Bundesgerichtshof Beschluss, 06. Mai 2010 - V ZB 223/09

bei uns veröffentlicht am06.05.2010
vorgehend
Amtsgericht Suhl, XIV 12/09, 17.11.2009
Landgericht Meiningen, 2 T 298/09, 27.11.2009

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
V ZB 223/09
vom
6. Mai 2010
in der Abschiebungshaftsache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Unterbleibt die Belehrung eines Betroffenen nach dem Konsularvertrag zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien
vom 30. Juli 1956 bzw. nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. b WÜK bei der Inhaftierung, leidet
die Anordnung der Freiheitsentziehung an einem Verfahrensmangel, der zu ihrer
Rechtswidrigkeit führt.
BGH, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 223/09 - LG Meiningen
AG Suhl
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Mai 2010 durch den Vorsitzenden
Richter Prof. Dr. Krüger und die Richter Dr. Klein, Dr. Lemke,
Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Roth

beschlossen:
Dem Betroffenen wird für die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Meiningen vom 27. November 2009 Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt R. beigeordnet. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass die Anordnung der Haft des Betroffenen durch den Beschluss des Amtsgerichts Pößneck vom 5. November 2009, soweit sie für einen längeren Zeitraum als bis zum 13. November 2009 erfolgt ist, und die Anordnung der Haft durch den Beschluss des Amtsgerichts Suhl vom 17. November 2009 insgesamt rechtswidrig waren. Von den gerichtlichen Kosten des Verfahrens vor dem Amtsgericht Pößneck trägt der Betroffene 9/14 mit der Maßgabe, dass von der Erhebung von Dolmetscherkosten abzusehen ist. Weitere gerichtliche Kosten werden nicht erhoben. Der Landkreis Saale-Orla trägt die 5/14 der durch das Verfahren vor dem Amtsgericht Pößneck und die weiteren dem Betroffenen entstandenen außergerichtlichen Kosten. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 3.000 € festgesetzt.

Gründe:

I.

1
Der Betroffene ist Staatsangehöriger von Sierra Leone. Er reiste 2002 illegal nach Deutschland ein. Ein von ihm bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellter Asylantrag wurde bestandskräftig abgelehnt. Der Betroffene wurde unter Androhung der Abschiebung aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb eines Monats zu verlassen.
2
Am 30. Oktober 2009 beantragte der Beteiligte zu 2 bei dem Amtsgericht Pößneck, den Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung für den Zeitraum vom 5. bis zum 13. November 2009 in Haft zu nehmen. Das Amtsgericht hat den Betroffenen angehört und dem Antrag dahin stattgegeben, dass es mit Beschluss vom 5. November 2009 Sicherungshaft des Betroffen für die Dauer von längstens zwei Wochen und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet hat. Der Betroffene wurde inhaftiert und in die Vollzugsanstalt G. verbracht. Seine für den 13. November geplante Abschiebung wurde wegen eines am 12. November 2009 von dem Betroffenen gestellten weiteren Asylantrag nicht vollzogen.
3
Am 17. November 2009 ersuchte der Beteiligte zu 2 das Amtsgericht Pößneck um Abgabe des Verfahrens an das Amtsgericht Suhl, weil eine Verlängerung der Haft beantragt werden solle und aufgrund der Inhaftierung des Betroffenen in G. das Amtsgericht Suhl zuständig geworden sei. Daraufhin beschloss das Amtsgericht Pößneck am 17. November 2009, die Sache an das Amtsgericht Suhl abgegeben.
4
Mit am 17. November 2009 bei dem Amtsgericht Suhl eingegangenem Antrag hat der Beteilige zu 2 die Anordnung von Sicherungshaft des Betroffenen für die Dauer vom 19. November 2009 bis zum 19. Februar 2010 beantragt. Der Betroffene ist wiederum angehört worden. Mit Beschluss vom 17. November 2009 hat das Amtsgericht Suhl die Haft des Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von längstens drei Monaten beginnend mit dem Ende anderer richterlich angeordneter Haftarten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet.
5
Das Landgericht Meiningen, zu dessen Bezirk das Amtsgericht Suhl gehört , hat die Beschwerde des Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Haft spätestens mit Ablauf des 20. Dezember 2009 ende. Auf Antrag der Beteiligten zu 2 wurde die Haftanordnung vom 17. November 2009 am 14. Dezember 2009 aufgehoben und der Betroffene aus der Abschiebehaft entlassen.
6
Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene, die Rechtswidrigkeit der Anordnung seiner Haft für den Zeitraum seit dem 14. November 2009 festzustellen.

II.


7
Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Ein Selbstmordversuch des Betroffenen und die Begründung seines Asylfolgeantrags, sich im Falle der Abschiebung in Sierra Leone umbringen zu wollen, zeigten, dass er sich der Abschiebung entziehen wolle. Die Haftanordnung sei indessen zu beschränken, weil die Abschiebung für den 15. Dezember 2009 beabsichtigt sei und es an einer schlüssigen Begründung für eine längere Inhaftierung fehle.

