Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Feb. 2008 - 5 StR 632/07

bei uns veröffentlicht am21.02.2008

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 632/07

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 21. Februar 2008
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schweren Raubes
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Februar 2008 beschlossen
:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Berlin vom 31. August 2007 nach § 349 Abs. 4 StPO
im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als
unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels
, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1 Das Landgericht hat den Angeklagten wegen (besonders) schweren
Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die hiergegen
gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge in dem aus dem
Beschlusstenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel
unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
2 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der Angeklagte,
der aufgrund mehrerer Vorverurteilungen einen beachtlichen Teil seines Lebens
im Strafvollzug verbracht hatte, am 19. Dezember 2006 aus der Haft
entlassen. Trotz einer engmaschigen Betreuung war er mit der ihm gewährten
Unterstützung unzufrieden. Kurz nach seiner Haftentlassung begann er,
übermäßig viel Alkohol zu trinken und Diazepam einzunehmen. Dieser Medikamentenmissbrauch
verstärkte sich im Februar 2007. Am 15. Februar 2007
ließ er sich in einem Juweliergeschäft in der U. in Berlin beraten
und zahlreiche Schmuckstücke zeigen. Am nächsten Tag suchte er zunächst
die für ihn zuständige Mitarbeiterin der „Freien Hilfe“ auf. Dort trat er erregt
auf und kündigte an, einen Juwelier am Kurfürstendamm überfallen zu wollen.
Die Mitarbeiterin gewann den Eindruck, der Angeklagte sei „psychisch
total von der Rolle“. Er verließ das Büro der Mitarbeiterin gegen 11.30 Uhr.
Etwa 40 Minuten später begab er sich in das Juweliergeschäft in der U.
und bat die Inhaberin, ihm einen Ring aus der Fensterauslage vorzulegen.
Als sie sich mit dem Ring wieder dem Angeklagten zuwandte, hatte
dieser über seine rechte Hand einen durchsichtigen Plastikhandschuh gestreift
und damit aus seiner Manteltasche ein Messer hervorgeholt. Er hielt
der Inhaberin das Messer drohend vor, öffnete die Lade des Verkaufstresens
und entnahm dieser mehrere Schmuckstücke im Gesamtwert von etwa
30.000 Euro, mit denen er flüchtete. Vier Tage später schilderte er seinem
Bewährungshelfer die Tat und stellte sich der Polizei.
3 Die sachverständig beratene Strafkammer hat zugrundegelegt, dass
bei dem Angeklagten eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom
Borderline-Typ neben einer Alkoholabhängigkeit vorliege. Es könne nicht
ausgeschlossen werden, dass während des Aufenthalts bei der Mitarbeiterin
der „Freien Hilfe“ die Persönlichkeitsstörung zu einer erheblichen Verminderung
der Steuerungsfähigkeit geführt habe. Für eine Beeinflussung durch
diese Störung bei der eigentlichen Tat gebe es keinen Hinweis, da sich nicht
feststellen lasse, „dass die Borderline-Störung zu diesem Zeitpunkt wirksam“
gewesen sei. Der Angeklagte betreibe zwar Alkohol- und Diazepammissbrauch
; auch dies stehe aber in keinem unmittelbaren Zusammenhang
mit der Tat. Demzufolge sei der Angeklagte bei der Tat voll schuldfähig gewesen.
4 2. Während die Verfahrensrügen aus den Gründen der Antragsschrift
des Generalbundesanwalts ohne Erfolg bleiben, führt die Sachrüge zur Auf-
hebung des Strafausspruchs und ist im Übrigen unbegründet im Sinne des
5 Die Bewertung der Schuldfähigkeit durch das Landgericht hält hinsichtlich
des Vorliegens der Voraussetzungen des § 21 StGB sachlichrechtlicher
Prüfung nicht stand. Die Feststellungen zum geistig-seelischen Zustand
des Angeklagten während der Tatausführung sind lückenhaft und damit für
das Revisionsgericht nicht nachvollziehbar (vgl. BGHSt 49, 347, 356; BGH,
Beschluss vom 21. November 2007 – 2 StR 548/07 Rdn. 5).
