Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 130/19
vom
5. Juni 2019
in der Strafsache
gegen
wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs
ECLI:DE:BGH:2019:050619B4STR130.19.0

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 5. Juni 2019 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 4. Oktober 2018 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, den Führerschein eingezogen und eine Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis von drei Jahren angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
2
1. Der Beschwerdeführer macht mit einer Verfahrensrüge geltend, dass ihm das letzte Wort nicht erteilt worden sei (§ 258 Abs. 2, Abs. 3 StPO). Die zulässig erhobene Rüge greift durch.
3
a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:
4
Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 4. Oktober 2018 hielten nach dem Schluss der Beweisaufnahme und der Feststellung des Vorsitzenden , dass eine Verständigung nicht stattgefunden habe, der Vertreter der Staatsanwaltschaft und die Verteidiger des Angeklagten ihre Schlussvorträge. Nach abschließender Beratung der Kammer verkündete der Vorsitzende das Urteil. Der Angeklagte rügte mit der am 11. Oktober 2018 beim Landgericht eingegangenen Revision die Nichterteilung des letzten Wortes. Der Vorsitzende nahm daraufhin eine dienstliche Stellungnahme zur Akte, wonach er sich an die Gewährung des letzten Wortes erinnere. Er sei sich sicher, den Angeklagten nach den Schlussvorträgen der Verteidiger gefragt zu haben, ob er noch Ausführungen machen wolle, bevor das Urteil ergehe. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle erklärte in ihrer dienstlichen Stellungnahme, sie könne sich nicht mehr an den Vorgang erinnern; wenn es aber so gewesen sein sollte, dass der Vorsitzende dem Angeklagten das letzte Wort nicht gewährt hätte, wäre ihr das aufgefallen und sie hätte ihn darauf hingewiesen.
5
Danach teilte der Vorsitzende den Verfahrensbeteiligten seine Absicht mit, das Hauptverhandlungsprotokoll zu berichtigen und um die Erteilung des letzten Wortes zu ergänzen. Die dienstlichen Stellungnahmen übersandte er nicht. Der Verteidiger des Angeklagten trat einer Protokollberichtigung mangels eigener Kenntnis und wegen der unsicheren Erinnerung des Angeklagten nicht entgegen. Zugleich beantragte er Akteneinsicht. Diese wurde nicht gewährt. Mit Beschluss vom 22. Januar 2019 wurde das Hauptverhandlungsprotokoll zwischen den Eintragungen betreffend die Schlussvorträge der Verteidiger und die abschließende Urteilsberatung dahin ergänzt, dass der Angeklagte befragt wurde , ob er noch etwas zu seiner Verteidigung ausführen wolle, sich dieser ab- schließend erklärte und das letzte Wort hatte. Der Beschluss ist vom Vorsitzenden , den Beisitzern und der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben.
6
b) Die Verfahrensrüge ist begründet, weil der gerügte Verstoß gegen § 258 Abs. 2, Abs. 3 StPO vorliegt und nicht auszuschließen ist, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht.
7
aa) Aus dem durch das Hauptverhandlungsprotokoll in seiner ursprünglichen Fassung bewiesenen Verfahrensablauf ergibt sich, dass der Angeklagte vor Beginn der abschließenden Urteilsberatung nicht das letzte Wort hatte. Durch den Beschluss vom 22. Januar 2019 wurde das Protokoll nicht zulässig berichtigt, weil er nicht in einem Verfahren ergangen ist, das den im Beschluss des Großen Senats für Strafsachen niedergelegten Grundsätzen zur nachträglichen Protokollberichtigung entspricht (vgl. BGH, Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298 ff.; NJW 2007, 2419 ff.). Die Protokollberichtigung ist daher zur Überprüfung der Verfahrensrüge unbeachtlich.
8
(1) Nach der Entscheidung des Großen Senats setzt die Protokollberichtigung sichere Erinnerung beider Urkundspersonen voraus. Fehlt es hieran, kann das Protokoll nicht (mehr) berichtigt werden. Die Absicht der Berichtigung ist dem Beschwerdeführer – im Fall einer Angeklagtenrevision zumindest dem Revisionsverteidiger – zusammen mit den dienstlichen Erklärungen der Urkundspersonen mitzuteilen. Diese Erklärungen haben die für die Berichtigung tragenden Erwägungen zu enthalten, etwa indem sie auf markante Besonderheiten des Falls eingehen. Daneben sollten gegebenenfalls während der Hauptverhandlung getätigte Aufzeichnungen, welche den Protokollfehler belegen , in Abschrift übermittelt werden. Dem Beschwerdeführer ist innerhalb an- gemessener Frist rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. BGH, Beschluss vom 23. April 2007, aaO, Rn. 58 und 62).
9
(2) Gemessen daran lag bereits die Grundlage für eine ordnungsgemäße Protokollberichtigung nicht vor. Urkundspersonen waren der Vorsitzende und die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle. Daher reichte allein die sichere Erinnerung des Vorsitzenden an die Erteilung des letzten Wortes nicht aus. Der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle fehlte ausweislich ihrer dienstlichen Stellungnahme eine entsprechende Erinnerung. Ihr Hinweis darauf, dass sie den Vorsitzenden darauf aufmerksam gemacht hätte, wenn er die Erteilung des letzten Wortes versäumt hätte, vermag die erforderliche sichere Erinnerung an die Erteilung des letzten Wortes nicht zu ersetzen. Daher kommt es nicht mehr darauf an, dass der Vorsitzende dem Verteidiger und dem Angeklagten die dienstlichen Stellungnahmen nicht übersandte und diese mangels Akteneinsicht auch nicht anderweitig von ihnen Kenntnis nehmen konnten. Rechtsfolge einer nicht den Vorgaben des Großen Senats entsprechenden Berichtigung ist, dass das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung gilt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 2010 – 2 StR 158/10, NStZ 2011, 168, 169; vom 28. Juni 2011 – 3 StR 485/10, juris Rn. 28).
10
bb) Der Senat kann ein Beruhen des angefochtenen Urteils auf der Nichterteilung des letzten Wortes nicht ausschließen, weil sich der Angeklagte zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen nicht eingelassen hatte. Daher bestand die Möglichkeit, dass sich das letzte Wort zu seinen Gunsten ausgewirkt hätte (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2014 – 5 StR 70/14, BGHR StPO § 258 Abs. 3 letztes Wort 1).
11
2. Das Urteil weist darüber hinaus einen durchgreifenden sachlich-rechtlichen Rechtsfehler auf.
12
Die Verurteilung des Angeklagten wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs in der Tatbestandsvariante des zu schnellen Fahrens an einer unübersichtlichen Stelle gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2d StGB ist nicht tragfähig begründet. Es bestehen mit Blick auf die Ausführungen des Sachverständigen durchgreifende rechtliche Bedenken gegen das Vorliegen des für die Verwirklichung des Tatbestands erforderlichen Gefahrverwirklichungszusammenhangs.
13
a) Nach den Feststellungen fuhr der Angeklagte am 23. Dezember 2017 gegen ein Uhr auf der Flucht vor der Polizei mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Innenstadt von K. . Zuletzt fuhr er mit einer Geschwindigkeit von mindestens 45 km/h in die Fußgängerzone G. straße ein. DieFußgängerzone ist acht bis neun Meter breit und verläuft zunächst in einer leichten Rechtskurve, die aus Fahrtrichtung des Angeklagten wegen der kurveninnenseitigen Bebauung schwer einsehbar war.
14
Der Angeklagte durchfuhr die Rechtskurve, überquerte danach die kreuzende Straße B. und fuhr auf eine hinter der Kreuzung liegende Baustelle zu, die – ausweislich des ordnungsgemäß eingeführten und in Bezug genommenen Lichtbildes 18 – auf der linken Seite der Fußgängerzone auf einer Länge von mehreren Metern eingerichtet war. Die Baustelle verengte die Fußgängerzone an dieser Stelle auf eine Breite von 4,12 Meter. Der Angeklagte passte seine Geschwindigkeit nicht an die örtlichen Gegebenheiten an, obwohl der Fahrbahnverlauf auch an dieser Stelle für ihn schlecht einsehbar war.
15
Zwischen der Baustelle und der nachfolgenden Kreuzung mit der Kr. straße standen die Zeugen M. F. , T. F. und L. vor einer aus Sicht des Angeklagten auf der rechten Fahrbahnseite gelegenen Gaststätte auf der Fahrbahn. Der Angeklagte fuhr auf die hinter der Baustellenverengung stehenden Zeugen zu und wich ihnen nicht aus. Der Zeuge M.
F. nahm das Fahrzeug wahr und konnte mit einer schnellen Reaktion die Zeugin T. F. und diese ihrerseits die Zeugin L. zur Seite ziehen und dadurch einen Zusammenstoß im letzten Moment verhindern. Der Angeklagte fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit in einem Abstand von ca. 30 cm an den Zeugen vorbei.
16
b) Zwar hat das Landgericht festgestellt und hinreichend belegt, dass der Angeklagte grob verkehrswidrig und rücksichtslos an einer unübersichtlichen Stelle in der Fußgängerzone zu schnell gefahren ist. Auch bestehen keine Bedenken hinsichtlich der konkreten Gefährdung wenigstens der Zeugin L. . Der objektive Tatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 2d StGB („und dadurch“) setzt aber darüber hinaus voraus, dass die konkrete Gefahr in einem inneren Zusammenhang mit den Risiken steht, die von der unübersichtlichen Stelle typischerweise ausgehen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2003 – 4 StR 127/03, NStZ-RR 2004, 108, 109; Beschluss vom 21. November 2006 – 4 StR 459/06, NStZ 2007, 222, 223).
17
Das Landgericht hat einen solchen Gefahrverwirklichungszusammenhang zwischen der konkreten Gefährdung einer Person und dem zu schnellen Fahren des Angeklagten an den unübersichtlichen Stellen in der Fußgängerzone nicht belegt.
18
Nach den Ausführungen des Sachverständigen betrug die Entfernung zwischen der Rechtskurve und den hinter der Baustellenverengung stehenden Zeugen etwa 50 Meter, wobei der Angeklagte die Zeugen trotz der örtlichen Gegebenheiten spätestens aus einer Distanz von 35 bis 40 Meter im Lichtkegel des Abblendlichts sehen konnte. Der Angeklagte hatte nach der sachverständigen Einschätzung die Möglichkeit, sein Fahrzeug bei einer entsprechenden Abwehrbremsung rechtzeitig vor den Zeugen zum Stehen zu bringen. Das Landgericht hielt die Ausführungen des Sachverständigen für überzeugend. Es ging zudem davon aus, dass der Angeklagte sein Fahrzeug trotz der Ge- schwindigkeit „kontrolliert fahren und lenken“ konnte.
19
Der Senat kann angesichts dieser Umstände nicht ausschließen, dass die konkrete Gefahr unabhängig von der unübersichtlichen Stelle ausschließlich durch ein gezieltes Zufahren auf die Zeugen oder aber nur gelegentlich des zu schnellen Fahrens eintrat. Beides reicht für die Annahme eines Gefahrverwirklichungszusammenhangs und damit zur Verwirklichung des objektiven Tatbestandes der vorsätzlichen Gefährdung des Straßenverkehrs im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2d StGB nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2003, aaO; Beschluss vom 21. November 2006, aaO; LK-StGB/König, 12. Aufl., § 315c Rn. 113 und 171; MünchKommStGB/Pegel, 3. Aufl., § 315c Rn. 66; SSW-StGB/Ernemann, 4. Aufl., § 315c Rn. 18; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., § 315c Rn. 27).
Sost-Scheible Bender Feilcke
Bartel Paul

