Bundesgerichtshof Beschluss, 06. Mai 2010 - V ZB 223/09
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Der Betroffene ist Staatsangehöriger von Sierra Leone. Er reiste 2002 illegal nach Deutschland ein. Ein von ihm bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellter Asylantrag wurde bestandskräftig abgelehnt. Der Betroffene wurde unter Androhung der Abschiebung aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb eines Monats zu verlassen.
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- Am 30. Oktober 2009 beantragte der Beteiligte zu 2 bei dem Amtsgericht Pößneck, den Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung für den Zeitraum vom 5. bis zum 13. November 2009 in Haft zu nehmen. Das Amtsgericht hat den Betroffenen angehört und dem Antrag dahin stattgegeben, dass es mit Beschluss vom 5. November 2009 Sicherungshaft des Betroffen für die Dauer von längstens zwei Wochen und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet hat. Der Betroffene wurde inhaftiert und in die Vollzugsanstalt G. verbracht. Seine für den 13. November geplante Abschiebung wurde wegen eines am 12. November 2009 von dem Betroffenen gestellten weiteren Asylantrag nicht vollzogen.
- 3
- Am 17. November 2009 ersuchte der Beteiligte zu 2 das Amtsgericht Pößneck um Abgabe des Verfahrens an das Amtsgericht Suhl, weil eine Verlängerung der Haft beantragt werden solle und aufgrund der Inhaftierung des Betroffenen in G. das Amtsgericht Suhl zuständig geworden sei. Daraufhin beschloss das Amtsgericht Pößneck am 17. November 2009, die Sache an das Amtsgericht Suhl abgegeben.
- 4
- Mit am 17. November 2009 bei dem Amtsgericht Suhl eingegangenem Antrag hat der Beteilige zu 2 die Anordnung von Sicherungshaft des Betroffenen für die Dauer vom 19. November 2009 bis zum 19. Februar 2010 beantragt. Der Betroffene ist wiederum angehört worden. Mit Beschluss vom 17. November 2009 hat das Amtsgericht Suhl die Haft des Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von längstens drei Monaten beginnend mit dem Ende anderer richterlich angeordneter Haftarten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet.
- 5
- Das Landgericht Meiningen, zu dessen Bezirk das Amtsgericht Suhl gehört , hat die Beschwerde des Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Haft spätestens mit Ablauf des 20. Dezember 2009 ende. Auf Antrag der Beteiligten zu 2 wurde die Haftanordnung vom 17. November 2009 am 14. Dezember 2009 aufgehoben und der Betroffene aus der Abschiebehaft entlassen.
- 6
- Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene, die Rechtswidrigkeit der Anordnung seiner Haft für den Zeitraum seit dem 14. November 2009 festzustellen.
II.
- 7
- Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Ein Selbstmordversuch des Betroffenen und die Begründung seines Asylfolgeantrags, sich im Falle der Abschiebung in Sierra Leone umbringen zu wollen, zeigten, dass er sich der Abschiebung entziehen wolle. Die Haftanordnung sei indessen zu beschränken, weil die Abschiebung für den 15. Dezember 2009 beabsichtigt sei und es an einer schlüssigen Begründung für eine längere Inhaftierung fehle.
III.
- 8
- Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, zulässig und begründet.
- 9
- 1. Das Rechtsmittel ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Rechtsbeschwerde eines Betroffenen auch dann ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft, wenn sich die Hauptsache durch den Ablauf der für die Haft angeordneten Dauer oder die Entlassung des Betroffenen aus der Haft erledigt hat und mit dem Rechtsmittel allein das Ziel verfolgt wird, die Verletzung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG festzustellen (Beschl. v. 25. Februar 2010, V ZB 172/09, juris Rdn. 9 ff.).
- 10
- 2. Die Rechtsbeschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Einer Entscheidung in der Sache steht nicht entgegen, dass die Beschwerde des Betroffenen am Montag, dem 7. Dezember 2009, bei dem Amtsgericht Pößneck eingegangen und erst am 9. Dezember 2009 von dort an das Amtsgericht Suhl weitergegeben worden ist.
