Bundessozialgericht Beschluss, 17. Aug. 2017 - B 5 R 11/17 B
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. November 2016 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Der Kläger wendet sich gegen die teilweise Rücknahme und Rückforderung seiner Altersrente wegen Überschreitung der Hinzuverdienstgrenze in der Zeit vom 1.4.2005 bis 31.12.2007 in Höhe von 6696,78 Euro.
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Mit Bescheid vom 8.3.2005 gewährte die Beklagte dem im Jahre 1944 geborenen Kläger ab 1.1.2005 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen. In einer Anlage zum Rentenantrag hatte der Kläger angegeben, er habe ab 1.1.2005 ein Beschäftigungsverhältnis als Lagerhilfe mit einem monatlichen Bruttoarbeitsentgelt von 345 Euro. Am 21.5.2008 teilte der Arbeitgeber die Brutto-Hinzuverdienste des Klägers wie folgt mit: 345 Euro (Januar 2005), 385,04 Euro (ab Februar 2005), 386,56 Euro (ab Juli 2005), 381,62 Euro (ab Januar 2007), 379,76 Euro (ab Januar 2008) und 379,56 Euro (in April 2008). Weiterhin ergab sich aus den Gehaltsabrechnungen, dass ab Mai 2005 vom Bruttoeinkommen des Klägers ein Betrag in Höhe von 145,20 Euro für eine Direktversicherung abgezogen wurde, der ihm anschließend wieder gutgeschrieben wurde. Das auf diesen Gehaltsabrechnungen ausgewiesene Bruttogehalt lag in allen Folgemonaten um diese 145,20 Euro höher als das vom Arbeitgeber bescheinigte Gehalt. Auf der Gehaltsabrechnung für Monat April 2005 war als "Direktversicherung" ein Betrag in Höhe von 580,80 Euro, der dem vierfachen Monatsbetrag entspricht, aufgeführt; das Bruttogehalt für diesen Monat wurde mit 965,84 Euro bescheinigt.
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Mit Schreiben vom 22.7.2008 hörte die Beklagte den Kläger zu einer beabsichtigten Rücknahme des Bescheids vom 8.3.2005 für die Zeit ab 1.4.2005 sowie einer beabsichtigten Rückforderung überzahlter Rente für die Zeit vom 1.4.2005 bis 31.7.2008 in Höhe von 6787,38 Euro an. Mit Bescheid vom 13.11.2008 berechnete die Beklagte die Rente ab 1.4.2005 unter Berücksichtigung des tatsächlichen Hinzuverdiensts neu und teilte dem Kläger mit, dass ihm ab 1.4.2005 lediglich eine Teilrente in Höhe von zwei Dritteln der Vollrente zustehe. Ab dem 1.1.2008 werde die Rente wieder als Vollrente gezahlt. Die Überzahlung für die Zeit vom 1.4.2005 bis 31.12.2007 in Höhe von 6696,78 Euro sei zu erstatten. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 29.1.2010).
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Mit Urteil vom 28.5.2013 hat das SG Frankfurt (Oder) die Klage abgewiesen. Das LSG Berlin-Brandenburg hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 23.11.2016). Zur Begründung hat es im Wesentlichen unter Bezugnahme auf das Urteil des SG ausgeführt, die Bescheide seien rechtmäßig. Dem Kläger sei eine grob fahrlässige Verletzung seiner Sorgfaltspflicht vorzuwerfen. Aus den Gehaltsabrechnungen ab Mai 2005 ergebe sich, dass dem Kläger zuzüglich zu dem monatlichen Gehalt von 385,04 Euro noch ein Betrag von 145,20 Euro gewährt worden sei. Dieses Gesamtbrutto (530,24 Euro im Mai 2005) habe zwar zu einem Auszahlungsbetrag, nicht jedoch zu einem Nettogehalt in Höhe von 345 Euro geführt. Denn es sei nicht nur um die Abzüge für die gesetzliche Sozialversicherung, sondern auch um den persönlichen Abzug zur Bezahlung der Direktversicherung vermindert worden.