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Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 315c Gefährdung des Straßenverkehrs


(1) Wer im Straßenverkehr 1. ein Fahrzeug führt, obwohl er a) infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel oderb) infolge geistiger oder körperlicher Mängel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, oder2.

Strafprozeßordnung - StPO | § 258 Schlussvorträge; Recht des letzten Wortes


(1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort. (2) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. (3) Der A

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort.

(2) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten gebührt das letzte Wort.

(3) Der Angeklagte ist, auch wenn ein Verteidiger für ihn gesprochen hat, zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung anzuführen habe.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/06
vom
23. April 2007
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch zum Nachteil
des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge
die Tatsachengrundlage entzogen werden.
2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer beabsichtigten
Protokollberichtigung zunächst den Beschwerdeführer anzuhören. Widerspricht
er der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls
weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen
trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung
hierüber mit Gründen zu versehen.
3. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen der erhobenen
Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Im
Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.
BGH, Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06 - Landgericht München I
wegen gefährlicher Körperverletzung
Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, die Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof
Nack und Basdorf sowie die Richter am Bundesgerichtshof Häger,
Maatz, Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, Pfister und Becker am 23. April
2007 beschlossen:
1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden. 2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer beabsichtigten Protokollberichtigung zunächst den Beschwerdeführer anzuhören. Widerspricht er der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen. 3. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.

Gründe:

I.