III.


8
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, zulässig und begründet.
9
1. Das Rechtsmittel ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Rechtsbeschwerde eines Betroffenen auch dann ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft, wenn sich die Hauptsache durch den Ablauf der für die Haft angeordneten Dauer oder die Entlassung des Betroffenen aus der Haft erledigt hat und mit dem Rechtsmittel allein das Ziel verfolgt wird, die Verletzung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG festzustellen (Beschl. v. 25. Februar 2010, V ZB 172/09, juris Rdn. 9 ff.).
10
2. Die Rechtsbeschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Einer Entscheidung in der Sache steht nicht entgegen, dass die Beschwerde des Betroffenen am Montag, dem 7. Dezember 2009, bei dem Amtsgericht Pößneck eingegangen und erst am 9. Dezember 2009 von dort an das Amtsgericht Suhl weitergegeben worden ist.
11
a) Die uneingeschränkte Abgabe des Verfahrens hat zur Folge, dass die Sache so anzusehen ist, als wäre das abgegebene Verfahren von Anfang an bei dem annehmenden Gericht anhängig gewesen, an das das Verfahren abgegeben worden ist (OLG München FGPrax 2009, 239; OLG Oldenburg, Beschl. v. 19. August 2009, 13 W 31/09, juris, Rdn. 20). Folge hiervon ist, dass das für das annehmende Amtsgericht zuständige Landgericht auch für das ge- gen eine Entscheidung des abgebenden Amtsgerichts gerichtete Rechtsmittel zuständig ist (BayObLGZ 1982, 261; 1985, 296; BayObLG FamRZ 2004, 1899; OLG München, aaO; OLG Oldenburg, aaO). Damit aber ist die bei dem Amtsgericht Suhl am 9. Dezember 2009 eingegangene Beschwerde verspätet, soweit sie gegen den Beschluss des Amtsgerichts Pößneck vom 5. November 2009 gerichtet ist.
12
b) Die Beschwerdefrist ist jedoch dadurch gewahrt, dass der Betroffene nicht nur schriftlich durch seinen Verfahrensbevollmächtigten, sondern ausweislich des Protokolls seiner Anhörung durch das Amtsgericht Suhl am 17. November 2009 auch selbst Beschwerde gegen seine Inhaftierung eingelegt hat. Die Beschwerde ist nicht nur gegen den unmittelbar zuvor bekannt gegebenen Beschluss von diesem Tag gerichtet, sondern nach den Einlassungen des Betroffenen im Rahmen seiner Anhörung dahin auszulegen, dass sie gegen die Inhaftierung des Betroffenen im Allgemeinen und damit auch gegen den Beschluss des Amtsgerichts Pößneck vom 5. November 2009 gerichtet ist.
13
3. Gegenstand des Fortsetzungsfeststellungsantrags sind die Anordnung der Haft des Betroffenen durch den Beschluss des Amtsgerichts Pößneck, soweit sie für einen längeren Zeitraum als bis zum 13. November 2009 erfolgt ist, und die Anordnung der Haft durch das Amtsgericht Suhl. Eine solche Antragstellung ist im Fortsetzungsfeststellungsverfahren zulässig, weil in diesem die Rechtmäßigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung der Haftanordnung zu prüfen ist (vgl. Senat, Beschl. v. 4. März 2010, V ZB 184/09, juris Rdn. 14).
14
4. Die Anordnung der Haft des Betroffenen durch das Amtsgericht Pößneck für den Zeitraum vom 14. bis zum 19. November 2009 ist schon deshalb rechtswidrig, weil es an einem hierher gehenden Antrag des Beteiligten zu 2 fehlt.
15
Nach § 417 Abs. 1 FamFG darf das Gericht die Freiheitsentziehung nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen. Der Antrag muss die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung angeben, § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG. Die Anordnung einer über den Antrag der Behörde hinausgehenden Dauer der Freiheitsentziehung ist unzulässig.
16
5. Das Verfahren gegenüber dem Betroffenen leidet zudem daran, dass er zu keinem Zeitpunkt über sein Recht belehrt worden ist, die konsularische Vertretung seines Heimatlands von seiner Inhaftierung zu unterrichten.
17
Dieses Recht ergibt sich entgegen der Meinung der Rechtsbeschwerde zwar nicht aus Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 2 WÜK, weil Sierra Leone dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen nicht beigetreten ist. Im Verhältnis zu Sierra Leone gilt jedoch der Konsularvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland vom 30. Juli 1956 (BGBl II 1957 S. 285) weiter (Fundstellennachweis zum Bundesgesetzblatt B, S. 162). Art. 17 dieses Abkommens entspricht Art. 36 WÜK. Nach Art. 17 Abs. 3 des Abkommens hat jeder Angehörige eines Staates, für den das Abkommen gilt, "das Recht, jederzeit mit dem zuständigen Konsul in Verbindung zu treten", ohne dass eine Pflicht zur Belehrung hierüber ausdrücklich vereinbart ist. Sie ergibt sich jedoch ohne weiteres daraus, dass das Recht auf konsularische Hilfe ohne eine solche Pflicht im Fall der Inhaftierung und damit im wichtigsten Fall des Rechts im Ergebnis leer läuft. Konsularische Hilfe kann nur gewährt werden, wenn der Konsul von der Situati- on Kenntnis hat, in der sein Tätigwerden von einem Betroffenen möglicherweise gesucht wird.
18
Die Belehrung ist unerlässlicher Bestandteil eines rechtsstaatlichen fairen Verfahrens (vgl. BVerfG NJW 2007, 499, 500). Unterbleibt die Belehrung bei der Inhaftierung, leidet die Anordnung der Freiheitsentziehung an einem grundlegenden Verfahrensmangel, der zu ihrer Rechtswidrigkeit führt. So verhält sich hier.

