Sozialgericht München Urteil, 30. Nov. 2016 - S 11 BL 1/13

bei uns veröffentlicht am30.11.2016

Gericht

Sozialgericht München

Tenor

I.

Die Klage gegen den Bescheid vom 19.06.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2012 wird abgewiesen.

II.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Blindengeld ab 01.10.2011 streitig.

Der am ... 1940 geborene und am ... 2016 verstorbene Kläger Dr. C. (im Folgenden „ursprünglicher Kläger“) hatte am 03.10.2010 eine Hirnblutung erlitten. Die gesetzlichen Betreuer stellten für ihn am 16.10.2011 einen Antrag auf Gewährung von Blindengeld. Der Beklagte holte einen vorläufigen Arztbrief des Krankenhauses B. vom 21.02.2011 ein sowie einen Befundbericht des Allgemeinarztes Dr. D., der am 30.10.2011 mitteilte, Blindheit könne nicht bestätigt aber auch nicht ausgeschlossen werden. Es läge ein apallisches Syndrom vor, der Patient reagiere auf Lärm. Des Weiteren zog der Beklagte ein Pflegegutachten bei und lehnte nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme mit Bescheid vom 19.06.2012 den Antrag auf Gewährung von Blindengeld ab. Er führte darin aus, um Leistungen nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) erbringen zu können, sei der Nachweis einer entsprechend schweren Schädigung speziell der Sehstrukturen in Abgrenzung von einer generellen cerebralen Funktionsstörung erforderlich. Beim ursprünglichen Kläger bestünde ein apallisches Syndrom. Die visuelle Wahrnehmung sei nicht deutlich stärker betroffen als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Eine spezifische Störung des Sehvermögens lasse sich im Vergleich zu den eingeschränkten Gehirnfunktionen nicht feststellen. Im hiergegen eingelegten Widerspruch wurde ausgeführt, das Erkennen-Können sei nicht mehr möglich. Dem ursprünglichen Kläger sei es nur möglich, seinen Tastsinn in Maßen einzusetzen. Nach einer versorgungsärztlichen Stellungnahme wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2012 zurück und führte aus, es läge eine schwere Schädigung der zentralen Sehstruktur auf der linken Seite des Gehirns vor, die Sehstruktur auf der rechten Seite des Gehirns würde keine hochgradige Schädigung aufweisen, so dass auch durch die Bildgebung nicht der Nachweis einer cerebralen Blindheit erbracht werden könne.

Hiergegen wurde am 02.01.2013 Klage zum Sozialgericht München erhoben und ausgeführt, durch die Blutung sei auch der Sehnerv selbst betroffen. Augenärztliche Untersuchungen seien nicht geeignet, die Schädigung des Sehapparates auszuschließen. Das Gericht hat von Amts wegen einen Befundbericht des Allgemeinarztes Dr. D. eingeholt, der mitteilt, es bestünde keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem Patienten. Des Weiteren wurden Befundberichte des Augenarztes Dr. F. sowie des Neurologen Dr. E. eingeholt. Dr. E. berichtet von einer inkompletten Tetraplegie, einer Dysphagie sowie einer Aphasie, die bei einer Untersuchung am 03.11.2011 festgestellt worden sei. Das Gericht hat den ursprünglichen Kläger anschließend am 28.11.2013 und 06.02.2014 durch den Neurologen Dr. H. untersuchen lassen. Der Sachverständige stellt zusammenfassend fest, dass aufgrund der homonymen Hemianopsie eine Störung des „Erkennen-Könnens“ vorliege, keine Störung des „Benennen-Könnens“. Der Patient befände sich nicht in einem apallischen Syndrom sondern in einem minimalen Bewusstseinszustand (MCS). Von Seiten des Gehirns sei er prinzipiell in der Lage, auf einem niedrigen Niveau bewusst zu sehen. Aufgrund der Kombination einer Hemianopsie und zusätzlicher beidseitiger Linsentrübung sei er in einem so hohen Grade beeinträchtigt, dass die Beeinträchtigung einer Sehstörung von kleiner 1/50 und damit einer Blindheit gleichzusetzen sei. In seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme zum Gutachten führt der Beklagte aus, nach Auskunft des behandelnden Arztes Dr. F. vom 25.04.2013 habe die zuletzt erhobene Sehschärfe am besseren rechten Auge 0,7 betragen. Um bei einer Sehschärfe von 0,7 Blindheit bejahen zu können, müsste gleichzeitig eine Einengung des Gesichtsfeldes auf mindestens 5° Abstand vom Zentrum vorhanden sein. Dies sei jedoch nicht nachgewiesen. Bezüglich der faktischen Blindheit im Sinne des BSG-Urteils vom 20.07.2005 sei festzustellen, dass die visuelle und die akustische Wahrnehmungsfähigkeit sich auf etwa gleich niedrigem Niveau befänden. Ein besseres Wahrnehmungsvermögen im Bereich des Hörens sei auszuschließen, so dass auch faktische Blindheit weder nachgewiesen noch wahrscheinlich sei. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom Mai 2014 führt der Sachverständige Dr. H. aus, es könne nicht festgestellt werden, dass das Sehen im Vergleich zu den anderen Sinnen besonders stark betroffen sei. Er empfehle eine ergänzende ophthalmologische Untersuchung. Sollten sich hier keine neuen Aspekte ergeben, schließe er sich der Beurteilung des Beklagten an, dass aufgrund der ausgeführten auf ophthalmologischen Gebiet vorliegenden Befunde alleine Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht anzuerkennen sei.