1
Die Vorlage des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs an den Großen Senat für Strafsachen betrifft die Frage, ob die Beweiskraft eines berichtigten Hauptverhandlungsprotokolls für das Revisionsgericht auch dann beachtlich ist, wenn aufgrund der Protokollberichtigung einer bereits zulässig erhobenen Verfahrensrüge zum Nachteil des Beschwerdeführers die Tatsachengrundlage entzogen wird.
2
1. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen F. (1 StR 466/05) über eine Revision des Angeklagten zu entscheiden, die sich zum Beweis eines formal ordnungsgemäß gerügten Verfahrensfehlers auf eine Sitzungsniederschrift beruft, die nach Erhebung der Verfahrensrüge in dem Sinne berichtigt wurde, dass der behauptete Verfahrensfehler in Wirklichkeit nicht geschehen sei.
3
a) Das Landgericht München I hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nrn. 2 und 5 StGB) zu Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte dem Geschädigten in einem Oktoberfestzelt mit einem 1,3 kg schweren gläsernen Krug zweimal wuchtig auf den Hinterkopf und einmal in den Nackenbereich geschlagen. Der Geschädigte wurde erheblich verletzt.
4
b) Der Beschwerdeführer erhebt - neben der Sachbeschwerde - eine Verfahrensrüge. Er beanstandet mit der am 7. Juli 2005 beim Landgericht eingegangenen Revisionsbegründung, der Anklagesatz sei in der Hauptverhandlung nicht verlesen worden (Verstoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO). Er beruft sich insoweit auf die negative Beweiskraft der Sitzungsniederschrift, in der die Verlesung des Anklagesatzes - zunächst - nicht beurkundet war. Hier hatte es lediglich geheißen: "Der Vorsitzende stellte weiter fest, dass die Staatsanwaltschaft München I gegen den Angeklagten am 20.01.05 Anklage zum Schwurgericht des Landgericht München I erhoben hat, die mit Eröffnungsbeschluss der Kammer vom 18.02.05 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen wurde."
5
Am 18. August 2005 ergänzten der Strafkammervorsitzende und die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle das Protokoll hinsichtlich des ersten Hauptverhandlungstages dahingehend, dass an der genannten Stelle des Protokolls der Satz angefügt wird: "Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den Anklagesatz".
6
Auch in der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft (§ 347 Abs. 1 Satz 2 StPO) wird unter Vorlage entsprechender dienstlicher Äußerungen von Verfahrensbeteiligten vorgetragen, dass der Anklagesatz in Wirklichkeit verlesen wurde. Zum Beleg erklärte etwa der Berichterstatter der Strafkammer, die Verlesung der rechtlichen Bewertung des Tatgeschehens als versuchter Totschlag habe Unmutsäußerungen im Publikum ausgelöst. Die Urkundsbeamtin verwies auf einen ihr bei der Fertigung der Protokollreinschrift unterlaufenen Übertragungsfehler aus den teilweise stenographischen Aufzeichnungen während der Hauptverhandlung, in denen der Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes noch enthalten war. Das entsprechende Blatt der vorläufigen Aufzeichnungen ist ihrer dienstlichen Erklärung beigefügt.
7
Die Verteidiger des Angeklagten wurden vor der Protokollberichtigung angehört. Der Verteidiger in der tatrichterlichen Hauptverhandlung, der die Revision nicht selbst begründet hat, äußerte sich dabei wie folgt: "An den entsprechenden Verfahrensabschnitt kann ich mich nicht konkret erinnern; die Verlesung der Anklageschrift stellt einen Routinevorgang dar. Allerdings vermute ich, dass ich mich hieran erinnern könnte, wenn die Anklageschrift nicht verlesen worden wäre, weil dies einen ungewöhnlichen Verfahrensablauf darstellen würde. Auch diese Überlegung führt aber nicht zu einer konkreten Erinnerung. Aufgrund dieses Rückschlusses erscheint es mir aber durchaus möglich, dass die Erinnerung der Urkundspersonen zutreffend ist."
8
2. Der 1. Strafsenat möchte die Revision des Angeklagten verwerfen. Die Verfahrensrüge hält er für unbegründet, da er unter Aufgabe seiner Rechtsprechung zum Verbot der "Rügeverkümmerung" (vgl. BGHSt 34, 11, 12; NStZ 1984, 521; 1986, 374; 1995, 200, 201) die berichtigte Sitzungsniederschrift als im Sinne von § 274 StPO beachtlich erachtet, auch wenn durch die Berichtigung der Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird. Da sich der 1. Strafsenat an der beabsichtigten Entscheidung durch entgegenstehende Rechtsprechung der anderen Strafsenate gehindert sieht, hat er mit Beschluss vom 12. Januar 2006 (NStZ-RR 2006, 112, m. Anm. Fezer StV 2006, 290, Jahn/Widmaier JR 2006, 166 und Lampe NStZ 2006, 366) bei den anderen Strafsenaten gemäß § 132 Abs. 3 GVG angefragt, ob an dieser Rechtsprechung festgehalten wird.
9
Der 2. Strafsenat (Beschl. vom 31. Mai 2006 i.V.m. Beschl. vom 3. Juli 2006 - 2 ARs 53/06 = NStZ-RR 2006, 275) und der 3. Strafsenat (Beschl. vom 22. Februar 2006 - 3 ARs 1/06) haben der vom 1. Strafsenat vertretenen Rechtsansicht zugestimmt und entgegenstehende eigene Rechtsprechung aufgegeben. Der 4. Strafsenat (Beschl. vom 3. Mai 2006 - 4 ARs 3/06 = NStZ-RR 2006, 273) und der 5. Strafsenat (Beschl. vom 9. Mai 2006 - 5 ARs 13/06) haben an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten.
10
3. Daraufhin hat der 1. Strafsenat mit Beschluss vom 23. August 2006 (NJW 2006, 3582 m. Anm. Widmaier) dem Großen Senat gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Ist die Beweiskraft (§ 274 StPO) des berichtigten Protokolls für das Revisionsgericht auch dann beachtlich, wenn aufgrund einer Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des Angeklagten die maßgebliche Tatsachengrundlage entfällt?
11
4. Der Generalbundesanwalt hält die Vorlegungsfrage für zu eng gefasst; sie sei auf alle Revisionen, insbesondere auch auf diejenigen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers, zu erstrecken.
12
In der Sache selbst tritt der Generalbundesanwalt im Grundsatz der Rechtsansicht des 1. Strafsenats bei, dass die Beweisregel des § 274 StPO auch hinsichtlich eines nachträglich berichtigten Protokolls gelte. Die Vorschrift schaffe keine vom wirklichen Verfahrensgeschehen abweichende formelle bzw. prozessuale Wahrheit; § 274 StPO bezwecke vielmehr nur eine klare Kompetenzverteilung zwischen der Tatsachen- und der Revisionsinstanz in Form des grundsätzlichen Verbots, im Revisionsverfahren die tatrichterliche Hauptverhandlung zu rekonstruieren. Im Interesse einer fairen Verfahrensgestaltung und der Effektivität des Rechtsmittels müsse der Beschwerdeführer jedoch vor der Gefahr fehlerhafter Protokollberichtigungen geschützt werden. Vor der Berichtigung seien daher dienstliche Erklärungen und Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten einzuholen und dem Beschwerdeführer rechtliches Gehör zu gewähren. Verblieben bei der freibeweislichen Überprüfung aus Sicht des Revisionsgerichts konkrete Zweifel an der Korrektheit der Berichtigung, könne es ihr die Beachtung im Sinne von § 274 StPO verwehren.
13
Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen:
a) Die nach Erhebung einer Verfahrensrüge erfolgte Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls ist für das Revisionsgericht grundsätzlich auch dann im Sinne von § 274 StPO beachtlich, wenn dadurch der Verfahrensrüge zu Ungunsten des Revidenten die Tatsachengrundlage entzogen wird.
b) Bestehen aus Sicht des Revisionsgerichts konkrete Anhaltspunkte für eine inhaltliche Unrichtigkeit der Protokollberichtigung , so kann das Revisionsgericht die entscheidungserheblichen Verfahrenstatsachen freibeweislich aufklären.

II.

14
1. Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG sind gegeben. Den Bedenken, die der 4. Strafsenat im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsfrage im konkreten Fall geäußert hatte (vgl. NStZ-RR 2006, 273), ist der 1. Strafsenat mit ausführlicher Begründung entgegengetreten (vgl. NJW 2006, 3582, 3583, 3586 f.). Dessen Beurteilung ist jedenfalls vertretbar und folglich für den Großen Senat bindend (vgl. BGHSt 41, 187, 194; Franke in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 132 GVG Rdn. 42).
15
2. Die vorgelegte Rechtsfrage ist allerdings auf alle Revisionen - namentlich auf diejenigen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers - zu erweitern. Wenngleich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Entscheidungen über eine Revision anderer Beschwerdeführer als des Angeklagten ersichtlich sind, in denen es auf die relative Unbeachtlichkeit einer Protokollberichtigung angekommen wäre, so sind doch die tragenden Erwägungen in den Entscheidungsgründen davon unabhängig, wer Beschwerdeführer ist (vgl. nur grundlegend BGHSt 2, 125; ebenso schon RGSt 43, 1; OGHSt 1, 277).

III.

