Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Urteil, 25. Juni 2015 - 9/14

bei uns veröffentlicht am25.06.2015

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass der gegenüber dem Antragsteller in der Sitzung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 03. Juli 2014 (72. Sitzung der 6. Wahlperiode) zu dem Tagesordnungspunkt 18 erfolgte erste Ordnungsruf gegen Art. 22 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern verstoßen hat.

2. Die Entscheidung ergeht kostenfrei. Die Antragsgegnerin hat die notwendigen Auslagen des Antragstellers zu erstatten.

Gründe

A.

1

Der Antragsteller gehört in der laufenden 6. Wahlperiode als Abgeordneter dem Landtag Mecklenburg-Vorpommern an und ist Mitglied der Fraktion der NPD. Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der Antragsteller durch den ihm gegenüber erfolgten ersten Ordnungsruf in der 72. Sitzung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 03. Juli 2014 in seinen verfassungsrechtlichen Rechten als Abgeordneter verletzt wurde.

I.

2

Zu dem Antrag der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE: "100 Prozent Gleichstellung jetzt! Hissen der Regenbogenfahne als Zeichen für Toleranz, Akzeptanz und Solidarität auf öffentlichen Gebäuden generell erlauben!" als Tagesordnungspunkt 18 der betreffenden Sitzung hielt der Antragsteller eine Diskussionsrede unmittelbar im Anschluss an eine solche seines Fraktionskollegen Michael Andrejewski. Der Sitzungsverlauf ab dem Zeitpunkt, zu dem die Antragsgegnerin letzterem das Wort erteilte, ist wie folgt protokolliert:

3

"(Zuruf von Dr. Norbert Nieszery, SPD)

4

Michael Andrejewski, NPD: Ja, genau. Neu ernannt.

5

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Schwerin hat der Zufall für eine interessante Symbolik gesorgt. Während die linke Oberbürgermeisterin Gramkow einerseits die Regenbogenflagge - nicht Fahne - hisste,

6

(Udo Pastörs, NPD: Richtig.)

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die angeblich für Toleranz steht, hat sie sich gleichzeitig mit aller Kraft für einen Meister der Intoleranz eingesetzt. Sie konnte es nicht ertragen, dass ein Bürgerrechtler das Antlitz der Lenin-Statue auf dem Großen Dreesch am 17. Juni für ganze vier Stunden verhüllen wollte. Das war gerade ein paar Tage vor Beginn,

8

(Beifall Udo Pastörs, NPD - Heiterkeit bei Dr. Norbert Nieszery, SPD: Sind Sie jetzt der Verteidiger von Lenin, oder was?)

9

das war gerade ein paar Tage vor Beginn der schwullesbischen Kulturwoche. Da warf sie sich für diesen Massenmörder in die Bresche, der in Europa schon 1918 Konzentrationslager einführte,

10

(Silke Gajek, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber wir reden hier schon über die Regenbogenfahne?!)

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Giftgas gegen aufständische Bauern einsetzte,

12

(Peter Ritter, DIE LINKE: Können wir mal zum Thema reden?)

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Millionen Menschen umbringen ließ,

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(Beifall Udo Pastörs, NPD - Heinz Müller, SPD: Zur Sache!)

15

und - ich komme wieder zur Sache -, …

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(Heinz Müller, SPD: Zur Sache!)

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Dass Sie so eine kleine Abschweifung nicht geistig nachvollziehen können, tut mir leid.

18

(Beifall Udo Pastörs, NPD)

19

Ich komme wieder zur Sache.

20

(Heinz Müller, SPD: Ich kann das ganz gut geistig nachvollziehen. Ich bin ja nicht auf Ihrem Niveau.)

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… und in dessen Staat unter seinem Nachfolger Stalin ab 1933 Homosexualität unter Strafe stand, womit wir wieder beim Thema wären. Es gab für homosexuelle Handlungen bis zu fünf Jahre Gulag oder später unter Breschnew Unterbringung in psychiatrischen Anstalten auf unbestimmte Zeit, während DIE LINKE, damals SED, noch jubelte, von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen.

22

(Peter Ritter, DIE LINKE: Wann ist der 175 abgeschafft worden in der DDR? Das müssten Sie als Anwalt wissen.)

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Für all das steht Lenin. Wie glaubwürdig kann eine Verehrerin dieses Tyrannen für Toleranz eintreten mit der Regenbogenflagge?

24

Das Verbot der Verhüllungsaktion hat sie übrigens unter anderem damit begründet, dass sie verhindern würde, dass jemand von der Leiter fiele, während er da hochkletterte zur Lenin-Statue - geheuchelte Fürsorge und geheuchelte Toleranz. In Wirklichkeit geht es darum, Unzufriedene einzusammeln. Mit der Regenbogenflagge schmeißt DIE LINKE sich an die Schwulen und Lesben ran.

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(Dr. Mignon Schwenke, DIE LINKE: Oh!)

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Zu den Theaterleuten schickt man IM Martin als großen Kulturkämpfer, der angesichts seiner Stasivergangenheit hier die Stirn hatte,

27

(Barbara Borchardt, DIE LINKE: Ei, jei, jei, jei!)

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gestern im Landtag mehr Herzensbildung zu fordern.

29

(Ulrike Berger, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Legen Sie doch mal eine neue Schallplatte auf! Die kennen wir schon.)

30

Auch Kleingärtnern, Vermietern von Ferienwohnungen, allen dient man sich an nach alter kommunistischer Art. Ziel: Die Herrschaft der Partei möglichst wiederherzustellen. Und wie das aussieht, um zum Thema zurückzukommen,

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(Zuruf von Heinz Müller, SPD)

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kann man an der absoluten Rechtsverachtung der Frau Gramkow ablesen. Die Partei steht über dem Gesetz - das war in der DDR auch schon so -, die Beflaggungsordnung des Landes ist egal. Heute pfeifen wir auf die Beflaggungsordnung und morgen auf das Grundgesetz.

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(Barbara Borchardt, DIE LINKE: Gucken Sie mal, auf was Sie alles pfeifen in diesem Haus!)

34

Das ist eine Haltung der totalen Rechtsverachtung. Und Schwulen und Lesben werden auf einmal hoheitliche, …

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(Peter Ritter, DIE LINKE: Ist das Ihre Rede von morgen? - Zuruf von Dr. Hikmat Al-Sabty, DIE LINKE)

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Auf die können Sie sich auch noch freuen.

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… Schwulen und Lesben werden auf einmal hoheitliche Rechte zugestanden: Sie dürfen ihre Fahne an öffentlichen Gebäuden anbringen. Das hat nämlich in der Tat etwas mit Hoheitlichkeit zu tun. Sie können sonst wo ihre Fahne hissen, in ihrem Schrebergarten oder wo auch immer, aber eben nicht hoheitlich an öffentlichen Gebäuden. Und warum nur sie? Sind sie irgendwas Besonderes? Es heißt, sie sind bunt und weltoffen. Was sind die anderen dann? Alle graue Mäuse, um die man sich nicht weiter kümmern muss?

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(Barbara Borchardt, DIE LINKE: Na Sie auf keinen Fall. - Peter Ritter, DIE LINKE: Sie sind braun und eingeschränkt.)

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Was ist zum Beispiel mit den Vertriebenen? Sie stehen auch für Vielfalt, denn als Deutschland noch zum Beispiel Schlesien und Ostpreußen umfasste …

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(Das Mikrofon wird abgeschaltet.)

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Präsidentin Sylvia Bretschneider: Herr Abgeordneter Andrejewski, jetzt entziehe ich Ihnen erst mal das Wort,

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(Gelächter bei Udo Pastörs, NPD: Hoh!)

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weil ich es nicht ertragen kann - und ich glaube, den Kolleginnen und Kollegen aus den demokratischen Fraktionen geht es so wie mir -, dass Sie hier in einer Art und Weise menschenverachtend

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(Zuruf von David Petereit, NPD)

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eine große Gruppe von Menschen diskreditieren durch die Art und Weise, wie Sie hier vortragen,

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(David Petereit, NPD: Das ist eine Frechheit.)

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eine Rede, die mit abwertenden Begriffen gespickt ist. Ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf, Herr Petereit.

48

(Zuruf von David Petereit, NPD)

49

Herr Petereit, ich erteile Ihnen den zweiten Ordnungsruf.

50

(Ulrike Berger, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Der hatte doch heute schon zwei. - Der Abgeordnete Michael Andrejewski spricht bei abgeschaltetem Mikrofon.)

51

Das ist interessant, dann ist das der dritte Ordnungsruf.

52

Herr Petereit, ich teile Ihnen mit, dass Sie damit für heute keine Möglichkeit mehr haben, an der Debatte teilzunehmen. Ich entziehe Ihnen das Wort und ich mache Sie darauf aufmerksam, dass, wenn Sie sich jetzt hier nicht an die Gepflogenheiten des Hohen Hauses halten, weitere Ordnungsmaßnahmen nicht auszuschließen sind.

53

Und ich war ja noch nicht ganz fertig mit Ihnen, Herr Andrejewski.

54

(Der Abgeordnete Michael Andrejewski spricht bei abgeschaltetem Mikrofon. - Heiterkeit vonseiten der Fraktion der NPD)

55

Herr Andrejewski, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf und mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie in keinster Weise hier das Recht haben, meine Bemerkungen zu kommentieren, zu bewerten oder irgendwas anderes, auch nicht durch Gestik und Mimik.

56

(Heiterkeit bei Tino Müller, NPD)

57

Auch wenn ich Ihnen nicht ins Gesicht gucken kann, darauf, muss ich ganz ehrlich sagen, lege ich auch keinen großen Wert. Gut.

58

(Der Abgeordnete Michael Andrejewski spricht bei abgeschaltetem Mikrofon.)

59

Jetzt zu Ihnen noch mal: Sie haben kein Recht, hier Menschen auf irgendeine Art und Weise zu diskreditieren. Es gilt das Grundgesetz Artikel 1 und es gilt das Grundgesetz Artikel 3. Und ob Ihnen das Grundgesetz nun gefällt oder nicht, das steht hier nicht zur Debatte. Ihre Einstellung kennen wir dazu. Aber wenn Sie es wagen, im Landtag Mecklenburg-Vorpommern Menschen verächtlich zu machen, Menschen zu diskriminieren, nur weil sie eine bestimmte sexuelle Orientierung haben, dann werden wir das hier nicht hinnehmen. Das sage ich Ihnen hier zum letzten Mal und sehr deutlich.

60

(Zuruf von David Petereit, NPD)

61

Herr Petereit, bitte packen Sie Ihre Siebensachen zusammen und verlassen Sie den Saal! Ich schließe Sie von der heutigen Sitzung aus.

62

(Zuruf von Tino Müller, NPD)

63

Und, Herr Müller, Sie erhalten den ersten Ordnungsruf.

64

(Tino Müller, NPD: Ja, danke.)

65

Sie erhalten den zweiten Ordnungsruf und ich mache Sie darauf aufmerksam,

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(Julian Barlen, SPD: Ja, bis alle raus sind.)

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wenn Sie sich jetzt nicht zusammenreißen, gehen auch Sie aus diesem Saal.

68

Herr Andrejewski, Sie können dann Platz nehmen.

69

(Der Abgeordnete Michael Andrejewski wendet sich vom Rednerpult ab und spricht die Präsidentin an.)

70

Ich entziehe Ihnen jetzt das Wort, ja,

71

(Der Abgeordnete Michael Andrejewski spricht erneut die Präsidentin an.)

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für diesen Tagesordnungspunkt, und ich behalte mir weitere Ordnungsmaßnahmen vor.

73

(Die Abgeordneten Stefan Köster und Udo Pastörs treten an das Präsidium heran.)

74

Auszeit können Sie beantragen, ich werde das beraten und entscheiden.

75

Stefan Köster, NPD: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es noch mal kurz zusammenzufassen: Die Oberbürgermeisterin Gramkow, Partei DIE LINKE,

76

(Helmut Holter, DIE LINKE: Ist eine gute Oberbürgermeisterin.)

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hat rechtswidrig gehandelt.

78

(Peter Ritter, DIE LINKE: Und jetzt muss sie ins Gefängnis, oder was?)

79

Der Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat die Oberbürgermeisterin dieser Landeshauptstadt auf die Rechtslage hingewiesen. Sie hat die Rechtslage außer Acht gelassen und hat sich wider dem geltenden Recht verhalten. Darum geht es hier im Landtag. Es geht gar nicht darum, eine verschwindend kleine Minderheit hier in irgendeiner Weise zu diskreditieren oder Ähnliches, sondern diese verschwindend, zum Glück verschwindend kleine Minderheit wird als Gegenstand dafür genommen, Rechtsbruch in Deutschland zu begehen.

80

(Beifall vonseiten der Fraktion der NPD)

81

Präsidentin Sylvia Bretschneider: Herr Köster, ich mache Sie erneut darauf aufmerksam, dass auch diese Äußerung eine Diskreditierung der Menschen mit bestimmten sexuellen Orientierungen beinhaltet, und ich habe das ausdrücklich eben ausgeschlossen, dass Sie dazu das Recht haben, sich in diesem Haus in der Art und Weise zu äußern. Dazu sind Sie nicht berechtigt. Ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf."

82

Gegen diesen Ordnungsruf legte der Antragsteller am 07. Juli 2014 Einspruch ein.

83

Mit Schreiben vom 18. August 2014 begründete die Antragsgegnerin die Ordnungsmaßnahme ihm gegenüber daraufhin unter anderem wie folgt:

"(...)

84

Im Rahmen der Debatte zum Antrag der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE: '100 Prozent Gleichstellung jetzt! Hissen der Regenbogenfahne als Zeichen für Toleranz, Akzeptanz und Solidarität auf öffentlichen Gebäuden generell erlauben!' habe ich bereits Ihren Vorredner, Abg. Michael Andrejewski, Fraktion der NPD, darauf aufmerksam gemacht, dass seine Äußerungen die Würde der homo,- bi-, trans- oder intersexuellen Menschen in unserem Land verletzen. Diesen Hinweis missachtend haben Sie diese Äußerungen wiederholt und insbesondere darauf abgestellt, dass es sich bei homo,- bi-, trans- oder intersexuellen Menschen 'zum Glück' um eine 'verschwindend kleine Minderheit' handelt.

85

Durch Ihr gesamtes Verhalten während der Rede und die entsprechenden Reaktionen und Verhaltensweisen Ihrer Fraktionskollegen ist die Verachtung für diese Personengruppe überdeutlich geworden. In diesem Kontext konnten Ihre Äußerungen - wie dies auch die Reaktionen aus anderen Fraktionen während der Debatte gezeigt haben - vom übrigen Plenum nur als Geringschätzung und Diskriminierung dieser Minderheit aufgefasst werden. Damit ist die Würde dieser Menschen erheblich verletzt worden.

86

Artikel 5 Abs. 2 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern stellt fest, dass 'das Land Mecklenburg-Vorpommern … um des Menschen willen da' ist und es 'die Würde aller in diesem Land lebenden oder sich hier aufhaltenden Menschen zu achten und zu schützen' hat.

87

Da Sie mit Ihrer Rede gegen diesen Verfassungsgrundsatz verstoßen haben, war die Ordnung und Würde des Hohen Hauses erheblich verletzt. Vor diesem Hintergrund war ich als amtierende Präsidentin gehalten, Ihnen einen Ordnungsruf auszusprechen.

(...)"

88

Den Einspruch des Antragstellers wies der Landtag mit Beschluss vom 17. September 2014 zurück.

II.

89

Am 29. September 2014 hat der Antragsteller ein Organstreitverfahren nach Art. 53 Nr. 1 LV anhängig gemacht mit dem Antrag,

90

festzustellen, dass die Antragsgegnerin die Rechte des Antragstellers aus Art. 22 Abs.1, Abs. 2 Satz 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern dadurch verletzt hat, dass sie ihm in der 72. Plenarsitzung am 03. Juli 2014 unter Tagesordnungspunkt 18 wegen der Formulierung "diese verschwindend, zum Glück verschwindend kleine Minderheit" einen Ordnungsruf erteilt hat.

91

Der Antragsteller ist der Auffassung, die Voraussetzungen eines Ordnungsrufes hätten auch unter Berücksichtigung eines weiten Beurteilungsspielraumes der Antragsgegnerin nicht mehr vorgelegen, weshalb sich die Maßnahme als objektiv willkürlich darstelle.

92

Die Vorgaben der Landesverfassung und der Geschäftsordnung seien bereits im Lichte von Art. 10 EMRK dahingehend auszulegen, dass im Hinblick auf die Bedeutung der Redefreiheit von parlamentarischen Abgeordneten die Verhängung von Ordnungsmitteln an besonders strengen Maßstäben gemessen werden müsse; der Parlamentsabgeordnete genieße danach mindestens so viel Redefreiheit wie ein normaler Bürger. Der Antragsteller habe dann allein kritisiert, dass die Schweriner Oberbürgermeisterin unter Verletzung geltenden Rechts die Regenbogenflagge am Schweriner Rathaus habe hissen lassen, und dabei ausdrücklich klargestellt, dass es ihm nicht darum gehe, die Minderheit homo,- bi-, trans- oder intersexueller Menschen zu diskreditieren. Wenn er dabei geäußert habe, dass es sich bei letzteren "zum Glück" um eine "verschwindend kleine" Minderheit handele, sei deren Menschenwürde damit nicht verletzt gewesen Dies sei nur dort der Fall, wo einer Person jener Wert- und Achtungsanspruch abgesprochen werde, der dem Menschen kraft seines Menschseins zukomme, unabhängig von seinen Eigenschaften, seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder seinem sozialen Status. Diese Grenze werde aber offensichtlich dort nicht überschritten, wo es jemand lediglich begrüße, dass eine Minderheit eine Minderheit und nicht die Mehrheit sei. Die homosexuelle Minderheit sei ebenso wenig sakrosankt wie andere Minderheiten und müsse daher auch akzeptieren, dass nicht alle Menschen homosexuelle Lebensweisen als nachahmenswert erachteten.

93

Soweit die Antragsgegnerin in ihrer schriftlichen Begründung des Ordnungsrufes vom 18. August 2014 auch auf das Verhalten der Fraktionskollegen des Antragstellers abstelle, könne dies schwerlich geeignet sein, Ordnungsmaßnahmen gegen ihn selbst zu begründen; er sei nicht der Hüter der übrigen Mitglieder seiner Fraktion und könne folglich auch nicht für deren Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden.