6 Soweit das Landgericht davon ausgeht, dass die Persönlichkeitsstörung
bei der Tatbegehung „nicht wirksam“ gewesen sei, steht dies in einem
Spannungsverhältnis zu der Feststellung, dass nur 40 Minuten zuvor die
Borderline-Störung zu einer nicht ausschließbaren erheblichen Verminderung
der Steuerungsfähigkeit geführt habe. Letzteres setzt voraus, dass die Persönlichkeitsstörung
einen solchen Schweregrad erreicht hat, dass sie als
nicht ausschließbar erhebliche schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne
der §§ 20, 21 StGB eingeordnet werden kann (vgl. BGHSt 42, 385, 388).
Bei einer solchen Persönlichkeitsstörung handelt es sich aber um einen tief
verwurzelten, anhaltenden Zustand im Sinne eines überdauernden Musters
von innerem Erleben und Verhalten (vgl. hierzu Diagnostisches und Statistisches
Manual DSM-IV 1996, S. 711). Ein plötzliches – innerhalb von 40 Minuten
eintretendes – Abflachen der Persönlichkeitsbeeinträchtigung ist mit
dieser Diagnose nicht ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen.
7 Sofern das Landgericht mit seiner Formulierung zum Ausdruck bringen
wollte, dass die Persönlichkeitsstörung die Schuldfähigkeit bei dem konkreten
Rechtsverstoß, dem Raub, nicht beeinflusst hat, so ist dies nicht tragfähig
belegt und eindeutig festgestellt. Ob die Steuerungsfähigkeit bei der
Begehung der Tat erheblich eingeschränkt war, hat das Tatgericht in einer
Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Angeklagten und dessen Entwicklung
zu bewerten, wobei auch Vorgeschichte, unmittelbarer Anlass und Aus-
führung der Tat sowie das Verhalten danach von Bedeutung sind (BGHSt 49,
45, 54; BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 10, 20, 23, 36), und dies in
nachvollziehbarer Weise darzustellen (BGH, Beschluss vom 24. Juli 2007
3 StR 261/07). Das Landgericht stellt eine solche Gesamtwürdigung nicht
an, sondern stützt sich allein auf die zielstrebige und entschlossene, nicht
von impulsivem Verhalten geprägte Tatausführung. Dies begegnet für sich
genommen bereits Bedenken, da dem Leistungsverhalten für die Beurteilung
der Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit durch eine schwere andere seelische
Abartigkeit nur eine mindere Bedeutung zukommt (BGH NStZ-RR 2002,
230; BGH StV 2003, 157 f.). Jedenfalls aber ist hier eine Auseinandersetzung
mit anderen sich nach den Feststellungen aufdrängenden Aspekten,
die für eine forensisch relevante Beeinträchtigung sprechen, unterblieben. So
fehlt es an einer Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten
, der mit der Bewältigung des Lebens in Freiheit offensichtlich überfordert
war, dem unmittelbaren Anlass für die Tat, den handlungsleitenden Motiven
und dem auffälligen Vor- und Nachtatverhalten. Hinzu kommt, dass die beiden
Sachverhaltskomplexe, die das Landgericht hinsichtlich der Schuldfähigkeit
unterschiedlich beurteilt, durch die Ankündigung der Tat – möglicherweise
fasste der Angeklagte auch hier, also selbst auf der Grundlage der Feststellungen
im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit, den konkreten
Tatentschluss – miteinander verknüpft sind, was zu bewerten gewesen
wäre.