16
Im Strafprozessrecht sind Zulässigkeit und Beachtlichkeit einer Protokollberichtigung nicht ausdrücklich geregelt. Auch die Gesetzesmaterialien zur Strafprozessordnung enthalten insoweit keine eindeutigen Hinweise.
17
1. Nach § 274 Satz 1 StPO kann die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten (§ 273 Abs. 1 StPO) nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese wesentlichen Förmlichkeiten betreffenden Inhalt lässt das Gesetz nur den Nachweis der Fälschung zu (§ 274 Satz 2 StPO). Bei § 274 StPO handelt es sich um eine Beweisregel (BGH NJW 2006, 3579, 3581, zur Veröffentlichung in BGHSt 51, 88 bestimmt; Dahs AnwBl. 1950/51, 90 f.; Dallinger NJW 1951, 256, 257; Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß 2004 S. 687 f.), die nach der Fertigstellung des ordnungsgemäß errichteten und von beiden Urkundspersonen unterzeichneten Protokolls (§§ 271, 273 Abs. 4 StPO) gilt. Dies wurde zunächst dahin verstanden, dass den Urkundspersonen - außerhalb des Nachweises der Fälschung - Protokollberichtigungen , soweit es um die wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens geht, von vorneherein versagt sind, und zwar solche zugunsten wie zu Lasten des Beschwerdeführers (in diesem Sinne noch RGSt 8, 141, 143 f.; 17, 346, 348). Die Frage nach der Beachtlichkeit von Protokollberichtigungen würde sich danach nicht stellen.
18
Den Gesetzesmaterialien zur Strafprozessordnung im Zusammenhang mit einer Protokollberichtigung (vgl. Hahn, Materialien zur StPO 2. Aufl. S. 40, 256 ff., 1039, 1394) entnimmt der Große Senat nicht, dass der Gesetzgeber selbst dann jeden Zweifel an der Richtigkeit des - ursprünglichen - Protokollinhalts für unberechtigt hielt, sollte eine Protokollberichtigung aufgrund sicherer Erinnerung der Urkundspersonen erfolgen.
19
2. In die Zivilprozessordnung, die eine der Vorschrift des § 274 StPO vergleichbare Bestimmung (§ 165 ZPO) enthält, ist durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom 20. Dezember 1974 (ProtVereinfG, BGBl I 3651) mit § 164 ZPO eine Vorschrift eingefügt worden, nach der - unter Anhörung der Beteiligten - Protokollberichtigungen vorgenommen werden dürfen. Anders als für das Verwaltungs -, Finanz- und Sozialgerichtsverfahren (Art. 3 Nr. 1, Art. 4 Nr. 1, Art. 5 Nr. 2 des ProtVereinfG: jeweils Verweisung auf die §§ 159 bis 165 ZPO) hat der Gesetzgeber, der mit dem Protokollvereinfachungsgesetz von 1974 die Praxis der Zivilgerichte zur Protokollberichtigung (vgl. Zöller, ZPO 10. Aufl. S. 263) auf eine gesetzliche Grundlage gestellt hat (BRDrucks. 551/74 S. 63; BTDrucks. 7/2769 S. 10), diese Vorschrift nicht für den Strafprozess für anwendbar erklärt.

IV.