94

Die Unterstellung, der Duktus des Antragstellers sei von "Aggressivität" und "Feindseligkeit" geprägt gewesen, müsse zudem als absurd angesehen werden.

III.

95

Die Antragsgegnerin beantragt,

96

den Antrag zurückzuweisen.

97

Sie ist der Ansicht, die vorliegend angegriffene Ordnungsmaßnahme gegenüber dem Antragsteller könne nicht isoliert, sondern nur mit Rücksicht auf den Vorlauf in dem diesbezüglichen Abschnitt der Debatte zutreffend eingeschätzt werden. Der Wortbeitrag des unmittelbaren Vorredners des Antragstellers habe sich insoweit von dem Verlauf der Debatte bis dahin, der trotz erkennbar kontroverser Einzelpositionen in der Gleichstellungspolitik und in der Beurteilung der rechtlichen Bedingungen für das Aufziehen von hoheitlichen und anderen Flaggen auf oder an öffentlichen Gebäuden im Ton sachlich gewesen sei, massiv unterschieden; die Oberbürgermeisterin von Schwerin sei als Verehrerin von Verbrechern und Massenmördern wie Lenin und Stalin, für welche sie sich "in die Bresche werfe", verunglimpft und darauf eine pauschale Diskriminierung von "Schwulen und Lesben" aufgebaut worden, mit der diese zu Nutznießern und Verbündeten einer totalitär motivierten linken Gleichstellungspolitik gestempelt worden seien.

98

Obwohl die Antragsgegnerin dem Vorredner des Antragstellers daraufhin das Wort entzogen habe, sei letzterer sogleich auf die Schweriner Oberbürgermeisterin zurückgekommen, habe deren Handeln als rechtswidrig bezeichnet und daraus abgeleitet, dass "diese verschwindend, zum Glück verschwindend kleine Minderheit als Gegenstand dafür genommen werde, Rechtsbruch zu begehen". Schon die Eingangsworte des Antragstellers in seiner Rede hätten in der Gesamtschau als Fortsetzung der mit seinem Vorredner geführten Auseinandersetzung erscheinen müssen, was dadurch bestätigt werde, dass er gleich anschließend von einer "zum Glück verschwindend kleinen Minderheit" gesprochen habe. Für sie, die Antragsgegnerin, habe damit in der nicht wiederholbaren entscheidungserheblichen Situation zu befürchten gestanden, dass die unzulässige Form von Angriffen gegen die Oberbürgermeisterin von Schwerin und deren Zweck einer Diskriminierung der betroffenen Minderheit fortgesetzt oder bekräftigt, ihre diesbezügliche Intervention missachtet und die Debatte erneut aus dem Ruder laufen werde. Der Gehalt der Formulierung des Antragstellers einer "zum Glück kleinen Minderheit" habe in der konkreten Situation darin bestanden, dass sie mit abwegigen Verunglimpfungen und daraus abgeleiteten Diskreditierungen aufgeladen gewesen sei, gegen welche sie unmittelbar zuvor eingeschritten war; der Antragsteller habe das bereits sanktionierte Verhalten seines Vorredners gerechtfertigt und damit die gegen ihn gerichtete Intervention provoziert.

99

Die spätere Ablehnung des Einspruches durch das Plenum spreche im Übrigen als Indiz dafür, dass die Antragsgegnerin den von dem Antragsteller praktizierten Umgang mit dem aktuellen Gegenstand als ordnungswidrig im Sinne ihrer früheren Intervention habe bewerten können und dürfen.

100

Jedenfalls eine relevante Beeinträchtigung des Antragstellers in seinem Rederecht liege letztlich nicht vor, weil er auch nach dem Ordnungsruf seine Rede habe beenden können. Die Antragsgegnerin habe mit lediglich einem Ordnungsruf dem verbalen Unterschied der Ausführungen des Antragstellers zu dessen Vorredner schon Rechnung getragen und sich damit auf die mildeste der ihr zur Verfügung stehenden Sanktionen beschränkt; es gebe demgegenüber kein verfassungsrechtliches Gebot, unterhalb der Schwelle der formellen Ordnungsmittel zunächst eine formlose Rüge auszusprechen.

IV.

101

Der Landesregierung wurde Gelegenheit zur Äußerung gegeben.

B.

102

Der Antrag ist zulässig.

I.

103

Der Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht ist gemäß Art. 53 Nr. 1 LV, § 11 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern - LVerfGG - gegeben. Danach entscheidet das Landesverfassungsgericht über die Auslegung der Verfassung aus Anlass einer Streitigkeit über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Landesorgans oder anderer Beteiligter, die durch die Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet sind (Organstreitverfahren).

104

Antragsteller und Antragsgegnerin sind im Sinne dieser Vorschriften beteiligungsfähig, weil sie durch die Verfassung und die Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet werden. Sie stehen auch in einem verfassungsrechtlich geprägten Rechtsverhältnis zueinander, denn zwischen ihnen besteht Streit über den Umfang der Rechte und Pflichten aus dem Abgeordnetenstatus einerseits und aus der parlamentarischen Ordnungs- oder Disziplinargewalt der Präsidentin andererseits. Diese übt kraft Übertragung durch das Parlament dessen Ordnungsgewalt gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1, §§ 97 ff. GO LT in eigener Verantwortung und unabhängig aus, weshalb sie im Verfassungsrechtsstreit über eine insoweit mögliche Verletzung von Abgeordnetenrechten unmittelbar in Anspruch genommen werden kann.

105

Die Frage, ob ein Abgeordneter wegen einer Äußerung in einer Plenardebatte mit einer Ordnungsmaßnahme belegt werden darf, berührt die zu seinem verfassungsrechtlichen Status aus Art. 22 Abs. 2 Satz 1 LV gehörende Befugnis zur Rede, deren Verletzung er im Organstreitverfahren geltend machen kann (vgl. LVerfG, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, LVerfGE 20, 255, 262 f. m.w.N.).

II.

106

Der Antragsteller hat seinen Antrag gemäß § 37 Abs. 2 und 3 LVerfGG form- und fristgemäß gestellt und ordnungsgemäß begründet sowie zum Nachweis der nach § 37 Abs. 1 LVerfGG erforderlichen Antragsbefugnis hinreichend Tatsachen vorgetragen, die eine Rechts- oder Pflichtverletzung bzw. eine unmittelbare Rechts- oder Pflichtengefährdung durch ein Verhalten der Antragsgegnerin möglich erscheinen lassen (vgl. LVerfG, Urt. v. 14.12.2000 - LVerfG 4/99 -, LVerfGE 11, 306, 314 m.w.N.).

107

Eine Rechtsverletzung erscheint insofern möglich, als der Ordnungsruf - im Gegensatz zu einer nicht förmlich geregelten parlamentarischen Rüge oder gar einer bloßen Unterbrechung der Rede durch Bemerkungen des amtierenden Präsidenten (BVerfGE 60, 374, 380 ff.; BbgVerfG, Beschl. v. 28.03.2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12, 92, 100) - regelmäßig einen Eingriff in das Rederecht des Abgeordneten darstellt.

III.

108

Im Rahmen der vorliegenden Antragsbefugnis ist das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für eine verfassungsgerichtliche Klärung indiziert(LVerfG, Urt. v. 27.05.2003 - LVerfG 10/02 -, DÖV 2003, 765 = LKV 2003, 516 = NordÖR 2003, 359). Alternative und in ihrer Effektivität der Beschreitung des Verfassungsgerichtsweges gleichwertige parlamentarische Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen für den Antragsteller nicht; das Einspruchsverfahren gemäß § 100 GO LT hat er erfolglos durchgeführt (vgl. LVerfG, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, a.a.O., S. 264).

109

Zwar kann der Ordnungsruf nicht wieder rückgängig gemacht werden. Indes begründet er - seine Unzulässigkeit unterstellt - eine auch heute noch im Organstreitverfahren feststellungsfähige Rechtsbeeinträchtigung des Antragstellers (BVerfGE 10, 4, 11).

C.

110

Der Antrag ist auch begründet.

111

Der gegenüber dem Antragsteller in der 72. Sitzung der 6. Wahlperiode des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 03. Juli 2014 erfolgte erste Ordnungsruf hat diesen in seinen durch Art. 22 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 LV gesicherten Abgeordnetenrechten verletzt.

I.

112

Gemäß Art. 22 Abs. 1 LV sind die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Nach Art. 22 Abs. 2 Satz 1 LV haben sie das Recht, im Landtag und in seinen Ausschüssen das Wort zu ergreifen sowie Fragen und Anträge zu stellen.

113

1. Nach Art. 22 Abs. 2 Satz 3 LV regelt das Nähere die Geschäftsordnung, so dass die parlamentarische Redefreiheit zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Landtages und der sachgerechten Erfüllung seiner Aufgaben in die dem Parlamentarismus innewohnenden Struktur einer parlamentarische Binnenorganisation eingebunden und durch diese eingeschränkt werden kann (vgl. LVerfG, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, a.a.O. S. 265).

114

Die parlamentarische Ordnungsgewalt dient dabei neben der Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs und des äußeren Ablaufes der Plenarsitzung auch dem Schutz und der Wahrung der Werte und Verhaltensweisen, die sich in der demokratischen und vom Repräsentationsgedanken getragenen parlamentarischen Praxis entwickelt haben und die durch die historische und politische Entwicklung geformt worden sind (vgl. LVerfG, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, a.a.O. ).

115

Soweit es "Wesen und grundsätzliche Aufgabe des Parlaments ist, Forum für Rede und Gegenrede zu sein" (so schon BVerfGE 10, 4, 13), hat es in diesem Rahmen selbst die Gesamtheit von Normen und Werten zu fördern und zu erhalten, wobei das Parlament über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügt; dabei wirkt die parlamentarische Disziplinargewalt als notwendiges innerparlamentarisches Korrektiv zu dem besonderen Schutz der parlamentarischen Redefreiheit durch die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Indemnität (Art. 24 Abs. 1 LV).

116

2. Andererseits stellt die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament eine in der Demokratie unverzichtbare Kompetenz zur Wahrnehmung der parlamentarischen Aufgaben dar, die den Status als Abgeordneter wesentlich mitbestimmt; Parlamentsdebatten sind dabei nicht selten durch heftige Auseinandersetzungen gekennzeichnet, wozu auch überspitzte und polemische Formulierungen gehören können (vgl. LVerfG, Urt. v. 23.01.2014 - LVerfG 4/13 -, S. 11 f. m.w.N.).

117

Wenn Anlass für eine Ordnungsmaßnahme der Inhalt der Rede eines Abgeordneten ist, ist weiterhin zu berücksichtigen, dass der amtierende Präsident einer strikt zu beachtenden parteipolitischen Neutralitätspflicht unterliegt; gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 GO LT leitet er die Verhandlungen des Landtages gerecht und unparteiisch. Als fehlerhaft und verfassungswidrig einzustufen wäre daher insbesondere ein als Zensur wirkender Versuch, den Vortrag bestimmter Sachverhalte oder Bewertungen zu unterbinden, die aus der Sicht des Redners der Auseinandersetzung in der Sache dienen sollen, ohne dass die Art des Vortrages allgemein oder überwiegend akzeptierten Rede- oder Verhaltensformen zuwiderläuft (vgl. (Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, vor § 36 GO BT Anm. 3).Wird dennoch wegen des Inhaltes einer Rede eine Maßnahme verhängt, kann sich dies in der Folge als eine sachfremde Erwägung für die Ausübung des Ordnungsrechtes darstellen (vgl. LVerfG, Beschl. v. 25.03.2010 - LVerfG 3/09 -, LVerfGE 21, 199, 208).

118

3. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist vor diesem Hintergrund umso intensiver, je deutlicher eine Ordnungsmaßnahme auf den Inhalt der Äußerung und nicht auf das Verhalten des Abgeordneten reagiert. In diesen Fällen muss eine Verletzung oder doch Gefährdung konkurrierender Rechtsgüter vorliegen, die auch Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle ist (vgl. VerfGH Sachsen, Urt. v. 03.12.2010 - Vf. 17-I-10 -, NVwZ-RR 2011, 129, 132).

II.

119

Im Ergebnis der unter Beachtung dieser Grundsätze vorzunehmenden Abwägung ist der gegenüber dem Antragsteller erfolgte erste Ordnungsruf in keiner Weise von der Ordnungs- und Disziplinargewalt der Antragsgegnerin gedeckt.

120

Anlass für die Maßnahme war der bis dahin vorgetragene Redeinhalt des Antragstellers. Aus diesem ergeben sich jedoch auch im Lichte der Ausführungen seines Vorredners keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er den Rahmen dessen überschritten hätte, was sowohl in der Auseinandersetzung mit einem politischen Gegner als auch in der Sache an überspitzten und polemischen Formulierungen in einer Parlamentsdebatte schlichtweg hinzunehmen ist; ebenso wenig wurde die Grenze eines Angriffes auf die Menschenwürde erreicht, der (erst) im Falle der Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung oder sonstiger Verhaltensweisen anzunehmen ist, die dem Betroffenen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen (vgl. LVerfG, Urt. v. 23.01.2014 - LVerfG 4/13 -, S. 14 m.w.N.). Statt dessen hat die Antragsgegnerin ausweislich ihres Schreibens vom 18. August 2014 und des Vorbringens in dem vorliegenden Verfahren vorrangig eine Interpretation der Rede des Antragstellers ausgehend von einer ihm unterstellten Gesinnung vorgenommen und aufgrund davon abweichender eigener Prinzipien in sein Rederecht eingegriffen, das zum Kernbereich der Abgeordnetenrechte gehört.

121

Nichts anderes kann daraus folgen, dass der Landtag den Einspruch des Antragstellers gegen die Wortentziehung später mehrheitlich zurückgewiesen hat.

122

Ist die angemessene Ausübung der Ordnungs- und Disziplinargewalt durch die Landtagspräsidentin streitig, obliegt die Befassung mit der Art und Weise der Wahrnehmung dieser Befugnisse zunächst dem Präsidium und dem Ältestenrat sowie letztlich im Verfahren nach § 100 GO LT dem Parlament insgesamt. Bereits diese parlamentarische Selbst- und Binnenkontrolle kann nicht allein im Sinne einer politischen Entscheidung, sondern auch unter Beachtung der zuvor dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben erfolgen mit der Möglichkeit einer Korrektur verhängter Ordnungsmaßnahmen.

123

Geschieht dies nicht, so vermag auch ein noch so deutlicher Konsens einer Parlamentsmehrheit angesichts der essentiellen Funktion des Parlamentes als Ort einer gerade gewollten gegensätzlichen Erörterung in der Sache sowie der Bedeutung des Rederechtes der übrigen Abgeordneten grundsätzlich nicht dafür maßgeblich zu sein, was eine Minderheit zur Verteidigung ihres Standpunktes vorbringen darf. Das Landesverfassungsgericht ist in seiner Beurteilung am Prüfungsmaßstab der verfassungsmäßig gewährleisteten individuellen Abgeordnetenrechte durch die Entscheidung des Landtages über den Einspruch nicht gebunden.

D.

124

Die Entscheidung über die Kosten und die Auslagen beruht auf § 33 Abs. 1, § 34 Abs. 1 und 2 LVerfGG.

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Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Urteil, 25. Juni 2015 - 9/14 zitiert oder wird zitiert von 1 Urteil(en).

Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Urteil, 25. Juni 2015 - 9/14 zitiert 1 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht Urteil, 30. Aug. 2010 - LVerfG 3/09

bei uns veröffentlicht am 30.08.2010

Tenor § 1 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2, § 3 Absatz 5 und § 16 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (Gesetz-und Verordnungsblatt Seite 442, berichtigt Seite 637), zuletzt geän

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Tenor

§ 1 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2, § 3 Absatz 5 und § 16 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (Gesetz-und Verordnungsblatt Seite 442, berichtigt Seite 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 392) sind in ihrem Zusammenspiel mit Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 10 Absatz 2 der Landesverfassung unvereinbar.

Gründe

A.

1

Die Antragsteller wenden sich mit der abstrakten Normenkontrolle gegen § 3 Abs. 5 Satz 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (Landeswahlgesetz - LWahlG), der im Falle des Entstehens von Überhangmandaten einen nur begrenzten Sitzausgleich vorsieht.

I.

2

1. Die maßgeblichen Vorschriften der Landesverfassung (LV) lauten:

3

Artikel 3

        

Wahlen und Abstimmungen

        

(1) Die Wahlen zu den Volksvertretungen im Lande, in den Gemeinden und Gemeindeverbänden und die Abstimmungen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim.

        

(2) - (4) […]

        
Artikel 10

Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) […]

(2) Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Ab der 16. Wahlperiode besteht der Landtag aus neunundsechzig Abgeordneten. Sie werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Die in Satz 1 genannte Zahl ändert sich nur, wenn Überhangoder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.

4

2. § 1 Abs. 1 Satz 1 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein(Landeswahlgesetz - LWahlG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (GVOBl S. 442, ber. S. 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (GVOBl S. 392) legt fest, dass der Landtag aus 69 Abgeordneten vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen besteht. § 1 Abs. 2 LWahlG bestimmt, dass jede Wählerin und jeder Wähler zwei Stimmen hat; eine Erststimme für die Wahl einer Bewerberin oder eines Bewerbers im Wahlkreis, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG werden von der Gesamtzahl der Abgeordneten 40 durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen und die übrigen durch Verhältniswahl aus den Landeslisten der Parteien auf der Grundlage der abgegebenen Zweitstimmen und unter Berücksichtigung der in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber gewählt. Hierzu wird das Land in 40 Wahlkreise eingeteilt, § 16 Abs. 1 LWahlG. Die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises darf nicht mehr als 25 v. H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen (§ 16 Abs. 3 Satz 1 LWahlG). Maßgebend ist die vom Statistischen Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein fortgeschriebene Bevölkerungszahl nach dem Stand vom 30. Dezember des vierten Jahres vor der Wahl (§ 16 Abs. 3 Satz 2 LWahlG). Im Wahlkreis ist gewählt, wer die meisten Stimmen erhalten hat, § 2 Satz 1 LWahlG.