Das Gericht hat den ursprünglichen Kläger anschließend durch den Dr. I. am 26.02.2015 untersuchen lassen. Der Sachverständige führt zusammenfassend aus, dass keine beweisbaren Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorlägen, welche einer beeinträchtigenden Sehschärfe auf dem besagten Auge von nicht mehr als 1/50 gleichzusetzen seien. Der optokinetische Nystagmus sei über beide Augen besser nach links als nach rechts horizontal auslösbar, nicht aber vertikal. Im Kotowski-Test könnten Muster mit einem Gittersehschärfeäquivalent von 0, 3 am rechten Auge trotz spontaner Unruhe reproduzierbare reizsynchrone Augenfolgebewegungen auslösen. Weder im Bereich der Augen, noch der Sehnerven, noch im Bereich der aufsteigenden Sehbahn bis hin zur Sehrinde sei eine ausreichende Veränderung erkennbar, die Blindheit im Sinne einer primären Störung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit nachweislich begründen könne. Die Ergebnisse der Begutachtung würden eindeutig nahelegen, dass die visuellen Verhaltensweisen sogar noch besser und zielgerichteter ausgebildet seien als z. B. die akustischen Reaktionen. Damit liege auch faktische Blindheit im Sinne der Rechtsprechung nicht nachweisbar vor. Die Klägerseite führt dazu aus, nach dem Urteil des BSG vom 11.08.2015 sei festzustellen, dass Patienten mit schwersten cerebralen Schäden bereits ohne weitere Nachweise besonderer Betroffenheit des Sehorgans blind seien. Der Beklagte erläutert, dass cerebrale Schäden grundsätzlich der Annahme von Blindheit nicht mehr entgegenstehen. Jedoch müssten die Voraussetzungen für Blindheit vorliegen, d. h. es müsse Blindheit nachgewiesen werden. Der Nachweis im Sinne eines Vollbeweises sei hier nicht geführt.

Der ursprüngliche Kläger verstarb am 31.01.2016. In der Folge führt A. (im Folgenden „Klägerin“) als Sonderrechtsnachfolgerin des ursprünglichen Klägers die Klage fort. Sie führt zur Frage der Sonderrechtsnachfolge nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB I aus, ihr verstorbener Ehemann sei im Pflegeheim gewesen, dies habe jedoch den bestehenden gemeinsamen Haushalt nicht entfallen lassen.

Die Sach- und Rechtlage wurde mit den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 30.11.2016 ausführlich erörtert.

Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19.06.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2012 zu verurteilen, für den Zeitraum 01.10.2011 bis 31.01.2016 Blindengeld zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Beigezogen waren die Verwaltungsakte des Beklagten.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Akte sowie die Klageakte Bezug genommen.

Gründe

Das Sozialgericht München ist sachlich und örtlich zuständig, insbesondere liegt auch Prozessführungsbefugnis auf Seitens der Klägerin vor.

Die Klage ist jedoch sachlich nicht begründet. Der Beklagte hat zu Recht den Antrag auf Gewährung von Blindengeld abgelehnt.

Unstreitig ist, dass die Klägerin Sonderrechtsnachfolgerin nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I ist, da unmittelbar vor dem schädigenden Ereignis, aufgrund dessen der ursprüngliche Kläger ins Wachkoma fiel, die Klägerin und der ursprüngliche Kläger in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben. Der gemeinsame Haushalt wurde auch nicht durch den Aufenthalt des ursprünglichen Klägers im Pflegeheim aufgehoben.

Gemäß Art.1 BayBlindG erhalten blinde und taubblinde Menschen auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen ein monatliches Blindengeld.

Gemäß Art.1 Abs. 2 BayBlindG ist blind, wem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind gelten auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind. Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.

Es ist unstreitig, dass eine Sehschärfe auf dem besseren Auge von nicht mehr als 1/50 nicht nachgewiesen ist und damit kein Anspruch aus Artikel 1 Abs. 2 Nr. 1 BayBlindG besteht.

Nach Auffassung des Gerichts sind auch die gemäß Artikel 1 Abs. 2 Nr. 2 BayBlindG genannten Voraussetzungen nicht erfüllt.

Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 (1/50) oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) folgend bei folgenden Fallgruppen vor (siehe Teil A Nr. 6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze VG, Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung):

aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

dd) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,

ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,

gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.

