betroffenen Kommunen zu sorgen.

80

Schon sein Umverteilungsvolumen war hierfür bei weitem zu gering. Über ihn wurden im Jahr 2007 nur 25,52 Millionen Euro, also etwa 2,86 Prozent der Gesamtschlüsselmasse umverteilt (siehe Anlagen zum LKT-Rundschreiben 36/2011 vom 12. Dezember 2011). Auch seiner Struktur nach war der Soziallastenansatz nicht geeignet, das Problem der stark steigenden und ungleich verteilten Soziallasten angemessen zu bewältigen. Der Soziallastenansatz ist als Spitzenausgleichsansatz konzipiert, der sich bestimmungsgemäß nur zugunsten derjenigen Kommunen auswirkt, deren Belastung mit Sozialausgaben über dem Landesdurchschnitt liegt. Aufgrund ihrer weit überdurchschnittlichen Soziallasten profitierten daher im Jahr 2007 die kreisfreien Städte zu fast 90 Prozent von den Umverteilungswirkungen des Ansatzes. Hingegen wirkte er nur zu etwa 10 Prozent zugunsten der Landkreise. Lediglich zwei von 24 Landkreisen zogen Nutzen aus dem Ansatz (vgl. Kompendium der Finanzstatistik 2007, S. 608). Der Umverteilungsgewinn der kreisfreien Städte ging zum großen Teil auf Kosten der Landkreise, obwohl diese selbst stark unter dem Anstieg der Sozialausgaben zu leiden hatten (vgl. Parsche u.a., Neugestaltung des Soziallastenansatzes im kommunalen Finanzausgleich Rheinland-Pfalz, ifo Forschungsbericht 11, 2002, S. 35, 39).

81

Auch im Übrigen weist der gegenwärtige Soziallastenansatz erhebliche strukturelle Defizite auf. Als Spitzenausgleichsansatz mildert er bestimmungsgemäß nur überdurchschnittliche Belastungen ab. Auf einen Anstieg des Sozialausgabenniveaus insgesamt, wie er in Rheinland-Pfalz seit längerem zu beobachten ist, kann er nicht reagieren. Außerdem ist er schon konstruktionsbedingt nicht in der Lage, die erheblichen Belastungsunterschiede zwischen den – mehrheitlich unter dem Landesdurchschnitt liegenden – Landkreisen zu erfassen und zu bewältigen. Von besonderem Nachteil ist der Soziallastenansatz dabei für Landkreise mit großen kreisangehörigen Städten wie den Kläger des Ausgangsverfahrens. Denn die nicht selten hohe Belastung dieser Städte mit Sozialausgaben kann durch die Bildung eines gemeinsamen Durchschnitts mit den Sozialkosten der übrigen kreisangehörigen Kommunen leicht unter den Landesdurchschnitt nivelliert werden. Vom Soziallastenansatz wird sie dann nicht mehr erfasst.

82

(2) Sonstige hinreichend effektive Vorkehrungen zum angemessenen Ausgleich der Soziallasten hat der Gesetzgeber nicht getroffen. Dabei war ihm auch im Jahr 2007 bereits seit langem bekannt, dass die sehr hohen und ständig weiter steigenden Soziallasten im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs nicht angemessen berücksichtigt werden.

83

Schon im Siebten Gemeindefinanzbericht aus dem Jahr 1995 hatte die Landesregierung wesentliche Defizite des Soziallastenansatzes aufgezeigt und festgestellt, dass das Finanzierungsproblem hinsichtlich der kommunalen Sozialausgaben durch den Soziallastenansatz in keiner Weise gelöst werde (vgl. LT-Drs. 12/8042, S. 71 ff.). Zudem hatte das ifo Institut in gleich zwei Gutachten aus den Jahren 1998 und 2002 auf die Schwächen des Soziallastenansatzes hingewiesen und angeregt, den geltenden Spitzenausgleichsansatz durch einen allgemeinen Ausgleichsansatz auf Indikatorbasis zu ersetzen (vgl. Steinherr/Parsche, Der Ausgleich zwischen Finanzbedarf und Finanzkraft im kommunalen Finanzausgleich des Landes Rheinland-Pfalz, ifo studien zur finanzpolitik 66, 1998, S. 70 ff.; Parsche u.a., Neugestaltung des Soziallastenansatzes im kommunalen Finanzausgleich Rheinland-Pfalz, ifo Forschungsbericht 11, 2002).

84

(3) Das Land kann mit Erfolg auch nicht darauf verweisen, die festgestellten Ungleichgewichte könnten und müssten – entsprechend den Vorschlägen von Prof. Dr. Scherf – durch Erhöhung der Kreisumlage behoben werden.

85

Das finanzielle Ungleichgewicht zwischen den Landkreisen und den kreisfreien Städten einerseits und den kreisangehörigen Gemeinden und Verbandsgemeinden andererseits war so groß, dass – jedenfalls auch – eine Umverteilung der Finanzausgleichsmasse hätte vorgenommen werden müssen. Ein Ausgleich allein über die Kreisumlage war weder praktisch möglich noch zumutbar.

86

Zur symmetrischen Einnahmenverteilung innerhalb der Landkreise hätte der landesdurchschnittliche Kreisumlagesatz der Jahre 2001 bis 2007 nach den Berechnungen von Prof. Dr. Scherf statt bei 36,8 v.H. bei 53,7 v.H. liegen müssen. Im Jahr 2007 hätte er statt 38,6 v.H. sogar 65,9 v.H. betragen müssen. Eine derart starke Erhöhung der Kreisumlagesätze wäre realistischerweise nicht durchsetzbar gewesen. Außerdem stoßen Kreisumlagesätze von über 50 v.H. oder gar über 60 v.H. an die Grenze des finanzpsychologisch Erträglichen (vgl. VerfGH RP, AS 26, 391 [408]).

87

Im Übrigen konnte durch eine Anhebung der Kreisumlagesätze schon systembedingt nur ein finanzielles Ungleichgewicht zwischen den Landkreisen und den kreisangehörigen Gemeinden und Verbandsgemeinden beseitigt werden. Die Benachteiligung der kreisfreien Städte wäre hiervon unberührt geblieben.

D.

88

1. Die zur Überprüfung gestellten Vorschriften über die Finanzausgleichsmasse und die Schlüsselzuweisungen des Jahres 2007 sind mithin – wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verteilungssymmetrie und das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung – mit Art. 49 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV für unvereinbar zu erklären.

89

2. Diese Unvereinbarkeitserklärung ist auf die entsprechenden Vorschriften über die Finanzausgleichsmasse und die Schlüsselzuweisungen sämtlicher Folgejahre zu erstrecken.

90

a) Jedenfalls der festgestellte Verstoß gegen den Grundsatz der Verteilungssymmetrie in seiner durch verfassungsrechtliche Wertungen modifizierten Ausprägung besteht bis heute fort.

91

Die finanzielle Lage der Gemeinden und Gemeindeverbände hat sich seit 2007 weiter zugespitzt. Auch in den Jahren 2008 bis 2011 blieben ihre Einnahmen deutlich hinter den Ausgaben zurück. Das Defizit lag 2008 bei 246 Millionen Euro bevor es 2009 auf eine Rekordhöhe vom 865 Millionen Euro schnellte. 2010 fehlten immerhin noch 696 Millionen Euro in den kommunalen Kassen – das dritthöchste Finanzierungsdefizit seit 1990 (vgl. Kommunalbericht 2010, LT-Drs. 15/4690, S. 7; Kommunalbericht 2011, LT-Drs. 16/30, S. 9 f.).

92

Auch die Belastung der Kommunen mit Kassenkrediten wird immer erdrückender. Sie stieg von 2007 bis Ende 2010 nochmals um fast 64 Prozent auf 5.382 Millionen Euro. Die Pro-Kopf-Verschuldung aus Kassenkrediten lag damit in Rheinland-Pfalz (1.343 Euro) um fast 150 Prozent über dem Durchschnitt der deutschen Flächenländer (543 Euro). Laut Rechnungshof wird die Kassenkreditverschuldung der rheinland-pfälzischen Kommunen voraussichtlich auch in Zukunft weiter stark anwachsen. Dabei dürften sich schon heute einige der am höchsten verschuldeten kreisfreien Städte in der so genannten „Vergeblichkeitsfalle“ befinden, in der die kommunalen Verantwortungsträger die Hoffnung auf einen Haushaltsausgleich aus eigener Kraft aufgegeben haben (vgl. Bundesministerium der Finanzen, Eckdaten zur Entwicklung und Struktur der Kommunalfinanzen 2001 bis 2010, Stand: Oktober 2011, S. 27, abrufbar unter www.bundesfinanzministerium.de; Kommunalbericht 2009, LT-Drs. 15/3500, S. 33; Kommunalbericht 2011, LT-Drs. 16/30, S. 3 u. 37 ff.).