5

6Das weitere Verfahren ist in § 3 LWahlG wie folgt geregelt:

6

§ 3 LWahlG

Wahl der Abgeordneten aus den Landeslisten

(1) An dem Verhältnisausgleich nimmt jede Partei teil, für die eine Landesliste aufgestellt und zugelassen worden ist, sofern für sie in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden ist oder sofern sie insgesamt fünf v. H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt hat. Diese Einschränkungen gelten nicht für Parteien der dänischen Minderheit.

(2) Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Abs. 1 Satz 1) werden die Zahl der in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber einer Partei, für die keine Landesliste zugelassen oder die nicht nach Absatz 1 zu berücksichtigen ist, sowie die Zahl der in den Wahlkreisen erfolgreichen parteilosen Einzelbewerberinnen und Einzelbewerber (§ 24 Abs. 1) abgezogen.

(3) Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste einer am Verhältnisausgleich teilnehmenden Partei abgegebenen gültigen Zweitstimmen zusammengezählt. Anhand der Gesamtstimmenzahlen wird für jede ausgleichsberechtigte Partei nach der Reihenfolge der Höchstzahlen, die sich durch Teilung durch 1, 2, 3, 4 usw. ergibt (Höchstzahlenverfahren), festgestellt, wie viele der nach Absatz 2 verbleibenden Sitze auf sie entfallen (verhältnismäßiger Sitzanteil). Über die Zuteilung des letzten Sitzes entscheidet bei gleicher Höchstzahl das von der Landeswahlleiterin oder dem Landeswahlleiter zu ziehende Los.

(4) Die Parteien erhalten so viele Sitze aus den Landeslisten, wie ihnen unter Anrechnung der in den Wahlkreisen für sie gewählten Bewerberinnen und Bewerber an dem verhältnismäßigen Sitzanteil fehlen.

(5) Ist die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, so verbleiben ihr die darüber hinausgehenden Sitze (Mehrsitze). In diesem Fall sind auf die nach Absatz 3 Satz 2 und 3 noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen so lange weitere Sitze zu verteilen und nach Absatz 4 zu besetzen, bis der letzte Mehrsitz durch den verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt ist. Die Anzahl der weiteren Sitze darf dabei jedoch das Doppelte der Anzahl der Mehrsitze nicht übersteigen. Ist die nach den Sätzen 1 bis 3 erhöhte Gesamtsitzzahl eine gerade Zahl, so wird auf die noch nicht berücksichtigte nächstfolgende Höchstzahl ein zusätzlicher Sitz vergeben.

Innerhalb der Parteien werden die aus den Landeslisten zu verteilenden Sitze nach der sich aus den Listen ergebenden Reihenfolge verteilt. Entfallen auf eine Partei mehr Sitze, als Bewerberinnen und Bewerber auf ihrer Landesliste vorhanden sind, so bleiben diese Sitze leer.

(7) Aus der Landesliste scheiden aus:

        

1. Bewerberinnen und Bewerber, die in einem Wahlkreis unmittelbar gewählt sind,

2. Bewerberinnen und Bewerber, die nach der Aufstellung der Landesliste einer Partei aus dieser ausgeschieden oder einer anderen Partei beigetreten sind.

7

3. Erstmals in der schleswig-holsteinischen Wahlgeschichte seit 1947 ist es bei der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 27. September 2009 zur Entstehung „ungedeckter“ Mehrsitze (Überhangmandate) gekommen (vgl. die Aufstellung „Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2009). Nach dem endgültigen Wahlergebnis (Bekanntmachung im Amtsblatt Nr. 44 vom 2. November 2009, S. 1129, Berichtigung im Amtsblatt Nr. 7 vom 15. Februar 2010, S. 214) errang die CDU einen verhältnismäßigen Sitzanteil von 23 Sitzen, gewann aber zugleich 34 Wahlkreise. Obwohl der Landtag nun aus 95 statt 69 Abgeordneten besteht, blieben von den elf Mehrsitzen der CDU drei ungedeckt.

8

9Mehrsitze waren zwar auch schon bei früheren Wahlen entstanden, doch wurden diese durch die Anzahl an weiteren Sitzen im Rahmen des Verhältnisausgleichs vollständig gedeckt: Nach dem endgültigen Wahlergebnis von 1992 errang die SPD einen verhältnismäßigen Sitzanteil von 38 Sitzen, gewann aber zugleich alle 45 Wahlkreise (Amtsbl. S. 292, 295). Im Jahr 2000 errang sie einen verhältnismäßigen Sitzanteil von 34 Sitzen und gewann 41 Wahlkreise (Amtsbl. S. 206, 219). Die jeweils errungenen sieben Mehrsitze gingen in den 14 weiteren Sitzen vollständig auf, der Landtag bestand aus 89 statt 75 Sitzen.

II.

9

Die Antragsteller beantragen festzustellen,

10

dass § 3 Abs. 5 Satz 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 der Landesverfassung verstößt und nichtig ist.

11

Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, die Wahlgleichheit verlange im System der mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbundenen Persönlichkeitswahl, dass jeder Stimme der gleiche Erfolgswert zukomme. Um dies auch bei der Entstehung von Überhangmandaten sicherzustellen, müsse der Gesetzgeber nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV Ausgleichsmandate vorsehen. Anders als das Grundgesetz enthalte die Landesverfassung damit eine ausdrückliche Regelung zu Überhang- und Ausgleichsmandaten. Diese ziele auf „mehr Gleichheit“, so dass eine Begrenzung der Ausgleichsmandate nicht zulässig sei. Nur wenn für jedes Überhangmandat ein Ausgleichsmandat zugeteilt werde, ergebe sich eine Sitzverteilung, die die Proportionalität zwischen Zweitstimmenanteil und Sitzanteil wahre.

12

Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben sei der Gesetzgeber mit § 3 Abs. 5 Satz 2 LWahlG zwar im Grundsatz nachgekommen. Das Wahlergebnis vom 27. September 2009 zeige jedoch, dass die in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG enthaltene Begrenzung der weiteren Sitze zur Verzerrung des Erfolgswerts der Wählerstimmen und zu einer grundlegenden Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Landtag führe, sobald es zu ungedeckten Mehrsitzen komme. Diese Verzerrung sei strukturell bedingt. Aufgrund der sich langfristig ergebenden Verschiebungen im Wahlverhalten mache die vom Gesetzgeber festgelegte Anzahl der Wahlkreise die Entstehung einer erheblichen Anzahl von Überhangmandaten von vornherein wahrscheinlich. Je geringer der Anteil der Stimmen derjenigen Parteien ausfalle, die regelmäßig eine große Anzahl von Wahlkreisen für sich gewinnen, desto größer sei die Gefahr, dass die Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverteilung regelhaft gefährdet sei. Derzeit belaufe sich das Verhältnis der Wahlkreise in Schleswig-Holstein zur Normgröße des Landtags von 69 Sitzen bei 40 Wahlkreisen auf knapp 58 %. Zugleich sei der Anteil der auf die CDU und die SPD zusammen entfallenden Stimmanteile in der Verhältniswahl 2009 auf 56,9 % zurückgegangen.

13

Mit der Begrenzung des Sitzausgleichs überschreite der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum. Dies gelte unabhängig davon, wie man § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG auslege. Selbst wenn sich die Annährung an die Proportionalität durch einen höheren Deckelungsfaktor verbessere (indem man beispielsweise statt des Doppelten das Dreifache der Mehrsitze nehme), ändere dies nichts daran, dass zugunsten einer Beschränkung der Größe des Landtags eine - gegebenenfalls erhebliche - Disproportionalität der Sitzverteilung in Kauf genommen werde.

III.

14

1. Der Landtag hält den Normenkontrollantrag für unzulässig, solange parallel noch ein vorrangiges Wahlprüfungsverfahren anhängig sei. Der Antrag sei zudem unbegründet.

15

Der Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 LV gebiete keinen „Vollausgleich“. Er gebe in Satz 5 zwar vor, dass Ausgleichsmandate vorzusehen seien, besage aber nicht, wie viele. Insofern habe der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. Entstehungsgeschichtlich sei die im zeitlichen Zusammenhang stehende Änderung des Landeswahlgesetzes als verfassungskonforme Konkretisierung des gleichzeitig beschlossenen Art. 10 Abs. 2 LV anzusehen. Obwohl Art. 10 Abs. 2 LV eine stärkere Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältniswahl bezwecke, sei ein Wahlverfahren allein nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen ausgeschlossen. Vielmehr sei vorrangig der in den Elementen der Persönlichkeitswahl zum Ausdruck kommende Wählerwille zu respektieren. Hier liege in Schleswig-Holstein traditionell und historisch gewachsen ein deutliches Mehrgewicht.

16

Die Einschränkung der verhältniswahlrechtlichen Erfolgswertgleichheit aller abgegebenen Stimmen bei der Entstehung nicht vollständig ausgeglichener Überhangmandate durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG sei im System der vom schleswigholsteinischen Verfassungsgeber vorgesehenen, um Elemente der Verhältniswahl ergänzten Persönlichkeitswahl angelegt. Der Erfolgswertgleichheit komme hier nur eine von vornherein begrenzte Tragweite zu, weil der Proporz nach Zweitstimmen nicht zum ausschließlichen Verteilungssystem erhoben werde. § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG diene zudem dem verfassungsrechtlich anerkannten Zweck, die Funktionsfähigkeit des Parlaments durch Begrenzung des Anwachsens der Zahl seiner Mitglieder zu gewährleisten. Die Entscheidung, ab wann eine Vergrößerung des Landtags nicht mehr hinnehmbar sei, obliege dem Gesetzgeber im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums.

17

2. Die Landesregierung hat das ihr zustehende Äußerungsrecht nicht wahrgenommen.

18

3. Das Gericht hat der Landeswahlleiterin sowie den im Landtag vertretenen Fraktionen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

19

a) Die Landeswahlleiterin weist darauf hin, dass bei Anwendung des § 3 Abs. 5 LWahlG auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum inhaltsgleichen § 10 Abs. 4 des Gesetzes über die Wahlen in den Gemeinden und Kreisen in Schleswig-Holstein (Gemeinde- und Kreiswahlgesetz - GKWG) in der Fassung vom 19. März 1997 (GVOBl S. 151), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. September 2009 (GVOBl S. 572) zurückzugreifen sei, der als Vorbild für § 3 Abs. 5 LWahlG gedient habe. Danach seien Parteien, die über Mehrsitze verfügen, in den (weiteren) Verhältnisausgleich einzubeziehen, so dass bei der Verteilung der „weiteren Sitze“ auch die noch nicht verbrauchten Höchstzahlen der „Mehrsitzpar-teien“ zu verwenden seien.

20

Der dem Gesetzgeber für die Verbindung der beiden in Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV vorgesehenen Wahlsysteme eingeräumte Gestaltungsspielraum sei gewahrt und dessen Ausgestaltung mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit vereinbar. Maßgeblich sei allein, dass die Wahlgleichheit in jedem der beiden miteinander verbundenen Wahlsysteme jeweils für sich betrachtet eingehalten werde. Wenn für das Bundesrecht anerkannt sei, dass sich das System der Mehrheitswahl gegenüber dem der Verhältniswahl so weit durchsetzen dürfe, dass bei Zulassung von Überhangmandaten keinerlei Ausgleich gewährt werde, müsse auch die vom Landesgesetzgeber gewählte „Zwischenlösung“ mit einem nur begrenzten Verhältnisausgleich zulässig sein. Für den Ausgleich von Überhangmandaten räume Art. 10 Abs. 2 LV dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum ein. Der Verfassungsgeber habe hier bewusst keine Festlegung getroffen, um mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments eine Begrenzung zu ermöglichen.

21

b) Die FDP- Fraktion unterstützt die Auslegung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG durch die Landeswahlleiterin. Der Gesetzgeber habe eine sachlich begründete und verfassungskonforme Ausgleichsregelung geschaffen. Die Verfassung gebe lediglich vor, dass eine Regelung zu Ausgleichsmandaten vorzusehen sei einschließlich der Möglichkeit zu deren Begrenzung etwa im Interesse der Funktionsfähigkeit des Parlaments. Bei dem gewählten Ausgleichsverfahren müsse es sich nicht um das bestmögliche handeln, es müsse sich gegenüber dem Wahlwettbewerb lediglich neutral verhalten. Ob es daneben sinnvollere Ausgestaltungsmöglichkeiten gebe oder ob in der Vergangenheit bereits versucht worden sei, die konkrete Ausgestaltung des vorgegebenen Wahlsystems zu ändern, sei bei der Auslegung und Bewertung des gegenwärtig geltenden Wahlrechts unerheblich.

B.

22

Der Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht ist eröffnet. Es handelt sich um einen Antrag nach Art. 44 Abs. 2 Nr. 2 LV, § 3 Nr. 2 LVerfGG.

23

Der Normenkontrollantrag ist auch zulässig. Die Antragsteller sind gemäß Art. 44 Abs. 2 Nr. 2 LV, § 39 LVerfGG antragsberechtigt. Sie machen Zweifel an der Vereinbarkeit einer Norm des Landesrechts, nämlich § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG, mit der Landesverfassung geltend (§ 40 Nr. 1 LVerfGG).

24

Anders als im vorangegangenen Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (Beschluss vom 15. Oktober 2009 - LVerfG 4/09 -, NordÖR 2009, 450, Juris) stehen Art. 3 Abs. 3 LV und § 57 LWahlG der Zulässigkeit des Hauptsacheantrags nicht entgegen. Ihr Anwendungsbereich ist nicht eröffnet. Anderenfalls würde die Zulässigkeit der gerichtlichen Normenkontrolle vom zufälligen Zeitpunkt ihrer Einleitung beziehungsweise der gerichtlichen Entscheidung abhängig gemacht.

25

Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 LV steht die Wahlprüfung dem Landtag zu. Seine Entscheidung unterliegt der gerichtlichen Kontrolle (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 LV). § 57 LWahlG bestimmt, dass Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, nur mit den Rechtsbehelfen angefochten werden können, die in diesem Gesetz und in den aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen sowie im Wahlprüfungsverfahren vorgesehen sind. Eingeschränkt ist damit die Anfechtung solcher Entscheidungen und Maßnahmen, die die zuständigen Wahlorgane und -behörden auf der Grundlage der geltenden Wahlrechtsnormen im Rahmen eines konkreten Wahlverfahrens getroffen haben (Beschluss vom 15. Oktober 2009 a.a.O., Juris Rn. 18 m.w.N.). Hierzu gehört auch die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses.

26

Mit der begehrten einstweiligen Anordnung wäre es zu einer vorgezogenen gerichtlichen Wahlprüfung gekommen, die sich unmittelbar auf das laufende Wahlverfahren und die Feststellung des Wahlergebnisses ausgewirkt hätte. Denn Ziel des Antrags war die vorläufige Nichtanwendung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG. Dies hätte zu einer wahlbezogenen Rechtskontrolle geführt, die § 57 LWahlG gerade vermeiden will, um einen reibungslosen Ablauf der Landtagswahl zu gewährleisten (Beschluss vom 15. Oktober 2009 a.a.O., Juris Rn. 18 m.w.N.).

27

Demgegenüber bezieht sich das in der Hauptsache eingeleitete Normenkontroll-verfahren nicht auf den Vollzug wahlrechtlicher Normen im Rahmen eines konkreten Wahlverfahrens, sondern auf die dem Vollzug zugrunde liegende Norm. Ziel des Hauptsacheverfahrens ist nicht der Eingriff in eine laufende Wahlprüfung, sondern die in die Zukunft gerichtete Überprüfung einer Norm des Landeswahlrechts; es weist mithin einen anderen Streit- und Verfahrensgegenstand auf (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 1 LVerfGG). Die Ungültigkeit einer Wahl oder die Unrichtigkeit des Wahlergebnisses können nur in einem Wahlprüfungsverfahren festgestellt werden. Sie ergeben sich auch nicht aus einer in einem anderen Verfahren festgestellten Verfassungswidrigkeit des Wahlgesetzes (vgl. Rauber , Wahlprüfung in Deutschland, 2005, S. 161 f. m.w.N.; Detterbeck , Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, 1995, S. 575 f.; Schneider , in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 41 Rn. 8 ; Roth , in: Umbach/ Clemens , GG, Bd II, 2002, Art. 41 Rn. 12, 29 m.w.N.; Seifert , Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, S. 415).

C.

28

Der Antrag ist nur zum Teil begründet.

29

Ob die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG für sich betrachtet gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit verstößt, kann dahinstehen. Jedenfalls führt § 3 Abs. 5 LWahlG im Zusammenspiel mit den Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 und § 16 LWahlG in der mittlerweile eingetretenen politischen Realität derzeit und in Zukunft dazu, dass der Landtag die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV vorgeschriebene Abgeordnetenzahl von 69 regelmäßig verfehlt und so Überhangmandate und ihnen folgend Ausgleichsmandate erst in einem nicht mehr vertretbaren Ausmaß entstehen können. Dies ist mit der Verfassung (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 LV) unvereinbar. Eine verfassungskonforme Auslegung der Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG ist nicht möglich.

I.

30

Streitig ist, wie der Begriff „weitere Sitze“ in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zu verstehen ist, insbesondere, ob die zahlenmäßige Begrenzung der weiteren Sitze zu einem nur „kleinen“ oder zu einem „großen Ausgleich“ führt. Als unklar gilt auch, wie sich die Regelungen in § 3 Abs. 5 Satz 1 und in Satz 2 LWahlG zueinander verhalten. Diese Fragen bedürfen hier zunächst keiner Klärung. Bei der abstrakten Normenkontrolle ist die Auslegung des einfachen Rechts einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen. Das Gericht legt seiner Prüfung vielmehr diejenige Auslegung zu Grunde, die die verfahrensgegenständliche Vorschrift in der Rechtspraxis und insbesondere in der fachgerichtlichen Rechtsprechung gefunden hat. Eine andere Auslegung kommt lediglich dann in Frage, wenn sich die Norm gerade in der Auslegung der Rechtspraxis als mit der Verfassung unvereinbar erweist und eine andere, verfassungskonforme Auslegung möglich ist (Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 -, NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 52 m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 23. November 1999 - 1 BvF 1/94 - BVerfGE 101, 239 ff., Juris Rn. 79 m.w.N.).

31

In der wahlrechtlichen Praxis wird § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG im Sinne eines „kleinen Ausgleichs“ ausgelegt und angewendet. Verwiesen wird dabei auf die Entstehungsgeschichte der Norm und auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Parallelvorschrift des § 10 Abs. 4 GKWG.