Nach Auffassung des Gerichts lag beim ursprünglichen Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Einschränkung aller Sinnesfunktionen aufgrund der am 03.10.2010 erlittenen Subarachnoidalblutung (SAB) vor. Dadurch kam es zu einer Tetraparese und globaler Aphasie. Der Sachverständige Dr. H. beschreibt in seinem neurologischen Gutachten vom 14.02.2014, das auf Untersuchungen des ursprünglichen Klägers vom 28.11.2013 und 06.02.2014 beruht, dass sich der ursprüngliche Kläger zum Zeitpunkt der Untersuchung in einem MCS befand. Bei der Untersuchung waren spontane Kopf- und Blickwendungen nach links festgestellt worden, welche von der Familie des verstorbenen Klägers bestätigt wurden. Die visuell indizierten Potentiale waren bei der Untersuchung von Dr. H. von beiden Augen ableitbar mit absolut normalen Werten, was eine grob intakte Reizübertragung von der Netzhaut beider Augen bis zum visuellen Kortex beweist. Der Sachverständige attestiert ein Erkennen und eine bewusste Wahrnehmung von visuellen Informationen im Bereich des linken Gesichtsfeldes. Aufgrund des CTs des Gehirns ist mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Ausfall des rechten Gesichtsfeldes beider Augen im Sinne einer homonymen Hemianopsie auszugehen. Im Bereich des linken Gesichtsfeldes war der ursprüngliche Kläger in der Lage, bewusst zu sehen. Bei der Untersuchung durch den Dr. I. am 26.02.2015 konnten ebenfalls reproduzierbare Fixationsaufnahmen im linken Halbfeld des Gesichtsfeldes festgestellt werden. Der optokinetische Nystagmus war über beide Augen (besser nach links als nach rechts) horizontal auslösbar, nicht jedoch vertikal. Im sogenannten Kotowski-Test konnten Muster mit einem Gittersehschärfeäquivalent von 0,3 am rechten Auge reproduzierbare reizsynchrone Augenfolgebewegung auslösen. Blickzielbewegungen konnten reproduzierbar ausgelöst werden. Reproduzierbare Reaktionen auf akustische Reize waren nicht zu beobachten. Trotz der Linsentrübung am linken Auge bestand die Möglichkeit, dass die Sehschärfe noch mehr als 0,1 betrug, eine Sehschärfenminderung auf 0,1 oder weniger ist nicht bewiesen. Beim rechten Auge war der optokinetische Nystagmus auslösbar mit einem Gittersehschärfeäquivalent von mindestens 0,3. Zusammen mit Augenfolgebewegungen am rechten Auge bestand die Möglichkeit einer relativ guten Sehzeichensehschärfe weit über 0,1. Ein vollständiges Fehlen der Sehrinde oder die vollständige Unterbrechung der Sehbahn konnten weder auf der linken Seite noch auf der rechten Seite des Gehirns festgestellt werden. Die in der Bildgebung darstellbaren cerebralen Schäden bzw. die noch erhaltenen imponierenden Gehirnareale schließen eine vollständige Rindenblindheit bzw. einen Funktionsausfall der aufsteigenden Sehbahn nicht automatisch aus, legen aber viel wahrscheinlicher eine funktionelle Betroffenheit nur des rechten Gesichtsfeldes beider Augen nahe. Dies konnte auch durch die Beobachtung des visuellen Verhaltens des ursprünglichen Klägers festgestellt werden. Damit ist Blindheit im Sinne des Gesetzes nicht nachgewiesen. Auch unter Anwendung der früheren Rechtsprechung des BSG vom 20.07.2005 B 9a BL 1/05 R war im hier zu entscheidenden Fall die visuelle Fähigkeit nicht stärker betroffen als die übrigen Sinneswahrnehmungen. Vielmehr waren Fixationen und Augenbewegungen reproduzierbar.

Aber auch nach der neuen Rechtsprechung des BSG (vom 11.08.2015 - B 9 BL 1/14 R) liegt keine Blindheit im Sinne des Gesetzes vor. Nach der neuen Rechtsprechung des BSG ist weiterhin die Prüfung erforderlich, ob die visuellen Fähigkeiten des Betroffenen unterhalb der vom BayBlindG vorgegebenen Blindheitsschwelle liegen. In dem vom BSG zu entscheidenden Fall verfügte der Kläger lediglich über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle lagen. Entscheidend ist allein, so das BSG, ob es insgesamt an der Möglichkeit der Sinneswahrnehmung „Sehen“ fehlt, wobei dahingestellt bleiben kann, worauf die Blindheit beruht (BayLSG vom 05.07.2015, L 15 BL 17/12). Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen im Vollbeweis nachgewiesen werden (vgl. BSG vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R). Etwaige Beweiserleichterungen des sozialen Entschädigungsrechts kommen nicht zum Tragen (vgl. BSG vom 11.08.2015, Rdnr. 24).

