Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss, 30. März 2012 - 17 UF 338/11

published on 30.03.2012 00:00
Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss, 30. März 2012 - 17 UF 338/11
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Tenor

1. Auf die Beschwerde des antragstellenden Vaters wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Tuttlingen vom 19. September 2011 - 1 F 828/10 -

aufgehoben.

2. Der verfahrensbeteiligten Mutter wird im zweiten Rechtszug ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt. Ihr wird Rechtsanwalt S. beigeordnet.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

4. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Beschwerdewert: 6.000,- EUR.

Gründe

 
I.
Die beteiligten Eltern streiten um die elterliche Sorge für den gemeinsamen Sohn M., geboren am ...2004, sowie um den Umgang mit ihm.
Die Eltern waren nicht miteinander verheiratet, führten aber eine nichteheliche Lebensgemeinschaft. Seit 2006 leben sie voneinander getrennt, das Kind wird seither von der Mutter betreut. Eine gemeinsame Sorgeerklärung wurde nicht abgegeben.
Anfang Mai 2010 zog die Kindesmutter mit M. nach Spanien, ohne den Kindesvater hierüber zu informieren. Eine Einwohnermeldeamtsbescheinigung der Stadtverwaltung M., mit welcher die Abmeldung nach Spanien dokumentiert wird, stammt vom 4. Mai 2010; ein „Certificat d.Empadronament/Certificado de Empadronamiento“ des Ajuntament de S. datiert vom 28. Juli 2010 und hat den Inhalt, dass das Kind M. dort am 13. Mai 2010 gemeldet war. Mit Antrag vom 16. September 2010, bei dem Amtsgericht Tuttlingen eingegangen am 18. September 2010, beantragte der Vater die Zuteilung des alleinigen Sorgerechts für M., hilfsweise des gemeinsamen Sorgerechts. In der nichtöffentlichen Sitzung des Familiengerichts vom 18. Februar 2011 trafen die Eltern sodann eine (abändernde) Vereinbarung zum Umgang des Vaters mit M.. Mit Schriftsatz vom 16. Mai 2011, bei dem Amtsgericht Tuttlingen eingegangen am 21. Mai 2011, beantragte der Vater, diese Umgangsvereinbarung abzuändern.
Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Amtsgericht - Familiengericht - Tuttlingen sowohl den Sorgerechts- als auch den auf Abänderung des Umgangs bezogenen Antrag zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Vaters.
Der Senat entscheidet ohne erneute Anhörung der Beteiligten, da diese bereits erstinstanzlich umfänglich erfolgte.
II.
1. Die Beschwerde ist gemäß §§ 58 ff. FamFG statthaft und zulässig. Im Ergebnis führt sie zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Denn es fehlt an der vorauszusetzenden internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte.
2. Nach Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, der sogenannten Brüssel IIa-Verordnung, sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Nach Art. 2 Nr. 7 Satz 2 der Brüssel IIa-Verordnung umfasst die „elterliche Verantwortung“ im vorgenannten Sinne sowohl das Sorge- als auch das Umgangsrecht.
Das Kind M. verzog zusammen mit der Mutter zu Beginn des Monats Mai 2010 von Deutschland nach Spanien. Mithin hatte es bereits dort, nämlich auf I., seinen gewöhnlichen Aufenthalt, als Mitte September 2010 der Sorgerechtsantrag des Vaters anhängig wurde. Das internationale Kindschaftsrecht definiert den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nicht. Da sämtliche internationale Abkommen auf diesem Gebiet letztendlich dem Schutz des Kindeswohles dienen, ist von einem einheitlichen Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts auszugehen (Winkler von Mohrenfels, FPR 2001, 189, 190 m.w.N.). Der gewöhnliche Aufenthalt stellt auf den tatsächlichen Mittelpunkt der Lebensführung einer Person ab. Auf den Willen, sich an einem Ort auf Dauer niederzulassen, kommt es nicht an. Hat der Aufenthalt sechs Monate gedauert, wird vielfach von einem gewöhnlichen Aufenthalt ausgegangen (OLG Karlsruhe, FamRZ 2010, 1577). Aus Sicht des Kindes stellt sich ein Aufenthalt an einem neuen Ort umso mehr als „gewöhnlich“ dar, je länger es sich an diesem Ort aufhält (OLG Frankfurt, FamRZ 2006, 883, 884).
Da insbesondere junge Kinder im Hinblick auf eine andere zeitliche Relation sich leichter an eine neue Umgebung gewöhnen, lässt diese Dauer des Aufenthalts auf eine gewisse soziale Integration schließen. Für den zum Zeitpunkt des Umzugs fünf-, knapp sechsjährigen Jungen sind des Weiteren der Umfang und die Intensität der Beziehungen zu Familienangehörigen von besonderem Gewicht. Die Mutter war und ist die Hauptbezugsperson des Kindes, auch wenn es eine starke Bindung zu seinem Vater aufweist.
10 
Zwar hängt der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes rechtlich nicht vom Willen des Sorgeberechtigten ab; indes kann hier nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben, dass der Umzug zusammen mit der alleinsorgeberechtigten Mutter erfolgte. Soweit sich die angefochtene Entscheidung auf die „Sechs-Monats-Regel“ bezieht, ist darauf hinzuweisen, dass diese Frist, die hier am 18. September 2010 noch nicht abgelaufen war, als Richtschnur zwar hilfreich sein kann, als formales Kriterium aber auch nicht überbewertet werden darf (zum Ganzen: Senat, Beschluss vom 22. Juni 2011 - 17 UF 150/11, juris; zum ebengenannten Gesichtspunkt s. Rn. 23 dortselbst).
11 
3. Zu der auf das kindliche Zeitempfinden gestützten Erwägung, s. eben, treten Wortlaut und ratio des Art. 9 Brüssel IIa-Verordnung. Danach kann beim rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen die Zuständigkeit für die Änderung einer im Ursprungsstaat ergangenen Umgangsentscheidung während einer Dauer von drei Monaten erhalten bleiben. Auch diese Zeitdauer ist überschritten.
12 
4. Nach alledem steht für den Senat fest, dass sich der Daseinsschwerpunkt und damit der Ort, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist (vgl. EuGH, FamRZ 2009, 843, 845; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 5. November 2010 - 9 UF 112/10 - juris Rn. 26), Mitte September 2010 bereits nach Spanien verlagert hatte.
13 
5. Eine Vereinbarung über die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte (Art. 9 Abs. 2, Art. 12 Abs. 3 Brüssel IIa-Verordnung) wurde ebenfalls nicht getroffen. Diese wurde auch nicht auf andere Weise anerkannt. Nach der genannten Norm sind die Gerichte eines Mitgliedstaats zwar in Bezug auf die elterliche Verantwortung zuständig, wenn eine wesentliche Bindung des Kindes zu diesem Mitgliedstaat besteht, insbesondere weil einer der Träger der elterlichen Verantwortung in diesem Mitgliedstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt. Hinzu kommen muss aber, dass alle Parteien [Beteiligten] des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts die Zuständigkeit ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt haben und die Zuständigkeit im Einklang mit dem Wohl des Kindes steht. Mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2010, mit welchem sie auf den verfahrenseinleitenden Antrag des Vaters erwidert hatte, hat die Mutter demgegenüber die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ausdrücklich gerügt und nur „höchst vorsorglich“ in der Sache vorgetragen (Blatt 5 der Akten).
14 
Die angefochtene Entscheidung war aufzuheben.
III.
15 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 FamFG. Aus den Gründen der Beschwerdeentscheidung war der Beschwerdegegnerin die nachgesuchte Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen. Der Beschwerdewert war nach § 45 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 FamGKG festzusetzen. Anlass für die Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 70 Abs. 2 FamFG) bestand nicht.
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(1) Die Rechtsbeschwerde eines Beteiligten ist statthaft, wenn sie das Beschwerdegericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug in dem Beschluss zugelassen hat. (2) Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, wenn 1. die Rechtssache grundsätzlic