IV.


19
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, 83 Abs. 2 FamFG, 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, den Beteiligten zu 2 zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Anlagen des Betroffen zu verpflichten. Von der Erhebung von Dolmetscherkosten ist in Abschiebungshaftsachen abzusehen (Senat, Beschl. v. 4. März 2010, V ZB 222/09, Rdn. 20, juris).

20
Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO.
Krüger Klein Lemke
Schmidt-Räntsch Roth

Vorinstanzen:
AG Suhl, Entscheidung vom 17.11.2009 - XIV 12/09 -
LG Meiningen, Entscheidung vom 27.11.2009 - 2 T 298/09 (3) -

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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 2


(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FamFG | § 70 Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde


(1) Die Rechtsbeschwerde eines Beteiligten ist statthaft, wenn sie das Beschwerdegericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug in dem Beschluss zugelassen hat. (2) Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, wenn 1. die Rechtssache grundsätzlic

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FamFG | § 81 Grundsatz der Kostenpflicht


(1) Das Gericht kann die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen den Beteiligten ganz oder zum Teil auferlegen. Es kann auch anordnen, dass von der Erhebung der Kosten abzusehen ist. In Familiensachen ist stets über die Kosten zu entscheiden.

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FamFG | § 417 Antrag


(1) Die Freiheitsentziehung darf das Gericht nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen. (2) Der Antrag ist zu begründen. Die Begründung hat folgende Tatsachen zu enthalten:1.die Identität des Betroffenen,2.den gewöhnlichen Aufent

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FamFG | § 415 Freiheitsentziehungssachen


(1) Freiheitsentziehungssachen sind Verfahren, die die auf Grund von Bundesrecht angeordnete Freiheitsentziehung betreffen, soweit das Verfahren bundesrechtlich nicht abweichend geregelt ist. (2) Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn einer Per

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(1) Freiheitsentziehungssachen sind Verfahren, die die auf Grund von Bundesrecht angeordnete Freiheitsentziehung betreffen, soweit das Verfahren bundesrechtlich nicht abweichend geregelt ist.

(2) Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn einer Person gegen ihren Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit insbesondere in einer abgeschlossenen Einrichtung, wie einem Gewahrsamsraum oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses, die Freiheit entzogen wird.

(1) Die Rechtsbeschwerde eines Beteiligten ist statthaft, wenn sie das Beschwerdegericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug in dem Beschluss zugelassen hat.

(2) Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.

(3) Die Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss des Beschwerdegerichts ist ohne Zulassung statthaft in

1.
Betreuungssachen zur Bestellung eines Betreuers, zur Aufhebung einer Betreuung, zur Anordnung oder Aufhebung eines Einwilligungsvorbehalts,
2.
Unterbringungssachen und Verfahren nach § 151 Nr. 6 und 7 sowie
3.
Freiheitsentziehungssachen.
In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 gilt dies nur, wenn sich die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss richtet, der die Unterbringungsmaßnahme oder die Freiheitsentziehung anordnet. In den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 ist die Rechtsbeschwerde abweichend von Satz 2 auch dann ohne Zulassung statthaft, wenn sie sich gegen den eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden oder zurückweisenden Beschluss in den in § 417 Absatz 2 Satz 2 Nummer 5 genannten Verfahren richtet.