93

Angetrieben wird diese Entwicklung weiterhin zumindest auch durch die signifikant hohen Sozialausgaben der Kommunen, die im kommunalen Finanzausgleich nicht angemessen gegenfinanziert werden. Diese wuchsen bis Ende 2010 nochmals um über 25 Prozent auf 2.272 Millionen Euro und damit wiederum erheblich schneller als die Einnahmen (vgl. Kommunalbericht 2011, LT-Drs. 16/30, S. 14). Die Belastung der allgemeinen Deckungsmittel der Kommunen mit reinen Sozialausgaben stieg nach den Berechnungen von Prof. Dr. Junkernheinrich und G. Micosatt von 35,3 Prozent im Jahr 2007 auf 46,4 Prozent in 2010.

94

b) Ob auch der Verstoß gegen das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung bis heute fortdauert, kann demnach offen bleiben.

95

Allerdings spricht einiges dafür, dass es auch in den Jahren 2008 bis 2010 wegen der hohen Sozialausgaben zu deutlichen finanziellen Ungleichgewichten zwischen den Landkreisen und kreisfreien Städten einerseits und den kreisangehörigen Gemeinden und Verbandsgemeinden andererseits gekommen ist:

96

Die Sozialausgaben der Landkreise wuchsen im Zeitraum von 2007 bis Ende 2010 um 32 Prozent von 1.078 auf 1.425 Millionen Euro, diejenigen der kreisfreien Städte um über 16 Prozent von 629 auf 733 Millionen Euro. Die Steigerungsrate unterhalb der Kreisebene betrug hingegen nur 6,5 Prozent. Die Sozialausgaben stiegen hier auf vergleichsweise niedrigem Niveau von 107 auf 114 Millionen Euro (Schriftsatz des Rechnungshofs vom 22. November 2011). Während die kreisfreien Städte und Landkreise nach den Berechnungen von Prof. Dr. Junkernheinrich und G. Micosatt in dem genannten Zeitraum durchschnittliche Deckungsquoten von 88,1 bzw. 91,6 Prozent aufwiesen, lag die Deckungsquote unterhalb der Kreisebene bei etwa 96 Prozent.

97

Es ist zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellbar, ob und inwieweit die finanziellen Ungleichgewichte durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Landesfinanzausgleichsgesetzes vom 23. Dezember 2010 (GVBl. S. 566) und die hierdurch bewirkte Umverteilung der Schlüsselmasse beseitigt wurden.

98

c) Eine Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung auf die Folgejahre ist aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit geboten.

99

Im Hinblick auf das vorliegende Verfahren haben inzwischen weitere Landkreise vorsorglich Klage gegen Schlüsselzuweisungsbescheide des Jahres 2010 erhoben (vgl. Pressemitteilung des Landkreistages Rheinland-Pfalz vom 31. Oktober 2011, abrufbar unter www.landkreistag.rlp.de). Außerdem hat der Minister des Innern und für Sport unter dem 10. Februar 2011 erklärt, aus einer stattgebenden Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs unter bestimmten Voraussetzungen auch Folgerungen für andere Landkreise und kreisfreie Städte ziehen zu wollen. Diese Rechtsverhältnisse wären mit großen Unsicherheiten belastet, würde die im vorliegenden Verfahren zu treffende Entscheidung auf das Jahr 2007 beschränkt.

100

3. Bis zu einer verfassungsgemäßen Neuregelung – längstens bis zum 31. Dezember 2013 – bleiben die von der Unvereinbarkeitserklärung betroffenen Bestimmungen weiterhin anwendbar.

101

Eine rückwirkende Nichtigerklärung kommt aus Gründen der Rechtssicherheit nicht in Betracht. Ein sofortiges Außerkrafttreten der Vorschriften wäre mit den Erfordernissen einer geordneten Finanz- und Haushaltswirtschaft unvereinbar (vgl. BVerfGE 111, 191 [224 f.]; 119, 331 [382 ff.]). Die Schlüsselzuweisungen als „Kernstück“ des kommunalen Finanzausgleichs verlören rückwirkend bis ins Jahr 2007 ihre Rechtsgrundlage. Nach einer gesetzlichen Neuregelung müssten jedenfalls noch nicht bestandskräftige Schlüsselzuweisungsbescheide abgeändert und verfassungswidrig vorenthaltene Mittel nachgezahlt werden. Dies könnte zu erheblichen nachträglichen Belastungen des Landeshaushalts führen, obwohl die betreffenden Haushaltsjahre bereits abgeschlossen sind. Außerdem würde der kommunale Finanzausgleich der Jahre 2012 und 2013 in seinem Kernbereich der Grundlage beraubt, ohne dass der Gesetzgeber Gelegenheit zu einer entsprechenden Neuregelung in angemessener Zeit erhielte.

102

4. Im Rahmen der erforderlichen Neuregelung des kommunalen Finanzausgleichs hat der Gesetzgeber von Verfassungs wegen Folgendes zu beachten:

103

a) Das Land hat einen spürbaren Beitrag zur Bewältigung der kommunalen Finanzkrise zu leisten.

104

aa) Dieser spürbare Beitrag muss jedenfalls auch in einer effektiven und deutlichen Verbesserung der kommunalen Finanzausstattung bestehen, wie sie – beispielsweise – durch eine Verbreiterung der Verbundmasse oder eine Anhebung des Verbundsatzes bewirkt werden kann. Hierbei hat sich der Gesetzgeber insbesondere an der Steigerung der Soziallasten als einer wesentlichen Ursache der kommunalen Finanzkrise zu orientieren. Zudem darf er nicht aus den Augen verlieren, dass die nach Art. 49 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV zu sichernde angemessene Finanzausstattung den Kommunen grundsätzlich auch die Wahrnehmung freier, nicht kreditfinanzierter Selbstverwaltungsaufgaben ermöglichen muss. Keinesfalls darf die kommunale Selbstverwaltung durch eine Verknappung der Finanzmittel in ein bloßes Schattendasein gedrängt werden. Die Leistungsfähigkeit der Gemeinden und Gemeindeverbände ist von großer Bedeutung für die Lebensqualität der Bürger vor Ort.

105

Der genaue Umfang der zusätzlich bereit zu stellenden Finanzmittel steht im Ermessen des Gesetzgebers. Art. 49 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV schreibt insoweit weder zahlenmäßig festgelegte Beträge noch bestimmte Quoten vor. Entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts kann aus der Landesverfassung daher nicht abgeleitet werden, dass die Schlüsselzuweisungen zumindest um die Hälfte der prozentualen Steigerung der kommunalen Sozialausgaben anwachsen müssten (vgl. hierzu VerfGH RP, AS 15, 66 [70]; AS 19, 339 [341]; 23, 429 [431]; VerfGH NW, Urteil vom 19. Juli 2011 – 32/08 – juris, Rn. 58).

106

Der Einwand des Landes, die Anbindung der Schlüsselzuweisungen an die Sozialausgaben führe zu einer unzulässigen Anwendung des Konnexitätsprinzips aus Art. 49 Abs. 5 LV auf den Altaufgabenbestand der Kommunen, geht daher ins Leere. Das Land trifft aus Art. 49 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV keine direkte Pflicht zum Ausgleich von Sozialausgaben. Vielmehr hat es vor dem Hintergrund der hohen Soziallasten aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit die Grunddotation der Kommunen anzuheben und auf diese Weise einen angemessenen Beitrag zur Bewältigung der kommunalen Finanzkrise zu leisten.

107

bb) Daneben bleibt es dem Land unbenommen, auf die festgestellte Unterfinanzierung der Kommunen auch durch eine Entlastung der Kommunen auf der Ausgabenseite zu reagieren, beispielsweise durch Aufgabenrückführung oder die Lockerung gesetzlicher Standards (vgl. VerfGH RP, AS 27, 231 [243]). Auch eine weiterreichende Gebietsreform könnte die bestehenden Kostenstrukturen günstig beeinflussen (vgl. Kommunalbericht 2011, LT-Drs. 16/30, S. 42 f.).

108

cc) Solche ausgabenseitigen Maßnahmen können die von Verfassungs wegen geschuldete, angemessene Erhöhung der kommunalen Finanzmittel jedoch nicht vollständig ersetzen. Denn jedenfalls kurzfristig lassen sich die schwerwiegenden Finanzprobleme der Kommunen nur abmildern, wenn sich auch ihre Einnahmesituation effektiv verbessert. Lediglich die Höhe der verfassungsrechtlich gebotenen zusätzlichen Finanzausstattung hängt (auch) davon ab, welche weiteren Vorkehrungen das Land zur Entlastung der Kommunen von Aufgaben und Ausgaben trifft.