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Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensmängel. Das LSG habe gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens verstoßen und letztlich eine ihn benachteiligende Überraschungsentscheidung getroffen. Das LSG habe in der mündlichen Verhandlung am 15.10.2015 darauf hingewiesen, dass der Kläger die ihm ausgezahlten 345 Euro tatsächlich brutto für netto in einem sog sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnis nach § 8 SGB IV rentenunschädlich hätte erzielen können. Folglich überschreite der Kläger die Hinzuverdienstgrenze für die Vollrente lediglich um die Beträge, die zur Sozialversicherung gezahlt worden seien. Dies hätte die Beklagte bei den Ermessenserwägungen berücksichtigen müssen. Soweit der Kläger behaupte, aus den 145,20 Euro für die sog Direktversicherung keinerlei Leistungen beziehen zu können, wäre - den Vortrag als zutreffend unterstellt - die bisherige Ermessensentscheidung der Beklagten wohl vollkommen aufzuheben, die Rückforderung entfiele. Im anderen Fall, dh bei Ableitung von Ansprüchen und Zurechnung der Beträge als Verdienst, wäre die Ermessensentscheidung der Beklagten immer noch nicht zutreffend.
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Er - der Kläger - habe gegenüber dem LSG dargelegt, dass der Arbeitgeber die Lohnabrechnung nicht ordnungsgemäß erstellt habe, exakte Auskünfte habe er nicht erhalten. Er sei die Beschäftigung ab 1.1.2005 nur unter der Bedingung eingegangen, dass diese nicht zu einer Kürzung der Altersrente führen dürfe. Insbesondere sei der damalige Arbeitgeber nicht berechtigt gewesen, die Beiträge für eine von ihm begründete Direktversicherung ihm - dem Kläger - aufzuerlegen. Diese Beiträge, die keiner Entgeltumwandlung unterlägen, seien kein Einkommensbestandteil, vielmehr steuerlich Betriebsausgaben. Dass das LSG im schriftlichen Verfahren ohne Ankündigung von seinen eigenen Hinweisen im Termin vom 15.10.2015 abrücke, stelle für den Kläger eine Überraschungsentscheidung und eine Missachtung des rechtlichen Gehörs dar. Hätte er - der Kläger - davon Kenntnis erlangt, dass das LSG seinen bisherigen Vortrag und die vorgelegten Beweismittel nicht umfassend berücksichtigen würde, hätte er (nochmals) unter Beweisantritt dargelegt, dass er im relevanten Zeitraum Arbeitslohn nur in Höhe von 345 Euro habe beanspruchen können und auch nur in dieser Höhe tatsächlich entlohnt worden sei. Zudem werde ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht gerügt. Zwar habe das LSG den vormaligen Arbeitgeber um Auskunft ersucht. Mangels Antwort hätte das LSG den Arbeitgeber zur mündlichen Verhandlung laden müssen, was nicht erfolgt sei.
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II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) und den Anspruch auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) verletzt.
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Der umfassende Anspruch auf ein faires Verfahren ist verletzt, wenn grundlegende Rechtsschutzstandards wie das Gebot der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, das Übermaßverbot (Gebot der Rücksichtnahme) gegenüber Freiheitsrechten und das Verbot von widersprüchlichem Verhalten oder Überraschungsentscheidungen nicht gewahrt werden (vgl BVerfGE 78, 123, 126; BVerfG SozR 3-1500 § 161 Nr 5; BSG SozR 3-1750 § 565 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2; BSG Beschluss vom 25.6.2002 - B 11 AL 21/02 B - Juris; BSG Beschluss vom 2.4.2009 - B 2 U 281/08 B - Juris). Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in dessen Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; BVerfGE 96, 205, 216 f). Weder aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren noch aus dem auf rechtliches Gehör ergibt sich eine allgemeine Hinweispflicht des Gerichts zur Sach- und Rechtslage oder eine Pflicht des Gerichts zu einem Rechtsgespräch oder zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung (BVerfGE 66, 116, 147; BVerfGE 74, 1, 5; BVerfGE 86, 133, 145). Hat das Gericht sich jedoch hinsichtlich bestimmter Sach- oder Rechtsfragen geäußert, so kann es nicht ohne vorherige Information der Beteiligten über eine mögliche andere Auffassung seinerseits in dieser Frage auf eine abweichende Beurteilung seine Entscheidung gründen, weil dies gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstößt und eine Überraschungsentscheidung darstellt.