20
Die Rechtsprechung hat nach anfänglichem Schwanken Protokollberichtigungen im Strafverfahren zugelassen und dies im Wesentlichen damit begründet , dass insoweit eine auslegungsbedürftige Gesetzeslücke bestehe. Umfang und Folgen zulässiger Berichtigungen wurden allerdings nicht einheitlich bestimmt:
21
1. Eine Protokollberichtigung ist jederzeit zulässig und geboten, falls die Urkundspersonen Mängel erkennen (vgl. BGHSt 1, 259, 261; BGH JZ 1952, 281; NStZ 2005, 281, 282; RGSt 19, 367, 370; OGHSt 1, 277, 278; anders noch RGSt 8, 141, 143 f.; 17, 346, 348). Sie ist auch stets beachtlich, wenn sie zugunsten des Beschwerdeführers wirkt (BGHSt 1, 259, 261 f.; RGSt 19, 367, 369 f.; 21, 200, 201; OLG Köln NJW 1952, 758) oder wenn sie - bei einem einheitlichen Vorgang - teilweise zu seinen Gunsten, teilweise zu seinen Ungunsten vorgenommen worden ist (BGHSt aaO; RGSt 56, 29; RG GA 57 [1910], 396; JW 1932, 3109).
22
Nach bisheriger Rechtsprechung ist eine Protokollberichtigung - ebenso wie eine Distanzierung der Urkundspersonen vom Protokollinhalt (vgl. hierzu BGHSt 4, 364; BGH NStZ 1988, 85) - jedoch unbeachtlich, wenn sie einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzieht (Verbot der Rügeverkümmerung). Dieser Rechtssatz hat eine lange Tradition: Er findet sich - aufbauend auf der Rechtsprechung der preußischen Obergerichte (vgl. RGSt 43, 1, 10) - schon zu Beginn der Reichsgerichtsrechtsprechung (RGSt 2, 76, 77 f.). Er blieb ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts (grundlegend RGSt 43, 1 m.w.N.; ferner RGSt 56, 29; 59, 429, 431; 63, 408, 409 f.) bis zu dem - die umfassende Beachtlichkeit einer Berichtigung bejahenden - Beschluss des Großen Strafsenats für Strafsachen vom 11. Juli 1936 (RGSt 70, 241). Diese Entscheidung darf indessen im Hinblick auf im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Gedankengut stehende Formulierungen keine Beachtung finden.
23
Der ursprünglichen Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung folgten nach 1945 verschiedene Obergerichte, unter anderem der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone (OGHSt 1, 277 [m.w.N. 279]; 3, 83, 84), und schließlich der Bundesgerichtshof. Grundlegend war das Urteil des 3. Strafsenats vom 19. Dezember 1951 (BGHSt 2, 125), das sich im Wesentlichen den in RGSt 43, 1 und OGHSt 1, 277 dargelegten Argumenten anschloss (nachfolgend BGHSt 7, 218, 219; 10, 145, 147; 10, 342, 343; 12, 270, 271; 22, 278, 280; 34, 11, 12; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 11; 13; 27; 28; BGH NStE StPO § 344 Nr. 7; NStZ 1984, 521; 1995, 200, 201; 2002, 219; StV 2002, 183; JZ 1952, 281; wistra 1985, 154; Urt. vom 21. Dezember 1966 - 4 StR 404/66). Diese Rechtsprechung steht in Übereinstimmung mit der heute herrschenden Meinung in der strafprozessualen Literatur (vgl. nur Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 55 ff. m. zahlr. w. N.).
24
Soweit danach eine Protokollberichtigung für das Revisionsgericht nicht beachtlich ist, führt dies dazu, dass Sachverhalte, die aufgrund der formellen Beweiskraft des - unberichtigten - Protokolls als unwiderlegbar vermutet werden , der Verfahrenswirklichkeit nicht zu entsprechen brauchen (BGHSt 26, 281, 283; 36, 354, 358; RGSt 43, 1, 6).
25
2. Folgende Argumente werden für den Rechtssatz, wonach eine Protokollberichtigung einer Rüge nicht die Tatsachengrundlage entziehen darf, vorgebracht :
26
Mit dem Eingang der Revisionsbegründungsschrift erwerbe der Beschwerdeführer eine prozessuale Befugnis bzw. ein prozessuales Recht auf Beibehaltung der Grundlage seiner Rüge für die Revisionsinstanz, zumal er selbst praktisch keine Möglichkeit habe, die Berichtigung des Protokolls zu erzwingen (BGHSt 2, 125, 126; RGSt 43, 1, 9; 59, 429, 431). Da er zur Begründung seiner Verfahrensrüge nur das Protokoll in der ihm vorliegenden Form verwerten dürfe, müsse ihm das Recht zustehen, sich nachträglichen Änderungen zu seinen Lasten zu widersetzen (OGHSt 1, 277, 280); er müsse auch gegen eine nachträgliche Beseitigung des Mangels durch Protokollberichtigung gesichert sein (BGHSt 2, 125, 127).
27
Der Gesetzgeber habe mit § 274 StPO eine Norm geschaffen, die der Zweckmäßigkeit den Vorrang vor der absoluten Wahrheit einräume (BGHSt 2, 125, 128; 26, 281, 283); das Hauptverhandlungsprotokoll erzeuge gewissermaßen einen Sachverhalt, der kraft gesetzlicher Vorschrift als Tatsache zu behandeln sei ohne Rücksicht darauf, wie der wirkliche Sachverhalt liegen möge (RGSt 43, 1, 6). Der Gesetzgeber habe die mögliche Ausnutzung einer prozessrechtlich zulässigen Befugnis zu wahrheitswidrigen Zwecken gesehen und in Kauf genommen (RG aaO; OGHSt 1, 277, 282). Die Neugestaltung des § 274 StPO sei Sache des Gesetzgebers (BGH, Beschl. vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01; OGHSt 1, 277, 280).
28
Mit zunehmender Zeit lasse das Erinnerungsvermögen der Urkundspersonen nach. Die Gefahr fehlerhafter Berichtigungen sei nicht auszuschließen (BGHSt 2, 125, 128; RGSt 43, 1, 5; OGHSt 1, 277, 281).
29
Die zeitlich unbeschränkte Berücksichtigung nachträglicher Berichtigungen wäre mit der nach Sinn und Zweck des § 274 StPO zu erhebenden Forderung nach genauester Abfassung der Sitzungsniederschrift nicht vereinbar. Denn die Möglichkeit ihrer jederzeitigen Änderung könne dazu führen, dass ihrer Herstellung weniger Sorgfalt zugewendet werde (BGHSt 2, 125, 127; OGHSt 1, 277, 281).
30
Auch wenn eine Revision nur deshalb erfolgreich sei, weil sie einen Sachverhalt vortrage, der der Verfahrenswirklichkeit nicht entspreche, sei nicht zu besorgen, dass die Gerechtigkeit letztlich Schaden nehme. Denn selbst bei missbräuchlicher Ausübung der durch § 274 StPO gewährten prozessualen Befugnis erreiche der Beschwerdeführer nur, dass der Sachverhalt nochmals unter gewissenhafter Beachtung aller sachlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften erörtert und gerecht entschieden werde (OGHSt 1, 277, 282).
31
3. Das Verbot der Rügeverkümmerung war jedoch in der Rechtsprechung nie unbestritten:
32
Anders als zunächst das Reichsgericht judizierte das Reichsmilitärgericht (RMG 9, 35; 15, 281, 282). Wenngleich es auf der Grundlage einer anderen Prozessordnung - diese ließ gegen das Protokoll auch den Nachweis der Unrichtigkeit zu (§ 335 Satz 2 MStGO) - zu entscheiden hatte, trat es auch auf der Grundlage der Strafprozessordnung den Argumenten des Reichsgerichts entgegen (vgl. RMG 9, 35, 41 ff.). Dessen II. Strafsenat wollte sich der Auffassung des Reichsmilitärgerichts anschließen. In dem von ihm herbeigeführten Beschluss der Vereinigten Strafsenate wurde die bisherige Rechtsprechung des Reichsgerichts jedoch bestätigt (RGSt 43, 1). Nach 1945 hielt zunächst das OLG Braunschweig (HESt 1, 192) eine nachträgliche Protokollberichtigung zum Nachteil des Beschwerdeführers für beachtlich.
33
Auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs finden sich gegen das Verbot der Rügeverkümmerung Vorbehalte: Ob eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge die Grundlage entziehen darf, wurde vom 1. Strafsenat offen gelassen in NJW 1982, 1057 sowie vom 5. Strafsenat in BGHR StPO § 274 Beweiskraft 22 (vgl. auch BGH [3. Strafsenat] NStZ-RR 1997, 73). Zweifel äußerte der 2. Strafsenat in NJW 2001, 3794, 3796 (kritisch derselbe Senat in diesem Zusammenhang auch in BGHSt 36, 354, 358 f.). Zuletzt sprachen sich definitiv - in obiter dicta - der 2. Strafsenat (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29 m. Anm. Mosbacher JuS 2006, 39, 42 und Park StV 2005, 257) und der 1. Strafsenat (NStZ 2006, 181) für eine Änderung der Rechtsprechung zur Berücksichtigung einer Protokollberichtigung trotz Rügeverlust aus.
34
4. Dieser Kritik am Verbot der Rügeverkümmerung liegen folgende Erwägungen zugrunde:
35
Das Strafverfahrensrecht kenne keine Rechtsnorm, wonach für das Revisionsgericht die Sitzungsniederschrift in ihrer ursprünglichen Fassung, nicht nach ihrer Berichtigung im Sinne von § 274 StPO beachtlich sei. "Ein prozessuales Recht der Prozessbeteiligten, dass etwas nicht Geschehenes beurkundet oder etwas Geschehenes nicht beurkundet wird, gibt es nicht" (RMG 9, 35, 41 f.).
36
Grundsätzlich sei auch für die Revisionsgerichte die wahre Sachlage maßgeblich, wenn prozessual erhebliche Tatsachen der Klärung bedürften (BGHSt 36, 354, 358 f.). Wenn tatsächlich kein Verfahrensfehler gegeben sei, dürften bloße Mängel des Protokolls, welche die Urkundspersonen erkannt und beseitigt hätten, kein Revisionsgrund sein (vgl. BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29; BGH NJW 2001, 3794, 3796; RMG 9, 35, 43; OLG Braunschweig HESt 1, 192, 193). Ein Misstrauen in die Redlichkeit der Urkundspersonen sei hingegen nicht gerechtfertigt (BGH NStZ 2006, 181). Eine von der Verfahrenswirklichkeit abweichende prozessuale Wahrheit sei nicht anzuerkennen, da § 274 StPO nicht die Tatsachen verändere, es sich bei der Vorschrift vielmehr nur um eine Beweisregel handele (BGH NJW 2006, 3579, 3581).
37
Bei Berücksichtigung der Protokollberichtigung könnten durch Protokollmängel veranlasste Verfahrensverzögerungen vermieden werden (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29; BGH NStZ 2006, 181). Die Ausweitung der Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls könnte begrenzt werden; die Problematik rechtsmissbräuchlicher Verfahrensrügen würde sich erübrigen (BGHR aaO).

V.