(4) Gegen einen Beschluss im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung oder eines Arrests findet die Rechtsbeschwerde nicht statt.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
V ZB 172/09
vom
25. Februar 2010
in der Freiheitsentziehungssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5; AsylVfG § 18 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3; Art. 19 der Verordnung (EG)
Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin II-Verordnung)

a) Auch in den Rechtsbeschwerdeverfahren nach §§ 70 ff. FamFG ist ein § 62
FamFG entsprechender Feststellungsantrag des Betroffenen zulässig. Einer
Zulassung der Rechtsbeschwerde bedarf es auch in diesen Fällen nicht.

b) Die Anordnung der Haft zur Sicherung der Zurückschiebung eines unerlaubt
aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union eingereisten
Drittstaatsangehörigen (§ 18 Abs. 3 i.V.m. § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG, §§ 57
Abs. 1 Satz 1, 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) ist nicht schon dann unzulässig,
wenn der Ausländer bei der Grenzbehörde um Asyl nachgesucht hat (§ 18 Abs.
1 AsylVfG).

c) Bei seiner Prognose nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, ob die Abschiebung
innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden kann, muss der Haftrichter
das voraussichtliche Ergebnis eines von dem Ausländer bei dem
Verwaltungsgericht gestellten Antrags nach §§ 80, 123 VwGO auf Aussetzung
des Vollzugs der Zurückschiebung berücksichtigen.

d) Wird - wie derzeit bei Überstellungen nach Griechenland gemäß Art. 19 der
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin IIVerordnung
) - solchen Eilanträgen regelmäßig entsprochen, darf er, wenn die
Sache bei dem Verwaltungsgericht anhängig gemacht worden ist, eine Haft zur
Sicherung der Abschiebung nicht anordnen und hat auf die Beschwerde des
Betroffenen eine bereits angeordnete Haft nach § 426 FamFG aufzuheben.
BGH, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09 - LG Düsseldorf
AG Düsseldorf
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. Februar 2010 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richter Dr. Lemke und Dr. SchmidtRäntsch
, die Richterin Dr. Stresemann und den Richter Dr. Czub

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beteiligten zu 1 wird die Kostenentscheidung in dem Beschluss der 18. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 18. Oktober 2009 aufgehoben und festgestellt, dass dieser Beschluss die Beteiligte zu 1 in ihren Rechten verletzt hat.
Der weitergehende Feststellungsantrag wird zurückgewiesen.
Die in den Rechtsmittelverfahren entstandenen gerichtlichen Kosten werden beiden Beteiligten zu gleichen Teilen auferlegt. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Hälfte der der Beteiligten zu 1 entstandenen außergerichtlichen Kosten.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe:


I.


1
Die Beteiligte zu 1, eine afghanische Staatsangehörige, traf am 9. September 2009 mit einem Flug aus Athen kommend auf dem Flughafen Düsseldorf ein. Bei einer Kontrolle durch Beamte der Beteiligten zu 2 wies sie sich durch einen gefälschten bulgarischen Reisepass aus. Bei der Vernehmung anlässlich ihrer Ingewahrsamnahme gab sie an, aus ihrem Heimatland über den Iran mithilfe einer Schlepperorganisation mit gefälschten Dokumenten in die Türkei gekommen und von dort mit einem Boot nach Griechenland befördert worden zu sein. Sie stelle in Deutschland einen Asylantrag. Das von dem Asylersuchen unterrichtete Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (im Folgenden: Bundesamt) bat die griechischen Behörden um Übernahme der Beteiligten zu 1.
2
Auf Antrag der Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht Düsseldorf am 10. September 2009 die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung der Beteiligten zu 1 angeordnet. Die Beteiligte zu 1 hat gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt, mit dem Antrag, sie umgehend aus der Haft zu entlassen. Der Beschwerdebegründung vom 6. Oktober 2009 hat sie eine Abschrift des an demselben Tage bei dem Verwaltungsgericht eingereichten Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch Aussetzung der Maßnahmen zum Vollzug ihrer Verbringung nach Griechenland beigefügt.
3
Das Landgericht hat die Beschwerde der Beteiligten zu 1 zurückgewiesen; diese ist jedoch auf Grund der am gleichen Tage ergangenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die Aussetzung aller Maßnahmen zur Verbringung nach Griechenland mit sofortiger Wirkung aus der Haft entlassen worden. Mit der weiteren Beschwerde beantragt die Beteiligte zu 1, die Rechtswidrigkeit der Anordnung der Abschiebungshaft und die Rechtswidrigkeit ihrer Inhaftierung festzustellen.

II.