8 Besonders aufgedrängt hätte sich aber auch die Erörterung konstellativer
Faktoren, wie Alkohol- und Medikamentenintoxikation im Zusammenwirken
mit der Persönlichkeitsstörung. Hierzu stellt das Landgericht lediglich
fest, dass der Angeklagte Alkohol und Diazepam zu sich genommen hatte,
die sich in ihrer Wirkung zwar verstärkt hätten, der Konsum liege aber nur
„unterhalb der wahrnehmbaren Grenze“. Hierzu stützt sich die Strafkammer
auf die Aussage der Inhaberin des überfallenen Geschäfts, wonach sie nur
am Tag vor der Tat leichten Alkoholgeruch bei dem Angeklagten wahrgenommen
, ihn bei der Tat nicht als nervös empfunden habe und ihr körperli-
che Ausfallerscheinungen nicht aufgefallen seien. Dabei bleibt nicht nur ungeklärt
, ob die Zeugin die Wirkung von Diazepam überhaupt einschätzen
konnte und ab welchem Maß eine Intoxikation durch Diazepam für Dritte zu
bemerken ist, sondern auch, welchen Einfluss dieses Medikament – zumal
im Zusammenwirken mit Alkohol – auf die Steuerungsfähigkeit haben kann.
Vor allem bleibt der auffällige Unterschied zum Verhalten des Angeklagten
gegenüber der Mitarbeiterin der „Freien Hilfe“ 40 Minuten zuvor unerörtert.
Der Rückschluss von der Zeugenaussage auf einen nicht wahrnehmbaren
Rauschmittelkonsum und damit auf die fehlende Beeinflussung bei der Tat
durch diese Faktoren ist damit nicht ausreichend belegt (vgl. BGH, Beschlüsse
vom 31. März 2004 – 5 StR 351/03 – und vom 30. August 2007
9 3. Ein Ausschluss der Schuldfähigkeit kommt ersichtlich nicht in Betracht
, im Blick auf die Typik und Schwere der festgestellten Persönlichkeitsstörung
(vgl. BGHSt 42, 385, 388) auch keine Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus. Der Senat kann aber nicht ausschließen, dass die
Voraussetzungen des § 21 StGB zur Tatzeit vorgelegen haben oder nicht
auszuschließen sind und dadurch die – ohne Milderung nach § 49 Abs. 1
StGB nicht zu beanstandende – Freiheitsstrafe milder ausgefallen wäre.
Gerhardt Raum Brause
Schaal Jäger

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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

5 StR 351/03

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 31. März 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 31. März 2004

beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 24. Februar 2003 nach § 349 Abs. 4 StPO im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes zu einer lebens- langen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Revision der Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs; im übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Zur Frage der Schuldfähigkeit der zur Tatzeit 21 Jahre alten Angeklagten , die nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts ihren zweijährigen Sohn A unversorgt und unbeaufsichtigt in der Wohnung zurückließ, während sie sich selbst bei Bekannten aufhielt , und dadurch innerhalb von drei Tagen den Tod des Kindes durch Verdursten herbeiführte, hat die sachverständig beratene Strafkammer folgendes ausgeführt: Zur Tatzeit habe die Angeklagte unter einer “unreifen Persönlichkeitsstörung“ gelitten, die durch die Unfähigkeit, das eigene Leben zu planen, durch einen verzerrten Realitätsbezug, ein “schwarzweißes Weltbild“ sowie einen ausgeprägten Selbstbezug gekennzeichnet gewesen sei. Die Störung habe aber nicht den Schweregrad erreicht, der für die Eingangsvoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB erforderlich sei. Letzteres gelte auch, wenn man mit dem psychiatrischen Sachverständigen davon ausgehe, daß bei der Angeklagten zwischen Anfang und Mitte Oktober 2001 und dem Verlassen der Wohnung im November 2001 eine leichte depressive Episode vorgelegen habe. Von einer mittelgradigen oder schwerwiegenden Depression könne auch nicht im Blick auf die vor der Tat von der Angeklagten ab Oktober 2001 herbeigeführte Vermüllung ihrer Wohnung ausgegangen werden, weil diese nicht auf ihre depressive Verstimmung, sondern vor allem auf die für Ende November 2001 anberaumte Zwangsräumung zurückzuführen gewesen sei; der Zustand der Wohnung sei der Angeklagten deshalb gleichgültig gewesen. Außerdem habe die Bewährungshelferin bei einem Besuch der Angeklagten am 9. Oktober 2001 in der Behörde keine “Depressivität“ bemerkt. Der Schweregrad einer Depression könne aber nicht ausgeprägt sein, wenn es dem Betroffenen noch gelinge, diese nach außen zu verbergen.