38
Der Große Senat beantwortet die vorgelegte Rechtsfrage wie aus der Entscheidungsformel ersichtlich und gibt dabei den für eine Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung sprechenden Argumenten den Vorzug:
39
1. Der Grundsatz, wonach einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung nicht die Tatsachengrundlage zum Nachteil des Beschwerdeführers entzogen werden darf, beruht auf Rechtsprechung und kann durch Rechtsprechung geändert werden; eines Gesetzes bedarf es nicht:
40
a) Die grundsätzlich umfassende Berücksichtigung der nachträglichen Protokollberichtigung widerspricht dem Gesetz nämlich nicht. Zwar lässt § 274 Satz 2 StPO als Gegenbeweis gegen die Beurkundungen des Protokolls nur den Nachweis der Fälschung zu. Eine Berichtigung durch Erklärungen der Urkundspersonen enthält jedoch einen Widerruf der früheren Beurkundung und entzieht ihr, soweit die Berichtigung reicht, die absolute Beweiskraft, so dass es eines Gegenbeweises nicht mehr bedarf (ebenso bereits RGSt 19, 367, 370). Insbesondere auch deswegen hat die Rechtsprechung schon bisher nachträgliche Protokollberichtigungen, die einer Verfahrensrüge erst zum Erfolg verhelfen , für beachtlich gehalten (RG aaO; ähnlich für sich zugunsten des Beschwerdeführers vom Protokollinhalt distanzierende Erklärungen der Urkundspersonen BGHSt 4, 364, 365; BGH NJW 2001, 3794, 3796; NStZ 1988, 85; RGSt 57, 394, 396 f.; OLG Köln NJW 1952, 758).
41
b) Die Annahme, durch den Eingang der Revisionsbegründung werde ein besonderes prozessuales Recht auf Beibehaltung der Tatsachengrundlage für eine Rüge begründet, findet im Gesetz keine Stütze. Der Revisionsführer hat keinen Anspruch darauf, aus tatsächlich nicht gegebenen Umständen Verfahrensvorteile abzuleiten (vgl. BGH NJW 2006, 3579, 3580; Gollwitzer in FS für Gössel S. 543, 558; Lampe NStZ 2006, 366, 367; Lohse in Anwaltskommentar, StPO § 344 Rdn. 18). Ein etwaiges Vertrauen des Beschwerdeführers dahingehend , dass ein - inhaltlich unrichtiges - Protokoll für die Revisionsinstanz allein beachtlich bleibe, ist nicht schützenswert und kann auch nicht auf das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) gestützt werden (a.A. Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 169; Krawczyk HRRS 2006, 344, 353). Verfahrensrechte können nur durch den tatsächlichen Verfahrensverlauf verletzt worden sein. Dementsprechend ist nur ein auf dessen Überprüfung bezogener effektiver Rechtsschutz erforderlich. Einen weitergehenden , aus rechtsstaatlichen Prinzipien abzuleitenden Anspruch des Beschwerdeführers , dass zu seinen Gunsten Unwahres unter allen Umständen als wahr fingiert bleiben muss, gibt es nicht. Da ein Recht auf Beibehaltung der Grundlage für eine Rüge weder einfachgesetzlich geregelt noch gar verfas- http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=300&Z=NJW&B=1950&S=930 [Link] http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=300&Z=NJW&B=1951&S=259 [Link] http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=300&Z=MDR&B=1951&S=193 [Link] http://rsw.beck.de/bib/bin/reference.asp?Y=100&G=StPO&P=274 - 17 - sungsrechtlich verankert ist, gilt für die Zulässigkeit und Beachtlichkeit von Protokollberichtigungen auch kein Gesetzesvorbehalt.
42
2. Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet; wenn prozessual erhebliche Tatsachen aus der tatrichterlichen Hauptverhandlung der Klärung bedürfen, muss grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen hat, maßgeblich sein (vgl. BGHSt 36, 354, 358 f.). Dies spricht entscheidend dafür, die Regelung des § 274 StPO in einer Weise auszulegen, welche die inhaltliche Richtigkeit der Sitzungsniederschrift gewährleistet.
43
a) Allerdings wird dem entgegengehalten, dass § 274 StPO nach dem Willen des Gesetzgebers der Zweckmäßigkeit Vorrang vor der Wahrheit einräume (so BGHSt 2, 125, 128; 26, 281, 283). Dieser Vorrang gilt aber schon jetzt nicht uneingeschränkt. Denn damit wäre der unstreitige Grundsatz nicht vereinbar, dass - wie bereits in anderem Zusammenhang ausgeführt (IV 1 und V 1a) - Protokollberichtigungen und distanzierende Erklärungen der Urkundspersonen beachtlich sind, wenn sie das Revisionsvorbringen bestätigen (vgl. BGHSt 4, 364; BGH NStZ 1988, 85; RGSt 19, 367, 369 f.; 21, 323, 324 f.; 57, 394, 396 f.; OLG Köln NJW 1952, 758).
44
b) Der Wahrheitspflicht würde nicht dadurch Genüge getan, dass die Wahrheit in eine "materielle" und eine "formelle" bzw. "prozessuale Wahrheit" aufzuspalten wäre. Die Beweisregel des § 274 StPO schafft keinen von der (objektiven ) Wahrheit abweichenden Wahrheitsbegriff (so aber Cüppers NJW 1950, 930, 931 ff.; 1951, 259; Dahs, StraFo 2000, 181, 185; Jahn JuS 2007, 91 Fn. 3; Park StraFo 2004, 335, 337; Schneidewin MDR 1951, 193; vgl. auch RGSt 43, 1, 6). Die Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO verändert nicht die Tatsachen, macht nicht aus Unwahrheit Wahrheit (vgl. Detter StraFo 2004, 329, 334; ebenso Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren 1980 S. 157, der aber "in diesem Ausnahmefall eine Lüge (für) prozessual zulässig" hält).
45
3. Die Verpflichtung zur Entscheidung auf der Grundlage eines zutreffenden Sachverhalts erhält inzwischen durch das Beschleunigungsgebot und den Gesichtspunkt des Opferschutzes zusätzliches Gewicht.
46
a) Das Bundesverfassungsgericht hat in jüngerer Zeit - unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urt. vom 31. Mai 2001 - Nr. 37591/97 - Metzger gegen Deutschland - Rdn. 41 = NJW 2002, 2856, 2857) - mehrfach betont, die durch eine Revisionsentscheidung bedingte zusätzliche Verfahrensdauer sei bei der Berechnung der Überlänge eines Verfahrens zwar nicht stets, aber immer dann zu berücksichtigen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat (BVerfG NJW 2003, 2897, 2898; 2006, 672, 673; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 251 [jeweils 3. Kammer des Zweiten Senats ]). Bei erfolgreichen Verfahrensrügen wäre nach dieser Auffassung wohl regelmäßig eine kompensationspflichtige rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung gegeben; denn Verfahrensfehler kann nur das Gericht begehen (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1533). Gerade auch die nach bisheriger Rechtsprechung zur Urteilsaufhebung führende Fiktion eines Verfahrensfehlers, die allein darauf beruht, dass die Urkundspersonen durch eine unrichtige Sitzungsniederschrift den Anschein eines in Wahrheit nicht vorgefallenen Verfahrensfehlers erweckt haben, fällt in den Verantwortungsbereich der Justiz. Vor diesem Hintergrund ist das Gewicht des für das Verbot der Rügeverkümmerung früher vorgebrachten Arguments, der Beschwerdeführer könne nicht mehr erreichen, als dass der Sachverhalt nochmals unter gewissenhafter Beachtung aller sachlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften erörtert und gerecht entschieden werde (OGHSt 1, 277, 282), stark relativiert.
47
b) Neben der Wahrheitspflicht und dem Beschleunigungsgebot kann auch der Opferschutz gebieten, ein Urteil nicht allein wegen eines fiktiven - unwahren - Sachverhalts aufzuheben. Liegt tatsächlich kein Verfahrensfehler vor und ist das Urteil auch sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden, so ist es nicht gerechtfertigt, Opferzeugen nach der "Feuerprobe" (Sowada NStZ 2005, 1, 7) in der ersten Hauptverhandlung nochmals einer konfrontativen Vernehmung zu unterziehen. In diesem Sinne verpflichtet auch der Rahmenbeschluss der Europäischen Union über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15. März 2001 (ABlEG Nr. L 82 vom 22. März 2001) in Art. 3 Abs. 2 die Mitgliedstaaten, "die gebotenen Maßnahmen (zu ergreifen), damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen" (hierzu BGH NJW 2005, 1519, 1520 f.; vgl. auch BTDrucks. 15/1976 S. 8, 19 zu § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG n.F.).
48
4. Ebenso sind mit der Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung der Erfolgsaussicht bewusst unwahrer Verfahrensrügen Grenzen gesetzt.
49
a) Eine veränderte Einstellung der Strafverteidiger zu der Praxis, auf unwahres Vorbringen Verfahrensrügen zu stützen, spricht dafür, die Zurückhaltung bei der Berücksichtigung der Protokollberichtigung aufzugeben, auch wenn mit der Berichtigung einer zulässig erhobenen Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird.
50
aa) Die grundlegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Verbot der Rügeverkümmerung (BGHSt 2, 125) erging in einer Zeit, in der die vom Verteidiger bewusst wahrheitswidrig erhobene Verfahrensrüge nach verbreiteter Ansicht als standeswidrige Verfehlung galt (vgl. Dahs AnwBl. 1950/51, 90: "Die wahrheitswidrige Verfahrensrüge ist eine standesrechtliche Verfehlung" [S. 90]; "… der Anwalt, der die hier wiedergegebenen Grundsätze nicht anerkennt, [muß] mit der Einleitung eines ehrengerichtlichen Verfahrens seitens des Generalstaatsanwalts rechnen" [S. 92]; ferner d. Nachw. b. Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 595, 598 f.).