(1) Das Gericht kann die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen den Beteiligten ganz oder zum Teil auferlegen. Es kann auch anordnen, dass von der Erhebung der Kosten abzusehen ist. In Familiensachen ist stets über die Kosten zu entscheiden.
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published on 05.11.2010 00:00

Tenor Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der am 20. August 2010 verkündete Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – in Saarbrücken – 40 F 320/10 HK – abgeändert und wie folgt neu gefasst: 1. Der Antragsgegner ist verpflichtet
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Annotations

(1) Das Gericht kann die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen den Beteiligten ganz oder zum Teil auferlegen. Es kann auch anordnen, dass von der Erhebung der Kosten abzusehen ist. In Familiensachen ist stets über die Kosten zu entscheiden.

(2) Das Gericht soll die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise einem Beteiligten auferlegen, wenn

1.
der Beteiligte durch grobes Verschulden Anlass für das Verfahren gegeben hat;
2.
der Antrag des Beteiligten von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatte und der Beteiligte dies erkennen musste;
3.
der Beteiligte zu einer wesentlichen Tatsache schuldhaft unwahre Angaben gemacht hat;
4.
der Beteiligte durch schuldhaftes Verletzen seiner Mitwirkungspflichten das Verfahren erheblich verzögert hat;
5.
der Beteiligte einer richterlichen Anordnung zur Teilnahme an einem kostenfreien Informationsgespräch über Mediation oder über eine sonstige Möglichkeit der außergerichtlichen Konfliktbeilegung nach § 156 Absatz 1 Satz 3 oder einer richterlichen Anordnung zur Teilnahme an einer Beratung nach § 156 Absatz 1 Satz 4 nicht nachgekommen ist, sofern der Beteiligte dies nicht genügend entschuldigt hat.

(3) Einem minderjährigen Beteiligten können Kosten in Kindschaftssachen, die seine Person betreffen, nicht auferlegt werden.

(4) Einem Dritten können Kosten des Verfahrens nur auferlegt werden, soweit die Tätigkeit des Gerichts durch ihn veranlasst wurde und ihn ein grobes Verschulden trifft.

(5) Bundesrechtliche Vorschriften, die die Kostenpflicht abweichend regeln, bleiben unberührt.

(1) Die Rechtsbeschwerde eines Beteiligten ist statthaft, wenn sie das Beschwerdegericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug in dem Beschluss zugelassen hat.

(2) Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.

(3) Die Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss des Beschwerdegerichts ist ohne Zulassung statthaft in

1.
Betreuungssachen zur Bestellung eines Betreuers, zur Aufhebung einer Betreuung, zur Anordnung oder Aufhebung eines Einwilligungsvorbehalts,
2.
Unterbringungssachen und Verfahren nach § 151 Nr. 6 und 7 sowie
3.
Freiheitsentziehungssachen.
In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 gilt dies nur, wenn sich die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss richtet, der die Unterbringungsmaßnahme oder die Freiheitsentziehung anordnet. In den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 ist die Rechtsbeschwerde abweichend von Satz 2 auch dann ohne Zulassung statthaft, wenn sie sich gegen den eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden oder zurückweisenden Beschluss in den in § 417 Absatz 2 Satz 2 Nummer 5 genannten Verfahren richtet.

(4) Gegen einen Beschluss im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung oder eines Arrests findet die Rechtsbeschwerde nicht statt.