4
Das Beschwerdegericht meint, schon wegen der unerlaubten Einreise ohne Pass und Aufenthaltstitel sei ein Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG zu bejahen. Zudem liege der Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG vor, weil wegen der unerlaubten Einreise der Beteiligten zu 1 mithilfe von Schleusern und ohne gültige Papiere und ihrer Erklärung, nicht nach Griechenland zurückkehren zu wollen, der begründete Verdacht bestehe, dass sie sich der Zurückschiebung durch Untertauchen entziehen werde.
5
Der gegenüber der Beteiligten zu 2 mündlich gestellte Asylantrag stehe der Haft nicht entgegen, da die Beteiligte zu 1 dadurch noch keine Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erworben habe. Soweit die Beteiligte zu 1 vorgetragen habe, dass eine Zurückschiebung nach Griechenland wegen der dortigen Verhältnisse unzulässig sei, obliege die Prüfung dieses Einwands nicht dem Haftrichter, sondern sei Aufgabe der Verwaltungsgerichte.
6
Auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 8. September 2009 (2 BvQ 56/09) und vom 23. September 2009 (2 BvQ 68/09) rechtfertigten keine Aufhebung der Haftanordnung, weil nicht erkennbar sei, welche tatsächlichen Umstände ihnen zugrunde gelegen hätten.
7
Die Haftanordnung sei auch nicht nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG unzulässig, weil das Beschwerdegericht auch auf der Grundlage des eigenen Vorbringens der Beteiligten zu 1 nicht feststellen könne, dass eine Zurückschiebung innerhalb der nächsten drei Monate aus Gründen, die die Beteiligte zu 1 nicht zu vertreten habe, nicht möglich sein werde.

III.