32

1. Bei der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 27. September 2009 ist wie folgt verfahren worden: Die CDU errang über die Mehrheitswahl in den Wahlkreisen nach § 2 LWahlG elf Sitze mehr als ihr bei verhältnismäßiger Aufteilung der 69 vorgesehenen Sitze nach ihrem Zweitstimmenanteil für die Landesliste zugestanden hätten. Diese Sitze waren ihr nach § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG (als Mehrsitze oder Überhangmandate) zu belassen. Zur Wiederherstellung der verhältnismäßigen Sitzanteile wurden 22 weitere Sitze nach dem in § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG beschriebenen Verfahren verteilt und besetzt. Bei der Verteilung dieser weiteren Sitze nach dem d’Hondtschen Verfahren (Höchstzahlenverfahren, § 3 Abs. 3 Satz 2 LWahlG) wurden die nächstfolgenden acht auf die CDU entfallenden Höchstzahlen einbezogen. Die sich daraus ergebenden acht weiteren, über die Wahlkreise errungenen Sitze wurden wiederum auf den verhältnismäßigen Sitzanteil angerechnet und entsprechend besetzt (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Auf diese Weise ergaben sich zusätzlich zu den 69 Sitzen 22 weitere Sitze, insgesamt also 91 Sitze (§ 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG), in denen die acht Mehrsitze der CDU enthalten waren, die nach dem Ausgleich durch ihren verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt waren, sowie 14 weitere Sitze für die anderen Fraktionen (Ausgleichsmandate). Dies hatte zur Folge, dass drei Mehrsitze auch nach dem Ausgleich ungedeckt blieben. Die sich so ergebende erhöhte Gesamtsitzzahl von 94 wurde gemäß § 3 Abs. 5 Satz 4 LWahlG auf die ungerade Zahl 95 erhöht (Amtsbl. 2009 S. 1129, 1139).

33

Diese Verfahrensweise bestätigte die Landeswahlleiterin im Rahmen ihres Vorprüfungsberichts vom 14. Dezember 2009 und verwies zur Begründung - ebenso wie in ihren späteren Stellungnahmen - auf die Entstehungsgeschichte des § 3 Abs. 5 LWahlG und dessen Systematik (siehe Landtags-Umdruck 17/117, S. 37). Bereits anlässlich der Ausschussberatung eines früheren Entwurfs für eine Änderung des Landeswahlgesetzes (Landtags-Drucksache 16/2152) hatte die Lan-deswahlleiterin erklärt, dass sie sich bei der Anwendung des § 3 Abs. 5 LWahlG an die mittlerweile gefestigte Rechtsprechung der schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu der parallel im Kommunalwahlrecht geltenden Regelung des § 10 Abs. 4 GKWG halte. Die Rechtslage sei deshalb so geklärt, wie sie auch das Innenministerium im Rahmen der Kommunalwahl immer vertreten habe (IR 16/103, Sitzung vom 3. Juni 2009, S. 10).

34

2. Fachgerichtliche Rechtsprechung zu § 3 Abs. 5 LWahlG findet sich nicht. Die Rechtsprechung der schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu § 10 Abs. 4 GKWG kommt zum gleichen Ergebnis wie die dargestellte Praxis. Das Verwaltungsgericht folgerte ursprünglich aus dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. November 2000 (- 2 L 25/00 -, NordÖR 2001, 69 ff. = NVwZ-RR 2001, 529 f. = Die Gemeinde SH 2001, 69 = SchlHA 2001, 190, Juris Rn. 38), dass die für den Verhältnisausgleich maßgeblichen Mehrsitze nicht auf die weiteren Sitze anzurechnen seien (vgl. VG Schleswig, Urteil vom 15. Dezember 2005 - 6 A 237/05 -). Nach der Kommunalwahl im Mai 2008 änderte es seine Auffassung zur Sitzverteilung ausdrücklich. Seitdem interpretiert das Verwaltungsgericht § 10 Abs. 4 Satz 2 GKWG dahingehend, dass bei dem Verhältnisausgleich auf sämtliche nachfolgenden Höchstzahlen, die nach der auf den letzten regulären Sitz entfallenden Höchstzahl kämen, weitere Sitze zu verteilen seien. Der „weitere Sitz“ sei der Oberbegriff für Mehrsitze und für Ausgleichsmandate, die sich aus der Weiterrechnung ergäben (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2008 - 6 A 150/08 -; ebenso Urteil vom 2. Juni 2009 - 6 A 162/08 -). Dem schloss sich das Oberverwaltungsgericht an (vgl. Beschluss vom 15. September 2009 - 2 LA 36/09 -, Juris Rn. 7 f.). Auch die Kommentarliteratur zu § 10 GKWG stimmt mit der Praxis der Landeswahlleiterin und der zitierten Rechtsprechung überein (vgl. Asmussen/ Thiel , GKWG, in: Praxis der Kommunalverwaltung, Dezember 2007, § 10 Anm. 5).

35

3. Der verfassungsrechtlichen Überprüfung ist nach alledem eine Auslegung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zugrunde zu legen, die nur einen „kleinen Ausgleich“ erlaubt, bei dem die Mehrsitze in den Verhältnisausgleich nach § 3 Abs. 5 Satz 2 LWahlG durch Verteilung weiterer Sitze auf die nächstfolgenden Höchstzahlen einzubeziehen sind; „weitere Sitze“ sind danach nicht nur Ausgleichssitze, sondern auch die bereits errungenen Mehrsitze.

II.

36

Anders als das Grundgesetz für den Bundestag (vgl. Art. 38 GG) enthält die Landesverfassung neben der Festlegung auf die allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze in Art. 3 Abs. 1 LV verschiedene Regelungen über die Besetzung des Landtages und die Wahlen hierzu in Art. 10 Abs. 2 LV. Die Verfassungsbestimmung des Art. 10 Abs. 2 LV gibt nicht nur das Wahlsystem für die Landtagswahl vor. Sie verpflichtet zugleich den Gesetzgeber ein Landeswahlrecht zu schaffen, das in der politischen Realität die Entstehung von Überhang- und ihnen folgend Ausgleichsmandaten so weit wie möglich verhindert, um so seine weitere Vorgabe, nämlich die Zahl von möglichst nicht mehr als 69 Abgeordneten, einzuhalten.

37

Während Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV die Anzahl der für den Landtag vorgesehenen Abgeordneten festlegen, sieht Satz 4 vor, dass sich diese Zahl ändert, wenn nach einer Wahl Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder Sitze leer bleiben. Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV bestimmt als Wahlsystem eine Verbindung der Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl. Daran anknüpfend macht Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV eine weitere Vorgabe für den Gesetzgeber: Für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten muss das Wahlgesetz Ausgleichsmandate vorsehen. Diese Vorgabe dient der Wahrung und Stärkung des Grundsatzes der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV. Sie macht die Ausgleichsmandate „verfassungsfest“. Der Gesetzgeber hat dafür Sorge zu tragen, dass die in der Verhältniswahl angelegte Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis wieder hergestellt wird und es so bei einer repräsentativen Wiedergabe des Wählerwillens bleibt, und zwar unter der Vorgabe, dass die Größe des Landtages die Sitzzahl von 69 Abgeordneten möglichst erreicht, allenfalls geringfügig übersteigt.

38

1. Nachdem die Zahl der Abgeordneten zunächst mit 75 festgelegt worden war (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV), erfolgte zur 16. Wahlperiode durch Gesetz vom 13. Mai 2003 (GVOBl S. 279) eine Absenkung auf 69 Abgeordnete (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV). Auch wenn sich weder aus dem Nebeneinander dieser beiden Aussagen noch aus den originären Gesetzesmaterialien ergibt, dass der Verfassungsgeber damit eine zahlenmäßig unbedingt verbindliche Zielvorgabe treffen wollte, zeigt sich doch sowohl am Wortlaut als auch an den weiteren Debatten im Landtag, welche Bedeutung er dieser Festlegung in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV beimisst.

39

a) Bereits der Umstand, dass die Vorgabe von 75 Abgeordneten in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV nicht durch die nun geltende Zahl von 69 Abgeordneten ersetzt, sondern diese neue Vorgabe zusätzlich in die Verfassung aufgenommen wurde, zeigt, dass der Verfassungsgeber eine deutliche Verkleinerung des Landtages gewollt hat. In dem Nebeneinander dieser beiden Zielgrößen wird eine Tendenz aufgezeigt. Insgesamt kommt damit die Erwartung des Verfassungsgebers zum Ausdruck, dass der Landtag die Zahl von 69 Abgeordneten regelmäßig nicht überschreiten soll. Als Regelgröße verstanden folgt daraus, dass die Entstehung von Überhangmandaten - und der damit einhergehende Anfall von Ausgleichsmandaten - zu begrenzen ist. Zu einer Überschreitung soll es nur ausnahmsweise und dann nur in geringem Maße kommen.

40

b) Dies wird durch die Entstehungsgeschichte bestätigt. Die erste Festschreibung der Abgeordnetenzahl in der Verfassung beruhte auf einem entsprechenden Vorschlag der Enquete-Kommission für eine neue Landesverfassung vom 7. Februar 1989 (Landtags-Drucksache 12/180). Die Abgeordnetenzahl sollte ungerade sein und im Interesse verfassungspolitischer Kontinuität nicht zur Disposition der jeweiligen Regierungsmehrheit stehen. Bei der Anzahl selbst orientierte man sich an den seit 1947 im Landeswahlgesetz vorgesehenen Zahlen von 70, 69, 73 und zuletzt 74 Abgeordneten (Landtags-Drucksache 12/180, S. 153 ff.), die bis dahin noch nie überschritten worden waren (vgl. die Aufstellung „Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2009). Die von der Enquete-Kommission vorgeschlagene Zahl von 75 Abgeordneten wurde im weiteren Verlauf der Verfassungsreform nicht mehr diskutiert.

41

Zu einer Diskussion kam es jedoch nach der Wahl zum 13. Landtag 1992, bei der die SPD sämtliche 45 Direktmandate gewann und sich die Zahl der Abgeordneten von 75 auf 89 erhöhte. Eine interfraktionelle Verhandlungsgruppe sollte klären, wie man eine solche Vergrößerung des Landtages durch Überhangmandate künftig verhindern könne. CDU- und FDP- Fraktion reagierten mit einem (später abgelehnten) Gesetzentwurf, mit dem unter anderem die Zahl der Wahlkreise von 45 auf 37 reduziert werden sollte (Landtags-Drucksache 13/2026), um zu gewährleisten, dass der Landtag auch in Zukunft nur die in der Verfassung vorgesehenen 75 Abgeordneten habe und nicht weiter vergrößert werde. Schon nach Auffassung der Enquete-Kommission sei die Funktion des Landtages mit 75 Abgeordneten am besten gewährleistet; mehr als 75 Abgeordnete würden die Effizienz nicht mehr steigern (PlPr 13/65, S. 4431 f., 4438). Nach Auffassung der SPD- Fraktion war die Zahl von 75 Abgeordneten kein exaktes Ziel, sondern nur eine Ausgangszahl, die sich durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöhe, so dass auch 89 Abgeordnete noch von der Verfassung gedeckt seien (PlPr 13/65, S. 4436, 4447). Zugleich gab sie aber Anfang 1994 ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes in Auftrag und beantragte im Landtag eine Prüfung durch den Innen- und Rechtsausschuss, durch welche rechtlichen Maßnahmen bei künftigen Wahlen „die Zahl von 75 Landtagsmandaten nicht oder nicht wesentlich überschritten“ werden würde (Landtags-Drucksache 13/2003).

42

Nachdem der 15. Landtag nach der Wahl im Jahr 2000 erneut auf 89 Abgeordnete angewachsen war, brachte die FDP- Fraktion einen Gesetzentwurf zur Änderung des Wahlgesetzes ein. Dieser Gesetzentwurf sah unter anderem eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise vor (Landtags-Drucksache 15/55), um so „der Verfassung zu mehr Verfassungswirklichkeit zu verhelfen“. Nur so sei zu gewährleisten, dass die Einhaltung der verfassungsmäßig vorgegebenen Zahl von Abgeordneten kein Zufall bleibe, sondern zur Regel werde (PlPr 15/2, S. 74). In der nachfolgenden Debatte waren sich die Abgeordneten darüber einig, dass die Anzahl von 75 Abgeordneten „regulär und angemessen“ sei und eine „funktionsfähige Größe“ darstelle (PlPr 15/2, S. 76, 81). In der 2. Lesung sprach man von einem „Verfassungsziel“ und von einer „Regelgröße“, die nicht erheblich überschritten werden dürfe (PlPr 15/76, S. 5731, 5735). Mit Blick auf die mittlerweile geplante Absenkung auf 69 Abgeordnete zog der Abgeordnete Kubicki in Erwägung, ob der Gesetzgeber nicht von Verfassungs wegen gezwungen sei, das Wahlrecht so auszugestalten, dass die vorgegebene Sollzahl optimal erreicht werde. Jedenfalls dürfe sich der Gesetzgeber von den Verfassungsgrundsätzen nicht entfernen (PlPr 15/76, S. 5736). Ebenso bestand schließlich während der Debatte zur Verfassungsänderung von 2003 Einigkeit darüber, dass es sich auch bei der Zahl von 69 Abgeordneten um eine regulär vorgesehene Zahl handeln könne, die sich im Einzelfall durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöht. Die Verkleinerung des Landtags war zwar im Wesentlichen motiviert durch eine erforderlich gewordene Diätenstrukturreform (vgl. IR 15/75, S. 13 und PlPr 15/86, Redebeiträge Puls, S. 6549; Kubicki, S. 6559; Hinrichsen, S. 6300, 6557), doch sollte es jedenfalls im Ergebnis nicht noch einmal zu einem Anwachsen des Landtags auf 89 Abgeordnete kommen. Als erstrebenswert wurde vielmehr eine endgültige Größe von höchstens 75 bis 77 Abgeordneten erachtet (PlPr 15/83, S. 6294 ff. und 15/86, S. 6548 ff.).

43

2. Als weitere Verfassungsvorgabe schreiben Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV das Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vor. Dieses lässt sich als „personalisierte Verhältniswahl“ charakterisieren und stellt ein verbundenes einheitliches Wahlsystem dar (Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV). In dem so charakterisierten Wahlsystem kommt dem aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV folgenden Grundsatz der Erfolgswertgleichheit nicht eine nur begrenzte, sondern eine das einheitliche Wahlsystem insgesamt umfassende Bedeutung zu. Dementsprechend konkretisiert und verstärkt die speziellere Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV den aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV folgenden Grundsatz der Erfolgswertgleichheit. Insoweit verbleibt dem Gesetzgeber nur ein eingeschränkter Gestaltungsspielraum.

44

a) Die Wahlgrundsätze des Art. 3 Abs. 1 LV stimmen überein mit denjenigen, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Wahlen zum Bundestag gelten. Zur Übernahme dieser Grundsätze war der Landesverfassungsgeber im Rahmen des Homogenitätsgebots gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet. Dies befolgend sind sie 1949 in die Landessatzung aufgenommen worden (vgl. Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 -, NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 32 f.; Begründung der Landtagsvorlage 263/3 S. 188, VII.; Gross , DV 1950, 129 <131>). Deshalb kann für die Auslegung des Art. 3 Abs. 1 LV auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurückgegriffen werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 95 m.w.N.), soweit sich aus den Wahlsystemen keine entscheidenden Unterschiede ergeben. Bei der Ausgestaltung des Wahlsystems genießen die Länder im Rahmen der Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG einen autonomen Spielraum (BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1998 - 2 BvR 1953/95 - BVerfGE 99, 1 ff., Juris Rn. 46; Urteil vom 8. Februar 2001 - 2 BvF 1/00 - BVerfGE 103, 111 ff., Juris Rn. 90; und Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 29, Juris Rn. 29; vgl. auch Dreier, in: ders. , Grundgesetz - Kommentar - Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 70; Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 30; Waack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, Art. 10 Rn. 64).

45

Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger und gebietet, dass alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können. Historisch betrachtet verbietet er für das aktive Wahlrecht eine unterschiedliche Gewichtung der Stimmen etwa nach Vermögensverhältnissen, Klassenzugehörigkeit, nach Bildung, Religion oder Geschlecht. Heute ist er im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen. Daraus folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme einer und eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben muss. Alle Stimmen sollen den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 -BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 67; vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 97; und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 91 f.). Dieser lässt sich naturgemäß nur anhand einer ex post Betrachtung ermitteln (vgl. Ipsen , JZ 2002, 469 <472>).

46

Die Wahlgleichheit ist nach allgemeiner Auffassung kein Kriterium für die Auswahl des Wahlsystems, sondern bildet lediglich die Grundlage für dessen Ausgestaltung (vgl. Schreiber , Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 1 Rn. 42; kritisch Backhaus , DVBl. 1997, 737 <740>). Innerhalb der verschiedenen Wahlsysteme wirkt sie sich unterschiedlich aus (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 a.a.O., Juris Rn. 68; Beschluss vom 14. Februar 2005 a.a.O., Juris Rn. 29; und Urteil vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 98; vgl. auch Wild , Die Gleichheit der Wahl, 2003, S. 208 ff.), je nach dem, ob das Wahlsystem personen- oder parteibezogen ist (vgl. Pauly , AöR 123 - 1998 - 233 <241 f.>). Maßgeblich ist stets, dass im Ergebnis keine unsachliche Differenzierung des Stimmgewichts erfolgen darf (vgl. Caspar , a.a.O., Art. 3 Rn. 36 ff.).

47

aa) Da die Mehrheitswahl die enge persönliche Beziehung der Abgeordneten zum Wahlkreis sichert, führen nur die für die Mehrheitskandidatin oder den Mehrheitskandidaten abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung, während die auf Minderheitskandidaten entfallenden Stimmen unberücksichtigt bleiben. Hier müssen - ex ante betrachtet - alle Wählerinnen und Wähler über den gleichen Zählwert ihrer Stimmen hinaus die gleiche Erfolgschance haben, indem sie auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise und von daher mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können (vgl. BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 a.a.O., Juris Rn. 65, 69; und vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 98).