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Vorliegend hatte das LSG in der mündlichen Verhandlung am 15.10.2015 darauf hingewiesen, dass der Kläger die 345 Euro, die ihm ausgezahlt worden seien, tatsächlich brutto für netto in einem sog sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnis nach § 8 SGB IV rentenunschädlich hätte erzielen können. Folglich überschreite der Kläger die Hinzuverdienstgrenze für die Vollrente lediglich um die Beträge, die zur Sozialversicherung gezahlt worden seien. Dies hätte die Beklagte bei den Ermessenserwägungen berücksichtigen müssen. Was die 145,20 Euro für die sog Direktversicherung angehe, behaupte der Kläger insoweit, keinerlei Leistungen beziehen zu können. Insoweit wäre - den Vortrag als zutreffend unterstellt - die bisherige Ermessensentscheidung der Beklagten wohl vollkommen aufzuheben, sodass die Rückforderung insgesamt zu Fall käme. Sollte der Kläger dennoch aus den 145,20 Euro Ansprüche ableiten können und seien deshalb die Beiträge als Verdienst zuzurechnen, wäre die Ermessensentscheidung der Beklagten immer noch nicht zutreffend. Darüber hinaus hatte das LSG beim vormaligen Arbeitgeber des Klägers um Aufklärung ersucht, weshalb das Arbeitsverhältnis nicht als sozialversicherungsfreies mit einem Arbeitsentgelt von maximal 345 Euro brutto für netto, sondern als sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis ausgestaltet gewesen sei. Außerdem sollte dem Gericht mitgeteilt werden, weshalb dem Lohn ein Betrag von 145,20 Euro für eine Direktversicherung gutgeschrieben, dieser Betrag dann mit dem Vermerk "Direktversicherung" wieder abgezogen worden sei. Dieses Ersuchen ist, ebenso wie die Bitte um eine ladungsfähige Anschrift des Geschäftsführers des Arbeitgebers, unbeantwortet geblieben. Vom Empfängerhorizont des Klägers her betrachtet musste sich damit aufgrund des Hinweises des LSG vom 15.10.2015 und dessen Anfrage an den vormaligen Arbeitgeber der Eindruck aufdrängen, dass das LSG beabsichtige, dem Vortrag des Klägers zu folgen, wonach er die Beschäftigung ab 1.1.2005 nur unter der Bedingung eingegangen sei, dass ihm infolge der Beschäftigung die von ihm bezogene Altersrente nicht gekürzt werde und der monatliche Verdienst in Höhe von 345 Euro diesen Anforderungen genüge. Eine Überraschungsentscheidung wäre dann zu verneinen, wenn nur ein Mitglied des Spruchkörpers den Hinweis erteilt hätte (vgl BSG vom 3.4.2014 - B 2 U 308/13 B - Juris). Vorliegend war aber der Senat in der mündlichen Verhandlung am 15.10.2015 in seiner Gesamtheit anwesend.
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Auf diesem durch das Verhalten des Gerichts erzeugten Eindruck kann das Urteil des LSG auch beruhen. Denn es ist denkbar und wird vom Kläger auch schlüssig dargelegt, dass dieser bei Hinweis auf eine mögliche andere Rechtsauffassung des LSG weitere Beweisanträge gestellt hätte, denen zu folgen das LSG sich hätte gedrängt sehen müssen und diese weiteren Beweiserhebungen zu einer für den Kläger positiven Entscheidung hätten führen können. Dies gilt umso mehr, als das LSG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat und die erforderliche Zustimmung gemäß § 124 Abs 2 SGG seitens des Klägers in Kenntnis einer möglichen abweichenden Beurteilung durch das LSG wohl nicht erteilt worden wäre.
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Da die Beschwerde bereits aus den oben dargelegten Gründen erfolgreich ist, bedarf es keiner Entscheidung des Senats zu der weiter erhobenen Verfahrensrüge.
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Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.