Beim ursprünglichen Kläger ist Blindheit nicht nachgewiesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist für das Gericht nicht nachgewiesen, dass sein Sehvermögen unterhalb der gesetzlichen Blindheitsschwelle lag. Wie der Sachverständige Dr. I. ausführt, ist auf dem linken Auge keine Sehschärfenminderung von 0,1 oder weniger bewiesen. Der Strukturbefund wie auch die objektiven Funktionsbefunde und die gezeigten visuellen Verhaltensreaktionen sind mit einer Sehzeichensehschärfe von mehr 0,1 auf dem besseren rechten Auge vereinbar. Die Augenfolgebewegungen wie auch die Aufnahme des Blickkontaktes, die sowohl bei Dr. I. als auch bei Dr. H. ebenso festgestellt werden konnten wie bei den Familienangehörigen, eröffnen die Möglichkeit eines im horizontalen Durchmesser ausreichenden Restgesichtsfeldes von mehr als 30° im homonymen Halbfeld zumindest des rechten Auges. Dies steht dem Nachweis eines kleineren Gesichtsfeldes entgegen. Die Auslösbarkeit des optokinetischen Nystagmus im Kotowski-Test mit einem Gittersehschärfeäquivalent von mindestens 0,3 am rechten Auge war mit einer Sehzeichensehschärfe weit über 0,1 vereinbar. Der Sachverständige Dr. I. beschreibt in seinem Gutachten cerebrale Schäden, die eine vollständige Rindenblindheit bzw. einen Funktionsausfall der aufsteigenden Sehbahn zwar nicht automatisch ausschließen aber viel wahrscheinlicher eine funktionelle Betroffenheit „nur“ des rechten Gesichtsfeldes beider Augen nahelegen, was wiederum mit den Beobachtungen des visuellen Verhaltens übereinstimmt.

Nach den Feststellung der Sachverständigen Dr. H. und Dr. I., denen sich das Gericht anschließt, ist nicht zweifelsfrei nachgewiesen, dass das Sehvermögen des ursprünglichen Klägers unterhalb der gesetzlichen Blindheitsschwelle lag. Auch konnten Dr. I. und Dr. H. keinen objektiven Strukturbefund feststellen, der eine mögliche Blindheit des verstorbenen Klägers hätte erklären können.

Die Voraussetzungen für die Annahme von Blindheit außerhalb der nominierten Fallgruppen der VG bzw. DOG sind ebenfalls nicht gegeben. In der Gesetzesbegründung (vgl. LT Drucksache 13/458 vom 16.02.1995) wird zu Artikel 1 Abs. 2 ausgeführt, dass „unter dem Begriff „Störung des Sehvermögens“ im Sinne Artikel 2 Satz 2 Nr. 2 auch die „visuelle Agnosie im klassischem Sinne“ zu fassen ist. Darunter ist eine Störung beim Erkennen optischer Reize zu verstehen, die sich nicht auf eine Beeinträchtigung elementarer visueller Leistungen, auf eine Benennungsstörung oder auf eine allgemeine Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten zurückführen lässt“. Diese Aussage wird auch von der Rechtsprechung weitergeführt. Nach BSG ist weiterhin entscheidend, ob es insgesamt an der Möglichkeit der Sinneswahrnehmung fehlt, ob der behinderte Mensch also blind ist. Das Vorliegen von Blindheit ist jedoch nicht nachgewiesen. Wie das BSG in seinem Urteil vom 11.08.2015 ausführt, ist kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, dass nur derjenige, der „nur“ blind ist, Blindengeld erhält, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich zu seiner Blindheit noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliegt. Diese frühere Rechtsprechung wurde von Seiten des BSG aufgegeben. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass auch nach der neuen Rechtsprechung des BSG Blindheit nachgewiesen sein muss. Allein der Umstand, dass der verstorbene Kläger sich zunächst im Wachkoma und dann im minimalen Bewusstseinszustand befand, begründet allein keine Blindheit (vgl. hierzu ausführlich Braun, MedSach 2016 Seite 134 ff.).

Da nach Auffassung des Gerichts keine Blindheit vorliegt, vielmehr der ursprüngliche Kläger nach den überzeugenden Gutachten der Sachverständigen Dr. I. und Dr. H. eine Sehschärfe von mehr als 0,1 hatte, jedenfalls eine Sehschärfe von 0,1 und weniger nicht nachgewiesen ist, lag keine Blindheit im Sinne des Gesetzes vor.

Da eine Sehschärfe von 0,1 und weniger nicht nachgewiesen ist, liegt auch bei einem erhaltenem Gesichtsfeld von nicht mehr als 30° Durchmesser, auch unter Zugrundelegung der Richtlinien der DOG, keine Blindheit im Sinne des Gesetzes vor. Nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten steht für das Gericht nicht zur Überzeugung fest, dass der ursprüngliche Kläger blind im Sinne des BayBlindG war. Insofern trägt die Klägerin die Beweislast für den Vollbeweis der Blindheit (vgl. hierzu ausführlich BayLSG a.a.O).

Die Klage war daher abzuweisen.

Die Kostenfolge ergibt sich nach § 193 SGG.

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Lastenausgleichsgesetz - LAG

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV | § 2 Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“


Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung#F1_771649als deren Bestandteil festgelegt.

Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - (Artikel I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975, BGBl. I S. 3015) - SGB 1 | § 56 Sonderrechtsnachfolge


(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander 1. dem Ehegatten,1a. dem Lebenspartner,2. den Kindern,3. den Eltern,4. dem Haushaltsführerzu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in ein

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Bundessozialgericht Urteil, 11. Aug. 2015 - B 9 BL 1/14 R

bei uns veröffentlicht am 11.08.2015

Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufgehoben und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnbe

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(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander

1.
dem Ehegatten,
1a.
dem Lebenspartner,
2.
den Kindern,
3.
den Eltern,
4.
dem Haushaltsführer
zu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind. Mehreren Personen einer Gruppe stehen die Ansprüche zu gleichen Teilen zu.