48

bb) Die Verhältniswahl bezweckt demgegenüber eine spiegelbildliche Darstellung der parteipolitischen Ausrichtung der Wählerschaft im Parlament. Hierfür müssen alle Wählerinnen und Wähler mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Volksvertretung haben. Jede Partei soll im Parlament in der Stärke vertreten sein, die dem Gesamtanteil der für sie im Wahlgebiet abgegebenen Stimmen und damit ihrem politischen Gewicht entspricht (vgl. BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 115, 118 f.; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 64; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 93). Dies erfordert ein Rechenverfahren, welches das Verhältnis der Stimmen für die Parteilisten zu den Gesamtstimmen und eine entsprechende Sitzzuteilung ermittelt, so dass jeder Stimme über die gleiche Erfolgschance hinaus auch der gleiche Erfolgswert zukommt (vgl. BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 119; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 70; vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 41; vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 99; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 93, stRspr.; vgl. auch: Schreiber , Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 1 Rn. 55).

49

cc) Mehrheitswahl und Verhältniswahl lassen sich in verschiedener Weise miteinander verbinden (vgl. Seifert , Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, S. 11 f.; Wild , a.a.O., S. 211). Ist eine Verbindung beider Wahlsysteme vorgesehen, muss der Gesetzgeber das letztlich angestrebte Regelungsziel und das normative Umfeld mit der spezifischen Ordnungsstruktur des ausgewählten Wahlsystems systemgerecht und widerspruchsfrei aufeinander abstimmen (ebenso: StGH Bremen, Urteil vom 8. April 2010 - St 3/09 -, NordÖR 2010, 198 ff. Rn. 50). Das ausgewählte Wahlsystem ist in seinen Grundelementen einheitlich und folgerichtig zu gestalten und darf keine strukturwidrigen Elemente enthalten. Dabei ist die Gleichheit der Wahl nicht nur innerhalb des jeweiligen Abschnitts oder Systems zu wahren (vgl. BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 120; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 71; und vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 100 f., stRspr.; vgl. auch Hübner, in: von Mutius / Wuttke/ ders., Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 10 Rn. 19; Waack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 65), sondern es müssen darüber hinaus die Teilwahlsysteme sachgerecht zusammenwirken (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 71; ebenso Litten/ Wallerath , Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2007, Art. 20 Rn. 30).

50

Entscheidend für die Ermittlung des Gleichheitsmaßstabs ist danach die Charakterisierung des vom Gesetzgeber gewählten Verbindungswahlsystems. Nur wenn das ausgewählte Wahlsystem beiden Teilwahlsystemen ihre Selbständigkeit belässt, können auch die jeweils zu definierenden Maßstäbe auf das jeweilige Wahlsystem beschränkt werden (sogenanntes Grabenwahlsystem). Wird hingegen das ausgewählte Wahlsystem im Ergebnis von einem der beiden Teilwahlsysteme maßgeblich definiert, muss dessen Gleichheitsmaßstab insgesamt Anwendung finden (vgl. Klein, in: Maunz/ Dürig , Grundgesetz - Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 179 ; Nohlen , Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl. 2009, S. 351 f.; Wild , a.a.O., S. 211 ff.).

51

b) Das Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag ist als „personalisierte Verhältniswahl“ zu charakterisieren. Es stellt sich als ein verbundenes einheitliches Wahlsystem dar, vgl. Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV. Ein Grabenwahlsystem, in dem die Grundsätze der beiden Wahlsysteme nebeneinander stehen, ist durch diese Verfassungsbestimmung ausgeschlossen. Das Schleswig-Holsteinische Landtagswahlsystem ist maßgeblich geprägt und im Ergebnis bestimmt von den Grundsätzen der Verhältniswahl. Dem Maßstab der Erfolgswertgleichheit kommt dabei eine übergreifende Tragweite zu; insgesamt muss jede Wählerstimme von gleichem Gewicht sein.

52

aa) Schon vor Einführung des begrenzten Mehrsitzausgleichs und unter Geltung des Einstimmenwahlrechts führte das Bundesverfassungsgericht in seiner Funktion als Landesverfassungsgericht in seiner ersten Entscheidung zur schleswigholsteinischen Sperrklausel aus, dass das Landtagswahlsystem Elemente der Mehrheitswahl mit solchen der Verhältniswahl verbinde. Hinter der Mehrheitswahl im Wahlkreis stehe der „Vollproporz in der radikalen Form“. Auch im Falle der Kombination zweier Wahlsysteme dürfe der Verhältnisausgleich nicht beliebig gestaltet werden. Eine ungleichmäßige Verwertung der Stimmen im Verhältnisausgleich sei nicht damit zu rechtfertigen, dass die Parteien bei einer Mehrheitswahl noch ganz anders benachteiligt würden. Wenn die Entscheidung für einen zusätzlichen Verhältnisausgleich falle, müsse in diesem Teil des Wahlverfahrens auch die Wahlgleichheit in ihrer spezifischen Ausprägung für die Verhältniswahl beachtet werden. Dies gelte erst recht für das in Schleswig-Holstein eingeführte Wahlsystem, „das letzten Endes auf eine rein verhältnismäßige Verteilung der Mandate nach dem Wahlergebnis im ganzen Land mit bloß zusätzlicher Prämie aus der Mehrheitswahl hinauslaufe“ (Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 2, 109, 121; zustimmend: von Mutius, in: ders. / Wuttke/ Hübner , Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 3 Rn. 10.; Hübner , a.a.O., Art. 10 Rn. 19, 22 jeweils m.w.N.).

53

Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht - wiederum als Landesverfassungsgericht - auch das bis heute mit nur einer Wählerstimme arbeitende kommunale Wahlsystem Schleswig-Holsteins den Grundsätzen der Verhältniswahl unterworfen. Die Möglichkeit der Erringung von Direktmandaten stelle keine Durchbrechung des Verhältniswahlsystems dar, weil die Wählerstimme zugleich als Votum für die Liste gelte und die Mandate unter Anrechnung der errungenen Direktsitze nach der Gesamtstimmenzahl verteilt würden. Mit der Entscheidung für das Verhältniswahlsystem sei der Gesetzgeber daran gebunden, sowohl die Zähl- als auch die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen sicherzustellen (Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 105).

54

bb) Das vom Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil vom 5. April 1952 (a.a.O., Juris Rn. 2, 109, 121) als einheitliches Wahlsystem in Form der personalisierten Verhältniswahl charakterisierte Wahlrecht zum Schleswig-Holsteinischen Landtag, das trotz vorgeschalteter Mehrheitswahl den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt, ist mittlerweile in der Verfassung in Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV als Verbindungswahlsystem mit Überhang- und Ausgleichsmandaten festgeschrieben.

55

Die durch Gesetz vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462) erfolgte Umstellung auf das Zweistimmenwahlrecht sollte eine Differenzierung zwischen persönlich bekannten Kandidatinnen und Kandidaten einerseits und Parteien andererseits ermöglichen (PlPr 14/3, S. 81). Dabei blieben Art. 10 Abs. 2 LV und der Verhältnisausgleich nach § 3 LWahlG jedoch unverändert. Insoweit spricht auch die aktuelle Kommentarliteratur weiterhin von einer „personalisierten Verhältniswahl“ (vgl. Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 37; Waack , a.a.O., Art. 10 Rn. 65). Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht - wiederum in seiner Eigenschaft als Landesverfassungsgericht - in seiner letzten Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Landeswahlrecht den Inhalt seiner Entscheidung von 1952 bestätigt (Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 2 und 31).

56

cc) Die personalisierte Verhältniswahl zum Landtag gemäß Art. 10 Abs. 2 LV wird im Landeswahlgesetz nach den §§ 1 bis 3 LWahlG durch die Verknüpfung einzelner Abschnitte von (Teil-) Wahlsystemen umgesetzt. Die Schritte zur Verknüpfung beschreibt § 3 LWahlG wie folgt: Zunächst wird die Anzahl der auf die einzelnen Landeslisten entfallenden Sitze auf Grundlage der gültigen Zweitstimmen ermittelt und die Gesamtzahl der Abgeordneten entsprechend auf die Landeslisten verteilt (§ 3 Abs. 3 LWahlG). Sodann sind die in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber auf Grundlage der gültigen Erststimmen (§ 2 LWahlG) zu ermitteln und auf das Ergebnis der Listenwahl anzurechnen (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Diese Anrechnung dient der Verknüpfung und notwendigen Harmonisierung von Personen- (oder Direkt-)wahl und Verhältniswahl (vgl. für § 6 Abs. 4 Satz 1 BWahlG:Ipsen , Staatsrecht I, 21. Aufl. 2009, Rn. 114, 119). Methodisch erreicht der Gesetzgeber die Verknüpfung über eine „Verteilungsfiktion“ (so für das Bundeswahlrecht: Wrege , Jura 1997, 113), denn die Verteilung der Gesamtzahl der Abgeordneten auf die Landeslisten nach § 3 Abs. 3 Satz 2 LWahlG erfolgt zunächst nur fiktiv. Diese Fiktion wird durch die Anrechnung der erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber auf die jeweilige Landesliste wieder aufgelöst (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Schließlich schreibt § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG vor, dass einer Partei die in den Wahlkreisen errungenen Mandate auch dann verbleiben, wenn deren Anzahl größer ist als die des verhältnismäßigen Sitzanteils (entsprechend § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG). Zum Zwecke des Ausgleichs werden hierfür weitere Sitze nach dem in § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG beschriebenen Verfahren vergeben.

57

dd) Trotz dieser verschiedenen Abschnitte handelt es sich bei dem heutigen Landeswahlsystem somit nicht um ein (Mischwahl- oder) Grabensystem, sondern um ein einheitliches Wahlsystem, das erst aus der Verbindung der beiden Wahlsysteme entsteht. Gerade erst aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Systemabschnitte lassen sich die Landtagsmandate ermitteln. Zweck der Verbindung ist es, sowohl eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten nach Mehrheitswahl in den Wahlkreisen zu bestimmen und so das Persönlichkeitselement einzubringen (§ 1 Abs. 1 Satz 2, § 2 LWahlG) als auch, den parteibezogenen Proporz zu sichern (§ 1 Abs. 1 Satz 2, § 3 LWahlG).

58

Die Direktkandidatinnen und Direktkandidaten werden zwar in den Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt. Die von ihnen im Landtag besetzten Sitze werden aber nicht unter den Bedingungen der Mehrheitswahl vergeben, sondern unter Anrechnung auf die Landeslisten. Die von den erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerbern besetzten Sitze sind von ihnen im Ergebnis zwar persönlich gewonnen, zugleich sind sie aber Teil der verhältnismäßigen Abbildung der Stärke der Parteien und gehen in die mit der Verhältniswahl bezweckte Abbildung der relativen Stimmverteilung im Wahlvolk ein.

59

Aus dem Landtagswahlsystem wird auch nicht dadurch eine „Persönlichkeitswahl, ergänzt um Elemente der Verhältniswahl“, weil die Sitze nicht - wie im Bund - in einem prozentualen Verhältnis von 50:50 auf die Mehrheitswahl und die Verhältniswahl aufgeteilt werden, sondern gemäß § 1 Abs. 1 LWahlG - historisch gewachsen - in einem prozentualen Verhältnis von etwa 60:40 (heute: 40 Direktmandate zu 29 planmäßigen Listenmandaten). Dies folgt bereits aus dem Umstand, dass der prozentuale Anteil der direkt gewählten Abgeordneten kleiner wird, sobald es zu Mehrsitzen kommt, die der jeweiligen Partei - zwecks Wahrung des Persönlichkeitselements - verbleiben. Das „Verbleiben“ dieser Mehrsitze führt zu einer Erhöhung der Gesamtsitzzahl im Landtag, während die gesetzlich festgelegte Zahl von 40 Direktmandaten gleich bleibt. Dies galt im Übrigen schon vor Einführung des Art. 10 Abs. 2 LV und des Mehrsitzausgleichs.

60

c) Mit der Verpflichtung des Gesetzgebers auf einen Ausgleich der Überhangmandate (Mehrsitze) in Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV hat der Verfassungsgeber die Dominanz der Verhältniswahl nochmals bekräftigt und ihr Gewicht in Richtung Gesamtproportionalität gestärkt. Diese Stärkung drängt das Teilelement Mehrheitswahl zwangsläufig weiter zurück.

61

aa) Nach dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV ist nur eindeutig festgelegt, dass ein Ausgleich stattzufinden hat; eine Aussage über die Anzahl oder die Berechnung der Ausgleichsmandate fehlt demgegenüber. Auch aus der Entstehungsgeschichte des 1990 in die Landesverfassung eingefügten Art. 10 Abs. 2 LV lässt sich nicht entnehmen, wie der Verfassungsgeber den konkreten Ausgleich gestaltet wissen wollte.

62

(1) Die frühere Landessatzung (LS) sah noch keine Bestimmungen über die Wahlen zum Landtag vor; auch die 1988 eingesetzte Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform“ befasste sich nicht mit dem Wahlrecht (vgl. Landtags-Drucksache 12/180, S. 153 ff.). Der im Februar 1989 eingesetzte Sonderausschuss „Verfassungs- und Parlamentsreform“ - SoAVP - (Landtags-Drucksache 12/218) diskutierte die verfassungsmäßige Festlegung der Abgeordnetenzahl im Landtag und die damit zusammenhängende Frage, ob die Regelung von Überhang- und Ausgleichsmandaten dem einfachen Gesetzgeber überlassen werden könne.

63

In der 2. Sitzung des Sonderausschusses wurde die Gefahr des Entstehens von Überhangmandaten für den Fall, dass man wenige Listenmandate und viele Wahlkreise vorsehe, zwar angesprochen, in Anbetracht der bisherigen Erfahrungen aber als gering erachtet (SoAVP 2/20 f.). In der 5. Sitzung einigte man sich darauf, die Zahl der Mandate in der Verfassung festzuschreiben. Da Abweichungen hiervon aus wahlsystematischen Gründen nicht ausgeschlossen seien, sollten auch Überhang- und Ausgleichsmandate in der Verfassung Erwähnung finden (SoAVP 5/3 ff.). In der 6. Sitzung wurde diskutiert, ob die Entscheidung über Überhang- und Ausgleichsmandate dem jeweiligen Gesetzgeber überlassen werden soll. Im Ergebnis war es der erklärte Wille des Ausschusses, in der Verfassung eine Formulierung zu wählen, die es dem Gesetzgeber verbiete, Überhang-, Ausgleichs- oder Leermandate auszuschließen; diese sollten grundsätzlich im Wahlgesetz möglich gemacht werden (SoAVP 6/5 ff.). Den Formulierungsvorschlag des wissenschaftlichen Dienstes, wonach das Wahlgesetz Überhang- und Ausgleichsmandate ermöglichen müsse (Landtags-Umdruck 12/479), übernahm der Ausschuss in seiner 7. Sitzung nahezu wortgleich (SoAVP 7/4). Der anschließende Vorschlag des Landeswahlleiters, sich hinsichtlich des geltenden Wahlsystems (kombinierte Persönlichkeits- und Verhältniswahl) und der Verpflichtung des Gesetzgebers zu Ausgleichsmandaten klarer festzulegen, scheiterte zunächst, weil man meinte, dass es einer weiteren Klarstellung nicht bedürfe. Die Festlegung auf das gemischte Wahlsystem sei schon so erkennbar (SoAVP 21/19 ff.).

64

Im Abschlussbericht des Sonderausschusses vom 28. November 1989 wurde folgender Art. 10 LV vorgeschlagen (Landtags-Drucksache 12/620, S. 9):

65

Art. 10 Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) […]

(2) Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Diese Zahl ändert sich, wenn Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das Überhang- und Ausgleichsmandate ermöglichen muss.

66

Der Sonderausschuss führte dazu aus: „Die in Satz 1 festgelegte Abgeordnetenzahl kann sich nur ändern, wenn Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Insoweit die Einzelheiten zu regeln, muss (…) dem einfachen Gesetzgeber überlassen bleiben. Sein Regelungsspielraum wird allerdings durch Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV eingeengt. Wenn das Gesetz Überhangoder Ausgleichsmandate ermöglichen muss, so wird damit mittelbar das Wahlsystem - nämlich das System einer kombinierten Persönlichkeits- und Verhältniswahl - vorgegeben“ (Landtags-Drucksache 12/620 , S. 40).

67

Die daraufhin eingebrachten Gesetzentwürfe (Landtags-Drucksache 12/637, S. 5 und 12/638 , S. 4) übernahmen den Vorschlag zu Art. 10 Abs. 2 LV. In der ersten Lesung am 16. Januar 1990 mahnte der damalige Innenminister - wie zuvor schon der Landeswahlleiter (Landtags-Umdruck 12/763) - eine klarere Formulierung der wahlrechtlichen Regelungen an. Es sei ein Mangel, wenn Einzelheiten eines bestimmten Wahlsystems geregelt würden, dabei aber nicht das Wahlsystem selbst bezeichnet werde, welches verfassungsfest gemacht werden solle (PlPr. 12/43, S. 2538). Auf Bitte des Sonderausschusses formulierte er die aus Sicht der Landesregierung wünschenswerten Änderungen und fügte in Art. 10 Abs. 2 LV die Festschreibung des bis dahin einfachgesetzlich schon geltenden kombinierten Persönlichkeits- und Verhältniswahlrechts ein (Umdruck 12/1292). Dem schlossen sich der Sonderausschuss (Landtags-Drucksache 12/826) und der Landtag an. Damit wurde Art. 9 Abs. 1 LS nach zweiter Lesung am 30. Mai 1990 (PlPr 12/55) durch Gesetz vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) durch folgenden Art. 10 LV ersetzt:

68

Art. 10 Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) […]

(2) Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Sie werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Die in Satz 1 genannte Zahl ändert sich nur, wenn Überhangoder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.

69

Soweit die ursprüngliche Fassung „(…) ermöglichen muss“ geändert wurde in „(…) vorsehen muss“, präzisiert und konkretisiert dies den an den Gesetzgeber gerichteten Auftrag (so auch der Vorsitzende des Sonderausschusses während der 21. Sitzung, SoAVP 21/22). Die Diskussion im Sonderausschuss gibt nicht her, dass der Verfassungsgeber durch diese Formulierung zwingend einen Vollausgleich vorschreiben wollte.

70

(2) Vollständig würdigen lässt sich die Entstehungsgeschichte des Art. 10 Abs. 2 LV nur vor dem Hintergrund des geltenden Landeswahlrechts. Die Tatsache, dass sich der Verfassungsgeber im Rahmen der Beratungen zur Frage des Voll- oder Teilausgleichs nicht ausdrücklich geäußert hat, beruhte darauf, dass mit der Entstehung von Überhangmandaten (Mehrsitzen) in nennenswertem Umfang damals noch nicht gerechnet wurde.

