Bundessozialgericht Beschluss, 11. Apr. 2013 - B 2 U 359/12 B

bei uns veröffentlicht am11.04.2013

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 27. September 2012 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten darum, ob ein Verkehrsunfall des Klägers, den er auf dem Weg von der Wohnung seiner Freundin zur Arbeitsstätte erlitt, ein Arbeitsunfall war. Das SG Koblenz hat die Beklagte zur Feststellung des Ereignisses als Arbeitsunfall verpflichtet (Urteil vom 22.7.2010). Die Beklagte hat hiergegen Berufung zum LSG Rheinland-Pfalz eingelegt.

2

Im Berufungsverfahren hat der Berichterstatter die Beklagte mit Schreiben vom 2.3.2011 um Prüfung gebeten, ob das Rechtsmittel im Hinblick auf die am 24.2.2011 durchgeführte Beweisaufnahme nicht zurückgenommen werden könne. Eine Abschrift dieses Schreibens haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers zur Kenntnisnahme erhalten. Nachdem die Beklagte mitgeteilt hatte, dass und warum sie die Berufung aufrecht erhalte, haben sich die Beteiligten mit Schreiben vom 18. und 23.5.2011 mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

3

Durch Verfügung vom 4.9.2012 hat der Vorsitzende des 4. Senats des LSG Termin zur mündlichen Verhandlung auf "Donnerstag, den 27.09.2012, 11.10 Uhr" bestimmt. Die Ladung zu diesem Termin ist den Beteiligten jeweils am 10.9.2012 zugegangen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers gibt an, zu dieser mündlichen Verhandlung im LSG erschienen zu sein, von der Protokollführerin aber die Auskunft erhalten zu haben, es werde ohne mündliche Verhandlung entschieden. Das LSG hat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 27.9.2012 sodann die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der Senat habe im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden können.

4

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensfehler ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Mündlichkeitsgrundsatzes.

5

Er beantragt,

        

die Revision zuzulassen.

6

Die Beklagte hat sich nicht geäußert.

7

II. Die Beschwerde ist zulässig.

8

Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 und 2 SGG) iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.

9

Die Beschwerde ist auch begründet. Es liegt ein Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruht. Denn das angegriffene Urteil des Berufungsgerichts ist verfahrensfehlerhaft ergangen, weil das LSG nicht ohne mündliche Verhandlung hätte entscheiden dürfen. Infolgedessen können die vom Kläger außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben.

10

Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 SGG, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 SGG. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Eine Einverständniserklärung im Sinne dieser Vorschrift, die das Gericht im Zeitpunkt seiner Entscheidungsfindung von Amts wegen zu prüfen hat, verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich geändert hat (BSG vom 7.4.2011 - B 9 SB 45/10 B - Juris RdNr 14). Das war hier im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am 27.9.2012 der Fall.

11

Das mit Schreiben der Beteiligten vom 18. und 23.5.2011 jeweils erklärte Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung war mit der Ladung vom 4.9.2012 zur mündlichen Verhandlung am 27.9.2012 verbraucht. Dadurch ist eine wesentliche Änderung in der bisherigen Prozesslage eingetreten. Denn mit der Anberaumung des Termins zur mündlichen Verhandlung hat das Gericht deutlich gemacht, von der Möglichkeit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nicht Gebrauch machen zu wollen, sondern den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten das Recht einzuräumen, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen und den Streitstoff umfassend zu erörtern. Das LSG hat auch zu keinem Zeitpunkt diese Ladung zur mündlichen Verhandlung wieder aufgehoben.

12

Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG(BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 12). Gerade die in Art 6 Abs 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs. Obwohl der Vorsitzende den von ihm anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung nicht aufgehoben hat, ist die mündliche Verhandlung nicht durchgeführt und damit dem Kläger die Möglichkeit genommen worden, sich selbst oder über seine Prozessbevollmächtigte zur Sach- und Rechtslage zu äußern.

13

Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es im Falle der gebotenen mündlichen Verhandlung zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

14

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen(§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

15

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

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Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160a


(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 124


(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. (2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. (3) Entscheidungen des Gerichts, d

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Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

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Bundessozialgericht Beschluss, 07. Apr. 2011 - B 9 SB 45/10 B

bei uns veröffentlicht am 07.04.2011

Tenor Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 7. Juli 2010 aufgehoben.
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Bundessozialgericht Beschluss, 06. Okt. 2016 - B 5 R 45/16 B

bei uns veröffentlicht am 06.10.2016

Tenor Der Klägerin wird hinsichtlich der Versäumung der Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württe

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(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 7. Juli 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG".

