Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 26. Feb. 2010 - 2 Ws 60/10

bei uns veröffentlicht am26.02.2010

Tenor

Auf die Beschwerde des Beschuldigten werden der Beschluss des Landgerichts W. vom 11. Februar 2010 und der Haftbefehl des Amtsgerichts W. vom 3. Februar 2010 aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

 
Am 03.02.2010 erließ das Amtsgericht W. gegen den Beschuldigten einen Haftbefehl mit dem Vorwurf, er habe als Jugendlicher in zwei Fällen als Mitglied einer aus drei Personen bestehenden Bande mit Betäubungsmitteln unerlaubt Handel getrieben, wobei es sich in einem Fall um eine nicht geringe Menge gehandelt habe. Die vom Beschuldigten, der am 05.02.2010 in seinem Elternhaus festgenommen worden war, gegen den Haftbefehl eingelegte Beschwerde verwarf das Landgericht mit dem angefochtenen Beschluss.  
Die weitere Beschwerde des Beschuldigten führt zur Aufhebung des Haftbefehls. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist nach dem Inhalt der dem Senat vorgelegten Akten nicht begründet.
Gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht Fluchtgefahr, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen bei Würdigung der Umstände des Einzelfalls die Gefahr im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit besteht, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen. Bei Jugendlichen, bei denen Untersuchungshaft nach der Intention des Gesetzgebers möglichst vermieden werden soll, tritt das Subsidiaritätsprinzip hinzu, wonach (§ 72 Abs. 1 JGG) im Haftbefehl Gründe anzuführen sind, weshalb andere Maßnahmen, etwa eine Heimunterbringung, nicht ausreichen.
Vorliegend besteht für die Annahme von Fluchtgefahr keine ausreichende Tatsachengrundlage. Zwar muss der Beschuldigte mit der Verhängung einer beträchtlichen, möglicherweise nicht mehr bewährungsfähigen Jugendstrafe rechnen, in die eine bereits rechtskräftig verhängte Jugendstrafe von sechs Monaten einzubeziehen wäre. Vorliegend reicht diese Straferwartung aber weder für sich allein noch im Zusammenhang mit anderen Umständen aus, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Annahme zu begründen, der Beschuldigte werde sich dem Verfahren entziehen. In diesem Zusammenhang geht die Erwägung der Kammer fehl, es bestünden keine Anhaltspunkte für "besonders intensive oder enge soziale Bindungen an die Familie oder ein sonstiges soziales Umfeld". Hierbei handelt es sich ersichtlich um eine bloße Vermutung. Der Haftgrund der Fluchtgefahr wäre gerade bei einem Jugendlichen nur begründbar, wenn als Tatsache feststünde, dass soziale oder andere Bindungen nicht oder nur in so geringem Maße bestehen, dass ihnen fluchthinderndes Gewicht nicht zugesprochen werden kann. Dafür ergeben die Akten nichts. Immerhin wurde der Beschuldigte in seinem Elternhaus, wo er offenbar auch polizeilich gemeldet ist, festgenommen. Auch die Vermutungen, die die Kammer hinsichtlich der Möglichkeit anstellt, der Beschuldigte, der bislang im Elternhaus gewohnt hat und zur Schule gegangen ist, "gute Aussichten" habe, bei Bekannten im Drogenmilieu untertauchen, erreichen nicht die Qualität "bestimmter Tatsachen" im Sinne von § 112 StPO.
Hinzu kommt: Im Jugendstrafrecht gilt das Prinzip der Subsidiarität der Untersuchungshaft. Nach § 72 Abs. 1 JGG darf Untersuchungshaft gegen einen Jugendlichen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur verhängt oder vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Wird Untersuchungshaft verhängt, sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, dass andere Maßnahmen nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist. Unterbleibt dies, ist die Anordnung der Untersuchungshaft, worauf der Verteidiger des Beschuldigten in seinen Beschwerdeschreiben zutreffend hingewiesen hat, schon aus diesem Grunde fehlerhaft (OLG Hamm B. v. 17.03.2009 3Ws 86/09 in juris mwN).
Diesen Anforderungen werden weder der Haftbefehl des Amtsgerichts noch der landgerichtliche Beschluss vom 11.02.2010 noch die Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts gerecht. Der Haftbefehl enthält hierzu nur den formelhaften Satz, eine andere, weniger einschneidende Maßnahme verspräche derzeit keinen Erfolg. Die Erwägung des Landgerichts, in dem frühen Verfahrensstadium könne nicht festgestellt werden, ob eine Heimunterbringung ausreiche, wird dem Subsidiaritätsprinzip des § 72 JGG in keiner Weise gerecht. Es wäre, nachdem schon das Amtsgericht keine sichtbaren Überlegungen in diese Richtung angestellt hatte, Sache der Kammer gewesen, diese Frage gegebenenfalls unter Einschaltung der Jugendgerichtshilfe zu klären.
Der Haftbefehl konnte deshalb nicht bestehen bleiben. Er konnte auch nicht auf Wiederholungsgefahr im Sinne von § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO gestützt werden, weil diese Bestimmung die Erwartung von Freiheitsstrafe, der eine Jugendstrafe insoweit nicht gleichsteht, zum Gegenstand hat.