71

(a) Mit Inkrafttreten der neuen Landesverfassung musste auch das Landeswahlgesetz geändert werden, weil es bis zu dieser Zeit noch keinen Mehrsitzausgleich vorsah. Der Entwurf zum Landeswahlgesetz wurde bewusst an § 10 Abs. 4 GKWG angelehnt (Landtags-Drucksache 12/834, S. 2). Das Änderungsgesetz vom 20. Juni 1990 (GVOBl S. 419) trat am Tag nach seiner Verkündung in Kraft. Aus der parallel zur Verfassungsänderung vorgenommenen Einführung eines nur beschränkten Mehrsitzausgleiches - im damaligen § 3 Abs. 4 LWahlG - könnte geschlossen werden, dass der mit dem Gesetzgeber identische Verfassungsgeber nicht zwingend einen stets vollständigen Ausgleich von Überhangmandaten vorschreiben wollte. Wenn der Landtag erstmalig eine Pflicht zum Ausgleich von Überhangmandaten in die Landesverfassung aufnimmt und nicht nur in Kenntnis, sondern auch aus Anlass seiner eigenen Verfassungsvorgaben zeitgleich als Gesetzgeber das Wahlrecht ändert, ist es zwar naheliegend, dass er die durch diese Gesetzesänderung herbeigeführte Rechtslage - die Begrenzung des Ausgleichs in § 3 Abs. 4 Satz 3 LWahlG bei geltender Ausgleichspflicht nach Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV - für mit der Verfassung vereinbar hielt. Abgesehen davon, dass eine solche Annahme auch nicht zutreffen muss und insbesondere nicht vom einfachen Recht auf die richtige Auslegung der Verfassung geschlossen werden kann, gibt es dafür jedoch keine weiteren Anhaltspunkte.

72

(b) Bei Verabschiedung der neuen Verfassung sah das Landeswahlgesetz noch das Einstimmenwahlrecht vor. Die Einführung des Zweistimmenwahlrechts war noch nicht in der parlamentarischen Diskussion, sie erfolgte erst durch Gesetz vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462). Die Möglichkeit, dass es bei einer Landtagswahl zu Überhangmandaten kommen würde, war dennoch nicht auszuschließen und hatte durch Übernahme der Formulierung aus § 10 Abs. 4 GKWG Berücksichtigung gefunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese theoretische Möglichkeit tatsächlich realisieren würde, war von der praktischen Erfahrung her allerdings noch nicht belegt. Seit 1947 bis zur Verfassungsänderung war es bei Landtagswahlen nicht dazu gekommen, dass der Anteil der Direktmandate einer Partei größer gewesen wäre als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil. Die Wahlstatistik zeigt, dass die gesetzlich festgelegte Zahl von Abgeordneten erstmals aufgrund der Landtagswahl 1992 überschritten worden ist („Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2009).

73

(c) Umso fernliegender war im Jahre 1990 die Vorstellung, dass bei tatsächlicher Entstehung von Überhangmandaten (Mehrsitzen) die Gewährung von insgesamt doppelt so vielen weiteren Sitzen nicht ausreichen würde, um einen vollständigen Ausgleich zu erreichen. Tatsächlich hat es in Schleswig-Holstein nahezu 20 Jahre gedauert, bis dieser Fall bei der Landtagswahl 2009 erstmals eingetreten ist. Die Faktoren, die diese Entwicklung ermöglichten (Einführung des Zweistimmenwahlrechts mit der Möglichkeit des Stimmensplittings, zunehmend breiteres Parteienspektrum und infolgedessen breitere Streuung der Zweitstimmen), waren damals noch nicht voraussehbar.

74

Vergleichbar wurde etwa für Niedersachsen noch 1996 darauf hingewiesen, dass das Verbleiben ungedeckter Überhangmandate nach begrenztem Ausgleich ein Phänomen sei, das „in den vergangenen Jahrzehnten“ keine praktische Bedeutung erlangt habe, weshalb davon ausgegangen werden könne, „dass der Gesetzgeber (…) das Erforderliche getan hat, um die Folgen einer Verzerrung des Erfolgswerts von Wählerstimmen zu beseitigen“ (vgl. Ipsen/Koch , NdsVBl 1996, 269 <271>). Entsprechend soll der historische Bundesgesetzgeber Überhangmandate als vernachlässigenswerten Schönheitsfehler angesehen und deshalb den parteipolitischen Streitpunkt, ob das Wahlsystem den Schwerpunkt in der Mehrheitswahl oder in der Verhältniswahl habe, pragmatisch offen gelassen haben, um insoweit kein komplizierendes Ausgleichsverfahren schaffen zu müssen. Auch das Bundesverfassungsgericht ist dieser Annahme anfänglich gefolgt, zumal diese durch die Wahlergebnisse zunächst auch bestätigt wurde (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff. - Sondervotum -, Juris Rn. 181 ff.; Wrege , Jura 1997, 113 <115 f.> beide m.w.N.). Erst die Bundestagswahl 1994, bei der die CDU zwölf und die SPD vier Überhangmandate errangen, gab Anlass zu einer Neupositionierung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 10. April 1997 (a.a.O., Juris Rn. 23).

75

bb) Bis hierher lässt sich für den Gesetzgeber keine zwingende Pflicht zum Vollausgleich begründen. Sinn und Zweck des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV könnten in diese Richtung weisen. Die Pflicht, für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorzusehen, dient der Wahrung und Stärkung des auch bundesrechtlich über das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 (Satz 2) GG verankerten Grundsatzes der Wahlgleichheit in Art. 3 Abs. 1 LV.

76

Generell können Überhangmandate entstehen, wenn Persönlichkeitswahl und Verhältniswahl miteinander verbunden werden. Die für diesen Fall vorgesehene Gewährung von Ausgleichsmandaten stellt sicher, dass das Verhältnis der Sitze der einzelnen Parteien dem Verhältnis der für die einzelnen Landeslisten abgegebenen Stimmen entspricht, so dass sich die politischen Gewichte durch das Entstehen von Überhangmandaten im Ergebnis nicht verändern (vgl. Schreiber , Bundeswahlgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2009, § 6 Rn. 29; Litten/ Wallerath , Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2007, Art. 20 Rn. 33).

77

Diese Zielsetzung hat auch Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV. Nach den Beratungen im Sonderausschuss sollten die Ausgleichsmandate mit dieser Regelung „verfas-sungsfest“ gemacht werden. Außerdem sollte unmissverständlich vorgeschrieben werden, dass durch die Ausgleichsmandate das Prinzip der Verhältniswahl zu wahren sei (SoAVP 21/21 f.). Entsprechend verpflichtet Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV den Gesetzgeber zur (Wieder-) Herstellung der nach dem Zweitstimmenanteil festgestellten politischen Gewichte der einzelnen im Landtag vertretenen Parteien und damit zur Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis (ebensoWaack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 71). Unter Rückgriff auf den strengen Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV ergibt sich daraus, dass nach der spezielleren Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Vollausgleich die Regel, der Teilausgleich hingegen eine zwingend begründungsbedürftige Ausnahme darstellt (ebensoMorlok , Stellungnahme zu Landtags-Drucksache 17/10, Landtags-Umdruck 17/752, S. 4).

78

d) Dient danach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Wahrung und Stärkung des Grundsatzes der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV und legt den Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlsystems insoweit von Verfassungs wegen fest, kann die Vorschrift nicht als Begründung dafür herhalten, dass der Gesetzgeber dahinter zurückbleiben oder den Grundsatz der Erfolgswertgleichheit gar relativieren dürfte. Vielmehr hat der Gesetzgeber nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Wahlgleichheit zu einer optimalen, „bestmöglichen“ Geltung zu verhelfen (so schonHübner, in: von Mutius / Wuttke/ ders., Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 10 Rn. 23). Überhangmandate dürfen daher grundsätzlich nur im unvermeidlichen Mindestmaß anfallen, es sei denn sie werden durch Ausgleichsmandate ausgeglichen. Der Ausgleich muss dann allerdings so durchgeführt werden, dass die eingetretene Verzerrung soweit wie möglich wieder beseitigt, also der Wahlgleichheit „bestmöglich“ genügt wird (im Ergebnis ebenso: StGH BW, Urteil vom 12. Dezember 1990 - 1/90 -, VBlBW 1991, 133 ff., Juris Rn. 53 ff.; Waack , a.a.O., Art. 10 Rn. 71; Hübner , a.a.O.).

79

aa) Das aus der Wahlgleichheit entwickelte Kriterium der Erfolgswertgleichheit beinhaltet zwar kein absolutes Differenzierungsverbot, belässt dem Gesetzgeber bei der Ordnung des jeweiligen Wahlsystems aber nur einen eng bemessenen Gestaltungsspielraum. Denn der Wahlgleichheit ist - anders als dem allgemeinen Gleichheitssatz - ein strikt formaler Charakter zu eigen. Ebenso wie die übrigen Wahlrechtsgrundsätze ist sie einer „flexiblen“ Auslegung nicht zugänglich (vgl. nur StGH BW, Urteil vom 23. Februar 1990 - 2/88-, VBlBW 1990, 214 ff., Juris Rn. 44; BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 108; und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 91, 97; Schneider , in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 38 Rn. 67 ). Deshalb kann sich der Gesetzgeber nicht damit begnügen, überhaupt einen Ausgleich vorzusehen. Genüge getan ist dem Maßstab der Erfolgswertgleichheit nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV grundsätzlich erst dann, wenn sämtliche Überhangmandate ausgeglichen sind. Jedes ungedeckt bleibende Überhangmandat muss sich (wieder) den strengen Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 LV stellen und ist rechtfertigungsbedürftig.

80

bb) Selbst wenn dem Bundesgesetzgeber nach Art. 38 Abs. 1 GG insoweit ein größerer Gestaltungsspielraum zustünde (so BVerfG, Urteil vom 10. April 1997- 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 107), wäre dies auf die schleswigholsteinische Rechtslage nicht übertragbar. Denn das schleswig-holsteinische Landtagswahlsystem ist jedenfalls nicht darauf angelegt, die Ergebnisse der vorgeschalteten Mehrheitswahl in Form von überhängenden, das heißt im Ergebnis ungedeckten Mehrsitzen zu erhalten. Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV verpflichten den Landesgesetzgeber vielmehr insgesamt auf den Proporz nach Zweitstimmen und auf einen Verhältnisausgleich, der grundsätzlich auch die Mehrsitze deckt (BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 109, 121; und Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 31).

81

Das „sachgerechte Zusammenwirken“ der miteinander verbundenen Teilwahlsysteme erfordert eine Geltung des Gebots des gleichen Erfolgswerts „grundsätzlich für das gesamte Wahlverfahren“ (so schon von Mutius , in: ders. / Wuttke/ Hübner , Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 3 Rn. 10). Sind aber - wie im Wahlrecht zum Schleswig-Holsteinischen Landtag -einzelne Abschnitte verschiedener Wahlsysteme so miteinander verbunden, dass sich die Zusammensetzung des Landtages erst und gerade aus ihrem Zusammenspiel ergibt, muss auch dieses Zusammenspiel dem Prinzip der Erfolgswertgleichheit unter dem Gesichtspunkt der Wahlgleichheit gehorchen (BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 109, 121). Hieraus hat das Bundesverfassungsgericht in seiner letzten Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Landeswahlrecht den Schluss gezogen, dass etwaige Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit nur unter den engen Voraussetzungen eines „zwingenden Grundes“ zulässig sind (Beschluss vom 14. Februar a.a.O., Juris Rn. 31; so auch von Mutius , a.a.O., Art. 3 Rn. 10; Hübner , a.a.O., Art. 10 Rn. 19, 22; Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 27, 49; Waack , a.a.O., Art. 10 Rn. 69).

82

Soweit das Bundesverfassungsgericht in diesem Beschluss (a.a.O., Juris Rn. 47) in einem obiter dictum ausführt, dass der schleswig-holsteinische Verfassungsgeber bewusst darauf verzichtet habe, das Wahlsystem und dessen konkrete Ausgestaltung im Einzelnen verfassungsrechtlich vorzuschreiben, bezieht sich dies nicht auf die durch Ausgleichsmandate herzustellende Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis.

83

Soweit vertreten wird, das Ausgleichsverfahren müsse kein „bestmögliches“ sein, sondern sich gegenüber dem Wahlwettbewerb lediglich neutral verhalten (unter Verweis auf Waack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 71), lassen sich auch damit keine Abstriche am strengen Maßstab der Erfolgswertgleichheit begründen. Dieses „Neutralitätsgebot“ entstammt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur ersten gesamtdeutschen Wahl (Urteil vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 46 f.). In dieser Entscheidung hat das Gericht nicht zur Lockerung des Maßstabs, sondern zur Sicherung der Erfolgswertgleichheit die Übernahme der Sperrklausel für das gesamte - erweiterte - Wahlgebiet angesichts der gegebenen besonderen Umstände für verfassungswidrig befunden.

84

cc) Dies wird durch die oben (c) aa) (1) ) dargestellte Entstehungsgeschichte eindrucksvoll bestätigt. Der mit der Verfassungsreform befasste Son-derausschuss zog aus dem bestehenden Wahlsystem die Konsequenz, dass sich die Anzahl der in der Verfassung festzulegenden Abgeordneten im Falle des Entstehens von Überhangmandaten erhöhen soll. Dem einfachen Gesetzgeber sollte nicht nur mit der Festlegung in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV die Entscheidung über die Anzahl der regulären Gesamtsitze, sondern auch die Entscheidung über das Maß ihrer Erhöhung entzogen werden. Im Falle des Entstehens von Überhangmandaten soll sich die Zahl der Gesamtsitze um Überhang- und Ausgleichsmandate erhöhen (Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV), während es dem Gesetzgeber unbenommen bleibt, durch eine entsprechende Wahlrechts- oder Verfahrensgestaltung nach Möglichkeit schon die Entstehung von Überhangmandaten zu verhindern. Nur insoweit bleibt dem Gesetzgeber überhaupt ein Gestaltungsspielraum.

III.

85

An diesen Verfassungsvorgaben ist das derzeitige Landeswahlrecht zu messen. Sind aber im derzeitigen Landeswahlrecht verschiedene (rechtliche) Faktoren erst in ihrem Zusammenwirken für eine deutliche Verfehlung dieser Vorgaben verantwortlich, so erweisen auch sie sich derzeit als verfassungswidrig. Die Prüfung kann dann nicht auf die zur Kontrolle gestellte Vorschrift des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG beschränkt bleiben. Das Gericht hat deshalb gemäß § 42 Satz 2 LVerfGG die Gesamtregelung des § 3 Abs. 5 LWahlG sowie die Regelungen der § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG in die Prüfung einbezogen.

86

Die im Zusammenspiel von § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 LWahlG sowie § 16 LWahlG angelegte Möglichkeit der deutlichen Überschreitung der Regelgröße des Landtages von 69 Abgeordneten bei gleichzeitigem Entstehen ungedeckter Mehrsitze führt zu einer ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen. Dadurch werden sowohl der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV als auch die Verfassungsvorgabe des Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV, die Regelgröße von 69 Abgeordneten möglichst nicht zu überschreiten, verfehlt. Dies ist weder mathematisch unausweichlich noch durch anderweitige, sachlich legitimierende Gründe zu rechtfertigen.

87

1. Selbst wenn die zur verfassungsrechtlichen Überprüfung gestellte Begrenzung des Mehrsitzausgleichs durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG und die damit nur eingeschränkte Wiedergabe des mit den Zweitstimmen zum Ausdruck gebrachten Wählerwillens im Wahlergebnis zunächst nur an Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV unter Berücksichtigung der aus der Wahlgleichheit nach Art. 3 Abs. 1 LV abzuleitenden Anforderungen an den Gesetzgeber gemessen wird, ist festzustellen, dass die Vorschrift erst gemeinsam mit den sonstigen Regelungen in § 3 Abs. 5 sowie in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG unter den gegebenen tatsächlichen Verhältnissen dazu führt, dass es zu einer Verzerrung der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen kommt, die sich nicht nur als vereinzelte und deshalb vernachlässigenswerte Ausnahme darstellt.

88

a) Durch die Begrenzung des Verhältnisausgleichs können ungedeckte Mehrsitze entstehen, die ihrerseits zu einer ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen führen. Dabei tritt das Ungleichgewicht erst in der Kombination von Erst- und Zweitstimme zutage. Über die Erststimme werden in den Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlrecht 40 Direktmandate ermittelt. An ihrer Zahl ändert sich durch das Entstehen von ungedeckten Mehrsitzen nichts. Auch die Zweitstimmen erfahren - isoliert betrachtet - keine ungleiche Gewichtung. Die Ungleichheit ergibt sich erst daraus, dass für die Mehrsitzpartei - wenn Mandate ungedeckt bleiben - nicht nur die Zweitstimmen, sondern auch die erfolgreichen Erststimmen zählen (vgl. Eh- lers / Lechleitner , JZ 1997, 761 <762> m.w.N.; Wrege , Jura 1997, 113 <115>) und deren Wählerinnen und Wähler damit einen stärkeren politischen Einfluss bekommen als die der anderen Parteien.

89

Dieses Phänomen der Stimmverdoppelung ergibt sich daraus, dass der am Ende der Sitzzuteilung stehende Verhältnisausgleich unter Anrechnung der Wahlkreismandate auf die Landesliste erfolgt, § 3 Abs. 3 und 4 LWahlG. Der Verhältnisausgleich bewirkt prinzipiell, dass jede Wählerin und jeder Wähler letztlich nur mit der Zweitstimme Einfluss auf die Zusammensetzung des Landtags nimmt. Fällt die Erststimme auf eine nicht erfolgreiche Wahlkreisbewerberin oder einen nicht erfolgreichen Wahlkreisbewerber, bleibt sie schon nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl ohne Gewicht. Fällt die Erststimme auf eine erfolgreiche Wahlkreisbewerberin oder einen erfolgreichen Wahlkreisbewerber, wird sie durch die Anrechnung auf die Landesliste durch die Zweitstimme aufgezehrt. Fallen jedoch entsprechend § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG Mehrsitze an, verstärkt sich das Stimmgewicht derjenigen Wählerinnen und Wähler, die zur Entstehung der Mehrsitze beigetragen haben, dadurch, dass bei ihnen sowohl Erst- als auch Zweitstimme an der Bestimmung der Mandatszahl der Mehrsitzpartei im Landtag mitwirken. Werden die Mehrsitze schließlich nach § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG nicht vollständig ausgeglichen, verhelfen sie der Mehrsitzpartei mit ihrer Erststimme zu einem Mandat, das außerhalb des Proporzes steht.