51
Heute wird es hingegen schon als "anwaltlicher Kunstfehler" bezeichnet, sich eines Fehlers im Protokoll jedenfalls nicht in der Weise zu bedienen, dass ein anderer Verteidiger die Revision begründet (vgl. hierzu G. Schäfer in FS 50 Jahre BGH S. 707, 726 f. m.w.N.; ders., Die Praxis des Strafverfahrens 6. Aufl. Rdn. 1814; ferner - gestützt auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - Dahs, Handbuch des Strafverteidigers von der 1. Auflage 1969, Rdn. 754, bis zur neuesten 7. Aufl. [ab 4. Auflage Dahs jun.] 2005, Rdn. 918: "… braucht der Verteidiger sich nicht zu scheuen, von dem durch das Protokoll 'geschaffenen' unverrückbaren Tatbestand als 'Wahrheit' auszugehen"). In der Literatur wird sogar postuliert, dass das "Recht der Verteidigung zur 'unwahren Verfahrensrüge' … sakrosankt" sei (Docke/v. Döllen/Momsen StV 1999, 583, 585), sogar die "Pflicht zur Lüge" bestehe (vgl. Dahs StraFo 2000, 181, 185; Leipold NJW-Spezial 2006, 521, 522; in vergleichbarem Sinne auch Sarstedt /Hamm, Die Revision in Strafsachen 6. Aufl. Rdn. 292 ff.).
52
bb) All dies widerstreitet diametral den Vorstellungen, von denen der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zur Unzulässigkeit der Protokollrüge (BGHSt 7, 162) ausgegangen ist. Hier ist ausgeführt, das Erfordernis der bestimmten Behauptung eines Verfahrensfehlers führe dazu, dass der Verteidiger - unbeschadet der Frage der Standeswidrigkeit seines Verhaltens - jedenfalls "vor seinem Gewissen und nach außen hin die Verantwortung für die Geltendmachung eines jeden Verfahrensmangels übernehmen" muss, "indem er ihn ernstlich behauptet und nicht etwa nur darauf hinweist, daß er sich aus der Niederschrift ergebe"; dieses Erfordernis solle "einem Mißbrauch rein formaler Möglichkeiten entgegenwirken" (BGH aaO 164; hierzu Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß 2004 S. 665 f.; Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 595, 599).
53
Die veränderte Einstellung auf Seiten der Strafverteidiger hat verdeutlicht , dass sich die mit der Rechtsprechung zur Unzulässigkeit der Protokollrüge verknüpfte Hoffnung nicht erfüllt hat, auf diese Weise - insbesondere durch den Appell an das Gewissen des die Revision begründenden Verteidigers - bewusst unwahre Verfahrensrügen zu verhindern. Vielmehr hat diese Rechtsprechung den Rat nach sich gezogen, Unwahres ohne weiteres als tatsächlich geschehen zu behaupten; denn die Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO schließe "jeden Formulierungs- oder Formelkompromiß in der Revisionsbegründung aus, zu dem zart besaitete Strafverteidiger - falls es solche gibt - sich durch ihr Gewissen gedrängt sehen könnten. Die Revisionsgerichte ahnden derartige Relikte von Wahrheitsliebe (gemeint: angedeutete Distanzierung vom Protokollinhalt) mit unnachsichtiger Strenge" (Dahs StraFo 2000, 181, 185).
54
Die Änderung des anwaltlichen Ethos ist ein weiteres Argument für die Änderung der Rechtsprechung.
55
b) Die prozessuale Wirksamkeit auch einer bewusst unwahren Verfahrensrüge wurde von der Rechtsprechung trotz erkennbaren Unbehagens und geäußerter Zweifel bis vor kurzem nie verneint (vgl. BGHSt 7, 162, 164; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 21; 22; 24; 27; BGH NJW 2001, 3794, 3796; RGSt 43, 1; OGHSt 1, 277, 282; Detter StraFo 2004, 329, 334; Park StraFo 2004, 335, 337; Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 585). Erst in neuerer Zeit hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die nachgewiesenermaßen wahrheitswidrige Behauptung eines Verfahrensfehlers unter Berufung auf das insoweit fehlerhafte Protokoll dann als rechtsmissbräuchlich missbilligt, wenn der Beschwerdeführer - im Fall der Angeklagtenrevision (auch) der Verteidiger in der Revisionsinstanz - sicher weiß, dass sich der Fehler nicht ereignet hat, und zwar auch dann, wenn er Kenntnis erst im Laufe des Revisionsverfahrens erhält (BGHSt 51, 88 = NJW 2006, 3579 m. Anm. Benthin NJ 2007, 36, Fahl JR 2007, 34, Hollaender JR 2007, 6, Jahn JuS 2007, 91, Lindemann/Reichling StV 2007, 152 und Widmaier NJW 2006, 3587). Der solchermaßen rügevernichtende Missbrauch prozessualer Rechte ist allerdings regelmäßig nicht leicht nachweisbar (BGH NJW 2006, 3579, 3582).
56
5. Eine Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der Rügeverkümmerung begegnet zudem der Tendenz zur Ausweitung der Rechtsprechung zu offensichtlichen Mängeln des Protokolls (ebenso BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29). Diese Rechtsprechung (vgl. BGH NJW 2001, 3794; NStZ 2000, 546) geht mittlerweile sehr weit; ihr fehlen - jedenfalls in Grenzfällen - hinreichend klare und verlässliche Konturen. Diese Tendenz ist gerade vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Folgen der relativen Unbeachtlichkeit der Protokollberichtigung als nicht mehr tragbar empfunden werden. In der Literatur wird hierzu vorgebracht , die Senate suchten in Grenzfällen geradezu nach Möglichkeiten der Durchbrechung der formellen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift (Detter StraFo 2004, 329, 330; Park StraFo 2004, 335, 338, 340; krit. auch Docke/v. Döllen/Momsen StV 1999, 583 f.; Kuhn NJW-Spezial 2006, 567; Ventzke StV 2004, 300 f.).
57
6. Eine Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt geboten, dass auf diese Weise die Tatgerichte zum Einhalten der Vorschriften über die Protokollführung anzuhalten wären (so aber BGHSt 2, 125, 127; OGHSt 1, 277, 281; Jahn/Widmaier JR 2006, 166 f.; MeyerGoßner DRiZ 1997, 471, 474; Park StraFo 2004, 335, 342; ders. StV 2005, 257, 259). Die Tragfähigkeit einer solchen Argumentation ist schon bislang zweifelhaft ; denn gerade ein Protokoll, das offensichtlich unsorgfältig geführt ist, verliert von vorneherein jede Beweiswirkung und die Revisionsgerichte klären im Freibeweisverfahren, ob ein Verfahrensfehler vorliegt. Im Ergebnis wird bislang gerade derjenige "Tatrichter, der das Hauptverhandlungsprotokoll nachlässig führt, … prämiert" (Ventzke StV 2004, 300, 301).
58
7. Die Berichtigung setzt bei den Urkundspersonen sichere Erinnerung voraus (vgl. nur Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 47 ff. m.w.N.). Fehlt es hieran, kann das Protokoll nicht (mehr) berichtigt werden. Ein Argument gegen die umfassende Berücksichtigung einer Berichtigung durch das Revisionsgericht ist die Erfahrung nachlassender Erinnerung grundsätzlich nicht. Dass die Urkundspersonen unbewusst Erinnerungsdefizite mit "Erfahrungswissen" ausfüllen (Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 167; vgl. auch BGHSt 2, 125, 128 f.; OGHSt 1, 277, 281; Park StV 2005, 257, 259), liegt gerade bei den in der Literatur für problematisch erachteten Fällen, in denen es um den sachlichen Inhalt nicht regelmäßiger Prozesshandlungen (etwa bei Hinweisen nach § 265 StPO) geht (vgl. Jahn/Widmaier aaO 167 ff.), fern. Häufig kann eine Urkundsperson auch auf andere Unterlagen als Erinnerungsstütze zurückgreifen, wie in dem der Vorlegung zugrunde liegenden Fall die Urkundsbeamtin auf die unmittelbar während der Verhandlung getätigten Aufzeichnungen, die Grundlage der Sitzungsniederschrift waren; oftmals beruhen Protokollmängel auf derartigen Übertragungsfehlern. Schließlich stammt der Hinweis auf das nachlassende Erinnerungsvermögen aus einer Zeit, als es die Vorschrift über die Urteilsabsetzungsfristen (§ 275 Abs. 1 StPO), die insgesamt regelmäßig zu einer zeitlichen Straffung des Verfahrens nach der Hauptverhandlung geführt haben, noch nicht gab.
59
Das Argument, dass dem berichtigten Protokoll schon deshalb ein tatsächlich geringerer Beweiswert zukomme, weil sich die Urkundspersonen zuvor übereinstimmend geirrt haben müssten (vgl. Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 595, 605), hält der Große Senat nicht für durchgreifend. Dass beide Urkundspersonen bei der Anfertigung des ursprünglichen Protokolls nicht gewissenhaft genug waren, wird nämlich dadurch ausgeglichen, dass besonders hohe Anforderungen an die Sorgfalt bei der Berichtigung gestellt werden. Ein übereinstimmender Irrtum im Sinne einer gemeinsamen Fehlvorstellung der Ur- kundspersonen liegt nach aller forensischer Erfahrung ohnehin nicht vor. Dies würde voraussetzen, dass die Urkundspersonen über die Einzelheiten des Prozessgeschehens und dessen - fehlende - Beurkundung gleich reflektiert hätten. So spricht etwa in dem der Vorlegung zugrunde liegenden Fall nichts dafür, dass der Vorsitzende und die Protokollführerin zunächst bei der Protokollerstellung noch übereinstimmend davon überzeugt waren, der Vertreter der Staatsanwaltschaft habe den Anklagesatz nicht verlesen.