109

dd) Der vom Land geschuldete spürbare Beitrag zur Bewältigung der kommunalen Finanzkrise kann nicht durch die Beteiligung am kommunalen Entschuldungsfonds abgegolten werden. Dieser führt bestimmungsgemäß nur zu einer (teilweisen) Entlastung der Kommunen von alten, bis zum 31. Dezember 2009 aufgelaufenen Kassenkrediten („Nachsorge“). Die kommunale Finanzkrise ist jedoch nur zu bewältigen, wenn die mit Kassenkrediten belasteten Kommunen gleichzeitig ihre gegenwärtigen Defizite abbauen und so dauerhaft zu einem materiellen Haushalts-ausgleich finden. Ohne die Bereitstellung zusätzlicher Finanzmittel erscheint dies nach derzeitigem Stand der Dinge ausgeschlossen. Die kommunalen Kassenkredite wachsen nach wie vor schneller, als die Altverschuldung über den Kommunalen Entschuldungsfonds getilgt werden kann (vgl. LKT-Rundschreiben 36/2011 vom 12. Dezember 2011, S. 18).

110

ee) Das Land kann im Gegenzug für seinen Beitrag zur Bewältigung der kommunalen Finanzkrise verlangen, dass auch die Kommunen ihre Kräfte größtmöglich anspannen. Die über Jahrzehnte gewachsene kommunale Finanzkrise erfordert von Verfassungs wegen ein entschlossenes und zeitnahes Zusammenwirken aller Ebenen. Insbesondere haben die Kommunen ihre eigenen Einnahmequellen angemessen auszuschöpfen und Einsparpotenziale bei der Aufgabenwahrnehmung zu verwirklichen. Spielräume hierfür bestehen nach wie vor (vgl. Kommunalbericht 2011, LT-Drs. 16/30, S. 18 ff., 43 f. u. 78; Junkernheinrich u.a., Kommunaler Finanz- und Schuldenreport Rheinland-Pfalz, 2010, S. 119).

111

Der Rechnungshof hat in seinem jüngsten Kommunalbericht festgestellt, dass die durchschnittlichen Realsteuerhebesätze der rheinland-pfälzischen Kommunen in den Jahren 2008 und 2009 immer noch unter dem Durchschnitt der westlichen Flächenländer lagen. Die kreisfreien Städte in Rheinland-Pfalz hatten bei der Grundsteuer B und bei der Gewerbesteuer in den letzten fünf Jahren sogar die niedrigsten Hebesätze aller westlichen Flächenländer. Auf der Ausgabenseite bestehen nach dem Kommunalbericht Einsparpotenziale auch in gesetzlich zugewiesenen Aufgabenbereichen. Diese gilt es konsequent zu nutzen (vgl. Kommunalbericht 2011, LT-Drs. 16/30, S. 18 ff., 43 f. u. 78).

112

Auf eine entsprechende Mitwirkung der Kommunen hat das Land im Wege der Kommunalaufsicht hinzuwirken (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2010 – 8 C 43/09 – juris; Boettcher/Junkernheinrich, Kommunalfinanzen im Jahr 2009, in: Junkernheinrich u.a., Jahrbuch für öffentliche Finanzen 2010, S. 225 [237 f.]. Zum Ganzen auch den Kommunalbericht 2011, LT-Drs. 16/30, S. 41 f.).

113

b) Mit Blick auf den interkommunalen Finanzausgleich muss der Gesetzgeber darüber hinaus dafür sorgen, dass die Soziallasten – die nach wie vor erhebliches Steigerungspotenzial aufweisen – aufgabengerecht erfasst und schwerwiegende Benachteiligungen einzelner Gebietskörperschaften bzw. Gebietskörperschaftsgruppen dauerhaft vermieden werden. Dies kann – beispielsweise – durch eine Reform des Soziallastenansatzes geschehen.

114

c) Im Rahmen der Neuregelung hat der Gesetzgeber darzulegen, inwieweit die Finanzausstattung der Kommunen „unter dem Strich“ tatsächlich verbessert wurde und weshalb dieser Beitrag zur Bewältigung der kommunalen Finanzkrise – auch unter Berücksichtigung einer zumutbaren eigenen Kräfteanspannung der Kommunen – angemessen ist. Außerdem ist aufzuzeigen, dass und wie die Benachteiligung der Landkreise und kreisfreien Städte bei der Finanzmittelverteilung abgestellt wurde bzw. wird.

115

d) Der Gesetzgeber kann die erforderliche Neuregelung des kommunalen Finanzausgleichs auf die Zeit ab dem 1. Januar 2014 beschränken. Eine rückwirkende Korrektur der beanstandeten Regelungen ist von Verfassungs wegen nicht zwingend geboten. Dies folgt aus den Erfordernissen einer geordneten Finanz- und Haushaltswirtschaft, die – wie die Selbstverwaltungs- und Finanzausstattungsgarantie – Verfassungsrang genießen.

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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 106


(1) Der Ertrag der Finanzmonopole und das Aufkommen der folgenden Steuern stehen dem Bund zu: 1. die Zölle,2. die Verbrauchsteuern, soweit sie nicht nach Absatz 2 den Ländern, nach Absatz 3 Bund und Ländern gemeinsam oder nach Absatz 6 den Gemeinden

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Bundesverwaltungsgericht Urteil, 27. Okt. 2010 - 8 C 43/09

bei uns veröffentlicht am 27.10.2010

Tatbestand 1 Die Klage richtet sich gegen die Aufhebung eines Satzungsbeschlusses des Rates der Klägerin über die Festsetzung der Hebesätze für die Gewerbesteuer und die

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(1) Der Ertrag der Finanzmonopole und das Aufkommen der folgenden Steuern stehen dem Bund zu:

1.
die Zölle,
2.
die Verbrauchsteuern, soweit sie nicht nach Absatz 2 den Ländern, nach Absatz 3 Bund und Ländern gemeinsam oder nach Absatz 6 den Gemeinden zustehen,
3.
die Straßengüterverkehrsteuer, die Kraftfahrzeugsteuer und sonstige auf motorisierte Verkehrsmittel bezogene Verkehrsteuern,
4.
die Kapitalverkehrsteuern, die Versicherungsteuer und die Wechselsteuer,
5.
die einmaligen Vermögensabgaben und die zur Durchführung des Lastenausgleichs erhobenen Ausgleichsabgaben,
6.
die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer,
7.
Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften.

(2) Das Aufkommen der folgenden Steuern steht den Ländern zu:

1.
die Vermögensteuer,
2.
die Erbschaftsteuer,
3.
die Verkehrsteuern, soweit sie nicht nach Absatz 1 dem Bund oder nach Absatz 3 Bund und Ländern gemeinsam zustehen,
4.
die Biersteuer,
5.
die Abgabe von Spielbanken.

(3) Das Aufkommen der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer steht dem Bund und den Ländern gemeinsam zu (Gemeinschaftsteuern), soweit das Aufkommen der Einkommensteuer nicht nach Absatz 5 und das Aufkommen der Umsatzsteuer nicht nach Absatz 5a den Gemeinden zugewiesen wird. Am Aufkommen der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer sind der Bund und die Länder je zur Hälfte beteiligt. Die Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer werden durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, festgesetzt. Bei der Festsetzung ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:

1.
Im Rahmen der laufenden Einnahmen haben der Bund und die Länder gleichmäßig Anspruch auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben. Dabei ist der Umfang der Ausgaben unter Berücksichtigung einer mehrjährigen Finanzplanung zu ermitteln.
2.
Die Deckungsbedürfnisse des Bundes und der Länder sind so aufeinander abzustimmen, daß ein billiger Ausgleich erzielt, eine Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird.
Zusätzlich werden in die Festsetzung der Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer Steuermindereinnahmen einbezogen, die den Ländern ab 1. Januar 1996 aus der Berücksichtigung von Kindern im Einkommensteuerrecht entstehen. Das Nähere bestimmt das Bundesgesetz nach Satz 3.

(4) Die Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer sind neu festzusetzen, wenn sich das Verhältnis zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt; Steuermindereinnahmen, die nach Absatz 3 Satz 5 in die Festsetzung der Umsatzsteueranteile zusätzlich einbezogen werden, bleiben hierbei unberücksichtigt. Werden den Ländern durch Bundesgesetz zusätzliche Ausgaben auferlegt oder Einnahmen entzogen, so kann die Mehrbelastung durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, auch mit Finanzzuweisungen des Bundes ausgeglichen werden, wenn sie auf einen kurzen Zeitraum begrenzt ist. In dem Gesetz sind die Grundsätze für die Bemessung dieser Finanzzuweisungen und für ihre Verteilung auf die Länder zu bestimmen.

(5) Die Gemeinden erhalten einen Anteil an dem Aufkommen der Einkommensteuer, der von den Ländern an ihre Gemeinden auf der Grundlage der Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner weiterzuleiten ist. Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Es kann bestimmen, daß die Gemeinden Hebesätze für den Gemeindeanteil festsetzen.

(5a) Die Gemeinden erhalten ab dem 1. Januar 1998 einen Anteil an dem Aufkommen der Umsatzsteuer. Er wird von den Ländern auf der Grundlage eines orts- und wirtschaftsbezogenen Schlüssels an ihre Gemeinden weitergeleitet. Das Nähere wird durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt.