90

b) Diese im Wahlgesetz angelegte ungleiche Gewichtung der Stimmen hat sich im Ergebnis der Landtagswahl 2009 realisiert. Sie beeinträchtigt die Erfolgswertgleichheit, da es jedenfalls nach der gebotenen ex post- Betrachtung an einem gleich großen Einfluss aller Wählerstimmen auf die Verteilung der Landtagssitze fehlt.

91

Die der CDU verbliebenen drei ungedeckten Mehrsitze lagen außerhalb des Proporzes und führten dazu, dass denjenigen Wählerinnen und Wählern von Direktkandidatinnen und Direktkandidaten der CDU ein stärkeres Stimmgewicht zukam, die mit der Summe ihrer Stimmen zu dem Überhang an Mandaten beigetragen haben. Diese nach dem endgültigen Wahlergebnis bestehende Ungleichbehandlung des Stimmgewichts der Wählerinnen und Wähler der CDU gegenüber dem der Wählerinnen und Wähler der anderen Parteien ist in der nachfolgenden Tabelle dargestellt:

92

1          

2          

3          

4          

5          

6          

7          

8          

Partei

Zweitstimmen

verhältnism. Sitzanteil

Stimmen je Mandat

Sitzanteil nach Mehrsitzausgl.

Stimmen je Mandat

mit unged. Mehrsitzen

Stimmen je Mandat

CDU

505.612

23   

21.983,13

31   

16.310,06

34   

14.870,91

SPD

407.643

19   

21.454,89 *

25   

16.305,72 *

                 

FDP

239.338

11   

21.758

14   

17.095,57

                 

GRÜNE

199.367

9       

22.151,88

12   

16.613,91

                 

SSW

69.701

3       

23.233,66

4       

17.425,25

                 

DIE LINKE

95.764

4       

23.941 *

5       

19.152,80 *

                 
93

*Differenz zwischen niedrigster und höchster Stimmenzahl (Marge) = 2.486,11 und 2.847,08 Stimmen

94

Während die Spalten 4 und 6 zeigen, wie viele Zweitstimmen jede Partei für die Zuteilung eines Sitzes innerhalb des Proporzes benötigte (bei einem verhältnismäßigen Sitzanteil gemäß § 3 Abs. 3 - Spalte 3 - und nach dem Mehrsitzausgleich gemäß Abs. 5 Satz 2 LWahlG - Spalte 5 -), zeigt Spalte 8, wie viele Zweitstimmen die CDU nur deshalb weniger brauchte, weil sie mit den ungedeckten Mehrsitzen aufgrund eines Überschusses an Wahlkreismandaten, die mit Erststimmen gewonnen wurden, zusätzliche Sitze zugeteilt erhielt. Während die mathematisch unvermeidbare Differenz zwischen der größten und der kleinsten benötigten Stimmenzahl (Marge) innerhalb des Proporzes 2.847,08 Stimmen (Spalte 6) betrug, kam es nun zu einer Marge von 4.282,79 Stimmen.

95

Diese Zahlen zeigen, dass der vorgesehene Verhältnisausgleich nicht geeignet ist, die Wählerschaft spiegelbildlich im Landtag darzustellen. Die dabei eintretende Verzerrung geht über die unausweichlichen Folgen des hier zur Anwendung kommenden Verteilungsverfahrens nach d’Hondt hinaus. Mit den nach Spalte 8 benötigten Zweitstimmen verließ die CDU den Rahmen, der sich aus einem Vergleich der niedrigsten (SPD: 16.305,72) mit der höchsten (DIE LINKE: 19.152,80) benötigten Stimmenzahl ergab.

96

c) Zwar besteht die Gefahr der Ungleichgewichtung infolge ungedeckter Mehrsitze nicht gleichermaßen für alle Wahlberechtigten und muss sich auch nicht bei jeder Wahl realisieren. Dies ist jedoch für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit nicht entscheidend (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 107 f.). Entscheidend ist, dass das Ergebnis der Landtagswahl 2009 sich nicht als vernachlässigenswerter Ausnahmefall darstellt; mit ungedeckten Mehrsitzen und einer Verzerrung der Stimmgewichtung bezogen auf den einzelnen Landtagssitz muss für die Zukunft vielmehr regelmäßig gerechnet werden. Denn abgesehen von dem unvorhersehbaren Zusammenspiel der verschiedenen Ursachen entwickelt sich die politische Wirklichkeit in eine Richtung, die das Entstehen von Mehrsitzen bei der derzeitigen Gestaltung des Wahlrechts auch künftig mehr als wahrscheinlich macht. Hierzu zählt etwa die Erweiterung des Parteienspektrums mit breiterer Streuung der Zweitstimmen (vgl. schon Ipsen , JZ 2002, 469 <472>). Diese Entwicklung hatte sich schon bei den Kommunalwahlen 2008 abgezeichnet, wo es in zahlreichen Gemeinden - auch ohne die Möglichkeit des Stimmensplittings - zu ungedeckten Mehrsitzen gekommen war (vgl. dazu: Landtags-Drucksache 16/2152 vom 2. Juli 2008; IR 16/104 vom 10. Juni 2009, S. 10 ff.; und PlPr 16/117, S. 8740). Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die zur Landtagswahl 2000 eingeführte Zweitstimme und das dadurch ermöglichte Stimmensplitting. Auch die Anzahl und die unterschiedliche Größe der Wahlkreise können zu Überhangmandaten führen (zum Ursachenzusammenhang allgemein: Wild , Die Gleichheit der Wahl, 2003, S. 246, 248; Nohlen , Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl. 2009, S. 343 ff.; Klein , in: Maunz/ Dürig , Grundgesetz - Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 177 , Ipsen, a.a.O., S. 471; speziell für Schleswig-Holstein: Stellungnahmen an den Landtag zu Landtags-Drucksache 17/10; Landtags-Drucksache 15/55; dazu noch unten 2. b) ee) (3) ).

97

2. Rechtfertigungsgründe für diese Verzerrung der Erfolgswertgleichheit liegen in Anbetracht der diese Verzerrung zugleich, und zwar gemeinsam, bewirkenden weiteren Vorschriften des Landeswahlrechts derzeit nicht vor. Verantwortlich hierfür sind neben tatsächlichen Ursachen insbesondere die Gesamtregelung des § 3 Abs. 5 LWahlG und die weiteren Vorschriften der § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 sowie § 16 LWahlG.

98

a) Innerhalb des aufgezeigten engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlrechtsgleichheit mit anderen, verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen. Ein Verstoß gegen die Wahlgleichheit liegt jedoch vor, wenn die differenzierende Regelung nicht an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 115 m.w.N.). Kommt es zu Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit, sind diese nur zulässig, wenn hierfür ein zwingender Grund vorliegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1979 - 2 BvR 193/79 u.a. - BVerfGE 51, 222 ff., Juris Rn. 53 m.w.N.; und Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98 m.w.N., stRspr.; speziell für das schleswig-holsteinische Landeswahlrecht: Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 31).

99

„Zwingend“ sind dabei nicht nur Gründe, die zu mathematisch unausweichlichen Unschärfen führen. „Zwingend“ sind auch Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt oder solche, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können (ebenso: StGH BW, Urteil vom 14. Juni 2007 - 1/06 -, DÖV 2007, 744 ff. = VBlBW 2007, 371 ff., Juris Rn. 45 m.w.N.). Dazu gehört nach der Schleswig-Holsteinischen Verfassung die vorgegebene Regelgröße des Parlaments von 69 Abgeordneten (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV). Ausreichen kann aber auch ein „zureichender“, aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebender Grund (vgl etwa: BVerfG, Urteile vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 - BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 30; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 124; und vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 44).

100

99Darüber hinaus müssen die differenzierenden Regelungen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich ferner danach, mit welcher Intensität in das Wahlrecht eingegriffen wird. Bei der Einschätzung und Bewertung differenzierender Wahlrechtsbestimmungen hat sich der Gesetzgeber an der politischen Wirklichkeit zu orientieren (vgl. BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - a.a.O., Juris Rn. 45; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98 f. m.w.N., stRspr.). Deshalb lässt sich die verfassungsmäßige Rechtfertigung einer Wahlrechtsnorm auch nicht ein für alle mal abstrakt beurteilen, sondern kann durch neuere Entwicklungen tatsächlicher oder rechtlicher Art in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 112; Klein, in: Maunz/ Dürig , Grundgesetz - Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 123 ).

101

b) Weder beruht die dargestellte Verzerrung Erfolgswertgleichheit auf Notwendigkeiten im Umrechnungsverfahren, noch dient sie der Prämierung und Stärkung der Personenwahl oder der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Landtages. Einen weiteren zwingenden Grund stellt die Zielvorgabe der Verfassung dar (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV), dass der Landtag mit möglichst nicht mehr als 69 Landtagsabgeordneten zu besetzen ist. Die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs nach § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG ist jedoch unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen nicht in der Lage, diese Zielvorgabe mit der Wahlgleichheit in einen schonenden Ausgleich zu bringen. Sie ignoriert auch, dass vorrangig Überhangmandate zu vermeiden sind, die unter den derzeitigen politischen Verhältnissen aufgrund der Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG regelhaft entstehen.

102

aa) Als „zwingender Grund“ anerkannt ist zwar jede Differenzierung, die sich bei der Umrechnung von Zweitstimmen in Sitze und den dabei anfallenden Reststimmen und Bruchteilen in Anwendung des jeweiligen Verteilungsverfahrens schon aus mathematischen Gründen unausweichlich ergibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. November 1988 - 2 BvC 4/88 - BVerfGE 79, 169 ff., Juris Rn. 5; und Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 104). Maßgeblich ist, ob die mit den ungedeckten Mehrsitzen benötigte durchschnittliche Stimmenzahl noch im Rahmen des höchsten und niedrigsten Durchschnittswerts aller Parteien liegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. November 1988 a.a.O., Juris Rn. 10 bis 12). Hierum geht es indes unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen bei der begrenzenden Regelung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG nicht. Wie zudem oben in der Tabelle (Rn. 92) beispielhaft dargestellt, verließ die CDU nach Zuteilung dreier ungedeckter Mehrsitze mit den dann noch benötigten Zweitstimmen (14.870,91) deutlich den Rahmen, der vom Durchschnittswert der SPD (16.305,72) und der Partei DIE LINKE (19.152,80) gebildet wurde. Als augenfällig problematisch unter dem Gesichtspunkt der Erfolgswertgleichheit erweist sich hierbei bereits das angewandte Höchstzahlverfahren nach d’Hondt, das bei der letzten Wahl im reinen Verhältnisausgleich zu einem Stimmenunterschied von bis zu 2.847,08 Zweitstimmen führte, den die einzelnen Parteien für einen weiteren Landtagssitz erringen mussten.

103

bb) Die durch die ungedeckten Mehrsitze eintretende Differenzierung im Stimmgewicht ist auch nicht mit dem Gedanken einer „Prämie“ aus der Mehrheitswahl zu rechtfertigen. Selbst wenn mit der „Prämie“ ein Anreiz für die Parteien geschaffen werden sollte, attraktive und überzeugungskräftige Wahlkreiskandidatinnen und Wahlkreiskandidaten aufzustellen und mit diesen orts- und bürgernahe Wahlkreisarbeit zu leisten (so Papier , JZ 1996, 265 <270>; ihm folgend Ehlers/ Lechleitner , JZ 1997, 761 <762>), wäre die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs schon kein geeignetes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, da der Eintritt dieses Anreizes generell nicht vorhersehbar ist und sich bis zur Landtagswahl 2009 tatsächlich auch noch nie realisiert hatte. Diese Prämie für erfolgreiche Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber wäre zudem daran gekoppelt, dass sich deren Erfolg nicht in vollem Umfang im Zweitstimmenanteil ihrer Partei umgesetzt hat. Insofern ist die systemkonforme „Prämie“ im Zweistimmenwahlsystem nicht das Überhangmandat, sondern das durch Wahlkreisbewerberinnen und Wahlkreisbewerber gewonnene Vertrauen für die Liste ihrer Partei.

104

cc) Zu den mit einer Parlamentswahl verfolgten Zielen zählt auch die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung (vgl. BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - a.a.O., Juris Rn. 44; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98). Mit der Personenwahl im vorgeschalteten Mehrheitswahlsystem erhält jede Wählerin und jeder Wähler die Möglichkeit, einer oder einem der im eigenen Wahlkreis kandidierenden Bewerberinnen oder Bewerber ein Landtagsmandat zu verschaffen. Dadurch wird die Verbindung zwischen den Wählerinnen und Wählern und ihren Abgeordneten, die das Volk repräsentieren, gestärkt.

105

Auch wenn man die Verbindung zu den direkt gewählten Bewerberinnen und Bewerbern für auf diese Weise stärkungsbedürftig halten wollte (kritisch etwa Mahrenholz , in: Festgabe für Karin für Graßhof, 1998, S. 69 <78>), stellt dies ebenfalls keinen zwingenden Grund dar. Die Stärkung dieser Verbindung wird bereits durch § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG bewirkt, sobald die erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber auch dann einen (Mehr-) Sitz im Landtag erhalten, wenn die Zahl der Direktmandate ihrer Partei deren verhältnismäßigen Sitzanteil übersteigt (vgl. Papier , JZ 1996, 265 <269 f.>; Backhaus , DVBl. 1997, 737 <742>; und im Ergebnis ähnlich Mahrenholz , a.a.O., S. 77 f.).

106

dd) Die Verzerrung der Erfolgswertgleichheit durch Begrenzung des Sitzausgleichs ist auch nicht durch das Ziel der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Landtags zu rechtfertigen, obwohl dieses ein „verfassungsrechtlicher Belang von höchstem Rang“ ist (vgl. Becker/ Heinz , NordÖR 2010, 131 <132>).

107

Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments ist vor allem im Zusammenhang mit der 5 % - Sperrklausel als Differenzierungsgrund anerkannt. Im Fokus steht dabei die Sorge, dass das Parlament aufgrund einer Zersplitterung der vertretenen Kräfte funktionsunfähig wird, insbesondere nicht mehr in der Lage ist, aus sich heraus stabile Mehrheiten zu bilden und eine aktionsfähige Regierung zu schaffen (vgl. nur BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 127 f.; vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. - BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 45; und vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 121 m.w.N., stRspr.; Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 41). Auch hierum geht es bei § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG nicht.

108

Die zur Rechtfertigung der Sperrklausel anerkannten Argumente sind auf eine Verzerrung der Wahlgleichheit durch die zahlenmäßige Begrenzung der Gesamtsitzzahl nicht übertragbar. Anders als im Falle der fehlenden Sperrklausel kommt es ohne die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs noch nicht zu einer Erschwerung der Meinungsfindung und Mehrheitsbildung. Während die Sperrklausel den Einzug einer Vielzahl kleiner Parteien in das Parlament verhindern soll, verhindert die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs zunächst einmal nur eine Zuweisung weiterer Sitze an die im Landtag ohnehin vertretenen Parteien. Denn beim Mehrsitzausgleich erhöht sich nicht die Zahl der Fraktionen, sondern nur die Zahl der Angehörigen der dem Landtag ohnehin angehörenden Fraktionen.

109

Generell hängt die Arbeits- und Funktionsfähigkeit eines Parlaments eher vom Vorhandensein großer, durch gemeinsame politische Zielsetzungen verbundener Gruppen von Abgeordneten ab (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1979 - 2 BvR 193/79 u.a. - BVerfGE 51, 222 ff., Juris Rn. 76, 78) als von einer bestimmten Abgeordnetenzahl. Dies belegt schon der Umstand, dass größere Landesparlamente ebenso wie der Bundestag regulär aus deutlich mehr als 100 Abgeordneten bestehen, ohne dass ihre Arbeits- und Funktionsfähigkeit in Frage gestellt würde (vgl. Morlok , Stellungnahme zu Landtags-Drucksache 17/10, LandtagsUmdruck 17/752, S. 4). Entsprechend ist auch vorliegend weder ersichtlich noch geltend gemacht, dass der gegenwärtige Landtag mit 95 oder auch - nach vollem Ausgleich - mit 101 Abgeordneten nicht arbeitsfähig sein sollte.

110

ee) Dessen ungeachtet hat sich der Verfassungsgeber entschieden, selbst die Abgeordnetenzahl im Landtag festzulegen und damit eine größenmäßige Zielvorgabe zu schaffen (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV). Trotz der zugleich vorgesehenen Möglichkeit der Erhöhung durch Überhang- und Ausgleichsmandate (Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV) ist damit in der Verfassung ein Ziel formuliert, an dem sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zu orientieren hat. Auch wenn die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs dieser Zielvorgabe zuträglich ist, stellt sie sich unter den bestehenden wahlgesetzlichen Bedingungen derzeit doch als unverhältnismäßig dar.

111

(1) Das durch die Verfassung vorgegebene Ziel, im Ergebnis nur geringfügige Überschreitungen der Regelgröße von 69 Abgeordneten im Landtag zuzulassen , ist ein zumindest „zureichender“ Grund, um einen Eingriff in die Wahlgleichheit durch Begrenzung des Ausgleichs von Überhangmandaten zu rechtfertigen. Die beiden widerstreitenden Verfassungsvorgaben in Art. 10 Abs. 2 LV sind vom Gesetzgeber zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Der ihm dabei zur Verfügung stehende verfassungsrechtliche Gestaltungsrahmen ist vom Gericht zu achten, solange dessen Grenzen eingehalten sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 115 m.w.N.).

112

(2) Unter den derzeitigen politischen Gegebenheiten eines erweiterten Parteienspektrums und der derzeitigen gesetzlichen Ausgestaltung des übrigen Wahlgesetzes ist die Regelung aber schon nicht geeignet, im Sinne der verfassungsmäßigen Zielvorgabe von 69 Abgeordneten zu wirken. Ein Wahlergebnis wie das zum 17. Landtag im Jahr 2009 zeigt, dass die zahlenmäßige Begrenzung der weiteren Sitze zulasten der Ausgleichsmandate nicht im Sinne der verfassungsmäßigen Zielvorgabe in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV zu wirken vermag. Diese Zielvorgabe wird selbst mit der Begrenzung durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG deutlich verfehlt, wenn statt der regelhaft vorgesehenen 69 tatsächlich 95 Abgeordnetensitze vergeben werden.