Selbst wenn man der depressiven Episode der Angeklagten eine Relevanz für den ersten Akt der Tatausführung, das Verlassen der Wohnung, und für einen gewissen Zeitraum danach, etwa bis zum Kontakt der Angeklagten zu ihren Bekannten zuschreiben wolle, sei spätestens mit dem ersten Treffen der Angeklagten mit ihren Freunden ihre depressive Episode – welchen Schweregrad diese auch gehabt haben möge – beendet gewesen. Dies ergebe sich aus den Aussagen von drei Bekannten der Angeklagten, die in der fraglichen Zeit mit ihr umgegangen seien und sie in ihrer “(positiven) Gestimmtheit“ so erlebt hätten wie früher. Diese Bewertung werde auch nicht durch den Betäubungsmittelmißbrauch der Angeklagten nach Verlassen der Wohnung in Frage gestellt. In dieser Zeit habe die Angeklagte täglich Haschisch und gelegentlich auch Kokain konsumiert. Mit Haschisch habe die Angeklagte nach ihren eigenen Angaben ihr schlechtes Gewissen beruhigen und die Angst vor der Situation in ihrer Wohnung verdrängen wollen. Insofern fehle es schon an einer Kausalität zwischen dem Mißbrauch der Droge und der Tatbegehung.
2. Diese Erwägungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
Bedenklich ist bereits, den Schweregrad einer Depression in die Beurteilung von ungeschulten medizinischen Laien zu stellen und maßgeblich auch auf dieser Grundlage das Vorliegen einer für die Anwendung von § 21 StGB beachtlichen mittelgradigen oder schwerwiegenden Depression abzulehnen. Die Bekannten der Angeklagten, die zu den möglichen Tatzeitpunkten mit ihr umgegangen sind, haben sie zumeist unter dem Einfluß von Cannabis erlebt, das sie zur Beruhigung genommen hatte. Auch war die Angeklagte gerade bestrebt, ihrer Bedrückung durch ein vermeintlich abwechslungsreiches und ungebundenes Leben zu entgehen, so daß sie – dies liegt jedenfalls nahe – ihre möglicherweise erheblich depressive Grundstimmung vor sich selbst und anderen verborgen hat. Darüber hinaus ist in der psychiatrischen Fachwissenschaft seit langem anerkannt, daß es nicht selten Depressionen gibt, die selbst Ärzte nicht erkennen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Depression hinter körperlichen und/oder psychopathologischen Phänomenen wie z.B. Gewichtsabnahme, Schlafstörungen, Verhaltensauffälligkeiten , Aggressionszuständen, Alkoholismus oder Drogenmißbrauch verbirgt (vgl. Kielholz, Die larvierte Depression, 1981, S. 9 und 39; Rasch, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 247).
Die Ausführungen des Landgerichts lassen darüber hinaus die gebotene Gesamtschau vermissen, in welche die Täterpersönlichkeit und deren Entwicklung, die Vorgeschichte, der unmittelbare Anlaß, die Ausführung der Tat sowie das Verhalten nach der Tat einzubeziehen sind (BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 4, 9, 16, 24, 29). Hierzu bestand im vorliegenden Fall schon deshalb Anlaß, weil dem Urteil zu entnehmen ist, daß die noch junge Angeklagte eine sehr belastete Kindheit durchlebt hat und daß auch ihr späterer Lebensweg äußerst problematisch verlaufen ist (frühe Schwangerschaft und Freigabe des Kindes zur Adoption, Prostitution und Betäubungsmittelmißbrauch , gestörte Beziehung zu dem Vater des Tatopfers, schwierige soziale Verhältnisse, Überforderung und Einsamkeit).
