Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Urteil, 10. Dez. 2015 - L 5 P 39/15

ECLI:ECLI:DE:LSGRLP:2015:1210.L5P39.15.0A
10.12.2015

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 21.4.2015 abgeändert. Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Umstritten ist, ob der Kläger den Beitragszuschlag für Kinderlose nach § 55 Abs. 3 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) als Bestandteil des Beitrags zur sozialen Pflegeversicherung zu leisten hat.

2

Der Kläger lebte in den Jahre 1996 bis 2013 mit seiner früheren Lebensgefährtin und deren leiblichen Kindern (1991 geborener Sohn, 1994 geborene Tochter) zusammen. Er trug zur Erziehung und zum Unterhalt der Kinder bei. Seit dem 1.1.2012 ist er bei der Beklagten pflegeversichert. Sein Arbeitgeber führte an die Beklagte für ihn im Rahmen der Entrichtung der Sozialversicherungsbeiträge jeweils den für Kinderlose im Vergleich zu Elternteilen um 0,25 Prozent erhöhten Beitrag zur sozialen Pflegeversicherung ab. Unter dem 4.2.2014 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erstattung des geleisteten Beitragszuschlags für Kinderlose, weil die beiden Kinder seiner früheren Lebensgefährtin in seinem Haushalt gelebt hätten. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 7.2.2014 und Widerspruchsbescheid vom 10.4.2014 ab, da der Kläger nicht Stiefvater der Kinder seiner früheren Lebensgefährtin und daher gemäß § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI zur Entrichtung des Beitragszuschlags für Kinderlose verpflichtet gewesen sei.

3

Mit seiner am 9.5.2014 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Durch Urteil vom 21.4.2015 hat das Sozialgericht (SG) Mainz den angefochtenen Bescheid aufgehoben, soweit er die Freistellung vom Beitragszuschlag für Kinderlose für noch nicht gezahlte Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung betreffe, sowie die Beigeladene, die jetzige Arbeitgeberin des Klägers, verurteilt, für den Kläger ab dem Monat April 2015 den Beitrag zur sozialen Pflegeversicherung ohne den Beitragszuschlag für Kinderlose abzuführen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klage habe hinsichtlich des Beitragszuschlages für die Zeit vom 1.1.2012 bis zum 31.3.2015 keinen Erfolg, da der Kläger in diesem Zeitraum nach § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI zur Zahlung des nicht reduzierten Beitrages zur sozialen Pflegeversicherung verpflichtet gewesen sei. Zu den Eltern im Sinne des § 55 Abs. 3 Satz 2 SGB XI iVm § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) gehörten auch Stiefeltern. Die Stiefelterneigenschaft setze aber ein verfestigtes, mehrjähriges Elternteil-Kind-Verhältnis voraus. Den insoweit nach § 55 Abs. 3 Satz 2 SGB XI erforderlichen Nachweis habe der Kläger gegenüber der Beigeladenen nicht vor dem Monat März 2015 erbracht. Die Klage sei jedoch hinsichtlich des Beitragszuschlages für den Zeitraum ab April 2015 begründet. Der Nachweis der Stiefelterneigenschaft sei seit der durch das SG im Klageverfahren durch Beschluss vom 10.3. 2015 erfolgten Beiladung als erbracht anzusehen. Die Eigenschaft als Stiefkind setze nicht die Ehe zwischen einem leiblichen Elternteil oder Adoptivelternteil und dem Stiefelternteil voraus (Hinweis auf Sozialgericht – SG –Kassel 26.3.2008 – S 7 R 578/05). Gegen das herkömmliche Verständnis des Begriffs der Stiefelterneigenschaft sprächen verschiedene Entwicklungen im juristisch-gesellschaftlichen Verständnis. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe die gelebte Elternschaft in den Schutzbereich des Art 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) einbezogen; durch dieses Grundrecht sei die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft von Eltern mit Kindern unabhängig von der Verwandtschaft im Rechtssinne geschützt (Hinweis auf BVerfG 19.2.2013 – 1 BvL 1/11, 1 BvR 31 BvR 3247/09, juris Rn 62). Zudem werde in der Forschung und von der Bundesregierung und den Landesregierungen in der Familienberichterstattung ein erweiterter Stiefelternbegriff verwandt, wonach auch bei nichtverheirateten Paaren, in deren Haushalt die biologischen Kinder eines Elternteils aufwüchsen, der andere Teil Stiefelternteil sein könne.