2

Mit Bescheid vom 22.6.1994 stellte das Amt für Familie und Soziales L. fest, dass bei der 1955 geborenen Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 besteht und die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" vorliegen. Einen Antrag der Klägerin auf Feststellung eines GdB von 100 und der Voraussetzungen der Merkzeichen "H" und "RF" lehnte das Amt durch Bescheid vom 6.5.1998 ab. Die dagegen gerichtete Klage und die Berufung der Klägerin waren ohne Erfolg (abschließendes Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 2.7.2003 - L 1 SB 67/00 -).

3

Im August 2004 beantragte die Klägerin die Erhöhung des GdB auf 100 sowie die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "aG". Diesen Antrag lehnte das Amt für Familie und Soziales L. mit Bescheid vom 31.5.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Sächsischen Landesamtes für Familie und Soziales vom 15.11.2005 ab, weil eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gegenüber 1994 nicht vorliege.

4

Nach Beiziehung verschiedener ärztlicher Unterlagen und Anhörung der Beteiligten hat das von der Klägerin angerufene Sozialgericht Leipzig (SG) die Klage durch Gerichtsbescheid vom 13.11.2007 abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG weitere ärztliche Befundberichte sowie von Amts wegen ein orthopädisches Gutachten des Sachverständigen Dr. E. vom 19.11.2008 und auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG ein orthopädisches Gutachten der Sachverständigen Dr. B. vom 28.8.2009 - jeweils mit einer ergänzenden Stellungnahme - eingeholt.

5

           

In der mündlichen Verhandlung am 17.2.2010 hat die Klägerin neben ihrem Sachantrag "vorsorglich" beantragt, ihre Tochter, Frau C., zu hören zu ihrer Benutzung von zwei Unterarmgehstützen außerhalb des Hauses und auch zu ihrem Laufverhalten innerhalb der Wohnung. Das LSG hat nach Beratung über die Berufung folgende Erklärung zu Protokoll gegeben:

"Das Gericht weist nach Wiedereintritt in die Verhandlung um 11:05 Uhr die Beteiligten darauf hin, dass sämtliche Gutachter bestätigt haben, dass die Klägerin sich nur unter Schmerzen erheblicher Art vom ersten Schritt außerhalb Kraftfahrzeuges fortbewegen kann. Sie nimmt seit Jahren Schmerzmedikamente ein, auch Opium. Die Chronifizierung des Schmerzes hat sich auch im Laufe der Jahre verschlechtert und es sind neue Schmerzen hinzugekommen durch das Gehverhalten der Klägerin bedingt, so im Ellenbogenbereich, im Handgelenkbereich und im Schultergelenkbereich, so dass nach der Begutachtung von Frau Dr. B. und des beschriebenen Gehverhaltens der Klägerin wohl davon auszugehen ist, dass spätestens ab Begutachtung von Frau Dr. B. von einer Fortbewegung der Klägerin unter ständigen Schmerzen außerhalb des Kraftfahrzeuges mit zwei Gehhilfen auszugehen ist."

6

           

Sodann haben sich die Beteiligten dazu bereit erklärt, nachfolgenden Vergleich zu Beendigung des Rechtsstreites zu schließen:

        

1.    

Der Beklagte erkennt an, dass bei der Klägerin ab 17.02.2010 die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" vorliegen.

        
        

2.    

Die Beteiligten erklären im Übrigen übereinstimmend das Berufungsverfahren für erledigt.

        
        

3.    

Der Beklagte übernimmt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.

        
        

4.    

Der Beklagte behält sich den Widerruf des Vergleiches bis zum 17.03.2010 vor.

        
7

Ferner haben die Beteiligten für den Fall, dass der Vergleich widerrufen wird, einen Verzicht auf weitere mündliche Verhandlung erklärt.

8

Nach fristgerechtem Widerruf des Vergleichs durch den beklagten Landkreis hat das LSG die Sachverständige Dr. B. als behandelnde Ärztin der Klägerin ergänzend befragt. Diese hat sich unter dem 3.6.2010 dahin geäußert, dass die Schmerzmittelmedikation seit dem 28.8.2009 nicht geändert worden sei, die Klägerin beim Gehen Schmerzen im Bereich der Extremitäten verspüre (Hinweis auf das Gutachten zu Punkt 5) und dieser Zustand seit mindestens eineinhalb Jahren bestehe.