8
1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig.
9
Sie ist nicht dadurch unzulässig geworden, dass sich die Hauptsache mit der Entlassung der Beteiligten zu 1 aus der Haft erledigt hat. Angesichts des Eingriffs in ein besonders bedeutsames Grundrecht durch die Freiheits- entziehung durften bereits die vor dem 1. September 2009 gegebenen Rechtsmittel (§ 7 FEVG i.V.m. §§ 19, 22, 27, 29 FGG) nicht wegen einer im Rechtsmittelverfahren eingetretenen Erledigung als unzulässig verworfen werden (BVerfG NJW 2002, 2456, 2457). Sie blieben wegen des als schutzwürdig anzuerkennenden Interesses des Betroffenen an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahme zulässig, worüber auf dessen Antrag zu entscheiden war (BVerfG, a.a.O.; Senat BGHZ 153, 18, 20). Die Neugestaltung der Rechtsmittel in §§ 58 ff. FamFG hat daran nichts geändert. Die Vorschrift des § 62 FamFG, die die Zulässigkeit eines Fortsetzungsfeststellungsantrags für die Beschwerde ausdrücklich bestimmt, ist auf die Rechtsbeschwerde entsprechend anzuwenden (Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 16. Aufl., § 74 Rdn. 9; Schulte-Bunert/Weinreich/Unger, FamFG [2009], § 62 Rdn. 4).
10
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen die freiheitsentziehende Maßnahme ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG auch dann ohne Zulassung statthaft, wenn sich - wie hier - die Hauptsache bereits vor Anhängigkeit des Rechtsmittels erledigt hat und mit diesem allein das Ziel verfolgt wird, die Verletzung des Freiheitsgrundrechts durch die Inhaftierung festzustellen.
11
2. Der mit der Rechtsbeschwerde verfolgte Fortsetzungsfeststellungsantrag ist teilweise begründet. Zwar verletzte nicht schon die Inhaftierung, aber die das Rechtsmittel zurückweisende Entscheidung des Beschwerdegerichts die Beteiligte zu 1 in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
12
a) Das Beschwerdegericht hat allerdings im Ausgangspunkt zutreffend die Voraussetzungen für die Anordnung der Haft zur Sicherung der Zurückschiebung nach § 57 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 5 AufenthG bejaht.
13
aa) Die Anordnung der Freiheitsentziehung auf Antrag der Beteiligten zu 2 war nach § 417 Abs. 1 FamFG zulässig. Die Beteiligte zu 2 (Bundespolizei) ist die für die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs zuständige Behörde, der nach § 71 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG für die an der Grenze - zu der auch die internationalen Flughäfen gehören (HK-AuslR/Hofmann, AufenthG, § 71 Rdn. 13) - durchzuführenden Zurückweisungen und Zurückschiebungen von Ausländern, deren Festnahme und die Beantragung von Haft übertragen ist (vgl. BVerfG NVwZ-RR 2009, 616, 617).
14
bb) Der Haftantrag der Beteiligten zu 2 war im Zeitpunkt der Anordnung der Haft begründet.
15
(1) Es lag der Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vor. Die Beteiligte zu 1 war auf Grund unerlaubter Einreise vollziehbar ausreisepflichtig. Diese Voraussetzung ist bei einer nicht bestandskräftigen, verwaltungsgerichtlich noch nicht überprüften und für sofort vollziehbar erklärten Zurückschiebungsverfügung nach § 57 Abs. 1 AufenthG von dem Haftrichter zu prüfen (vgl. Senat, Beschl. v. 16. Dezember 2009, V ZB 148/09, Rz. 7 - juris; KG NVwZ 1997, 516).
16
(2) Das Beschwerdegericht hat mit zutreffender Begründung auch den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG wegen des begründeten Verdachts, dass die Beteiligte zu 1 sich der Zurückschiebung nach Griechenland entziehen werde, auf Grund der unerlaubten Einreise und der Erklärung der Beteiligten zu 1, in Deutschland bleiben zu wollen, bejaht. Die Rechtsbeschwerde erhebt insoweit auch keine Einwendungen.
17
b) Dass die Beteiligte zu 1 gegenüber der Beteiligten zu 2 bei der Ingewahrsamnahme um Asyl nachgesucht hat, stand nach § 18 Abs. 3 i.V.m. § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG ihrer Zurückschiebung nicht entgegen.
18
aa) Nach § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG ist einem Ausländer, der gegenüber der Grenzbehörde um Asyl nachsucht (§ 18 Abs. 1 AsylVfG), die Einreise zu verweigern, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein anderer Staat der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird. § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG ist eine gesetzliche Anordnung für das Verfahren der Grenzbehörden bei der Einreise aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Hintergrund der Regelung ist die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. Nr. L 50 S. 1, im Folgenden: Dublin II-Verordnung). Nach § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG soll dem Ausländer bereits die Einreise verweigert werden, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union für die sachliche Prüfung des Asylantrags zuständig ist (HK-AuslR/Bruns, § 18 AsylVfG Rdn. 14; Marx, AsylVfG, 7. Aufl., § 18, Rdn. 58).
19
§ 18 Abs. 3 AsylVfG erweitert die Aufgaben der Grenzbehörden in den Fällen, in denen sie dem Ausländer zwar nicht mehr die Einreise verweigern können, weil dieser bereits die Grenze überschritten und die Grenzübergangsstelle passiert hat und damit eingereist ist (§ 13 Abs. 2 AufenthG), er jedoch noch im grenznahen Raum und in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der unerlaubten Einreise angetroffen wird. Die Grenzbehörde hat dann dessen Zurückschiebung vorzunehmen, und zwar auch dann, wenn der Ausländer ihr gegenüber erklärt, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen.
20
bb) Der Ausländer erwirbt durch das gegenüber der Grenzbehörde geäußerte Asylersuchen noch nicht die unmittelbar auf Gesetz beruhende Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Diese schlösse allerdings eine Zurückschiebung auf Grund unerlaubter Einreise grundsätzlich aus, was von dem Haftrichter auch von Amts wegen zu beachten wäre (vgl. zum früheren Recht: BayObLGZ 1993, 154, 155; 1993, 311, 313; OLG Karlsruhe NVwZ 1993, 811, 812). Bei einer Einreise aus einem sicheren Drittstaat wird die Aufenthaltsgestattung nicht schon mit dem Asylersuchen gegenüber der Grenzoder der Ausländerbehörde, sondern nach § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG erst mit der Stellung eines Asylantrags nach §§ 13, 14, 23 AsylVfG bei dem zuständigen Bundesamt erworben (vgl. Senat, BGHZ 153, 18, 20).
21
Soweit die Rechtsbeschwerde unter Hinweis auf die Bestimmungen über den Asylantrag und über den Zeitpunkt seiner Stellung (Art. 2 Buchstabe c, Art. 4 Abs. 2 Dublin II-Verordnung) meint, dass bei der Einreise aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union die Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG bereits mit der Protokollierung des Asylersuchens durch die Grenzbehörde entstehe, ist ihr nicht zu folgen. Die Inhaftierung des Asylbewerbers wegen unerlaubter Einreise ist nicht bis zu dem Zeitpunkt ausgeschlossen, in dem ihm die Entscheidung nach Art. 19 Dublin IIVerordnung mitgeteilt wird, dass sein Asylantrag nicht geprüft und er an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird. Die Ansicht der Rechtsbeschwerde widerspricht nicht nur der bundesgesetzlichen Regelung in § 18 AsylVfG. Sie lässt sich auch nicht mit der europarechtlichen Vorschrift über das sog. Dringlichkeitsverfahren in Art. 17 Abs. 2 Dublin II-Verordnung vereinbaren. Dieses ist dann anzuwenden, wenn der Asylantrag nach einer Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts gestellt, der Betroffene wegen unerlaubten Aufenthalts festgenommen worden ist, aufenthaltsbeendende Maßnahmen angekündigt oder vollzogen werden oder der Asylbewerber sich in Gewahrsam befindet. Das Dringlichkeitsverfahren setzt somit eine Festnahme und eine Inhaftierung eines sich um Asyl bewerbenden Ausländers wegen unerlaubter Einreise oder illegalen Aufenthalts in einem Mitgliedstaat voraus; es verpflichtet jedoch den um die Aufnahme des Asylbewerbers ersuchten anderen Mitgliedstaat um beschleunigte Prüfung und Entscheidung, andernfalls seine Zustimmung zur Aufnahme wegen Verfristung nach Art. 18 Abs. 6, 7 Dublin IIVerordnung als erteilt gilt (Filzwieser/Liebminger, Dublin II-Verordnung, 2. Aufl., Art. 17 Anm. K 11 und Art. 18 K 12 ff.).