(6) Das Aufkommen der Grundsteuer und Gewerbesteuer steht den Gemeinden, das Aufkommen der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern steht den Gemeinden oder nach Maßgabe der Landesgesetzgebung den Gemeindeverbänden zu. Den Gemeinden ist das Recht einzuräumen, die Hebesätze der Grundsteuer und Gewerbesteuer im Rahmen der Gesetze festzusetzen. Bestehen in einem Land keine Gemeinden, so steht das Aufkommen der Grundsteuer und Gewerbesteuer sowie der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern dem Land zu. Bund und Länder können durch eine Umlage an dem Aufkommen der Gewerbesteuer beteiligt werden. Das Nähere über die Umlage bestimmt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Nach Maßgabe der Landesgesetzgebung können die Grundsteuer und Gewerbesteuer sowie der Gemeindeanteil vom Aufkommen der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer als Bemessungsgrundlagen für Umlagen zugrunde gelegt werden.

(7) Von dem Länderanteil am Gesamtaufkommen der Gemeinschaftsteuern fließt den Gemeinden und Gemeindeverbänden insgesamt ein von der Landesgesetzgebung zu bestimmender Hundertsatz zu. Im übrigen bestimmt die Landesgesetzgebung, ob und inwieweit das Aufkommen der Landessteuern den Gemeinden (Gemeindeverbänden) zufließt.

(8) Veranlaßt der Bund in einzelnen Ländern oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) besondere Einrichtungen, die diesen Ländern oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) unmittelbar Mehrausgaben oder Mindereinnahmen (Sonderbelastungen) verursachen, gewährt der Bund den erforderlichen Ausgleich, wenn und soweit den Ländern oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) nicht zugemutet werden kann, die Sonderbelastungen zu tragen. Entschädigungsleistungen Dritter und finanzielle Vorteile, die diesen Ländern oder Gemeinden (Gemeindeverbänden) als Folge der Einrichtungen erwachsen, werden bei dem Ausgleich berücksichtigt.

(9) Als Einnahmen und Ausgaben der Länder im Sinne dieses Artikels gelten auch die Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden (Gemeindeverbände).

Tatbestand

1

Die Klage richtet sich gegen die Aufhebung eines Satzungsbeschlusses des Rates der Klägerin über die Festsetzung der Hebesätze für die Gewerbesteuer und die Grundsteuer B durch den beklagten Landrat als Kommunalaufsichtsbehörde.

2

Die Klägerin ist eine kreisangehörige Gemeinde, die seit 1999 weder über einen ausgeglichenen Haushalt noch über ein genehmigtes Haushaltssicherungskonzept verfügt. Für das Haushaltsjahr 2003 setzte der Beklagte im Wege der Ersatzvornahme die Hebesätze der Klägerin für die Grundsteuer B auf 391 v.H. (im Vorjahr 350 v.H.) und für die Gewerbesteuer auf 413 v.H. (im Vorjahr 400 v.H.) des Steuermessbetrages fest.

3

Durch Beschluss vom 5. Juli 2005 senkte der Rat der Klägerin für das Haushaltsjahr 2005 die Hebesätze für die Grundsteuer B auf 350 v.H. und für die Gewerbesteuer auf 400 v.H. des Steuermessbetrages. Nach der auf Anweisung des Beklagten erfolgten Beanstandung des Beschlusses durch den Bürgermeister und nach dem Beschluss des Rates vom 1. September 2005, den beanstandeten Beschluss nicht aufzuheben, hob der Beklagte mit der streitgegenständlichen Verfügung vom 23. Dezember 2005 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung den Beschluss des Rates vom 5. Juli 2005 auf.

4

Der dagegen von der Klägerin erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 28. Juni 2007 stattgegeben und die Verfügung des Beklagten vom 23. Dezember 2005 aufgehoben.

5

Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a VwGO mit Beschluss vom 22. Juli 2009 das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die angefochtene Verfügung des Beklagten vom 23. Dezember 2005 sei zu Recht auf § 122 Abs. 1 Satz 2 der Gemeindeordnung des Landes Nordrhein-Westfalen (GO NRW) gestützt. Der aufgehobene Ratsbeschluss vom 5. Juli 2005 verletze geltendes Recht, weil er gegen § 75 Abs. 3 GO NRW in der gemäß Art. 1 § 9 des Gesetzes über ein Neues Kommunales Finanzmanagement für die Gemeinden im Land Nordrhein-Westfalen vom 16. November 2004 (NKFG NRW) auch nach dem 31. Dezember 2004 noch anwendbaren Fassung (GO NRW a.F.) verstoße, wonach die Gemeinden die Pflicht haben, den Haushalt in jedem Jahr auszugleichen. Wenn der Haushaltsausgleich nicht erreicht werden könne, sei dieser gemäß § 75 Abs. 4 Satz 2 GO NRW a.F. zum nächstmöglichen Zeitpunkt wiederherzustellen. Daraus ergebe sich die haushaltsrechtliche Pflicht für die Gemeinden, alles zu unternehmen, um durch Zurückführung der Ausgaben und Erhöhung der Einnahmen dieses Ziel so schnell wie möglich zu erreichen. Insbesondere beinhalte dies die Pflicht, von Einnahmen mindernden Maßnahmen - wie hier der Senkung der Realsteuerhebesätze - grundsätzlich abzusehen. Diese Pflicht sei allerdings auf das Zumutbare begrenzt. Die Zumutbarkeit des haushaltsrechtlich gebotenen Verhaltens bestimme sich einerseits nach den jeweiligen rechtlichen Vorgaben für das in Rede stehende Tun oder Unterlassen sowie danach, ob das Verhalten auch unter Berücksichtigung des im Rahmen des Grundsatzes sparsamer und wirtschaftlicher Haushaltsführung (§ 75 Abs. 2 GO NRW a.F.) eröffneten Handlungsspielraums der betroffenen Gemeinde geboten sei. Dabei sei der Spielraum umso enger, je größer oder andauernder das Haushaltsdefizit und je unabsehbarer sein Ende sei. Diesen Vorgaben des kommunalen Haushaltsrechts werde der beanstandete Ratsbeschluss der Klägerin vom 5. Juli 2005 nicht gerecht. Mit ihm wäre die Grundsteuer B mit 350 v.H. des Steuermessbetrages und die Gewerbesteuer mit 400 v.H. auf ein Niveau reduziert worden, das im Landesdurchschnitt zuletzt 1994 bzw. 1992 erreicht worden sei. Der Hebesatz für die Grundsteuer B wäre 2005 im Landkreis der niedrigste gewesen; beim Hebesatz für die Gewerbesteuer hätte sich die Klägerin zusammen mit der Gemeinde Dahlem im landkreisinternen Vergleich ebenfalls an der unteren Belastungsgrenze befunden. Für die Klägerin sei es auch zumutbar gewesen, auf die Absenkung zu verzichten. Die Annahme, die beschlossene Senkung der Realsteuerhebesätze werde wegen der damit bewirkten Steigerung der Attraktivität der Klägerin zu höheren Einnahmen führen, sei allenfalls eine Hoffnung, deren tatsächliche Grundlage dünn sei. Denn die Höhe der Realsteuerhebesätze sei regelmäßig nicht der zentrale Grund für die Entscheidung, in welcher Gemeinde sich ein Unternehmen ansiedle bzw. Personen ihren Wohnsitz nähmen. Die Absenkung der Realsteuerhebesätze könne nicht mit dem Hinweis auf die sonstige Abgabenbelastung der Bürger im Bereich der Klägerin, insbesondere mit hohen Entwässerungsgebühren, begründet werden. Weder die kommunale Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG noch Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG stünden der angefochtenen Verfügung entgegen. Ferner sei ein Verstoß gegen § 25 Abs. 1 GrStG und § 16 Abs. 1 GewStG nicht ersichtlich.

6

Gegen den Beschluss hat die Klägerin die vom Berufungsgericht zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen: Dem Beklagten fehle es an der Kompetenz, auf die Höhe der kommunalen Hebesätze für die Grundsteuer B und die Gewerbesteuer Einfluss zu nehmen. Denn Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG räume allein den Gemeinden das Recht ein, die Hebesätze für diese Steuern im Rahmen der Gesetze festzusetzen. Da der Bundesgesetzgeber im Grundsteuer- und im Gewerbesteuergesetz keine Regelung geschaffen habe, die Landesbehörden eine Reglementierung des originär den Gemeinden zustehenden Rechts zur Bestimmung der Höhe der Hebesätze eröffne, gelte dies auch für den Beklagten als staatliche Kommunalaufsichtsbehörde. Zwar gebe die angefochtene Aufhebungsverfügung des Beklagten nach ihrem Wortlaut der Klägerin keinen exakten Hebesatz vor. Die Verfügung laufe im Ergebnis jedoch darauf hinaus, dass für das Haushaltsjahr 2005 der Hebesatz für die Grundsteuer B auf 391 v.H. und für die Gewerbesteuer auf 413 v.H. des Steuermessbetrages festzusetzen sei. Damit werde der gemeindliche Handlungsspielraum missachtet, obwohl die Festlegung der Hebesätze auch in kritischen Haushaltssituationen immer noch eine - auch für soziale und wirtschaftspolitische Motive offene - kommunale Ermessensentscheidung sei.