(2) Als Kinder im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 gelten auch

1.
Stiefkinder und Enkel, die in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen sind,
2.
Pflegekinder (Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind),
3.
Geschwister des Berechtigten, die in seinen Haushalt aufgenommen worden sind.

(3) Als Eltern im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 gelten auch

1.
sonstige Verwandte der geraden aufsteigenden Linie,
2.
Stiefeltern,
3.
Pflegeeltern (Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben).

(4) Haushaltsführer im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 ist derjenige Verwandte oder Verschwägerte, der an Stelle des verstorbenen oder geschiedenen oder an der Führung des Haushalts aus gesundheitlichen Gründen dauernd gehinderten Ehegatten oder Lebenspartners den Haushalt des Berechtigten mindestens ein Jahr lang vor dessen Tod geführt hat und von diesem überwiegend unterhalten worden ist.

Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung*als deren Bestandteil festgelegt.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufgehoben und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 zurückgewiesen.

Das beklagte Land trägt die Kosten auch des Berufungs- und Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG).

2

Der Kläger erlitt bei seiner Geburt (2005) wegen einer Minderversorgung mit Sauerstoff schwerste Gehirnschäden. Diese führten unter anderem zu einem Anfallsleiden, einer spastischen Bewegungsstörung sowie zu einer schweren mentalen Retardierung mit Intelligenzminderung. Der Entwicklungsstand des Klägers entspricht dem eines ein- bis viermonatigen Säuglings. Seine kognitive Wahrnehmungsfähigkeit ist im Bereich aller Sinnesmodalitäten stark eingeschränkt. Unter anderem verfügt der Kläger lediglich über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen, so dass der Kläger nicht sehen kann.

3

Die allein sorgeberechtigte Mutter des Klägers beantragte 2006 für ihren Sohn Blindengeld nach dem BayBlindG. Der beklagte Freistaat lehnte den Antrag ab. Zwar liege beim Kläger eine schwerste Hirnschädigung vor, jedoch sei das Sehvermögen nicht wesentlich stärker beeinträchtigt als die übrigen Sinnesmodalitäten. Dies aber sei nach der Rechtsprechung des BSG zur sogenannten cerebralen Blindheit Voraussetzung für die Gewährung von Blindengeld (Bescheid vom 31.7.2007; Widerspruchsbescheid vom 4.12.2007).

4

Das SG hat der Klage stattgegeben, weil der Kläger faktisch blind und seine visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung durch andere Sinnesorgane (Urteil vom 15.12.2010). Auf die Berufung des beklagten Freistaates hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage nach Einholung weiterer Sachverständigengutachten abgewiesen. Der Kläger sei zwar faktisch blind. Auch stehe das Vorliegen cerebraler Schäden der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden müsse für einen Anspruch auf Blindengeld jedoch im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegen. Dies sei entgegen der Ansicht des SG beim Kläger nicht der Fall. Die Unterschiede bei den noch vorhandenen Sinneswahrnehmungen seien nach den eingeholten Gutachten im Hinblick auf den Gesamtzustand des Klägers vielmehr marginal (Urteil vom 27.3.2014).

5

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 62, 103 SGG, Art 1 Abs 2 BayBlindG). Die vom LSG gestellten Anforderungen an die Prüfung einer spezifischen Sehstörung seien mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vereinbar. Soweit gutachterlich zur Darstellung der Entwicklung von Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung und motorischer sowie mentaler Retardierung auf die sogenannten Griffiths Entwicklungsskalen (GES) zurückgegriffen worden sei, fehle es an einer allgemein anerkannten Grundlage für die Prüfung einzelner Sinneswahrnehmungen.

6

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 zurückzuweisen.

7

Der beklagte Freistaat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Er hält das Urteil für zutreffend.

9

Der Senat hat zu den GES als Methode der Diagnostik spezifischer Sehstörungen bei cerebral geschädigten Kindern Auskünfte der Gesellschaft für Neuropädiatrie und des Gemeinsamen Bundesausschusses eingeholt.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet (§ 170 Abs 2 S 1 SGG). Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG.

11

1. Der Senat ist, obwohl in der Sache um die Auslegung bayerischen und damit an sich irreversiblen Landesrechts gestritten wird, nicht an einer Sachentscheidung gehindert.

12

Nach § 162 SGG kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Zwar erstreckt sich das BayBlindG nicht über den Freistaat Bayern und damit den Bezirk des Bayerischen LSG hinaus. Revisibilität von Landesrecht hat das BSG jedoch auch angenommen, wenn inhaltsgleiche Vorschriften verschiedener Länder in den Bezirken verschiedener LSG gelten und die Übereinstimmung nicht nur zufällig, sondern im Interesse der Rechtsvereinheitlichung bewusst und gewollt ist (vgl dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 162 RdNr 5a mwN; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 162 RdNr 17 f mwN). Letzteres hat das BSG in ständiger Rechtsprechung auch für den Begriff der Blindheit nach dem BayBlindG angenommen. Der dort verwendete - hier umstrittene und entscheidungserhebliche - Blindheitsbegriff stimmt mit dem Blindheitsbegriff überein, den auch die in den Bezirken anderer LSG geltenden landesrechtlichen Blindengeldgesetze zu Grunde legen (zB für NRW § 1 Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose vom 25.11.1997, GVBl S 430 idF des Gesetzes vom 5.4.2005, GVBl S 332). Übereinstimmung besteht zudem mit dem bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit in § 72 Abs 5 SGB XII, auf den im Schwerbehindertenrecht(§ 3 Abs 1 Nr 3 Schwerbehindertenausweisverordnung) Bezug genommen wird (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004, SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 5; Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R, BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 6 mwN).