4

Gegen dieses ihr am 30.6.2015 zugestellte Urteil richtet sich die am 23.7.2015 eingelegte Berufung der Beklagten, die vorträgt, der Begriff der Stiefelternschaft im Sinne des § 55 SGB XI setze zwingend die Eheschließung zwischen einem leiblichen Elternteil des Kindes und dem „nicht biologischen Elternteil“ voraus.

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Die Beklagte beantragt,

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das Urteil des SG Mainz vom 21.4.2015 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

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Die Beigeladene hat sich nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.

11

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

12

Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG – zulässige Berufung ist begründet. Das SG hat der Klage zu Unrecht teilweise stattgegeben; das angefochtene Urteil ist insoweit abzuändern.

13

Für den Kläger ist auch in der Zeit ab dem 1.4.2015 der Beitragszuschlag für Kinderlose abzuführen. Nach § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI erhöht sich der Beitragssatz nach Absatz 1 Satz 1 und 2 dieser Vorschrift für Mitglieder nach Ablauf des Monats, in dem sie das 23. Lebensjahr vollendet haben, um einen Beitragszuschlag in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten (Beitragszuschlag für Kinderlose). Diese Vorschrift gilt zwar nach § 55 Abs. 3 Satz 2 SGB XI nicht für Eltern im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 SGB I. Der Kläger ist jedoch in Bezug auf die Kinder seiner früheren Lebensgefährtin kein Elternteil im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB I, da er nicht leiblicher Vater oder Adoptivvater der Kinder ist. Er war und ist ferner kein Stief- oder Pflegeelternteil iSd § 56 Abs. 3 Nr. 2 und 3 SGB I.

14

Nach § 56 Abs. 2 SGB I sind Eltern auch Stiefeltern. Stiefeltern sind nach dem allgemeinen Wortverständnis Ehegatten in Bezug auf nicht zu ihnen in einem Kindschaftsverhältnis stehende leibliche oder angenommene Kinder des anderen Ehegatten (Bundessozialgericht – BSG – 18.7.2007 – B 12 P 4/06 R, juris Rn 16). Zwar mögen eingetragene Lebenspartner insoweit aus verfassungsrechtlichen Gründen (vgl. BVerfG 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, juris) Ehegatten gleichzustellen sein (so Seewald in Kasseler Kommentar, SGB I, § 56 Rn 12a). Für Partner sonstiger nichtehelicher Lebensgemeinschaften gilt dies dagegen nach geltender Rechtslage nicht. Im Rahmen des § 55 SGB XI ist eine dahingehende Erweiterung des Stiefelternbegriffs im Übrigen schon deshalb ausgeschlossen, weil § 55 Abs. 3a Nr. 2 SGB XI ausdrücklich von dem Erfordernis der Eheschließung mit einem Elternteil ausgeht.