22
c) Erfolg hat die Rechtsbeschwerde jedoch deshalb, weil das Beschwerdegericht den Umfang seiner Pflichten bei der Prüfung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG verkannt hat.
23
aa) Richtig ist zwar der Ausgangspunkt des Beschwerdegerichts, dass für Entscheidungen, ob Zurückschiebungen von Asylsuchenden durch Grenzbehörden (§ 18 Abs. 3 AsylVfG) oder Ausländerbehörden (§ 19 Abs. 3 AsylVfG) oder Abschiebungsanordnungen des Bundesamtes (§ 34a AsylVfG) rechtmäßig sind und ob von den Betroffenen wegen der durch einen sofortigen Vollzug drohenden Nachteile vorläufiger Rechtsschutz beansprucht und nach den Umständen gewährt werden kann, die Verwaltungsgerichte zuständig sind. Der Haftrichter ist nicht befugt, über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen zu befinden (BGHZ 78, 145, 147; Senat, BGHZ 98, 109, 112).
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bb) Das Beschwerdegericht hat jedoch nicht hinreichend beachtet, dass der Haftrichter bei der von ihm nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG abverlangten Prognose hinsichtlich der Durchführbarkeit einer Abschiebung in den kommenden drei Monaten nicht befugt ist, nur auf die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte zu verweisen. Die Abgrenzung der Zuständigkeiten bei der Rechtsschutzgewährung durch die Verwaltungs- und die Zivilgerichte darf sich nicht zu Lasten des Ausländers auswirken. Die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts (Art. 2 Abs. 2 GG) verlangt vielmehr eine eigene Sachverhaltsermittlung des Haftrichters, der den Stand und den voraussichtlichen Fortgang eines bereits anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens bei seiner Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer der Haft berücksichtigen und sich dazu bei dem zuständigen Verwaltungsgericht erkundigen muss (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660).
25
cc) Dem ist das Beschwerdegericht nicht gerecht geworden. Angesichts der ihm von dem Verfahrensbevollmächtigten der Beteiligten zu 1 vorgelegten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 8. September 2009 (NVwZ 2009, 1281) und 23. September 2009 (2 BvQ 68/09 - juris) drängte es sich auf, dass auch das Verwaltungsgericht dem anhängigen Eilantrag der Beteiligten zu 1 stattgeben und deren Zurückschiebung nach Griechenland aussetzen würde. Jedenfalls durfte das Beschwerdegericht nicht ohne eine Nachfrage bei dem Verwaltungsgericht zu dem dort anhängigen Verfahren die Beschwerde der Beteiligten zu 1 gegen die Haftanordnung zurückweisen.
26
Maßgebend für die Aussetzung der Zurückschiebungen von Asylbewerbern nach Griechenland waren nämlich nicht besonders gelagerte Umstände in den jeweiligen Einzelfällen, sondern - wie das Bundesverfassungsgericht allgemein und das OVG Münster (NVwZ 2009, 1571) detailliert ausgeführt haben - davon unabhängige ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass Griechenland die europarechtlichen Mindestnormen für die Anerkennung und den Status der Bewerber um internationalen Schutz nach der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Abl. L 304/12) und für das Verfahren nach der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 (ABl. L 326/13) nicht einhält. Diese bilden jedoch die Grundlage für die Regelung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten (Art. 5 bis 14 der Dublin II-Verordnung) und die Überstellungen der Asylbewerber nach Art. 19 Dublin II-Verordnung durch den Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt worden ist, in den für die Sachentscheidung über den Asylantrag zuständigen Mitgliedstaat (OVG Münster, aaO, 1572).
27
Vor diesem Hintergrund hätte das Beschwerdegericht die Haftanordnung nicht aufrechterhalten dürfen, sondern nach § 426 Abs. 1 Satz 1 FamFG wegen Wegfalls des die Freiheitsentziehung legitimierenden Haftgrundes aufheben müssen. Die Bestätigung der Haftanordnung eines Ausländers, der um Asyl nachgesucht hat, zum Zwecke seiner Zurückschiebung nach Griechenland nach der Dublin II-Verordnung wird nach der derzeitigen Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts und der Verwaltungsgerichte nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG unzulässig, wenn dieser einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch die Verwaltungsgerichte gestellt hat. Solange in solchen Fällen entsprechende Anordnungen zur Aussetzung des Vollzugs nach § 32 Abs. 1 BVerfGG oder nach §§ 80, 123 VwGO ergehen, muss der Haftrichter davon ausgehen, dass eine Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann.
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3. Der weitergehende Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit auch der Haftanordnung zur Sicherung der Zurückschiebung der Beteiligten zu 1 ist dagegen unbegründet.
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a) Das Hindernis, das einem baldigen Vollzug eines sofort vollziehbaren Zurückschiebungsbescheids entgegensteht, entsteht erst, wenn der Antrag gestellt ist, aufgrund dessen die zuständigen Verwaltungsgerichte den Vollzug der behördlichen Entscheidung aussetzen.
30
Die Behandlung der Asylbegehren unter Anwendung der Dublin II-Verordnung obliegt den nach §§ 2, 3 AsylVfBV zuständigen Behörden, gegen deren Entscheidungen Rechtsschutz allein durch die Verwaltungsgerichte gewährt wird (HK-AuslR/Bruns, AsylVfG, § 27a Rdn. 14, 18 und 23; Marx, AsylVfG, 7. Aufl., § 27a Rdn. 18 ff. und Rdn. 59 ff.). Die Aussetzung einer Zurückschiebung setzt daher einen Antrag des Betroffenen auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei dem Verwaltungsgericht voraus. Legt der betroffene Ausländer dagegen kein Rechtsmittel ein, muss der Haftrichter davon ausgehen, dass die zuständige Behörde die Zurückschiebung (an den nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat) so schnell wie ihr möglich vollziehen wird.
31
b) Der Pflicht des Haftrichters, den Stand und den voraussichtlichen Fortgang eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens in seine Prognose einzubeziehen (BVerfG NJW 2009, 2569, 2570), fehlt ohne den Antrag des Betroffen um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch das zuständige Verwaltungsgericht die Grundlage. Nach Aktenlage hat die Beteiligte zu 1 den Antrag nach § 123 VwGO an das Verwaltungsgericht erst zeitgleich mit der Begründung der Beschwerde gestellt, so dass nicht schon das die Haft anordnende und über die Abhilfe entscheidende erstinstanzliche Gericht, sondern erst das Beschwerdegericht bei seiner Entscheidung vom 14. Oktober 2009 die Erfolgsaussichten des Antrags auf Aussetzung der Zurückschiebung bei der Prognose über die Durchführbarkeit der Abschiebung in den nächsten drei Monaten berücksichtigen konnte.