Für die Prüfung und Bewertung des Schweregrades der vom Sachverständigen festgestellten depressiven Störung hätte insbesondere die unmittelbare Vorgeschichte, nämlich die Entwicklung der depressiven Störung bzw. die möglichen Anzeichen für deren progredienten Verlauf, vertieft einbezogen werden müssen. Hierzu hat die Strafkammer ausführlich dargelegt, daß es der Angeklagten ab März 2001 immer schwerer gelang, alltägliche Anforderungen zu bewältigen, sie keiner sinnvollen Beschäftigung mehr nachging, sie sich die meiste Zeit in schlechter Stimmung in ihrer Wohnung aufhielt, häufig an Erkältungskrankheiten litt und Termine bei ihrer Bewährungshelferin nicht mehr einhielt. Seit Juni 2001 nahm die Angeklagte auch die Termine bei dem Sozialamt nicht mehr wahr, so daß die Mietzahlungen für ihre Wohnung eingestellt wurden. Stattdessen arbeitete sie gelegentlich wieder als Prostituierte. Im Juli 2001 lebte die Beziehung der Angeklagten zu dem Vater von A wieder auf, und sie machten Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Nach einer Woche trennte sich der Kindsvater jedoch wieder von der Angeklagten, was sie sehr enttäuschte. Im September 2001 erhielt die Angeklagte die Mitteilung, daß sie wegen der Mietschulden ihre Wohnung bis zum 30. November 2001 räumen müsse. In der Folgezeit hielt sie sich überwiegend zu Hause auf und war sehr niedergeschlagen. Sie vernachlässigte ihre Wohnung, die zunehmend vermüllte. In jedem Zimmer stapelte sich Unrat. Die Angeklagte wechselte ihrem Sohn zwar noch die Windeln , entsorgte sie jedoch nicht mehr, sondern warf die gebrauchten in eine Küchenecke. Schließlich war sie auch frustriert darüber, daß ihre Mutter, von der sie sich nicht geliebt fühlte, mehr Interesse an A zeigte als an ihr.
Die Strafkammer hat in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar begründet, warum sie aus dieser auf eine nicht unerhebliche Depression hindeutenden kontinuierlichen Abnahme von sozial gebotenen Verhaltensweisen und persönlichem Wohlbefinden ausgerechnet das für den Schweregrad einer depressiven Störung besonders bedeutsame Kriterium, nämlich die Vermüllung der Wohnung, herausnimmt und dieses Phänomen nicht auf die psychische Verfassung der Angeklagten, sondern ausschließlich darauf zurückführt , daß die Wohnung Ende November hätte geräumt werden müssen. Das hierfür angeführte Argument, daß sie in dieser Zeit immerhin noch die Windeln des Kindes gewechselt habe, ist nicht aussagekräftig. Es besagt allenfalls, daß noch Reste von Verantwortungsgefühl für den Sohn erhalten geblieben waren. Die weitere Begründung, die Bewährungshelferin habe am 9. Oktober 2001 keine „Depressivität“ bei der Angeklagten festgestellt, ist aus den oben bereits dargelegten Gründen nicht genügend tragfähig.
Schließlich hätte die depressive Verstimmung der Angeklagten auch vor dem Hintergrund der vom Sachverständigen ebenfalls diagnostizierten “unreifen Persönlichkeitsstörung“ beurteilt und erwogen werden müssen, ob möglicherweise das Zusammenwirken beider Faktoren dazu geführt hat, daß zur Tatzeit die Schuldfähigkeit der Angeklagten erheblich im Sinne von § 21 StGB beeinträchtigt war, dies zumindest nicht ausgeschlossen werden kann.
3. Der Senat hebt das Urteil lediglich im Strafausspruch auf. Die Voraussetzungen des § 20 StGB liegen offensichtlich nicht vor. Sollte der neue Tatrichter auf der Grundlage eines weiteren Sachverständigengutachtens zu einer anderen Bewertung der Schuldfähigkeit der Angeklagten gelangen, vermag dies das Mordmerkmal der Grausamkeit hier nicht in Zweifel zu ziehen. Unabhängig von der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen von § 21 StGB wird die besondere psychische Befindlichkeit der Angeklagten bei der nach § 13 Abs. 2 StGB gebotenen Ermessensentscheidung zu beachten sein (BGHR StGB § 13 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 2).