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Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 26. Feb. 2010 - 2 Ws 60/10 zitiert 3 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 112 Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe


(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßr

Strafprozeßordnung - StPO | § 112a Haftgrund der Wiederholungsgefahr


(1) Ein Haftgrund besteht auch, wenn der Beschuldigte dringend verdächtig ist, 1. eine Straftat nach den §§ 174, 174a, 176 bis 176d, 177, 178, 184b Absatz 2 oder nach § 238 Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuches oder2. wiederholt oder fortgesetzt eine di

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 72 Untersuchungshaft


(1) Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 der

Referenzen

(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.

(2) Ein Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen

1.
festgestellt wird, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält,
2.
bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr), oder
3.
das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde
a)
Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen, unterdrücken oder fälschen oder
b)
auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken oder
c)
andere zu solchem Verhalten veranlassen,
und wenn deshalb die Gefahr droht, daß die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).

(3) Gegen den Beschuldigten, der einer Straftat nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 oder § 13 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches oder § 129a Abs. 1 oder Abs. 2, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, oder nach den §§ 176c, 176d, 211, 212, 226, 306b oder 306c des Strafgesetzbuches oder, soweit durch die Tat Leib oder Leben eines anderen gefährdet worden ist, nach § 308 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 nicht besteht.

(1) Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 der Strafprozeßordnung) sind auch die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen. Wird Untersuchungshaft verhängt, so sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, daß andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist.

(2) Solange der Jugendliche das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur zulässig, wenn er

1.
sich dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder
2.
im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat.

(3) Über die Vollstreckung eines Haftbefehls und über die Maßnahmen zur Abwendung seiner Vollstreckung entscheidet der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat, in dringenden Fällen der Jugendrichter, in dessen Bezirk die Untersuchungshaft vollzogen werden müßte.

(4) Unter denselben Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann, kann auch die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs. 2) angeordnet werden. In diesem Falle kann der Richter den Unterbringungsbefehl nachträglich durch einen Haftbefehl ersetzen, wenn sich dies als notwendig erweist.

(5) Befindet sich ein Jugendlicher in Untersuchungshaft, so ist das Verfahren mit besonderer Beschleunigung durchzuführen.

(6) Die richterlichen Entscheidungen, welche die Untersuchungshaft betreffen, kann der zuständige Richter aus wichtigen Gründen sämtlich oder zum Teil einem anderen Jugendrichter übertragen.

(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.

(2) Ein Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen

1.
festgestellt wird, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält,
2.
bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr), oder
3.
das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde
a)
Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen, unterdrücken oder fälschen oder
b)
auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken oder
c)
andere zu solchem Verhalten veranlassen,
und wenn deshalb die Gefahr droht, daß die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).

(3) Gegen den Beschuldigten, der einer Straftat nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 oder § 13 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches oder § 129a Abs. 1 oder Abs. 2, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, oder nach den §§ 176c, 176d, 211, 212, 226, 306b oder 306c des Strafgesetzbuches oder, soweit durch die Tat Leib oder Leben eines anderen gefährdet worden ist, nach § 308 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 nicht besteht.

(1) Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 der Strafprozeßordnung) sind auch die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen. Wird Untersuchungshaft verhängt, so sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, daß andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist.

(2) Solange der Jugendliche das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur zulässig, wenn er

1.
sich dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder
2.
im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat.

(3) Über die Vollstreckung eines Haftbefehls und über die Maßnahmen zur Abwendung seiner Vollstreckung entscheidet der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat, in dringenden Fällen der Jugendrichter, in dessen Bezirk die Untersuchungshaft vollzogen werden müßte.

(4) Unter denselben Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann, kann auch die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs. 2) angeordnet werden. In diesem Falle kann der Richter den Unterbringungsbefehl nachträglich durch einen Haftbefehl ersetzen, wenn sich dies als notwendig erweist.

(5) Befindet sich ein Jugendlicher in Untersuchungshaft, so ist das Verfahren mit besonderer Beschleunigung durchzuführen.

(6) Die richterlichen Entscheidungen, welche die Untersuchungshaft betreffen, kann der zuständige Richter aus wichtigen Gründen sämtlich oder zum Teil einem anderen Jugendrichter übertragen.

(1) Ein Haftgrund besteht auch, wenn der Beschuldigte dringend verdächtig ist,

1.
eine Straftat nach den §§ 174, 174a, 176 bis 176d, 177, 178, 184b Absatz 2 oder nach § 238 Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuches oder
2.
wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat nach den §§ 89a, 89c Absatz 1 bis 4, nach § 125a, nach den §§ 224 bis 227, nach den §§ 243, 244, 249 bis 255, 260, nach § 263, nach den §§ 306 bis 306c oder § 316a des Strafgesetzbuches oder nach § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 10 oder Abs. 3, § 29a Abs. 1, § 30 Abs. 1, § 30a Abs. 1 des Betäubungsmittelgesetzes oder nach § 4 Absatz 3 Nummer 1 Buchstabe a des Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetzes
begangen zu haben, und bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, daß er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat fortsetzen werde, die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich und in den Fällen der Nummer 2 eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist. In die Beurteilung des dringenden Verdachts einer Tatbegehung im Sinne des Satzes 1 Nummer 2 sind auch solche Taten einzubeziehen, die Gegenstand anderer, auch rechtskräftig abgeschlossener, Verfahren sind oder waren.

(2) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn die Voraussetzungen für den Erlaß eines Haftbefehls nach § 112 vorliegen und die Voraussetzungen für die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls nach § 116 Abs. 1, 2 nicht gegeben sind.