13

2. Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage des Klägers ist begründet. Der allein gegenständliche Bescheid vom 31.7.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.12.2007, mit dem der Beklagte dem Kläger Blindengeld versagt hat, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat seit Antragstellung Anspruch auf Gewährung von Blindengeld nach dem BayBlindG. Er ist blind im Sinne des Gesetzes (dazu a). Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass beim Kläger auch weitere Sinnesorgane wie das Hörvermögen oder der Tastsinn nicht weniger auf Schwerste beeinträchtigt sind (dazu b).

14

a) Monatliches Blindengeld nach dem BayBlindG erhalten blinde und taubblinde Menschen auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder durch die VO (EG) Nr 883/2004 gleichgestellt sind, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen (Art 1 Abs 1 BayBlindG vom 7.4.1995, GVBl 1995, 150, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des BayBlindG vom 24.7.2013, GVBl 2013, 464). Dies ist beim Kläger der Fall. Er lebt in Bayern und ist entgegen der Ansicht des beklagten Freistaates auch blind im Sinne des Gesetzes.

15

Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art 1 Abs 2 S 1 BayBlindG). Als (faktisch) blind gelten darüber hinaus Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 1 BayBlindG) sowie bei denen hierdurch (Nr 1) nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr 1 gleichzuachten sind (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 2 BayBlindG; zur Entwicklung des Begriffs "Blindheit" vgl Dau, jurisPR-SozR 24/2009 Anm 4).

16

Dies ist beim Kläger der Fall. Nach den Feststellungen des LSG besitzt er lediglich basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Der Einsatz seiner Sehfähigkeit im Alltag unter Tageslichtbedingungen ist nicht möglich.

17

Dabei kann es sowohl nach dem Wortlaut als auch nach Sinn und Zweck des Gesetzes dahingestellt bleiben, auf welcher konkreten Ursache die Blindheit im Einzelfall beruht, ob sie auf einer Schädigung des optischen Sehapparates, einer Hirnschädigung oder einer Kombination denkbarer Ursachen beruht. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich und können zur Blindheit führen (etwa der Ausfall der Sehrinde , vgl auch Anl zu § 2 Teil A Nr 6 Buchst c Versorgungsmedizin-Verordnung), und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Der erkennende, für das BayBlindG allein zuständige 9. Senat des BSG gibt insoweit seine bisherige anderslautende, an die Materialien zum Gesetzentwurf für ein BayBlindG anknüpfende Rechtsprechung auf.

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Das BSG hatte bisher in Anlehnung an Empfehlungen der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirates beim früheren Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA, Rundschreiben vom 16.2.1990) zwischen Störungen beim "Erkennen" (Schädigung des Sehapparates) und beim "Benennen" (Schädigung in der Verarbeitung wahrgenommener optischer Reize) unterschieden. Ausgangspunkt der Empfehlung war der Antrag eines Mädchens, das infolge einer Gewalttat unter einem apallischen Syndrom litt und die Versorgung mit einem Blindenführhund beantragt hatte. Der Sachverständigenbeirat beim BMA kam zu dem Ergebnis, dass bei einer solchen cerebralen Schädigung (dort als "Seelenblindheit" oder "visuelle Agnosie" bezeichnet) keine Blindheit vorliege; nicht das Sehvermögen mit dem Sehorgan im engeren Sinne sei beeinträchtigt, sondern die Fähigkeit, das Gesehene geistig zu verarbeiten (vgl dazu Stefan Jungeblut, Nicht sehen können - doch nicht blind? in: Sozialrecht im Umbruch, 2010, S 69, 70). Das BSG hat bei seiner Differenzierung zwischen "Erkennens- und Benennungsstörungen" selbst darauf hingewiesen, dass es sich im Einzelfall als sehr schwierig erweisen könne, eine Störung zu lokalisieren und einer dieser Kategorien zuzuweisen (vgl BSG Urteil vom 31.1.1995 - 1 RS 1/93 - SozR 3-5920 § 1 Nr 1 S 5, Juris RdNr 34 zum Saarländischen Gesetz Nr 761 über die Gewährung einer Blindheitshilfe; zum BayBlindG wieder Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 13; Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 9-11).

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Das BSG gibt diese Differenzierung nunmehr auf. Soweit in der Gesetzesbegründung ausgeführt wird, unter dem Begriff "Störungen des Sehvermögens" seien Störungen beim Erkennen optischer Reize zu verstehen, die sich nicht auf eine Beeinträchtigung elementarer visueller Leistungen, auf eine Benennungsstörung oder auf eine allgemeine Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten zurückführen lassen (Gesetzentwurf der Staatsregierung für ein BayBlindG, BayLT-Drucks 13/458 S 5; vgl zum Ausschluss jeder visuellen Agnosie nach Anl zu § 2 Teil A Nr 6 Buchst c VersMedV; zur Teilnichtigkeit dieser Regelung SG Osnabrück Urteil vom 24.6.2009 - S 9 SB 231/07 mit Anm Dau, jurisPR-SozR 24/2009 Anm 4), hat diese Differenzierung in Art 1 BayBlindG keinen normativen Niederschlag gefunden.

