Bundesverwaltungsgericht Beschluss, 01. Juli 2010 - 4 CN 2/09

Gericht
Gründe
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Für den Fall, dass die Entscheidung eines Rechtsstreits ganz oder zum Teil von der Gültigkeit einer Rechtsvorschrift abhängt, die in einem Normenkontrollverfahren Prüfungsgegenstand ist, kommt eine Aussetzung der Verhandlung über den Rechtsstreit in entsprechender Anwendung des § 94 VwGO in Betracht (Beschluss vom 8. Dezember 2000 - BVerwG 4 B 75.00 - Buchholz 310 § 94 VwGO Nr. 15, stRspr; vgl. z.B. auch Rennert, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 94 Rn. 5 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Entscheidung im Revisionsverfahren hängt von der Rechtsgültigkeit des Bebauungsplans Nr. 72 ab, über die das Oberverwaltungsgericht im Rahmen des Normenkontrollantrags des Antragstellers zu entscheiden hat.
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Nach übereinstimmenden Angaben der Beteiligten ist der Bebauungsplan Nr. 67 durch den am 8. Februar 2010 als Satzung beschlossenen und am 11. Februar 2010 ortsüblich bekannt gemachten Bebauungsplan Nr. 72 ersetzt worden; der Antragsteller macht aber geltend, dass auch der Bebauungsplan Nr. 72 an beachtlichen Rechtsfehlern leide und unwirksam sei. Er hat deshalb beim Oberverwaltungsgericht auch hinsichtlich dieses Bebauungsplans Normenkontrolle beantragt. Lehnt das Oberverwaltungsgericht den Normenkontrollantrag rechtskräftig ab, steht damit inter partes fest, dass der Bebauungsplan Nr. 67 außer Kraft getreten ist, weil über § 10 BauGB der gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtssatz gilt, dass die spätere Norm die frühere verdrängt (Urteil vom 10. August 1990 - BVerwG 4 C 3.90 - BVerwGE 85, 289). Hat der Normenkontrollantrag demgegenüber Erfolg, tritt diese verdrängende Wirkung nicht ein.
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Die Vorgreiflichkeit der Entscheidung über den Bebauungsplan Nr. 72 wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis hinsichtlich des Bebauungsplans Nr. 67 auch für den Fall reklamiert, dass der Bebauungsplan Nr. 72 wirksam sein sollte. Richtig ist, dass das Außerkrafttreten einer Rechtsvorschrift nicht zwangsläufig dazu führt, dass das Rechtsschutzbedürfnis für die gerichtliche Überprüfung der Norm entfiele. Ein zulässigerweise erhobener Normenkontrollantrag bleibt vielmehr auch im Falle eines Außerkrafttretens der zur Prüfung gestellten Norm weiter zulässig, wenn die Voraussetzung des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO fortbesteht, der Antragsteller also weiterhin geltend machen kann, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in eigenen Rechten verletzt zu werden oder worden zu sein, und er ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat, dass die Norm ungültig war (Urteil vom 2. September 1983 - BVerwG 4 N 1.83 - BVerwGE 68, 12 <14> zu § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO a.F.). Das ändert vorliegend aber nichts an der Vorgreiflichkeit der Entscheidung über die Rechtsgültigkeit des Bebauungsplans Nr. 72 für den Ausgang des beim Senat anhängigen Revisionsverfahrens. Denn im Falle eines Außerkrafttretens des Bebauungsplans Nr. 67 durch Inkrafttreten des Bebauungsplans Nr. 72 wäre der Normenkontrollantrag auf Feststellung umzustellen, dass der Bebauungsplan Nr. 67 unwirksam war (vgl. Urteil vom 2. September 1983 a.a.O. S. 15 oben). Das hat der Antragsteller mit seinem zuletzt hilfsweise gestellten Antrag, unter Abänderung des Urteils des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. Mai 2008 festzustellen, dass der Bebauungsplan Nr. 67 bis zum 10. Februar 2010 unwirksam war, für den Fall der Rechtsgültigkeit des Bebauungsplans Nr. 72 auch getan. Eine von der Rechtsgültigkeit des Bebauungsplans Nr. 72 abhängige alternative Entscheidungslage ist auch insoweit gegeben.