Basdorf Häger Gerhardt Raum Brause
5 StR 193/07

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 30. August 2007
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 30. August
2007, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richterin Dr. Gerhardt,
Richter Dr. Raum,
Richter Schaal,
Richter Prof. Dr. Jäger
alsbeisitzendeRichter,
Richterin
alsVertreterinderBundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt Z.
alsVerteidiger,
Rechtsanwalt K. ,
Rechtsanwalt S.
alsVertreterderNebenkläger
Justizangestellte
alsUrkundsbeamtinderGeschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 22. Januar 2007 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von neun Jahren verurteilt. Die auf die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg.

I.


2
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
3
Der zur Tatzeit 20-jährige Angeklagte und seine Freunde, die Zeugen K. und Sch. , trafen sich am Abend des 7. Juni 2006 mit weiteren Bekannten und konsumierten alkoholische Getränke. Einige Zeit später bega- ben sie sich mit ihren Fahrrädern zum Bahnhofsvorplatz in Nauen, um dort „abzuhängen“. Wie gewöhnlich führte der Angeklagte in seiner Hosentasche ein aufklappbares Butterflymesser mit einer Klingenlänge von etwa 15 cm bei sich. Zur selben Zeit begab sich das spätere Opfer, H. , mit einigen Kollegen zum Bahnhof Nauen, um von dort aus nach Berlin zu fahren. H. und sein Kollege M. , die in Nauen eine Betriebsfeier hatten, waren in auch alkoholbedingt enthemmter Stimmung und sangen Fußballlieder anlässlich der seinerzeit stattfindenden Fußballweltmeisterschaft. Dies störte den Angeklagten, der sich mit seinen Freunden noch auf dem Bahnhofsvorplatz befand. Als Reaktion auf das Singen und Grölen warf entweder der Angeklagte oder einer seiner Freunde eine Flasche vom Bahnhofsvorplatz hoch auf die Gleise am Bahnsteig, wo inzwischen H. mit seinen Kollegen angekommen war. H. rief daraufhin: „Schwuchtel, geh doch zu Mami!“ in Richtung Bahnhofsvorplatz, wobei er den Angeklagten und seine Freunde nicht sehen konnte und deshalb auch nicht wusste, wer die Flasche geworfen hatte. Danach wurde mindestens noch eine weitere Flasche von unten nach oben geworfen, woraufhin H. und M. in Richtung Bahnhofsvorplatz riefen, man möge mit dem Werfen aufhören. Das beantworteten der Angeklagte, K. oder Sch. mit dem Ruf, dass man gleich hochkommen werde. H. erwiderte: „Dann mach doch!“. Alsdann beruhigte sich die Situation wieder; der Angeklagte und seine Freunde unterhielten sich weiter auf dem Bahnhofsvorplatz.
4
Gleichwohl entschloss sich der Angeklagte, der sich nachhaltig durch das „Fußballliedgegröle“ gestört gefühlt hatte, nach oben auf den Bahnsteig zu gehen und einen Streit anzufangen, wobei er sich bewusst war, ein Messer bei sich zu führen. Für ihn und seine Freunde war klar, dass es zu einer tätlichen und nicht nur verbalen Auseinandersetzung kommen würde. Oben angekommen, schob der Angeklagte sein Fahrrad in Richtung auf H. , der ganz hinten am Bahnsteig auf einer Wartebank saß. Er sprach H. an, der mit den Worten: „Verpiss Dich, ich hab’ gute Laune“ reagierte. Nunmehr stellte der Angeklagte sein Fahrrad an einem Pfeiler ab, holte sein Butterflymesser aus der Tasche und hielt es H. mit der scharfen Seite an den Hals. Hierdurch entstand eine Verletzung der oberen Hautschicht. H. sprang auf und wich zunächst zurück, während der Angeklagte mit dem Messer in der Hand auf ihn zuging. Sie schubsten sich gegenseitig , wobei H. versuchte, den Angeklagten mit Schlägen abzuwehren. Währenddessen rief er: „Stich doch!“ und Worte wie „Penner“ und „Wichser“. Insgesamt zeigte er sich von dem Messer des Angeklagten nicht sonderlich beeindruckt.