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Die Differenzierung kann zudem gerade bei cerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen werden, dh die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden. Denn die Untersuchung visueller Wahrnehmungsleistungen setzt voraus, dass Untersuchungsfähigkeit gegeben ist; dazu gehören ua ausreichende Leistungen in den kognitiven Bereichen Aufmerksamkeit und Gedächtnis, ausreichende Sprachleistungen (Mitteilung ua über das eigene Sehvermögen bzw Beschreiben von optischen Reizen) oder ausreichende Handfunktionen, etwa um Reaktionstasten im Rahmen perimetrischer Untersuchungen betätigen zu können (vgl dazu Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81 ff; und sogleich unter 2b, aa).

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Ein hinreichend sachlicher Grund für das Erfordernis einer genauen Lokalisierung der Sehstörung ist daher nicht nachweisbar. Entscheidend für den Anspruch auf Blindengeld ist allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch "blind" ist. Damit wird die Frage hinfällig, ob die zugrunde liegende Annahme, der Wahrnehmungsvorgang stelle einen in strikter zeitlicher Abfolge stattfindenden Prozess mit mehreren voneinander klar abgrenzbaren Phasen (perzeptiv, semantisch und lexikalisch) dar, mit der aktuellen wissenschaftlichen Evidenzlage vereinbar ist (vgl Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81, 82: fehlende Trennschärfe visueller Verarbeitungsstrukturen; aA und für einen mehrstufigen Prozess weiterhin vgl Zimbardo/Gerrig, Psychologie, 20. Aufl, 2015, S 112 ff, 161 f).

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b) Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht entgegen, dass bei ihm darüber hinaus auch sonstige Sinnesorgane wie sein Hörvermögen oder der Tastsinn auf Schwerste beeinträchtigt sind. Soweit der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hat, dass bei cerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hält er auch daran nicht mehr fest (Aufgabe von BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2). Der Senat hat für den Nachweis einer schweren Störung des Sehvermögens bisher verlangt, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten (vgl BSG Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 9). Zu einer Aufgabe dieser Rechtsprechung sieht sich der Senat aus den oben bereits angesprochenen Erkenntnisschwierigkeiten (dazu aa) sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst (dazu bb).

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aa) Die Praxis der Instanzgerichte, darunter diejenige über den Anspruch des Klägers, zeigen, dass sich gerade bei mehrfach schwerstbehinderten Kindern eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch kaum verlässlich feststellen lässt (vgl weiter zB Urteil des Bayerischen LSG vom 17.7.2012 - L 15 BL 11/08 - Juris RdNr 58 ff). Insoweit fehlt es an Erhebungs- und Untersuchungsmethoden, deren Einsatz sowohl zu medizinisch sicheren Ergebnissen führt als auch ethisch vertretbar ist. Das Kriterium der "spezifischen Sehstörung" hat sich aus Sicht des Senates insgesamt als nicht praktikabel erwiesen, weil es zu einer Erhöhung des Risikos von Zufallsergebnissen führt.

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Anspruchsbegründende Tatsachen im Recht der sozialen Leistungen unterliegen grundsätzlich einem notwendigen Vollbeweis (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 15 RdNr 46), die Nichterweislichkeit geht zu Lasten des Klägers. Die Nichterweislichkeit ginge auch im Falle des bayerischen Blindengelds zu Lasten des Klägers (hierzu Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S 228). Etwaige Beweiserleichterungen des sozialen Entschädigungsrechts kommen nicht zum Tragen (zB § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung; Wahrscheinlichkeitsmaßstab bei Kausalitätsfragen BSG SozR 4-3200 § 81 Nr 6 RdNr 25). Besondere Vorschriften der Kriegsopferversorgung gelten im Rahmen des BayBlindG nur, soweit solche im SGG vorgesehen sind (vgl Art 7 Abs 3 S 2 BayBlindG, zB § 154 Abs 2 SGG; vgl BayLT-Drucks 13/458 S 6).

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Die mit dem Beweisrecht verbundene typisierende Annahme, dass die relevanten Tatsachen im Ansatz hinreichend verlässlich feststellbar sind, ist in Bezug auf die vorhandene medizinische Diagnostik zur Feststellung einer spezifischen Sehstörung nicht gerechtfertigt. Die Diagnostik spezifischer Sehstörungen insbesondere bei cerebral geschädigten Kindern ist beschränkt. Medizintechnische Untersuchungsmethoden sind - worauf in der Vorinstanz unangegriffen hingewiesen wurde - wegen der notwendigen Sedierung oder gar Narkotisierung ethisch kaum vertretbar, verbleibende Befragungen der Betreuungspersonen störanfällig, weil oftmals subjektiv gefärbt (vgl dazu Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81, 83). Der Einsatz von Entwicklungsskalen hängt nach Auskunft der Gesellschaft für Neuropädiatrie maßgeblich von der Expertise des Testleiters ab. Die Anwendung der GES für Kleinkinder (im Alter von 0 bis 12 Monaten) auf ältere Kinder begünstigt weitere Unwägbarkeiten, unabhängig davon, ob sie dem neuesten anerkannten Stand des einschlägigen Erfahrungswissens genügen, welcher im Rahmen der richterlichen Sachaufklärung (§ 103 SGG) verbindlich zugrunde zu legen wäre (vgl BSG Urteil vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 63). Zweifel bestehen jedenfalls insofern auch in Anbetracht des Umstandes, dass die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in ihrer S2k-Praxisleitlinie "Intelligenzminderung" von Dezember 2014 S 35 die GES (Brandt und Sticker 2001) wegen ihrer geringen Testgüte und mangels aktueller Normen für den diagnostischen Einsatz nicht einmal mehr empfohlen hat (abrufbar unter www.awmf.de).