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Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren die Aufklärungsbemühungen um den geltend gemachten Bruttobetrag fortsetzen müssen und auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. November 2013 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Streitig ist die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen eines anerkannten Arbeitsunfalls vom 23.2.2003. Im Wesentlichen steht zwischen den Beteiligten das Vorliegen einer somatoformen Schmerzstörung als Folge dieses Arbeitsunfalls im Streit. Das SG hat auf die Klage gegen die eine Rentengewährung ablehnenden Bescheide der Beklagten nach Einholung eines unfallchirurgischen Gutachtens von Amts wegen sowie der Einholung eines orthopädischen Gutachtens nach § 109 SGG und eines weiteren Gutachtens nach § 109 SGG auf neurologischem Fachgebiet durch Urteil vom 28.10.2010 die Beklagte unter Abänderung der angegriffenen Bescheide verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung von Funktionseinschränkungen im Bereich des linken Schultergelenks nach erlittener Schlüsselbeinfraktur sowie einer somatoformen Schmerzstörung als Folge des Arbeitsunfalls vom 23.2.2003 eine Verletztenrente nach einer MdE iHv 20 vH zu bewilligen. Die Diagnose der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung folge für das Gericht aus den nachvollziehbaren Ausführungen von Dr. G., den das SG von Amts wegen zuvor gehört habe. Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Das LSG hat Beweis erhoben durch Einholung eines neurologischen Sachverständigengutachtens bei Prof. Dr. L. vom 27.12.2011, demzufolge eine willkürliche Aggravation bzw Simulation nicht bestätigt werden könne. Über die bereits getätigten Diagnosen der Vorgutachter hinaus seien die Kriterien einer posttraumatischen Dystonie und teilweise auch die Kriterien einer Kausalgie erfüllt. Diese Diagnosen seien von den Vorgutachtern nicht diskutiert bzw die Beschwerden in den subjektiven oder vorgetäuschten Beschwerderahmen eingeordnet worden. Neben der aktenkundigen MdE von 10 vH auf chirurgischem Gebiet betrage die MdE auf neurologischem Gebiet 40 vH und die Gesamt-MdE 40 vH. Der Sachverständige verblieb auch in einer vom LSG veranlassten Stellungnahme bei seiner Auffassung. Daraufhin hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 11.7.2012 beantragt, Herrn Prof. Dr. G. von der neurologischen Klinik des Universitätsklinikums T. in einem weiteren fachärztlichen Gutachten Stellung nehmen zu lassen, welcher der beiden Auffassungen aus welchen Gründen zu folgen sei. In dessen Bericht vom 22.1.2009 sei die Diagnose der posttraumatischen Dystonie nur deshalb gestellt worden, weil der Kläger angegeben habe, dass er sofort nach dem Unfall eine schmerzhafte Kopfzwangshaltung mit Neigung nach links gehabt habe, was nach Aktenlage nicht der Fall gewesen sei. Der Kläger hat darauf verwiesen, dass Prof. Dr. L. detailliert und nachvollziehbar unter Beachtung sämtlicher Vorbefunde seit dem Jahr 2003 eine sich entwickelnde posttraumatische Dystonie beschrieben habe.
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Mit gerichtlicher Verfügung vom 3.9.2012 hat das LSG die Beklagte wie folgt angeschrieben: "Nach Prüfung der Sach- und Rechtslage wird mitgeteilt, dass weitere Ermittlungen nicht beabsichtigt sind. Falls Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung besteht, wollen Sie dies bitte mitteilen." Mit Schreiben vom 18.9.2012 teilte die Beklagte dem LSG ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung mit. Diesen Schriftsatz hat das LSG dem Kläger mit Verfügung vom 24.9.2012 zugeleitet mit der Bitte um Mitteilung, ob ebenfalls Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung besteht. Mit Schriftsatz vom 25.9.2012 hat der Kläger adressiert an das LSG Baden-Württemberg mitgeteilt: "Um beurteilen zu können, ob wir mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind, würden wir um eine kurze - selbstverständlich vorläufige - Einschätzung des Gerichts bitten, damit entschieden werden kann, ob weitere Beweisanträge zu stellen sind." Mit Verfügung vom 27.9.2012 hat das Gericht dem Kläger sodann eine Abschrift des an die Beklagte gerichteten Aktenvermerks vom 3.9.2012 mit dem Inhalt zukommen lassen: "Nach Prüfung der Sach- und Rechtslage wird mitgeteilt, dass weitere Ermittlungen nicht beabsichtigt sind … ." Durch Schriftsatz vom 18.10.2012 hat der Kläger sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
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Am 4.7.2013 hat der Kläger das Gericht um Sachstandsmitteilung gebeten. Mit Schreiben des Gerichts vom 23.7.2013 hat das LSG mitgeteilt, dass seit Dezember 2012 ein Berichterstatterwechsel stattgefunden habe. Der Senat sei bemüht, die entstandenen Rückstände zügig aufzuarbeiten.