5
Spätestens zu Beginn des Gerangels entschloss sich der Angeklagte, das Messer aktiv gegen H. einzusetzen. Dabei war ihm der Tod H. s gleichgültig; vorrangig wollte er sich gegenüber seinen Kumpanen Sch. und K. keine Blöße geben. Er stach auf sein Opfer ein und traf es zunächst in die linke vordere Achselfalte. H. wehrte sich immer noch und rief: „Na komm doch“ oder ähnlich auffordernde Worte. Zwei weitere Stiche trafen ihn in die Flanke und die linke Brustseite, wobei die linke Brusthöhle eröffnet und das Herz verletzt wurde. H. lief noch einige Schritte und fiel dann zu Boden, während sich der Angeklagte mit seinem Fahrrad entfernte. H. verstarb noch auf dem Bahnsteig.
6
Das Landgericht hat die Tat des Angeklagten als Totschlag bewertet, eine Notwehrsituation ausgeschlossen und die Voraussetzungen eines minder schweren Falles des Totschlags im Sinne von § 213 StGB verneint, weil der Angeklagte – eine Ehrverletzung durch die Worte des Opfers unterstellt – jedenfalls nicht spontan darauf reagiert habe. Vielmehr sei er bedächtig, zielgerichtet und „eiskalt“ vorgegangen. Die Voraussetzungen des § 21 StGB hat die Strafkammer verneint: Eine alkoholbedingte Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit (nach Trinkmengenberechnung und Angaben eines rechtsmedizinischen Sachverständigen angenommene Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit: 0,89 Promille) des alkoholgewöhnten Angeklagten habe nicht vorgelegen. Es seien auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Ange- klagte in geistiger Hinsicht von der Norm abweiche. Darüber hinaus seien entwicklungsbedingte Schwierigkeiten, den Anreizen zur Tat mit hinreichenden Hemmungsvorstellungen zu begegnen, bei dem Angeklagten nicht festgestellt worden.

II.


7
Die Einwände der Revision gegen den Schuldspruch, speziell die tatrichterliche Beweiswürdigung, insbesondere im Zusammenhang mit der Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes, sind entsprechend der Antragsschrift des Generalbundesanwalts offensichtlich unbegründet. Der Beschwerdeführer beanstandet jedoch zutreffend die Ablehnung eines Beweisantrages als rechtsfehlerhaft. Mit dieser Verfahrensrüge hat die Revision den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg.
8
Die Verteidigung des Angeklagten hatte die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür beantragt, dass der Angeklagte zur Tatzeit schuldunfähig oder zumindest erheblich vermindert schuldfähig gewesen sei. Zur Begründung bezog sie sich auf einen durch das beantragte Gutachten erwarteten Nachweis einer mindestens erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten infolge Alkohols und Erregung. Diesen Beweisantrag wies der Tatrichter im wesentlichen unter Hinweis auf die eigene Sachkunde mit der Begründung zurück, weder aus der Lebensgeschichte noch aus der Tat des Angeklagten ergäben sich Anknüpfungstatsachen , welche die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens erforderlich machten.
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Bei – jedenfalls nicht von langer Hand geplanten – Tötungsdelikten erweist es sich, insbesondere im Bereich des Jugendstrafrechts, in der Mehrzahl der Fälle als sachgerecht, einen psychiatrischen Sachverständigen beizuziehen. Daher ist insoweit eine fehlende oder nur knappe, allein auf gerichtliche Sachkunde gestützte Begründung für das Vorliegen uneinge- schränkter Schuldfähigkeit schon sachlich-rechtlich nicht unbedenklich (vgl. Senatsurteil vom heutigen Tage – 5 StR 197/07). Eine Verletzung der Aufklärungspflicht durch Nichthinzuziehung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit liegt regelmäßig nicht fern (vgl. BGH NStZ 2006, 49; BGH, Beschluss vom 29. November 2006 – 5 StR 329/06). Im vorliegenden Fall ergeben sich zudem aus den Urteilsausführungen fallbezogene Besonderheiten , die eine Begutachtung entgegen der Auffassung des Landgerichts nahe legten (vgl. BGH NStZ 2003, 363, 364). Das Landgericht hat seine eigene Sachkunde jedenfalls mangels hinreichender Beachtung dieser Besonderheiten auch weder in dem den Antrag zurückweisenden Beschluss noch in den Urteilsgründen ausreichend belegt.