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bb) Vor allem aber lässt es der allgemeine Gleichheitssatz nicht zu, bei schwer cerebral geschädigten Menschen zu verlangen, dass die zu Blindheit führende Beeinträchtigung ihres Sehvermögens noch deutlich stärker ausgeprägt ist als die Beeinträchtigung ihrer sonstigen Sinneswahrnehmungen (Hören, Tasten etc), sog spezifische Sehstörung. Hieran hält der Senat im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung behinderter Menschen vor dem Gesetz nicht mehr fest (Art 3 Abs 1 und 3 S 2 GG; Art 5 UN-Behindertenrechtskonvention, zur unmittelbaren Anwendbarkeit BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 29 ff).

27

Abgesehen davon, dass sich bei schwersten cerebralen Schäden die mit dem Merkmal einer spezifischen Sehstörung angestrebte Begrenzung des blindengeldberechtigten Personenkreises angesichts des erhöhten Risikos von Zufallsergebnissen (dazu oben aa) nach derzeitigen Erkenntnissen nicht hinreichend rechtssicher erreichen lässt (zum vorgelagerten Aspekt einer genauen Abgrenzung des begünstigten Personenkreises bereits BVerfGE 37, 154, 155, 164 f), besteht auch sonst keine Möglichkeit die genannte Differenzierung zu rechtfertigen.

28

Der Senat sieht keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür, dass zwar derjenige Blindengeld erhalten soll, der "nur" blind ist, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich zu seiner Blindheit noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliegt, bei dem aber nicht von einer deutlich stärkeren Betroffenheit des Sehvermögens gegenüber der Betroffenheit sonstiger Sinnesorgane gesprochen werden kann (im Ergebnis ebenso bereits BVerfG Beschluss vom 7.5.1974 - 1 BvL 6/72 - BVerfGE 37, 154, 165 f zur Differenzierung zwischen zu einer zu fehlendem Sehvermögen führenden Beeinträchtigung der Sehschärfe und einer vergleichbar wirkenden Einschränkung des Gesichtsfeldes).

29

Zwar kommt in der früheren Rechtsprechung des BSG das Anliegen zum Ausdruck, dass Störungen aus dem seelisch/geistigen Bereich nicht zu einem Blindengeldanspruch führen sollen, weil Behinderungen solcher Art ggf durch anderweitige, auch einkommens- und vermögensunabhängige Sozialleistungen ausgeglichen werden, wenn deren Voraussetzungen vorliegen (etwa Leistungen der Pflegeversicherung oder der Eingliederungshilfe, §§ 61 ff SGB XII; vgl Demmel, aaO, S 501 ff; zur Reform der Eingliederungshilfe durch Einführung eines Bundesteilhabegelds vgl Koalitionsvertrag 2013, S 111 abrufbar unter www.bundesregierung.de). Dies kann die Ungleichbehandlung schwer cerebral geschädigter Behinderter jedoch nicht begründen.

30

Insbesondere stellt die Erwägung, dass derjenige, der wegen schwerster cerebraler Schäden zu keiner oder so gut wie keinen Sinneswahrnehmungen fähig ist, des Blindengeldes nicht bedarf, weil behinderungsbedingte Mehraufwendungen ohnehin nicht ausgeglichen werden können, keinen solchen sachlichen Grund dar. Zwar heißt es in Art 1 Abs 1 BayBlindG, das Blindengeld werde "zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen" gezahlt. Das BSG hat jedoch entsprechend der Praxis der zuständigen Behörden, ohne dass dem der Gesetzgeber entgegengetreten wäre, entschieden, dass das Blindengeld derzeit ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal gezahlt wird. Dabei ist gerade Sinn und Zweck der Pauschale, bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit zu verzichten. "Blindheitsbedingte Mehraufwendungen" sind insoweit keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreiben lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1, RdNr 10 und 11; BSG SozR 3-5922 § 1 Nr 1; BVerwGE 51, 281, 286). Insoweit hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest.

31

Nach allem gilt: Auch in den Fällen, in denen neben dem fehlenden Sehvermögen weitere oder alle Sinnesorgane schwer geschädigt sind, ändert dies nichts daran, dass der Betroffene sowohl in tatsächlich wie auch in rechtlicher Hinsicht blind ist und jedenfalls Anspruch auf Blindengeld hat.

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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.