15

Die Ausgestaltung des Gesetzes, wonach ein Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, soweit es sich nicht um eine gleichgeschlechtliche eingetragene Lebenspartnerschaft handelt, in Bezug auf die Eigenschaft als Stiefelternteil einem Ehepartner gegenüber nicht gleichgestellt ist, verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Wegen des durch Art 6 Abs. 1 GG für die Ehe geschaffenen verfassungsrechtlichen Schutz- und Förderauftrags ist der Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt, die Ehe als rechtlich verbindliche und in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten (etwa bei Kindschaft oder Mittellosigkeit) ausgestaltete dauerhafte Paarbeziehung gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen (BVerfG 7.5.2013 aaO Rn 83; vgl. zur Frage der Gleichstellung „faktischer Stiefkinder“ BVerfG 10.12.2004 – 1 BvR 2320/98, juris). Nur wenn die Privilegierung der Ehe mit einer Benachteiligung anderer, in vergleichbarer Weise verbindlich verfasster Lebensformen einhergeht, obwohl diese nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zwecken vergleichbar sind, rechtfertigt der bloße Verweis auf das Schutzgebot der Ehe eine solche Differenzierung nicht (BVerfG 7.5.2013 aaO Rn 84). Da zwischen dem Kläger und seiner früheren Lebensgefährtin keine vergleichbar einer Ehe rechtlich verbindliche Paarbeziehung bestand, liegt kein Verstoß gegen Art 3 Abs. 1 GG vor.

16

Die Eigenschaft des Klägers als Pflegeelternteil im Sinne des § 56 Abs. 3 Nr. 3 SGB I kommt nicht in Betracht, worüber zwischen den Beteiligten zu Recht kein Streit besteht. Voraussetzung für die Eigenschaft als Pflegeelternteil ist, dass ein Obhuts- und Betreuungsverhältnis mit den leiblichen Eltern nicht mehr vorliegt (BSG 28.4.2004 – B 2 U 12/03 R, SozR 4-2700 § 70 Nr. 1 Rn 16; Lebich in Hauck/Noftz, SGB I, K § 56 Rn 14; vgl. zum Waisenrentenrecht Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 67 Rn 10). Solange beim Kläger ein Obhuts- und Betreuungsverhältnis zu den Kindern seiner Lebensgefährtin bestand, lag jedoch auch ein solches zwischen dieser und ihren Kindern vor.

17

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

18

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

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Referenzen - Gesetze

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Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - (Artikel I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975, BGBl. I S. 3015) - SGB 1 | § 56 Sonderrechtsnachfolge


(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander 1. dem Ehegatten,1a. dem Lebenspartner,2. den Kindern,3. den Eltern,4. dem Haushaltsführerzu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in ein

Sozialgesetzbuch (SGB) - Elftes Buch (XI) - Soziale Pflegeversicherung (Artikel 1 des Gesetzes vom 26. Mai 1994, BGBl. I S. 1014) - SGB 11 | § 55 Beitragssatz, Beitragsbemessungsgrenze, Verordnungsermächtigung


(1) Der Beitragssatz beträgt, vorbehaltlich des Satzes 2, bundeseinheitlich 3,4 Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder; er wird grundsätzlich durch Gesetz festgesetzt. Die Bundesregierung wird ermächtigt, den Beitragssatz nach Satz

Referenzen

(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander

1.
dem Ehegatten,
1a.
dem Lebenspartner,
2.
den Kindern,
3.
den Eltern,
4.
dem Haushaltsführer
zu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind. Mehreren Personen einer Gruppe stehen die Ansprüche zu gleichen Teilen zu.

(2) Als Kinder im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 gelten auch

1.
Stiefkinder und Enkel, die in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen sind,
2.
Pflegekinder (Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind),
3.
Geschwister des Berechtigten, die in seinen Haushalt aufgenommen worden sind.

(3) Als Eltern im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 gelten auch

1.
sonstige Verwandte der geraden aufsteigenden Linie,
2.
Stiefeltern,
3.
Pflegeeltern (Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben).

(4) Haushaltsführer im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 ist derjenige Verwandte oder Verschwägerte, der an Stelle des verstorbenen oder geschiedenen oder an der Führung des Haushalts aus gesundheitlichen Gründen dauernd gehinderten Ehegatten oder Lebenspartners den Haushalt des Berechtigten mindestens ein Jahr lang vor dessen Tod geführt hat und von diesem überwiegend unterhalten worden ist.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.