IV.

32
Die Entscheidung über die Verteilung der Kosten beruht auf §§ 83 Abs. 2, 81 Abs. 1, 430 FamFG; die Festsetzung des Werts auf § 42 Abs. 3 FamGKG. Krüger Lemke Schmidt-Räntsch Stresemann Czub
Vorinstanzen:
AG Düsseldorf, Entscheidung vom 10.09.2009 - 151 XIV 49/09 -
LG Düsseldorf, Entscheidung vom 14.10.2009 - 18 T 51/09 -

(1) Die Freiheitsentziehung darf das Gericht nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen.

(2) Der Antrag ist zu begründen. Die Begründung hat folgende Tatsachen zu enthalten:

1.
die Identität des Betroffenen,
2.
den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Betroffenen,
3.
die Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung,
4.
die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung sowie
5.
in Verfahren der Abschiebungs-, Zurückschiebungs- und Zurückweisungshaft die Verlassenspflicht des Betroffenen sowie die Voraussetzungen und die Durchführbarkeit der Abschiebung, Zurückschiebung und Zurückweisung.
Die Behörde soll in Verfahren der Abschiebungshaft mit der Antragstellung die Akte des Betroffenen vorlegen.

(3) Tatsachen nach Absatz 2 Satz 2 können bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz ergänzt werden.

(1) Das Gericht kann die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen den Beteiligten ganz oder zum Teil auferlegen. Es kann auch anordnen, dass von der Erhebung der Kosten abzusehen ist. In Familiensachen ist stets über die Kosten zu entscheiden.

(2) Das Gericht soll die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise einem Beteiligten auferlegen, wenn

1.
der Beteiligte durch grobes Verschulden Anlass für das Verfahren gegeben hat;
2.
der Antrag des Beteiligten von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatte und der Beteiligte dies erkennen musste;
3.
der Beteiligte zu einer wesentlichen Tatsache schuldhaft unwahre Angaben gemacht hat;
4.
der Beteiligte durch schuldhaftes Verletzen seiner Mitwirkungspflichten das Verfahren erheblich verzögert hat;
5.
der Beteiligte einer richterlichen Anordnung zur Teilnahme an einem kostenfreien Informationsgespräch über Mediation oder über eine sonstige Möglichkeit der außergerichtlichen Konfliktbeilegung nach § 156 Absatz 1 Satz 3 oder einer richterlichen Anordnung zur Teilnahme an einer Beratung nach § 156 Absatz 1 Satz 4 nicht nachgekommen ist, sofern der Beteiligte dies nicht genügend entschuldigt hat.

(3) Einem minderjährigen Beteiligten können Kosten in Kindschaftssachen, die seine Person betreffen, nicht auferlegt werden.

(4) Einem Dritten können Kosten des Verfahrens nur auferlegt werden, soweit die Tätigkeit des Gerichts durch ihn veranlasst wurde und ihn ein grobes Verschulden trifft.

(5) Bundesrechtliche Vorschriften, die die Kostenpflicht abweichend regeln, bleiben unberührt.