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Durch Urteil vom 19.11.2013, das ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, hat das LSG das Urteil des SG vom 28.10.2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Weder ließe sich die von Dr. G. diagnostizierte somatoforme Schmerzstörung, die mit einer funktionellen torticollis spasmodicus einhergehen solle, noch die von Prof. Dr. L. diagnostizierte posttraumatische cervikale Dystonie bzw das posttraumatische Kausalgie-Dystonie-Syndrom zur Überzeugung des Senats mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als durch das Unfallereignis vom 23.2.2003 wesentlich verursacht zuordnen.
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Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil macht der Kläger geltend, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG iVm Art 103 Abs 1 GG verletzt. Durch die im November 2013 getroffene Entscheidung habe das LSG dem vorliegenden Verfahren eine unvorhersehbare überraschende Wende gegeben. Bei einer von der ersten Instanz im Wesentlichen abweichenden Entscheidung, nach Einholung eines die Auffassung der ersten Instanz bestätigenden und im Sinne des Klägers sogar darüber hinausgehenden Gutachtens hätte das Gericht ihm Gelegenheit zu weiterem Vortrag und Beweisantritt geben müssen, wenn es vom Urteil erster Instanz abweichen wollte. Die Übersendung der Abschrift des an die Beklagte gerichteten Aktenvermerks mit dem Inhalt, dass weitere Ermittlungen nicht beabsichtigt seien, habe im Kontext einer Anfrage des Gerichts, ob einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt werde, nur so verstanden werden können, dass keine weiteren Ermittlungen im Sinne der Beklagten beabsichtigt seien und das Gericht somit keine weiteren Beweisanträge für erforderlich halte. Für den Fall, dass er auf seine an das LSG gerichtete Anfrage eine vorläufige Einschätzung des Gerichts erhalten hätte, dass eine posttraumatische Dystonie anhand der bisher vorliegenden Unterlagen fraglich sei, hätte er vorgetragen, dass die Auswertung sämtlicher vorhandener Röntgenbilder der HWS ab 15.12.2003 und der MRT-Aufnahmen der HWS ab 16.4.2005 den Schiefhals erkennen ließen. Er hätte ebenso vorgetragen, dass der Schulterhochstand bereits im Jahre 2006 im K.-Hospital in S. diagnostiziert worden sei. Er hätte weiter vorgetragen und Beweis dafür angetreten, dass der diagnostizierte Schulterhochstand durch die Folgen der in Fehlstellung verheilten Schlüsselbeinfraktur mitsamt erheblichen Schmerzen und dadurch bedingter Fehlhaltung verursacht war. Durch ein ergänzendes Gutachten wäre nachzuweisen gewesen, dass der Auffassung des Prof. Dr. L. entweder zu folgen oder aber diese zumindest Anlass für weitere Sachaufklärung gewesen sei, zumal ihm teilweise demonstratives Verhalten sowie Aggravation unterstellt worden sei. Er hätte Beweis dafür angetreten, dass er seit Jahren mit starken Schmerzmitteln seiner vollschichtigen Arbeit nachgehe und sogar das Implantieren von Schmerzpumpen auf sich genommen habe, wobei ihm demonstratives und übertreibendes Verhalten im Bezug auf körperliche Beschwerden fernliege. Daher beruhe das Urteil des LSG darauf, dass ihm nicht Gelegenheit gegeben worden sei, weiteren Beweis anzubieten und auf weitere Sachaufklärung zu drängen.
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II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG vom 19.11.2013 ist unter Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs ergangen. Dieser vom Kläger auch schlüssig gerügte Verfahrensmangel führt gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
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Das angefochtene Urteil kann auf dem vom Kläger in erster Linie geltend gemachten Verfahrensmangel, der Verletzung rechtlichen Gehörs, beruhen. Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das angefochtene Urteil des LSG unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) sowie seines aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip (vgl Art 20 Abs 3 GG) sowie Art 6 Abs 1 Satz 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) abgeleiteten Anspruchs auf ein faires Verfahren ergangen ist.