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Der Angeklagte hatte erhebliche Schulprobleme, wiederholte die sechste Klasse und verließ die Schule im Jahre 2002 nach der achten Klasse , die er ebenfalls zweimal durchlaufen musste. Nach dem sich anschließenden berufsvorbereitenden Jahr wurde ihm nicht die Eignung für eine Berufsausbildung , sondern nur die Eignung für eine Helfertätigkeit bescheinigt. Das ihm gleichwohl vermittelte Lehrverhältnis wurde von Seiten des Arbeitgebers noch in der Probezeit gekündigt. Der Angeklagte begann, vermehrt dem Alkohol zuzusprechen und nahm – allerdings in geringen Mengen – auch Cannabis zu sich. Als sich seine Freundin im Sommer 2004 von ihm trennte, steigerte er seinen Alkoholkonsum und ritzte sich möglicherweise an den Armen. Unter Alkoholeinfluss reagiert er besonders aggressiv und fühlt sich schon bei nichtigen Anlässen angegriffen. Im Urteil wird in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass der Angeklagte nur über eine geringe Frustrationstoleranz verfügt.
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All dies kann auch im Zusammenhang mit dem gruppendynamischen Hintergrund des Tatgeschehens die Annahme gedanklicher Beherrschung und willensmäßiger Steuerung der tatlenkenden gefühlsmäßigen Regungen des Angeklagten bei der offensichtlich völlig überzogenen mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Messerattacke in Frage stellen. Hinzu kommt, dass der Tat Handlungen und Wortwechsel vorausgegangen sind, die jedenfalls aus der Sicht eines leicht kränkbaren, zudem angetrunkenen und in diesem Zustand übermäßig reizbaren Heranwachsenden beleidigenden Charakter hatten. Vor diesem Hintergrund ist die Feststellung der Strafkammer, der Angeklagte habe bedächtig, zielgerichtet und „eiskalt“ gehandelt, nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Die Tatsache, dass Zeugen sein äußeres Erscheinungsbild in dieser Weise bewertet haben, genügt jedenfalls nicht, die psychische Befindlichkeit des Angeklagten bei Ausführung der Tat ausreichend zu erfassen (vgl. BGH, Beschluss vom 31. März 2004 – 5 StR 351/03). Auch die vom Landgericht für die Annahme unverminderter Schuldfähigkeit herangezogenen Tatsachen, nämlich dass der Angeklagte gewaltfrei erzogen worden sei und dass Gehirnverletzungen oder schwere Erkrankungen nicht vorgelegen hätten, sind nicht hinreichend aussagekräftig; jedenfalls sind sie nicht geeignet, eine relevante affektive Erregung des Angeklagten bei Begehung der auch für ihn außergewöhnlichen Tat auszuschließen.
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Bei dieser Sachlage bedarf die Frage, ob die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 21 StGB erheblich eingeschränkt war – die Voraussetzungen des § 20 StGB liegen ersichtlich nicht vor – mit Hilfe eines psychiatrischen Sachverständigen erneuter Prüfung. Der Ausspruch über die Höhe der Jugendstrafe kann deshalb nicht bestehen bleiben. Da der Senat nicht mit letzter Sicherheit ausschließen kann, dass nach Anhörung eines Sachverständigen auch die Verhängung einer Maßregel in Betracht kommen könnte, hebt er den gesamten Rechtsfolgenausspruch auf.
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Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.