7

Die Klägerin beantragt,

den Beschluss des Oberwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Juli 2009 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen vom 28. Juni 2007 zurückzuweisen.

8

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

9

Er verteidigt das angegriffene Urteil.

10

Der Vertreter des öffentlichen Interesses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren, hat jedoch keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung und Anwendung der Regelungen der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung (§ 122 Abs. 1 Satz 2 GO NRW sowie § 75 Abs. 3 und 4 Satz 2 GO NRW a.F.), auf die die angefochtene Verfügung des Beklagten vom 23. Dezember 2005 über die Aufhebung des Ratsbeschlusses vom 5. Juli 2005 gestützt ist, verstößt weder gegen Art. 28 Abs. 2 GG noch gegen Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG i.V.m. § 25 Abs. 1 GrStG und § 16 Abs. 1 GewStG oder gegen sonstiges Bundesrecht.

12

Die revisionsgerichtliche Prüfung muss von dem Inhalt der irrevisiblen Vorschriften des Landesrechts ausgehen, den das Berufungsgericht durch Auslegung ermittelt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat (§ 173 VwGO i.V.m. § 560 ZPO). Das Revisionsgericht kann insoweit lediglich nachprüfen, ob Bundesrecht - insbesondere Bundesverfassungsrecht - ein anderes Ergebnis gebietet (stRspr; vgl. u.a. Urteile vom 12. November 1993 - BVerwG 7 C 23.93 - BVerwGE 94, 288 = Buchholz 160 Wahlrecht Nr. 38 S. 21 <23 f.> und vom 9. Dezember 2009 - BVerwG 8 C 17.08 - NVwZ 2010, 834 m.w.N.).

13

Nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen muss gemäß § 75 Abs. 3 GO NRW a.F. der Haushalt einer Gemeinde in jedem Jahr ausgeglichen sein. Wenn der Haushaltsausgleich nicht erreicht werden kann, ist dieser gemäß § 75 Abs. 4 Satz 2 GO NRW a.F. zum nächstmöglichen Zeitpunkt wiederherzustellen. Das Berufungsgericht hat die Vorschrift dahin ausgelegt, dass sich daraus für die Klägerin in ihrer angespannten Haushaltssituation die Pflicht ergibt, alles zu unternehmen, um durch Zurückführung der Ausgaben und Erhöhung der Einnahmen dieses Ziel im Rahmen des Zumutbaren so schnell wie möglich zu erreichen. Das haushaltsrechtlich gebotene Verhalten bestimmt sich dabei einerseits nach den jeweiligen rechtlichen Vorgaben für das in Rede stehende Tun oder Unterlassen sowie danach, ob das Verhalten auch unter Berücksichtigung des im Rahmen des Grundsatzes sparsamer und wirtschaftlicher Haushaltsführung (§ 75 Abs. 2 GO NRW a.F.) eröffneten Handlungsspielraums der Gemeinde zumutbar ist, wobei dieser Spielraum um so enger ist, je größer oder andauernder das Haushaltsdefizit und je unabsehbarer sein Ende ist. Daraus hat das Berufungsgericht die weitere Schlussfolgerung gezogen, dass in der Haushaltssituation, in der sich die Klägerin im Haushaltsjahr 2005 befand, von die Einnahmen mindernden Maßnahmen - wie hier der Senkung der Realsteuerhebesätze - grundsätzlich abzusehen ist. Der Ratsbeschluss der Klägerin vom 5. Juli 2005 wird nach den Feststellungen des Berufungsgerichts diesen Anforderungen nicht gerecht und verstößt damit gegen das zum maßgeblichen Zeitpunkt des Ergehens der Verfügung des Beklagten vom 23. Dezember 2005 geltende Recht, so dass dieser ihn deshalb nach § 122 Abs. 1 Satz 2 GO NRW zu Recht aufgehoben hat.

14

Diese Annahme verletzt weder Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG noch die der Klägerin durch Art. 28 Abs. 2 GG garantierte gemeindliche Selbstverwaltung in Gestalt ihrer kommunalen Finanzhoheit. Sie stellt auch keinen unverhältnismäßigen Eingriff in diese Rechte dar.

15

Nach Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG ist den Gemeinden das Recht einzuräumen, die Hebesätze der Grundsteuer und der Gewerbesteuer im Rahmen der Gesetze festzusetzen. Nach Art. 105 Abs. 2 GG hat der Bund - neben der nach § 105 Abs. 1 GG ihm zugewiesenen Gesetzgebung über die Zölle und Finanzmonopole - für die "übrigen Steuern" die Kompetenz zur konkurrierenden Gesetzgebung, wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht oder die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG vorliegen. Das Aufkommen der beiden Steuern steht nicht nach Art. 106 Abs. 1 GG dem Bund, sondern nach Art. 106 Abs. 6 Satz 1 GG den Gemeinden zu, so dass der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nur nach Maßgabe des Art. 72 Abs. 2 GG Gebrauch machen durfte, was er mit dem Grundsteuergesetz und dem Gewerbesteuergesetz getan hat. Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken dagegen bestehen im Hinblick auf Art. 72 Abs. 2 GG oder andere Regelungen des Grundgesetzes nicht (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 - 2 BvR 2185/04, 2 BvR 22 BvR 2189/04 - DVBl 2010, 509 = juris Rn. 56 ff.). Der Bundesgesetzgeber ist durch § 25 Abs. 1 GrStG und § 16 Abs. 1 GewStG dem Gesetzgebungsauftrag des Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG nachgekommen, wonach den Gemeinden das Recht einzuräumen ist, die Hebesätze der Grundsteuer und der Gewerbesteuer im Rahmen der Gesetze festzusetzen.

16

Das durch Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG i.V.m. § 25 Abs. 1 GrStG und § 16 Abs. 1 GewStG eingeräumte Hebesatzrecht dient der Sicherung einer angemessenen Finanzausstattung der Gemeinden. Einerseits ermöglicht es ihnen, Unterschiede in der Belastung und in der Ergiebigkeit der zugewiesenen Steuerquellen auszugleichen. Die Gemeinden sollen die Möglichkeit haben, ihre Einnahmen durch Anhebung der Gewerbesteuer an den Finanzbedarf anzupassen und damit angesichts wachsender Haushaltslasten handlungsfähig zu bleiben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 86 m.w.N.). Die Gewährleistung des Hebesatzrechts ermöglicht andererseits aber auch eine Anpassung nach unten und damit den Einsatz niedriger Hebesätze im interkommunalen Wettbewerb um die Ansiedlung von Unternehmen. In dem Spannungsverhältnis zwischen dem Streben nach einem möglichst hohen Niveau der öffentlichen Leistungen und einer möglichst niedrigen Steuerbelastung, das bei der Einführung der Verfassungsgarantie des gemeindlichen Hebesatzrechts als unentbehrlich für eine eigenverantwortliche Selbstverwaltung hervorgehoben wurde (vgl. BTDrucks V/2861 S. 39 Nr. 183), wird das Streben nach einer möglichst niedrigen Steuerbelastung gerade durch die Bedeutung der Gewerbesteuerbelastung im Standortwettbewerb befördert (BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 86).

17

Die durch Bundesrecht in Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG in Verbindung mit den Ausführungsregelungen in § 16 Abs. 1 GewStG und § 25 Abs. 1 GrStG erfolgte Zuweisung der ausschließlichen Kompetenz der Gemeinden zur Festsetzung der Hebesätze für die Gewerbe- und die Grundsteuer ist vom Bundesgesetzgeber in beiden Gesetzen allerdings in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt worden. So hat er für die Gewerbesteuer einen Mindesthebesatz von 200 v.H. des Steuermessbetrages vorgeschrieben (§ 16 Abs. 4 Satz 2 GewStG). Die Gemeinden dürfen damit weder auf die Erhebung der Gewerbesteuer verzichten noch einen den Mindesthebesatz unterschreitenden Hebesatz festsetzen. Ausweislich der Gesetzesbegründung dienten die Einführung der Pflicht zur Erhebung der Gewerbesteuer und die Normierung eines Mindesthebesatzes vor allem der Vermeidung von "Gewerbesteueroasen" sowie der Verhinderung von Ausfällen bei der Gewerbesteuerumlage (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 95 ff. unter Verweis auf BTDrucks 15/481 S. 16; BTDrucks 15/1517 S. 17, 19; Protokoll der 786. Sitzung des Bundesrates vom 14. März 2003, S. 48). Andererseits werden die Bundesländer ermächtigt, sowohl für die Grundsteuer als auch für die Gewerbesteuer einen das Hebesatzrecht der Gemeinden begrenzenden Höchsthebesatz zu normieren (§ 16 Abs. 5 GewStG, § 26 GrStG). Das ist nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen in Nordrhein-Westfalen bisher nicht geschehen. Des Weiteren ist in den beiden Bundesgesetzen als letzter Zeitpunkt für den Fall einer Erhöhung des Hebesatzes verbindlich der 30. Juni eines Jahres festgelegt (§ 16 Abs. 3 GewStG, § 25 Abs. 3 GrStG). Außerdem ist in beiden Bundesgesetzen näher bestimmt, inwieweit bei der Erhebung von Grund- und Gewerbesteuern Differenzierungen zwischen Unternehmen, Betrieben bzw. Grundstücken zulässig sind (§ 16 Abs. 4 Satz 1 GewStG, § 25 Abs. 4 Satz 1 GrStG). Schließlich gestatten das Gewerbe- und das Grundsteuergesetz den Ländern bei Gebietsänderungen, vorübergehend verschiedene Hebesätze innerhalb des Hoheitsgebiets einer Gemeinde zuzulassen (§ 16 Abs. 4 Satz 3 GewStG, § 25 Abs. 4 Satz 2 GrStG). Weitergehende Beschränkungen des den Gemeinden im Rahmen der Gesetze gewährleisteten Rechts zur Festsetzung der Hebesätze für die Grundsteuer und für die Gewerbesteuer lassen sich beiden Bundesgesetzen nicht entnehmen.