113

Zudem erfolgt diese Begrenzung einseitig zulasten der Ausgleichsmandate und ignoriert damit, dass unter der verfassungsrechtlich zugleich gegebenen Vorgabe der Erfolgswertgleichheit unter den Bedingungen einer personalisierten Verhältniswahl nach Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV vorrangig Überhangmandate zu vermeiden sind. Die damit verbundene Beeinträchtigung der Wahlgleichheit ist unter den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten jedenfalls nicht erforderlich, da der Gesetzgeber die Möglichkeit hat, durch das Zusammenspiel anderer geeigneter Maßnahmen zu einer Reduzierung der Abgeordnetenzahl zu kommen, die weder die Wahlgleichheit noch andere von der Verfassung geschützten Belange beeinträchtigen. Diese Möglichkeit setzt bei der derzeitigen Ausgestaltung des Wahlrechts insbesondere in den § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 sowie § 16 LWahlG an (Zweistimmenwahlrecht, Anzahl der Wahlkreise und direkt gewählter Abgeordneter, Abweichung der Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von bis zu 25 v.H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise). Denn das Zusammenwirken dieser Regelungen führt gegenwärtig in der politischen Realität eines Fünfparteiensystems - zuzüglich einer verfassungsfesten Sonderrolle des SSW - systemisch dazu, dass Überhang-(und Ausgleichs-) mandate in einer Größenordnung entstehen können und so die Gesamtzahl von Abgeordneten im Landtag derart ansteigen kann, dass die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV zum Ausdruck gebrachte Zielgröße von 69 Abgeordneten regelmäßig überschritten wird.

114

(3) Zu den Ursachen des Entstehens von Überhangmandaten und den gesetzgeberischen Möglichkeiten, diese zu verhindern, ist die Landeswahlleiterin als sachkundige Dritte in der mündlichen Verhandlung gehört worden. Ihre Bekundungen stimmen im Wesentlichen überein mit den jüngst vom Landtag eingeholten Stellungnahmen und Gutachten bei der Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (LandtagsDrucksache 17/10), die auch auf Erfahrungen bei den Wahlen in den anderen Ländern und im Bund eingehen. Nach dem gegenwärtigen Landeswahlrecht entstehen Überhangmandate bei Abweichung des prozentualen Erststimmenergeb-nisses vom Zweitstimmenergebnis, wenn eine Partei viele Wahlkreise direkt gewinnt, die für ihre Landesliste abgegebenen Zweitstimmen aber nicht ausreichen, um im Rahmen des Verhältnisausgleichs einen mindestens gleich großen Anteil an der Gesamtzahl der regulär zu vergebenden Mandate zu erlangen (Stellungnahme der Landeswahlleiterin vom 22. April 2010, Landtags-Umdruck 17/738, S. 2). Ursächlich hierfür sind verschiedene tatsächliche und rechtliche Vorbedingungen, die im Falle ihres Zusammentreffens kumulativ wirken und die Gesamtzahl der Landtagsabgeordneten weit über die Zielvorgabe anwachsen lassen.

115

(a) Im Tatsächlichen sind etwa die Anzahl der Parteien mit Wahlkreisbewerberinnen und -bewerbern, die später am Verhältnisausgleich teilnehmen, die Wahlbeteiligung und die Anzahl ungültiger Zweitstimmen ursächlich (vgl. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes vom 26. April 2010, Landtags-Umdruck 17/761, S. 20 f.). Dabei werden die Wahlkreise nach wie vor nur von den großen Parteien (CDU und SPD) gewonnen. Ihre Zweitstimmenanteile sind demgegenüber rückläufig (vgl. Meyer , Stellungnahme vom 7. Juni 2010, Landtags-Umdruck 17/938, S. 2).

116

(b) Einen besonders großen Einfluss auf das Entstehen von Überhangmandaten hat die Zahl der Wahlkreise. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG und § 16 Abs. 1 LWahlG gibt es derzeit 40 Wahlkreise. Den Wahlkreisabgeordneten stehen bei einer Größe des Landtages von 69 Abgeordneten (vgl. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV, § 1 Abs. 1 Satz 1 LWahlG) nur 29 Abgeordnete aus den Landeslisten gegenüber. Je mehr die Zahl der durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen zu wählenden Abgeordneten die Zahl der durch Verhältniswahl aus den Landeslisten zu wählenden Abgeordneten übersteigt, desto größer ist die Gefahr, dass die vorgesehene Regelgröße des Landtages überschritten wird (Stellungnahme der Landeswahlleite-rin, a.a.O., S. 2 f.). Würde man die Zahl der in den Wahlkreisen zu wählenden Abgeordneten gegenüber den aus den Landeslisten zu wählenden Abgeordneten wenigstens auf ein ausgeglichenes Verhältnis reduzieren, ließe sich die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von Überhangmandaten senken (Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 24; vgl. auch Meyer, a.a.O., S. 1; sowie die Rechenbeispiele in der Stellungnahme der Landeswahlleiterin Mecklenburg-Vorpommerns vom 22. April 2010, Landtags-Umdruck 17/739, Beispielsrechnung 1 und 1a, S. 2 f.).

117

(c) Eine weitere rechtlich zu beeinflussende Ursache ist der Zuschnitt der Wahlkreise. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei mit vergleichsweise wenigen Erststimmen einen Wahlkreis gewinnt, hängt nicht zuletzt von der Größe dieses Wahlkreises im Vergleich zu den anderen Wahlkreisen ab (Stellungnahme der Landeswahlleiterin, a.a.O., S. 3). Gegenwärtig werden die Wahlkreise nach § 16 Abs. 2 und 3 LWahlG auf der Grundlage der Bevölkerungszahl eingeteilt, wobei eine Abweichung von bis zu 25 v.H. von der durchschnittlichen Zahl der Bevölkerung in den Wahlkreisen zugelassen ist. Stattdessen wäre eine maximale Abweichung vom größten Wahlkreis von lediglich 15 v.H. zu den anderen Wahlkreisen anzustreben. Betrachtet man die Landtagswahl 2009, so betrug unter Zugrundelegung der Zahl der Wahlberechtigten die Durchschnittsgröße eines Wahlkreises 55.603. Im kleinsten Wahlkreis Husum-Land lebten 42.037 und im größten Wahlkreis Segeberg-Ost 69.408 Wahlberechtigte; dies entspricht Abweichungen von 24,4 % bzw. 24,8 % von der durchschnittlichen Zahl der Wahlberechtigten, absolut aber einer Abweichung von 39,4 % des kleinsten vom größten Wahlkreis.

118

Die für das Bundestagswahlrecht als verfassungskonform anerkannte Maximalabweichung von bis zu 25 v.H. (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWahlG) beruht auf Erwägungen, die auf die Verhältnisse in einem einzelnen Land nicht übertragbar sind. So ist für den Bundesgesetzgeber die gleiche Größe der Wahlkreise sowohl für den einzelnen Wahlkreis als auch berechnet auf die Bevölkerungsdichte jedes Landes eine aus der Wahlgleichheit folgende Bedingung (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 2001 - 2 BvR 1252/99 u.a. -, NVwZ 2002, 71 f., Juris Rn. 22; weitere Nachweise in der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 14). Hiervon ausgehend hat der Bundesgesetzgeber dafür Sorge zu tragen, dass die Wahlkreise im Verhältnis der Bevölkerungsanteile auf die einzelnen Länder verteilt werden (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 BWahlG; BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 97). Demgegenüber findet der Landesgesetzgeber ein einheitliches Wahlgebiet vor, weshalb er insoweit nicht eines vergleichbar großen Spielraums bedarf.

119

Hinzu kommt, dass die derzeit gewählte Bemessungsgrundlage beim Zuschnitt der Wahlkreise (durchschnittliche Bevölkerungszahl gemäß § 16 Abs. 2 und 3 LWahlG) keine Unterscheidung zwischen wahlberechtigten und nicht wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern vornimmt. Ist der Anteil des nicht wahlberechtigten Bevölkerungsanteils eines Wahlkreises größer als im Durchschnitt, erleichtert dies das Erreichen der relativen Mehrheit und es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber erfolgreich sind, als es prozentual dem Zweitstimmenanteil der jeweiligen Partei entspricht. Die Gefahr von Überhangmandaten ließe sich hier reduzieren, wenn nur auf die Wahlberechtigten abgestellt wird (vgl. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 20 f. m.w.N.; Ipsen, JZ 2002, 469 <471>).

120

(d) Schließlich ist es möglich, § 1 Abs. 2 LWahlG zu ändern, um das Zweistimmenwahlrecht und mit ihm das Überhangmandate fördernde Stimmensplitting abzuschaffen und das Einstimmenwahlrecht wieder einzuführen (vgl. Stellungnahme der Landeswahlleiterin, a.a.O., S. 2; Wissenschaftlicher Dienst, a.a.O., S. 21; Meyer , a.a.O., S. 2).

121

(e) Alternativ wäre zu erwägen, das Wahlsystem grundlegender neu zu gestalten. Es könnte etwa derart umgestellt werden, dass die Zahl der Wahlkreise erheblich gesenkt und zugleich in den Wahlkreisen die Zahl der zu wählenden Bewerberinnen und Bewerber erhöht wird.

122

(4) Solange diese Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden, erweist sich die Regelung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG als ungeeignet und nicht erforderlich, das von der Verfassung vorgegebene Ziel eines Landtages mit allenfalls wenig mehr als 69 Abgeordneten zu erreichen. Ein Wahlsystem, das durch die Regelungen in § 3 Abs. 5, § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG mit derzeit 95 Abgeordneten den von der Verfassung in Art. 10 Abs. 2 LV verbindlich vorgegebenen Auftrag, einen deutlich kleineren Landtag mit möglichst wenig Überhang- (und Ausgleichs-)mandaten zu erreichen, so grundlegend verfehlt, stellt sich insgesamt als verfassungswidrig dar.

IV.

123

Eine verfassungskonforme Auslegung der § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG ist nicht möglich.

124

Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzes in Widerspruch tritt. Im Wege der verfassungskonformen Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden (Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 - NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 104 m.w.N.). Sie ist aber auch dann nicht möglich, wenn in einer Norm zwei widerstreitende Verfassungsvorgaben zum Ausgleich gebracht werden müssten.

125

1. Der eindeutige Wortlaut der § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 und des § 16 LWahlG steht bereits einer verfassungskonformen Auslegung dieser Vorschriften entgegen. § 1 Abs. 2 LWahlG bestimmt, dass jede Wählerin und jeder Wähler zwei Stimmen hat; eine Erststimme für die Wahl einer Bewerberin oder eines Bewerbers im Wahlkreis, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste. Diese Vorschrift bietet keinen Ansatz, sie dahingehend auszulegen, dass ein Einstimmenwahlrecht möglich sein könnte. Die Zahl der Wahlkreise legen § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG und § 16 Abs. 1 LWahlG mit 40 fest. Auch sie bieten keinen Ansatz für eine Auslegung, die eine geringere Zahl der Wahlkreise zuließe. Die weiteren Vorschriften des § 16 LWahlG bestimmen für den Zuschnitt der Wahlkreise als Ausgangspunkt der Berechnung die Bevölkerungszahl und nicht die Wahlberechtigten eines Wahlkreises. Auch die mögliche Größe der Abweichung und ihr Bezugspunkt sind mit 25 v. H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise (§ 16 Abs. 3 Satz 1 LWahlG) eindeutig festgelegt und einer Auslegung nicht zugänglich.

126

2. Einer verfassungskonformen Auslegung des § 3 Abs. 5 LWahlG, etwa im Sinne eines „großen Ausgleichs“, stünde bereits die weitere Vorgabe der Verfassung entgegen, den Landtag möglichst nicht über 69 Abgeordnete anwachsen zu lassen. Im Übrigen kommt eine solche Auslegung in Anbetracht der eindeutigen Entstehungsgeschichte, der klaren Gesetzessystematik und des darin zum Ausdruck kommenden Willens des Gesetzgebers auch nicht in Betracht.

127

Während der Wortlaut des § 3 Abs. 5 LWahlG noch offen scheint, führen seine Entstehungsgeschichte und seine systematische Auslegung auch im normativen Zusammenhang zu einer detaillierten, in sich geschlossenen Regelung, die eine andere Deutung nicht zulässt. Der Gedanke des „großen Ausgleichs“ argumentiert vom Ergebnis her und vermengt Ursache und Wirkung. Die innerhalb des Wahlverfahrens für das Entstehen von Mehrsitzen ursächlichen Faktoren unterstreichen zwar den Bedarf nach einem Ausgleich, rechtfertigen aber nicht die Annahme, dass das Gesetz von seiner Systematik her auf einen vollen Ausgleich angelegt wäre (vgl. ausführlich: Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 - ).

V.

128

Die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift führt im Regelfall zu deren Nichtigkeit ex tunc (§ 42 Satz 1, vgl. auch § 46 Satz 2 und § 48 LVerfGG). Ausnahmsweise kann die Vorschrift aber auch für unvereinbar mit der Landesverfassung erklärt werden. Dies dient dem Schutz der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit und ist geboten, wenn der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten hat, einen verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen (Urteil vom 26. Februar 2010 a.a.O., Juris Rn. 106 ff. m.w.N.).

129

Unter den gegebenen tatsächlichen Bedingungen kumulieren die in § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 sowie § 16 Abs. LWahlG normativ verankerten Ursachen die Gefahr von Überhangmandaten mit einer zu erwartenden Regelmäßigkeit und in einer Größenordnung, dass der damit verbundene Eingriff in die vorgegebene Regelgröße von 69 Abgeordneten nicht mehr als vernachlässigenswerte Erscheinung zu rechtfertigen ist, zumal die entstandenen Überhangmandate (Mehrsitze) von Verfassungs wegen noch entsprechend viele Ausgleichsmandate nach sich ziehen müssen. Um diese Regelgröße möglichst genau zu erreichen, hat der Gesetzgeber daher das Entstehen von Überhangmandaten so weit wie möglich einzuschränken und darf nicht vorrangig die Ausgleichsmandate begrenzen. Dem Gesetzgeber stehen verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl, um die wahlrechtlichen Verhältnisse so zu ändern, dass einerseits die Entstehung ungedeckter Überhangmandate (Mehrsitze) für die Zukunft ausgeschlossen werden kann und andererseits ein unzuträgliches Anwachsen des Landtags vermieden wird. Im Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden verfassungsrechtlichen Gestaltungsrahmens bleibt es ihm überlassen, in welcher Weise er von den oben aufgezeigten Möglichkeiten Gebrauch macht (vgl. Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 -NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 147-152 m.w.N.).

130

Möchte der Gesetzgeber an dem bestehenden Wahlsystem im Rahmen des Art. 10 Abs. 2 LV festhalten und auch an der Begrenzung des Mehrsitzausgleichs, sollte er jedenfalls die mit § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 sowie § 16 LWahlG benannten Handlungsmöglichkeiten, die zur Vermeidung von Überhangmandaten beitragen, soweit wie möglich und gleichzeitig ausschöpfen. Sollte der Gesetzgeber § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zum Schutze der Erfolgswertgleichheit streichen, bliebe zu bedenken, dass ein im Übrigen unverändertes Wahlrecht zu Ergebnissen führen kann, die sich von der Zielvorgabe des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV noch weiter entfernen. Auch dann müssten die weiteren Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden.

131

Anders als bei der Nichtigkeitsfeststellung wird die verfassungswidrige Norm durch die Feststellung ihrer Unvereinbarkeit nicht aus der Rechtsordnung ausgeschieden, sondern besteht formell fort (vgl. Heußner , NJW 1982, 257 f.). Allerdings tritt auch hier vom Zeitpunkt der Entscheidung an bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber eine Anwendungssperre ein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. November 1998 - 2 BvL 10/95 - BVerfGE 99, 280 ff., Juris Rn. 76 m.w.N.; Heußner, a.a.O., 258; Bethge , Jura 2009, 18 <21>). Diese Anwendungssperre umfasst grundsätzlich alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen, die auf der für verfassungswidrig erklärten Regelung beruhen (§ 43 Abs. 2 Satz 1 LVerfGG; Urteil vom 26. Februar 2010 a.a.O., Juris Rn. 108 m.w.N., ebenso für die wortgleiche Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG: BVerfG, Beschluss vom 11. November 1998 a.a.O., Juris Orientierungssatz 4.a und Rn. 76, stRspr.; vgl. auch Bethge , a.a.O.). Die Gültigkeit der Landtagswahl vom 27. September 2009 bleibt jedoch aus den oben genannten Gründen von der Entscheidung im Normenkontrollver-fahren unberührt (siehe B ).

132

Durch die Unvereinbarkeitsfeststellung ist sichergestellt, dass § 3 Abs. 5 LWahlG und § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 sowie § 16 LWahlG im bestehenden Gefüge des Landeswahlrechts für den Fall einer Neuwahl auch während der Übergangszeit nicht mehr zur Anwendung kommen. Dennoch belässt sie dem Gesetzgeber die Möglichkeit, das bestehende Landeswahlrecht derart umzugestalten, dass auch eine Beibehaltung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG oder einer oder mehrerer der Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG denkbar erscheint. Zum Schutz der verfassungsmäßigen Zielvorgaben des Art. 10 Abs. 2 LV und in Anbetracht der parallel getroffenen Entscheidung im Wahlprüfungsverfahren (LVerfG 1/10) sieht sich das Gericht aber zugleich veranlasst, an den Gesetzgeber zu appellieren, die zu treffende Neuregelung unverzüglich und unter Berücksichtigung der im Urteil aufgezeigten Handlungsmöglichkeiten und -gebote zu veranlassen (zur sog. Appellentscheidung: Bethge , a.a.O., S. 23 f. m.w.N.). Nur so kann sichergestellt werden, dass das bestehende Landeswahlrecht nicht im Übrigen unverändert nochmals zur Anwendung kommt. Denn dies brächte die Gefahr eines wiederum verfassungswidrigen Wahlergebnisses mit sich, weil die Zielvorgabe von 69 Abgeordneten nochmals deutlich verfehlt werden könnte.

VI.

133

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Eine Kostenerstattung findet nicht statt (§ 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

VII.

134

Das Urteil ist einstimmig ergangen.