9

Durch Urteil vom 7.7.2010 hat das LSG ohne mündliche Verhandlung die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Nach Darstellung der rechtlichen Grundlagen sowie der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Merkzeichen "aG" hat das LSG unter Zugrundelegung der Beurteilung des Sachverständigen Dr. E. die Auffassung vertreten, dass eine Gleichstellung der Klägerin mit den in der einschlägigen Verwaltungsvorschrift aufgelisteten Personengruppen (Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartrikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind) nicht vorgenommen werden könne. Zwar habe die Sachverständige Dr. B. ähnliche Befunde wie Dr. E. erhoben. Ihrer Einschätzung der Gehfähigkeit der Klägerin sei indes nicht zu folgen.

10

Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin die Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Ihr Beweisantrag auf Vernehmung der Tochter sei nicht berücksichtigt worden. Darin liege auch eine Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht nach § 103 SGG. Nach den in der mündlichen Verhandlung am 17.2.2010 gegebenen Hinweisen habe das LSG mit seinem Urteil ebenfalls das aus dem Rechtsstaatsgebot folgende Verbot widersprüchlichen Verhaltens verletzt. Zudem stelle die Entscheidung des LSG eine unzulässige Überraschungsentscheidung dar. Für den Verzicht der Klägerseite auf eine mündliche Verhandlung sei damit zugleich die Geschäftsgrundlage weggefallen. Eine weitere mündliche Verhandlung sei zwingend erforderlich gewesen.

11

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet.

12

Der von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des § 124 Abs 2 SGG(Urteil ohne mündliche Verhandlung) liegt vor. Er führt gemäß § 160a Abs 5 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

13

Ob die behauptete Verletzung des § 62 SGG (rechtliches Gehör) vorliegt, kann offenbleiben. Zudem muss nicht entschieden werden, ob das LSG in gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG relevanter Weise gegen § 103 SGG (Sachaufklärungspflicht) verstoßen hat. Denn die Klägerin macht jedenfalls mit Recht geltend, dass angesichts des Verfahrensganges eine "weitere mündliche Verhandlung" erforderlich gewesen sei und dass für ihre "Verzichtserklärung" betreffend eine weitere mündliche Verhandlung die Geschäftsgrundlage weggefallen sei. Sie hat damit sinngemäß eine Verletzung des § 124 Abs 2 SGG gerügt, die auch vorliegt. Das LSG hätte nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, weil der von den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 17.2.2010 erklärte "Verzicht auf weitere mündliche Verhandlung" im Hinblick auf den weiteren Gang des Verfahrens nicht mehr tragfähige Grundlage für eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gewesen ist.

14

Nach allgemeiner Auffassung verliert die Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG ihre Wirksamkeit, wenn sich die Prozesslage wesentlich ändert(s nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 124 RdNr 3d mwN). Das ist der Fall, wenn die Tatsachen- oder die Rechtsgrundlage eine andere wird, zB wenn Zeugen vernommen oder Auskünfte eingeholt werden (Keller, aaO, RdNr 3e mwN). Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, muss das Gericht im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen. Die Beteiligten sind daher bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen (vgl § 128 Abs 2 Satz 1 ZPO, der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren trotz der dort in § 101 VwGO mit § 124 SGG wortlautgleichen Vorschrift für anwendbar gehalten wird; s Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009, § 101 RdNr 8).

15

Das am 17.2.2010 sinngemäß erklärte Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) ist hier im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am 7.7.2010 nicht mehr wirksam gewesen, weil sich die Prozesslage jedenfalls dadurch wesentlich geändert hatte, dass das LSG nach dem Widerruf des Vergleichs durch den Beklagten eine weitere Beweiserhebung durchgeführt hat. Es hat nämlich eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Dr. B. vom 3.6.2010 eingeholt und bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigt.

16

Auf dieser Verletzung des § 124 Abs 2 SGG kann das angefochtene Urteil beruhen(§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), denn es ist nicht auszuschließen, dass das LSG bei prozessordnungsgerechter Sachbehandlung zu einer anderen, der Klägerin günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Insbesondere hätte die Klägerin in einer weiteren mündlichen Verhandlung ua auch die Möglichkeit gehabt, ihren Beweisantrag zu wiederholen.

17

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.