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Der umfassende Anspruch auf ein faires Verfahren ist verletzt, wenn grundlegende Rechtsschutzstandards wie das Gebot der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, das Übermaßverbot (Gebot der Rücksichtnahme) gegenüber Freiheitsrechten und das Verbot von widersprüchlichem Verhalten oder Überraschungsentscheidungen nicht gewahrt werden (vgl BVerfGE 78, 123, 126; BVerfG SozR 3-1500 § 161 Nr 5; BSG SozR 3-1750 § 565 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2; BSG Beschluss vom 25.6.2002 - B 11 AL 21/02 B - Juris; BSG Beschluss vom 2.4.2009 - B 2 U 281/08 B - Juris). Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in dessen Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; BVerfGE 96, 205, 216 f). Weder aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren noch aus dem auf rechtliches Gehör ergibt sich eine allgemeine Hinweispflicht des Gerichts zur Sach- und Rechtslage oder eine Pflicht des Gerichts zu einem Rechtsgespräch oder zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung (BVerfGE 66, 116, 174; BVerfGE 74, 1, 5; BVerfGE 86, 133, 145). Hat das Gericht sich jedoch hinsichtlich bestimmter Sach- oder Rechtsfragen geäußert, so kann es nicht ohne vorherige Information der Beteiligten über eine mögliche andere Auffassung seinerseits in dieser Frage auf eine abweichende Beurteilung seine Entscheidung gründen, weil dies gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstößt und eine Überraschungsentscheidung darstellt.
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Vorliegend hat das LSG zunächst eine Anfrage an die Beteiligten gerichtet, ob diese mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden seien. Auf die Bitte des Klägers im Schriftsatz vom 25.9.2012, deshalb eine kurze vorläufige Einschätzung des Gerichts abzugeben, damit entschieden werden könne, ob weitere Beweisanträge zu stellen sind, hat das LSG sodann dem Kläger eine Abschrift eines an die Beklagte gerichteten Aktenvermerks zukommen lassen, dass weitere Ermittlungen nicht beabsichtigt seien. Da das erstinstanzliche Urteil des SG zugunsten des Klägers ausgefallen war und auch das Ergebnis der Beweisaufnahme durch das LSG zu einem für den Kläger positiven Sachverständigengutachten geführt hatte, musste dieser bei Erhalt dieses, an die Beklagte gerichteten Aktenvermerks davon ausgehen, dass das LSG seine Entscheidung auf keine abweichende Beurteilung dieser Fragen gegenüber dem SG gründen werde. Für den Kläger musste sich die Prozesssituation so darstellen, dass die Beklagte gerade deswegen weitere Sachverhaltsaufklärung beantragt hatte, weil sie nach der objektiven Sachlage befürchten musste, dass der Rechtsstreit zu ihren Ungunsten entschieden werde. Zwar ist eine Überraschungsentscheidung zu verneinen, wenn nur ein Mitglied des Spruchkörpers sich dahingehend äußert, dass die spätere Sachentscheidung zugunsten des Klägers ausfallen werde, da es sich dann nur um eine Einzelmeinung handelt, die für die nachfolgende Entscheidung des gesamten Spruchkörpers nicht bindend sein kann (s BSG Beschluss vom 21.6.2000 - B 5 RJ 24/00 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 30, abgedruckt unter SozR 3-1500 § 112 Nr 2). Jedoch war Anlass für die Übersendung des Vermerks die an das LSG und damit den gesamten Spruchkörper als zur Entscheidung befugten Institution gerichtete Anfrage des Klägers, weshalb die Übersendung des an die Beklagte gerichteten Aktenvermerks als Antwort des gesamten Senats erscheinen musste. Vom Empfängerhorizont des Klägers her betrachtet musste sich damit aufgrund der Auskunft des LSG der Eindruck aufdrängen, dass das LSG beabsichtigte, nach dem Ergebnis des im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten des Prof. Dr. L. keine gegenüber dem erstinstanzlichen Urteil abweichende Entscheidung zu fällen. Auf diesem durch das Verhalten des Gerichts erzeugten Eindruck kann das Urteil des LSG auch beruhen. Denn es ist denkbar und wird vom Kläger auch schlüssig dargelegt, dass dieser bei Hinweis auf eine mögliche andere Rechtsauffassung des LSG weitere Beweisanträge gestellt hätte, denen zu folgen das LSG sich hätte gedrängt sehen müssen und diese weiteren Beweiserhebungen zu einer für den Kläger positiven Entscheidung hätten führen können. Dies gilt umso mehr, als das LSG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat und die erforderliche Zustimmung gemäß § 124 Abs 2 SGG seitens des Klägers in Kenntnis einer möglichen abweichenden Beurteilung durch das LSG wohl nicht erteilt worden wäre.
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Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
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Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung.
(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.
(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.
(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.
(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.
(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.
(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
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die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.