18

Nach Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG ist das Hebesatzrecht für die Grund- und die Gewerbesteuer den Gemeinden allerdings nur "im Rahmen der Gesetze" gewährleistet. Dies entspricht der Regelung des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 77 m.w.N.), der den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln, ebenfalls nur im Rahmen der Gesetze garantiert. Das in Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG i.V.m. § 16 Abs. 1 GewStG und § 25 Abs. 1 GrStG den Gemeinden gewährleistete Hebesatzrecht für die Grundsteuer und die Gewerbesteuer ist eine spezielle Ausprägung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie und konkretisiert diese. Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie unterliegt normativer Prägung durch den Gesetzgeber, der sie inhaltlich ausformen und begrenzen darf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 1994 - 2 BvR 445/91 - BVerfGE 91, 228 <240> m.w.N.). Die im Rahmen der Gesetze garantierte finanzielle Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden stellt sich als notwendiges Korrelat zur verfassungsrechtlich gewährleisteten eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung dar (Knemeyer, Der Städtetag, 1988, 330 <331>; Corsten, Der Gemeindehaushalt, 1990, 57 <58>). Die kommunale Finanzhoheit besteht jedoch nicht darin, dass die Gemeinde nach Belieben frei schalten kann, sondern darin, dass sie verantwortlich disponiert und bei ihren Maßnahmen auch ihre Stellung innerhalb der Selbstverwaltung des modernen Verwaltungsstaates und die sich daraus ergebende Notwendigkeit des Finanzausgleichs in Betracht zieht (BVerfG, Beschluss vom 21. Mai 1968 - 2 BvL 2/61 - BVerfGE 23, 353 = juris Rn. 57). Daran hat die durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994 (BGBl I S. 3146) erfolgte Ergänzung des Art. 28 Abs. 2 GG um einen Satz 3 ("Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung.") nichts geändert. Mit dieser Regelung, die auf eine Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat zurückgeht (BTDrucks 12/6000 S. 46 ff.), sollten nach der Vorstellung des verfassungsändernden Gesetzgebers keine über die im Grundgesetz verankerte Finanzverfassung hinausgehenden finanziellen Absicherungen geschaffen werden (vgl. BTDrucks 12/6000 S. 1 <48>; Schwarz, Finanzverfassung und kommunale Selbstverwaltung, 1996, S. 44). Der kommunalen Finanzhoheit sollte allerdings ein ausdrücklicher Stellenwert eingeräumt und diese damit gestärkt werden (BTDrucks 12/6633 S. 7). Vor dem Hintergrund gewachsener Belastungen der Gemeinden bei der Erfüllung ihrer vielfältigen staatlichen Aufgaben sollte so klargestellt werden, dass die finanzielle Eigenverantwortung zum Recht auf kommunale Selbstverwaltung gehört (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 70 unter Berufung auf den Abschlussbericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BTDrucks 12/6000 S. 46). Die durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 28 und Art. 106) vom 20. Oktober 1997 (BGBl I S. 2470) erfolgte Einfügung eines weiteren Halbsatzes in Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG ("zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle") garantiert den Gemeinden über Art. 106 Abs. 2 Satz 2 GG hinaus, dass die wirtschaftskraftbezogene Gewerbesteuer nicht abgeschafft wird, ohne dass die Gemeinden an ihrer Stelle eine andere wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle mit Hebesatzrecht erhalten. Die kommunale Finanzautonomie sollte so durch die Garantie des Bestandes der Gewerbeertragsteuer oder einer anderen an der Wirtschaftskraft orientierten Steuer mit Verfassungsrang gewährleistet werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 71 unter Berufung auf BTDrucks 13/8488 S. 5; 13/8340 S. 2).

19

Die verfassungsrechtlich in dieser Weise geschützte kommunale Selbstverwaltungsfreiheit kann allerdings vom Gesetzgeber beschränkt werden. Hinsichtlich des den Gemeinden in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Rechts zur Aufgabenerledigung "in eigener Verantwortung" ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut, dass dieses nur "im Rahmen der Gesetze" besteht. Demnach genießen die gemeindlichen Selbstverwaltungskörperschaften einerseits zwar die durch Art. 28 Abs. 2 GG gewährleistete kommunale Autonomie. Andererseits müssen sie jedoch den Vorrang der staatlichen Gesetze beachten. Der sowohl in Art. 28 Abs. 2 GG als auch in Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG normierte Gesetzesvorbehalt gilt auch für die kommunale Finanzhoheit als Teil der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie (vgl. dazu BVerfG, Entscheidungen vom 21. Mai 1968 - 2 BvL 2/61 - BVerfGE 23, 353 <369>, vom 10. Juni 1969 - 2 BvR 480/61 - BVerfGE 26, 172 <181>, vom 24. Juni 1969 - 2 BvR 446/64 - BVerfGE 26, 228 <244>, vom 24. Juli 1979 - 2 BvK 1/78 - BVerfGE 52, 95 <117> und vom 15. Oktober 1985 - 2 BvR 1808/82, 2 BvR 1809/82, 2 BvR 1810/82 - BVerfGE 71, 25 <36>), die die Befugnis zu einer eigenverantwortlichen Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft im Rahmen eines gesetzlich geordneten Haushaltswesens beinhaltet (vgl. u.a. BVerfG; Entscheidung vom 24. Juni 1969 - 2 BvR 446/64 - a.a.O. <244>).

20

Das Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung einschließlich der kommunalen Finanzautonomie steht allerdings nicht zur vollständigen Disposition des einfachen Gesetzgebers (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 91 und vom 23. November 1988 - 2 BvR 1619/83, 2 BvR 1628/83 - BVerfGE 79, 127 <143>). Es ist in seinem Kern gesetzgebungsfest gewährleistet. Dem beschränkenden Zugriff des Gesetzgebers sind insoweit verfassungsrechtliche Schranken gesetzt. Die durch Art. 28 Abs. 2 GG garantierten wesentlichen Hoheitsrechte, die der Staat den Gemeinden im Interesse einer funktionsgerechten Aufgabenwahrnehmung gewährleistet, darunter die Finanzhoheit, müssen den Gemeinden im Kern erhalten bleiben (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Juli 1979 a.a.O. <117>). Der Gesetzgeber darf nicht in den Kernbereich der gemeindlichen Selbstverwaltung eingreifen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 91 unter Verweis auf BVerfGE 79, 127 <143>; 83, 363 <381>; 91, 228 <238>; 107, 1 <2>; stRspr). Was zu dem Bereich gehört, der verfassungskräftig gegen jede Schmälerung durch gesetzgeberische Eingriffe geschützt ist, lässt sich nicht abstrakt-allgemein umschreiben, sondern ergibt sich einmal aus der geschichtlichen Entwicklung und sodann aus den verschiedenen Erscheinungsformen der Selbstverwaltung (BVerfG, Entscheidungen vom 10. Juni 1969 a.a.O. juris Rn. 31, vom 26. November 1963 - 2 BvL 12/62 - BVerfGE 17, 172 <182> = juris Rn. 38 m.w.N. und vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 92 m.w.N.). Den absoluten Schutz der Kernbereichsgarantie genießt jedoch nicht jede einzelne Ausformung der den Gemeinden durch Art. 28 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 6 GG garantierten Hoheitsrechte (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. Mai 2001 - 2 BvK 1/00 - BVerfGE 103, 332 <366> und vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 93; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 28 Rn. 78). Der Kernbereich ist dann verletzt, wenn das Recht auf kommunale Selbstverwaltung beseitigt wird oder kein hinreichender Spielraum für seine Ausübung mehr übrig bleibt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. Mai 2001 a.a.O. <366> und vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 93; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Art. 28 Rn. 22; Mückl, Finanzverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, 1998, S. 59; Stern, Staatsrecht Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 12 II 4, S. 416).