- 11
- a) Die uneingeschränkte Abgabe des Verfahrens hat zur Folge, dass die Sache so anzusehen ist, als wäre das abgegebene Verfahren von Anfang an bei dem annehmenden Gericht anhängig gewesen, an das das Verfahren abgegeben worden ist (OLG München FGPrax 2009, 239; OLG Oldenburg, Beschl. v. 19. August 2009, 13 W 31/09, juris, Rdn. 20). Folge hiervon ist, dass das für das annehmende Amtsgericht zuständige Landgericht auch für das ge- gen eine Entscheidung des abgebenden Amtsgerichts gerichtete Rechtsmittel zuständig ist (BayObLGZ 1982, 261; 1985, 296; BayObLG FamRZ 2004, 1899; OLG München, aaO; OLG Oldenburg, aaO). Damit aber ist die bei dem Amtsgericht Suhl am 9. Dezember 2009 eingegangene Beschwerde verspätet, soweit sie gegen den Beschluss des Amtsgerichts Pößneck vom 5. November 2009 gerichtet ist.
- 12
- b) Die Beschwerdefrist ist jedoch dadurch gewahrt, dass der Betroffene nicht nur schriftlich durch seinen Verfahrensbevollmächtigten, sondern ausweislich des Protokolls seiner Anhörung durch das Amtsgericht Suhl am 17. November 2009 auch selbst Beschwerde gegen seine Inhaftierung eingelegt hat. Die Beschwerde ist nicht nur gegen den unmittelbar zuvor bekannt gegebenen Beschluss von diesem Tag gerichtet, sondern nach den Einlassungen des Betroffenen im Rahmen seiner Anhörung dahin auszulegen, dass sie gegen die Inhaftierung des Betroffenen im Allgemeinen und damit auch gegen den Beschluss des Amtsgerichts Pößneck vom 5. November 2009 gerichtet ist.
- 13
- 3. Gegenstand des Fortsetzungsfeststellungsantrags sind die Anordnung der Haft des Betroffenen durch den Beschluss des Amtsgerichts Pößneck, soweit sie für einen längeren Zeitraum als bis zum 13. November 2009 erfolgt ist, und die Anordnung der Haft durch das Amtsgericht Suhl. Eine solche Antragstellung ist im Fortsetzungsfeststellungsverfahren zulässig, weil in diesem die Rechtmäßigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung der Haftanordnung zu prüfen ist (vgl. Senat, Beschl. v. 4. März 2010, V ZB 184/09, juris Rdn. 14).
- 14
- 4. Die Anordnung der Haft des Betroffenen durch das Amtsgericht Pößneck für den Zeitraum vom 14. bis zum 19. November 2009 ist schon deshalb rechtswidrig, weil es an einem hierher gehenden Antrag des Beteiligten zu 2 fehlt.
- 15
- Nach § 417 Abs. 1 FamFG darf das Gericht die Freiheitsentziehung nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen. Der Antrag muss die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung angeben, § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG. Die Anordnung einer über den Antrag der Behörde hinausgehenden Dauer der Freiheitsentziehung ist unzulässig.
- 16
- 5. Das Verfahren gegenüber dem Betroffenen leidet zudem daran, dass er zu keinem Zeitpunkt über sein Recht belehrt worden ist, die konsularische Vertretung seines Heimatlands von seiner Inhaftierung zu unterrichten.
- 17
- Dieses Recht ergibt sich entgegen der Meinung der Rechtsbeschwerde zwar nicht aus Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 2 WÜK, weil Sierra Leone dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen nicht beigetreten ist. Im Verhältnis zu Sierra Leone gilt jedoch der Konsularvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland vom 30. Juli 1956 (BGBl II 1957 S. 285) weiter (Fundstellennachweis zum Bundesgesetzblatt B, S. 162). Art. 17 dieses Abkommens entspricht Art. 36 WÜK. Nach Art. 17 Abs. 3 des Abkommens hat jeder Angehörige eines Staates, für den das Abkommen gilt, "das Recht, jederzeit mit dem zuständigen Konsul in Verbindung zu treten", ohne dass eine Pflicht zur Belehrung hierüber ausdrücklich vereinbart ist. Sie ergibt sich jedoch ohne weiteres daraus, dass das Recht auf konsularische Hilfe ohne eine solche Pflicht im Fall der Inhaftierung und damit im wichtigsten Fall des Rechts im Ergebnis leer läuft. Konsularische Hilfe kann nur gewährt werden, wenn der Konsul von der Situati- on Kenntnis hat, in der sein Tätigwerden von einem Betroffenen möglicherweise gesucht wird.