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Der Senat hält die Aussetzung angesichts seiner grundsätzlich fehlenden Befugnis zur Tatsachenfeststellung und zur Vermeidung divergierender Entscheidungen für angezeigt, zumal die Antragsgegnerin derzeit erklärtermaßen allein auf der Grundlage des Bebauungsplans Nr. 72 vollzieht und dem Antragsteller deshalb durch die Aussetzung keine schwerwiegenden Nachteile drohen.

Annotations
Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.
(1) Die Gemeinde beschließt den Bebauungsplan als Satzung.
(2) Bebauungspläne nach § 8 Absatz 2 Satz 2, Absatz 3 Satz 2 und Absatz 4 bedürfen der Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde. § 6 Absatz 2 und 4 ist entsprechend anzuwenden.
(3) Die Erteilung der Genehmigung oder, soweit eine Genehmigung nicht erforderlich ist, der Beschluss des Bebauungsplans durch die Gemeinde ist ortsüblich bekannt zu machen. Der Bebauungsplan ist mit der Begründung und der zusammenfassenden Erklärung nach § 10a Absatz 1 zu jedermanns Einsicht bereitzuhalten; über den Inhalt ist auf Verlangen Auskunft zu geben. In der Bekanntmachung ist darauf hinzuweisen, wo der Bebauungsplan eingesehen werden kann. Mit der Bekanntmachung tritt der Bebauungsplan in Kraft. Die Bekanntmachung tritt an die Stelle der sonst für Satzungen vorgeschriebenen Veröffentlichung.
(1) Das Oberverwaltungsgericht entscheidet im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit
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von Satzungen, die nach den Vorschriften des Baugesetzbuchs erlassen worden sind, sowie von Rechtsverordnungen auf Grund des § 246 Abs. 2 des Baugesetzbuchs - 2.
von anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften, sofern das Landesrecht dies bestimmt.
(2) Den Antrag kann jede natürliche oder juristische Person, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden, sowie jede Behörde innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung der Rechtsvorschrift stellen. Er ist gegen die Körperschaft, Anstalt oder Stiftung zu richten, welche die Rechtsvorschrift erlassen hat. Das Oberverwaltungsgericht kann dem Land und anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, deren Zuständigkeit durch die Rechtsvorschrift berührt wird, Gelegenheit zur Äußerung binnen einer zu bestimmenden Frist geben. § 65 Abs. 1 und 4 und § 66 sind entsprechend anzuwenden.
(2a) (weggefallen)
(3) Das Oberverwaltungsgericht prüft die Vereinbarkeit der Rechtsvorschrift mit Landesrecht nicht, soweit gesetzlich vorgesehen ist, daß die Rechtsvorschrift ausschließlich durch das Verfassungsgericht eines Landes nachprüfbar ist.
(4) Ist ein Verfahren zur Überprüfung der Gültigkeit der Rechtsvorschrift bei einem Verfassungsgericht anhängig, so kann das Oberverwaltungsgericht anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des Verfahrens vor dem Verfassungsgericht auszusetzen sei.
(5) Das Oberverwaltungsgericht entscheidet durch Urteil oder, wenn es eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, durch Beschluß. Kommt das Oberverwaltungsgericht zu der Überzeugung, daß die Rechtsvorschrift ungültig ist, so erklärt es sie für unwirksam; in diesem Fall ist die Entscheidung allgemein verbindlich und die Entscheidungsformel vom Antragsgegner ebenso zu veröffentlichen wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre. Für die Wirkung der Entscheidung gilt § 183 entsprechend.
(6) Das Gericht kann auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.