21

Außerdem unterliegt der Gesetzgeber bei Beschränkungen der Gewährleistung der gemeindlichen Selbstverwaltung und der kommunalen Finanzhoheit dem verfassungsrechtlichen Gebot zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (BVerfG, Entscheidungen vom 24. Juni 1969 a.a.O. <241>, vom 7. Oktober 1980 - 2 BvR 584/76, 2 BvR 598/76, 2 BvR 599/76, 2 BvR 604/76 - BVerfGE 56, 298 <313>, vom 23. Juni 1987 - 2 BvR 826/83 - BVerfGE 76, 107 <121 ff.> sowie vom 27. Januar 2010 a.a.O. juris Rn. 94 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 4. August 1983 - BVerwG 7 C 2.81 - BVerwGE 67, 321 = DVBl 1983, 1152 f. = juris Rn. 13 und 20; von Mutius, Kommunalrecht, 1996, Rn. 866; Knemeyer, JuS 2000, 521 <522>; Franz, JuS 2004, 937; Schmidt-Assmann, Kommunale Selbstverwaltung "nach Rastede", Festschrift für Horst Sendler, 1991, S. 121 <132>; Selmer/Hummel, NVwZ 2006, S. 14 <18 ff.>). Wie die Selbstverwaltungsgarantie im Allgemeinen und die Finanzhoheit als eines ihrer wesentlichen Elemente darf auch das in Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG und in Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG gewährleistete Hebesatzrecht nicht unverhältnismäßig beschränkt werden. Beschränkungen müssen danach zur Erreichung eines nach dem Grundgesetz zulässigen Zwecks geeignet sowie erforderlich und (im engeren Sinne) verhältnismäßig sein.

22

Unter den in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 und Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG normierten Gesetzesvorbehalt fallen (auch) gesetzliche Regelungen des Landesrechts, wie sie nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in Nordrhein-Westfalen für den Bereich der kommunalen Haushaltswirtschaft in § 75 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 2 GO NRW a.F. sowie für die staatliche Kommunalaufsicht in § 122 Abs. 1 Satz 2 GO NRW bestehen. Das ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Die staatliche Rechtsaufsicht über die Gemeinden ist ein von Verfassungs wegen vorgesehenes Korrelat der kommunalen Selbstverwaltung. Nach der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes steht die staatliche Aufsicht über die Gemeinden ausschließlich dem jeweiligen Bundesland zu. Bei der Wahrnehmung der Aufgaben des eigenen Wirkungskreises der Gemeinden, zu denen jedenfalls freiwillige Selbstverwaltungsangelegenheiten sowie pflichtige, aber weisungsfreie Selbstverwaltungsaufgaben gehören, unterliegen die Kommunen nur der staatlichen Rechts-, jedoch keiner Fachaufsicht. Eine über die Rechtmäßigkeitskontrolle hinausgehende Zweckmäßigkeitskontrolle mit Weisungsrechten der staatlichen Kommunalaufsichtsbehörden wäre mit der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG und der kommunalen Finanzhoheit nicht zu vereinbaren. Dass die Staatsaufsicht in Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Kommunen auf die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit (Rechtsaufsicht) beschränkt ist, ist in der Regel in den Landesverfassungen und in den Gemeindeordnungen der Bundesländer ausdrücklich angeordnet. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist dies in Nordrhein-Westfalen nach Maßgabe des Art. 78 Abs. 4 Satz 1 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen in § 122 Abs. 1 GO NRW angeordnet.

23

Der aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Selbstverwaltungsrechts und der Finanzhoheit der Gemeinden resultierende Gestaltungsspielraum wird nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in Nordrhein-Westfalen durch die in § 75 Abs. 3 und 4 Satz 2 GO NRW a.F. geregelte Pflicht beschränkt, einen ausgeglichenen Haushalt aufzustellen und gegebenenfalls den Haushaltsausgleich zum nächstmöglichen Zeitpunkt wieder herbeizuführen. Die Annahme des Berufungsgerichts, dies schränke das Recht der Gemeinden zur Senkung der Hebesätze in Fällen einer schweren Haushaltsnotlage von unabsehbarer Dauer ein, ist weder verfassungsrechtlich zu beanstanden noch verstößt sie gegen sonstiges Bundesrecht.

24

Die Erfüllung der den Gemeinden nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in § 75 Abs. 4 Satz 2 GO NRW a.F. auferlegten rechtlichen Verpflichtung, im Falle eines unausgeglichenen Haushalts den Haushaltsausgleich zum nächstmöglichen Zeitpunkt wiederherzustellen, ist auf der Einnahmeseite nicht nur von Art und Höhe der Erhebung kommunaler Gebühren und Beiträge sowie der Gemeinde zustehender Steuern wie der Gewerbe- und Grundsteuer abhängig. Vielmehr wird diese Einnahmesituation entscheidend auch von den Finanzzuweisungen des Landes (Schlüsselzuweisungen, zweckgebundene Zuweisungen, Sonderbedarfszuweisungen) beeinflusst. Ebenso wird auch die kommunale Ausgabenseite in starkem Maße von den den Kommunen durch Bund und Land auferlegten (Pflicht-)Aufgaben mitgeprägt. Wegen der in Art. 28 Abs. 2 GG erfolgten verfassungsrechtlichen Gewährleistung der gemeindlichen Selbstverwaltung und kommunalen Finanzhoheit ist es daher grundsätzlich Aufgabe des Rates und der Verwaltung einer Gemeinde, alle notwendigen Maßnahmen - sowohl auf der Ertrags- als auch auf der Aufwandsseite - zu ergreifen, um den gesetzlich vorgegebenen Haushaltsausgleich zu erreichen. Innerhalb des den Gemeinden zustehenden Gestaltungsspielraums ist es der Kommunalaufsicht deshalb grundsätzlich untersagt, der Gemeinde im Falle eines unausgeglichenen Haushalts alternativlos vorzuschreiben, was sie zu tun hat. Auch wenn die Finanzlage der betreffenden Gemeinde sehr angespannt und unter Umständen selbst die Erfüllung der Pflichtaufgaben nicht mehr sichergestellt ist, liegt es innerhalb des Gestaltungsspielraums der Gemeinde, durch ihre demokratisch gewählten Organe zu entscheiden, wie die notwendige Reduzierung freiwilliger Leistungen und die Erzielung zusätzlicher Einnahmen (z.B. durch Abgaben und Steuern) erfolgen soll.

25

Auf der Ausgabenseite ist die Aufsichtsbehörde grundsätzlich darauf beschränkt, eine Reduzierung der Mittel für freiwillige Leistungen der Gemeinde insgesamt anzumahnen, ohne ein konkretes Mittel oder einzelne geförderte Projekte für die gebotene Einsparung vorzuschreiben (BayVGH, Urteil vom 27. Mai 1992 - 4 B 91.190 - NVwZ-RR 1993, 373 <375> = juris Rn. 22; Brüning, DÖV 2010, 553 <557>). Entsprechendes muss angesichts der verfassungsrechtlichen Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung für Anordnungen der Kommunalaufsicht hinsichtlich der Einnahmeseite gelten, also für die Entscheidung über die zu ergreifenden Maßnahmen zur Erhöhung der kommunalen Einnahmen und Erträge.

26

Die staatliche Kommunalaufsichtsbehörde ist jedoch - unabhängig von der Frage einer aufgabenadäquaten Finanzausstattung der Gemeinde durch das Land - bei sachgerechter Ausübung des ihr zustehenden Entschließungs- und Auswahlermessens im Rahmen der Rechtsaufsicht befugt, bei Nichterfüllung einer der Gemeinde obliegenden rechtlichen Verpflichtung einzugreifen und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots eine gegen diese Verpflichtung verstoßende Maßnahme zu beanstanden und aufzuheben. Unter welchen Voraussetzungen im Rahmen der Rechtsaufsicht auch weitergehende Eingriffe der staatlichen Kommunalaufsichtsbehörden in die gemeindliche Selbstverwaltung und kommunale Finanzhoheit in Betracht kommen, bedarf hier keiner näheren Prüfung und Entscheidung.

27

Weder Art. 28 Abs. 2 noch Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG i.V.m. § 6 Abs. 1 GewStG und § 25 Abs. 1 GrStG schließen eine Beanstandung der Senkung der Hebesätze für die Grund- und die Gewerbesteuer aus, wenn die betreffende Gemeinde sich in einer anhaltenden Haushaltsnotlage befindet und das von ihr vorgelegte - gesetzlich vorgeschriebene - Haushaltssicherungskonzept nicht erkennen lässt, wie der durch die Hebesatzabsenkung unmittelbar bewirkte Einnahmeverlust hinreichend verlässlich ausgeglichen werden soll. In einer solchen Situation darf die betroffene Gemeinde die Hebesätze nicht auf ein deutlich niedrigeres Niveau festsetzen, wenn ein Ausgleich des Einnahmeausfalls weder konkret in der Haushaltsplanung vorgesehen noch hinreichend konkret absehbar ist.