- 18
- Die Belehrung ist unerlässlicher Bestandteil eines rechtsstaatlichen fairen Verfahrens (vgl. BVerfG NJW 2007, 499, 500). Unterbleibt die Belehrung bei der Inhaftierung, leidet die Anordnung der Freiheitsentziehung an einem grundlegenden Verfahrensmangel, der zu ihrer Rechtswidrigkeit führt. So verhält sich hier.
IV.
- 19
- Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, 83 Abs. 2 FamFG, 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, den Beteiligten zu 2 zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Anlagen des Betroffen zu verpflichten. Von der Erhebung von Dolmetscherkosten ist in Abschiebungshaftsachen abzusehen (Senat, Beschl. v. 4. März 2010, V ZB 222/09, Rdn. 20, juris).
- 20
- Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO.
Schmidt-Räntsch Roth
Vorinstanzen:
AG Suhl, Entscheidung vom 17.11.2009 - XIV 12/09 -
LG Meiningen, Entscheidung vom 27.11.2009 - 2 T 298/09 (3) -
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Annotations
(1) Freiheitsentziehungssachen sind Verfahren, die die auf Grund von Bundesrecht angeordnete Freiheitsentziehung betreffen, soweit das Verfahren bundesrechtlich nicht abweichend geregelt ist.
(2) Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn einer Person gegen ihren Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit insbesondere in einer abgeschlossenen Einrichtung, wie einem Gewahrsamsraum oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses, die Freiheit entzogen wird.
(1) Die Rechtsbeschwerde eines Beteiligten ist statthaft, wenn sie das Beschwerdegericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug in dem Beschluss zugelassen hat.
(2) Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
(3) Die Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss des Beschwerdegerichts ist ohne Zulassung statthaft in
- 1.
Betreuungssachen zur Bestellung eines Betreuers, zur Aufhebung einer Betreuung, zur Anordnung oder Aufhebung eines Einwilligungsvorbehalts, - 2.
Unterbringungssachen und Verfahren nach § 151 Nr. 6 und 7 sowie - 3.
Freiheitsentziehungssachen.
(4) Gegen einen Beschluss im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung oder eines Arrests findet die Rechtsbeschwerde nicht statt.
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
(1) Die Freiheitsentziehung darf das Gericht nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen.
(2) Der Antrag ist zu begründen. Die Begründung hat folgende Tatsachen zu enthalten:
- 1.
die Identität des Betroffenen, - 2.
den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Betroffenen, - 3.
die Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung, - 4.
die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung sowie - 5.
in Verfahren der Abschiebungs-, Zurückschiebungs- und Zurückweisungshaft die Verlassenspflicht des Betroffenen sowie die Voraussetzungen und die Durchführbarkeit der Abschiebung, Zurückschiebung und Zurückweisung.
(3) Tatsachen nach Absatz 2 Satz 2 können bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz ergänzt werden.
(1) Das Gericht kann die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen den Beteiligten ganz oder zum Teil auferlegen. Es kann auch anordnen, dass von der Erhebung der Kosten abzusehen ist. In Familiensachen ist stets über die Kosten zu entscheiden.
(2) Das Gericht soll die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise einem Beteiligten auferlegen, wenn
- 1.
der Beteiligte durch grobes Verschulden Anlass für das Verfahren gegeben hat; - 2.
der Antrag des Beteiligten von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatte und der Beteiligte dies erkennen musste; - 3.
der Beteiligte zu einer wesentlichen Tatsache schuldhaft unwahre Angaben gemacht hat; - 4.
der Beteiligte durch schuldhaftes Verletzen seiner Mitwirkungspflichten das Verfahren erheblich verzögert hat; - 5.
der Beteiligte einer richterlichen Anordnung zur Teilnahme an einem kostenfreien Informationsgespräch über Mediation oder über eine sonstige Möglichkeit der außergerichtlichen Konfliktbeilegung nach § 156 Absatz 1 Satz 3 oder einer richterlichen Anordnung zur Teilnahme an einer Beratung nach § 156 Absatz 1 Satz 4 nicht nachgekommen ist, sofern der Beteiligte dies nicht genügend entschuldigt hat.
(3) Einem minderjährigen Beteiligten können Kosten in Kindschaftssachen, die seine Person betreffen, nicht auferlegt werden.
(4) Einem Dritten können Kosten des Verfahrens nur auferlegt werden, soweit die Tätigkeit des Gerichts durch ihn veranlasst wurde und ihn ein grobes Verschulden trifft.
(5) Bundesrechtliche Vorschriften, die die Kostenpflicht abweichend regeln, bleiben unberührt.