28

Eine solche Beschränkung des Rechts zur Festsetzung der Hebesätze für die Grund- und für die Gewerbesteuer wahrt den Kernbereich des in Art. 28 Abs. 2 GG gewährleisteten gemeindlichen Selbstverwaltungsrechts und der kommunalen Finanzhoheit. Denn es belässt weiterhin der Gemeinde die Entscheidung, wie der Haushaltsausgleich angestrebt und erreicht werden soll. Reichen die Einnahmen nicht aus, um die zur Erfüllung der Aufgaben der Gemeinde erforderlichen Ausgaben zu decken (sog. kameralistischer Rechnungsstil) oder deckt der Gesamtbetrag der Erträge nicht die Höhe des Gesamtbetrages der Aufwendungen (neues Rechnungswesen), ist zu prüfen, inwieweit der Ausgleich durch Beschränkung der Ausgaben bzw. der Aufwendungen oder Erhöhung der Einnahmen bzw. Erträge herbeigeführt werden kann. Die angefochtene kommunalaufsichtliche Verfügung des Beklagten belässt der Klägerin den notwendigen grundsätzlichen Gestaltungsspielraum, da keine konkreten Vorgaben für die Zurückführung bestimmter Ausgaben/Aufwendungen und die Erhöhung bestimmter Einnahmen/Erträge erteilt werden. Sie beanstandet allein, dass die von dem Rat der Klägerin beschlossene Senkung der Hebesätze für die Grund- und für die Gewerbesteuer in einer anhaltenden Haushaltsnotlage der Klägerin vorgenommen wurde, obwohl ein Ausgleich des damit bewirkten Einnahmeausfalls, der nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben des Prozessbevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung im Haushaltsjahr 2005 ca. 300 000 € betrug, weder konkret in die Haushaltsplanung eingestellt noch auf der Basis eines genehmigungsfähigen Haushaltssicherungskonzepts für die Folgejahre in nachvollziehbarer Weise hinreichend verlässlich absehbar war.

29

Die angefochtene kommunalaufsichtliche Verfügung des Beklagten schränkt die gemeindliche Finanzhoheit und das daraus fließende Hebesatzrecht auch nicht unverhältnismäßig ein.

30

Sie ist ersichtlich auf das Ziel ausgerichtet, Einnahmeausfälle im Haushalt der Klägerin zu unterbinden, solange deren Ausgleich durch anderweitige Einnahmeerhöhungen und/oder Ausgabenminderungen nicht in hinreichendem Maße absehbar ist. Nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen verfügt die Klägerin seit 1999 weder über einen ausgeglichenen Haushalt noch über ein genehmigtes Haushaltssicherungskonzept gemäß § 75 Abs. 4 Satz 1 GO NRW a.F. Sie befand sich im maßgeblichen Zeitpunkt des Ergehens der angegriffenen Verfügung des Beklagten seit Jahren im Zustand vorläufiger Haushaltsführung. Das vom Rat der Klägerin zusammen mit der Haushaltssatzung für das Haushaltsjahr 2005 am 31. Mai 2005 beschlossene und dem Beklagten vorgelegte Haushaltssicherungskonzept wurde lediglich für die Jahre 2004 bis 2008 erstellt. Bei der Beschlussfassung über die Senkung der Hebesätze am 5. Juli 2005 erfolgte insoweit keine Änderung. Das vorliegende Haushaltssicherungskonzept war nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen auch nicht genehmigungsfähig, weil aus ihm entgegen § 75 Abs. 4 GO NRW a.F bzw. § 76 GO NRW a.F. jedenfalls nicht hervorging, dass spätestens im auf das Haushaltsjahr 2005 folgenden vierten Jahr (= 2009) die Einnahmen die Ausgaben (ohne Abdeckung von Fehlbeträgen aus Vorjahren) decken werden. Auch der Bürgermeister der Klägerin hatte danach das vorgelegte Haushaltssicherungskonzept nicht für genehmigungsfähig gehalten. Wenn der Rat der Klägerin auf dieser gesetzwidrigen Grundlage eine Senkung der Hebesätze für die Grundsteuer B und für die Gewerbesteuer beschloss, ohne die sich daraus ergebenden Konsequenzen für ihre Einnahmesituation und den notwendigen Haushaltsausgleich hinreichend zu ermitteln und in das vom Gesetz vorgeschriebene Haushaltssicherungskonzept einzustellen, konnte das Berufungsgericht ohne Bundesrechtsverstoß die Rechtswidrigkeit dieses Handelns feststellen. Die Unterbindung eines solchen rechtswidrigen Verhaltens der Klägerin ist ein nach dem Grundgesetz zulässiges, ja gebotenes Ziel der staatlichen Kommunalaufsicht.

31

Die angefochtene Verfügung des Beklagten war auch geeignet, zur Erreichung dieses Zieles beizutragen. Denn sie bewirkte jedenfalls, dass wenigstens die durch die Hebesatzsenkungen unmittelbar veranlassten Einnahmeausfälle, die sich nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben des Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Haushaltsjahr 2005 in einer Größenordnung von etwa 300 000 € bewegten und deren Ausgleich nicht hinreichend verlässlich absehbar war, vermieden wurden.

32

Eine gleichermaßen wirksame, die Klägerin weniger belastende Maßnahme ist nicht ersichtlich. Nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen beruht die Annahme der Klägerin, die beschlossene Senkung der Realsteuerhebesätze werde wegen der damit bewirkten Steigerung der Standortattraktivität der Klägerin zu höheren Einnahmen führen, auf vagen Hoffnungen, deren tatsächliche Grundlage "dünn", also unzureichend ist. Die prognostischen Grundlagen der nach dem Vorbringen der Klägerin mit der beschlossenen Senkung der Hebesätze angestrebten Verbesserung ihrer Standortattraktivität und ihrer Haushaltsnotlage sind nach den Feststellungen des Berufungsgerichts weder dem Beklagten als Kommunalaufsichtsbehörde dargelegt worden noch sonst ersichtlich. Diese berufungsgerichtlichen Feststellungen hat die Klägerin im Revisionsverfahren nicht angegriffen.

33

Eine Rüge mangelnder Sachaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) ist nicht ordnungsgemäß erhoben worden. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zudem auf Befragen bestätigt, dass nach seiner Kenntnis seitens der Klägerin keine näheren Untersuchungen oder Erhebungen über die konkreten Auswirkungen der für das Haushaltsjahr 2005 von ihrem Rat beschlossenen Senkung der Hebesätze auf den Haushaltsausgleich erstellt worden sind und vorliegen.

34

Die auf § 122 Abs. 1 Satz 2 GO NRW gestützte Verfügung des Beklagten beschränkt das gemeindliche Selbstverwaltungsrecht und die kommunale Finanzhoheit der Klägerin zudem ersichtlich weniger gravierend als eine Festsetzung der Hebesätze im Wege der Ersatzvornahme oder die Bestellung eines Beauftragten der Kommunalaufsicht nach § 123 Abs. 2 GO NRW. Denn sie hebt zwar die erfolgte Senkung der Hebesätze für das Haushaltsjahr 2005 auf, belässt jedoch im Übrigen der Klägerin die weitere Entscheidung darüber, mit welchen anderen Mitteln der Haushaltsausgleich zum nächstmöglichen Zeitpunkt wiederhergestellt werden soll. Anders als bei der Bestellung eines Beauftragten nach § 124 GO NRW durch die Kommunalaufsichtsbehörde verbleibt den zuständigen Organen der Klägerin weiterhin das Recht, die ihnen zustehenden gesetzlichen Befugnisse eigenverantwortlich auszuüben.

35

Die angefochtene Verfügung ist im Hinblick auf das angestrebte gesetzlich vorgegebene Ziel, zum Haushaltsausgleich der Klägerin zum nächstmöglichen Zeitpunkt beizutragen, auch nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne. Es bleibt weiterhin der Klägerin überlassen, die - mit Ausnahme der aufgehobenen, für das Haushaltsjahr 2005 beschlossenen Senkung der Hebesätze - aus ihrer Sicht gebotenen Maßnahmen zum Haushaltsausgleich zu prüfen und zu treffen sowie in die Haushaltsplanung (Haushaltssicherungskonzept) einzustellen. Indem der Beklagte sich auf die Aufhebung des Beschlusses der Klägerin über die Senkung der Hebesätze beschränkt und gerade nicht angeordnet hat, welche konkrete(n) Maßnahme(n) zur Wiederherstellung des Haushaltsausgleichs getroffen werden sollen, hat er den Gestaltungsspielraum der Klägerin anerkannt und respektiert.