VI.

60
Zusätzliche Gewähr für die Richtigkeit der nachträglichen Änderung der Sitzungsniederschrift bietet eine rechtlich verbindliche Form der Protokollberichtigung , die zu einer im Revisionsverfahren überprüfbaren Entscheidungsgrundlage führt. Dies sichert die Effektivität des Rechtsmittels der Revision (vgl. Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 169) und trägt im Fall der Angeklagtenrevision dessen verfassungsrechtlich verbürgtem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) Rechnung. Lässt sich jedoch zuverlässig ausschließen, dass sich die Urkundspersonen an ein der Verfahrenswirklichkeit nicht entsprechendes Prozessgeschehen irrtümlich vermeintlich sicher erinnern, so haben die Argumente, welche das Verbot der Rügeverkümmerung mit dem Schutz des Beschwerdeführers bzw. der prozessualen Waffengleichheit begründen (vgl. Fezer StV 2006, 290, 291; Tepperwien aaO 604), kein Gewicht.
61
1. In Fällen der vorliegenden Art ist zur Sicherung der Effektivität des Rechtsmittels bei der Protokollberichtigung folgendes Verfahren einzuhalten:
62
Wie bereits dargelegt (V 7), setzt die Berichtigung sichere Erinnerung bei den Urkundspersonen voraus. Die Absicht der Berichtigung ist dem Beschwerdeführer - im Fall einer Angeklagtenrevision zumindest dem Revisionsverteidiger - zusammen mit dienstlichen Erklärungen der Urkundspersonen mitzuteilen. Diese Erklärungen haben die für die Berichtigung tragenden Erwägungen zu enthalten, etwa indem sie auf markante Besonderheiten des Falls eingehen, wie hier etwa darauf, dass die Verlesung der rechtlichen Würdigung des Tatgeschehens zu Unmutsäußerungen der Zuhörer führte. Daneben sollten gegebenenfalls während der Hauptverhandlung getätigte Aufzeichnungen, welche den Protokollfehler belegen, in Abschrift übermittelt werden. Dem Beschwerdeführer ist innerhalb angemessener Frist rechtliches Gehör zu gewähren.
63
Widerspricht der Beschwerdeführer daraufhin der beabsichtigten Protokollberichtigung substantiiert, indem er im Einzelnen darlegt, aus welchen Gründen er im Gegensatz zu den Urkundspersonen sicher ist, dass das zunächst gefertigte Protokoll richtig ist, so sind erforderlichenfalls weitere dienstliche Erklärungen und Stellungnahmen der übrigen Verfahrensbeteiligten einzuholen. Auch hierzu ist dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist zur Stellungnahme zu gewähren. Halten die Urkundspersonen die Niederschrift weiterhin für inhaltlich unrichtig, so haben sie diese gleichwohl zu berichtigen. In diesem Fall ist ihre Entscheidung über die Protokollberichtigung - dies ergibt sich bereits aus allgemeinen Rechtsgedanken (vgl. § 34 StPO) - mit Gründen zu versehen. Darin sind die Tatsachen anzugeben, welche die Erinnerung der Urkundspersonen belegen. Ferner ist auf das Vorbringen des Beschwerdeführers und gegebenenfalls abweichende Erklärungen der übrigen Verfahrensbeteiligten einzugehen.
64
2. Eine erneute Zustellung des Urteils nach Berichtigung der Sitzungsniederschrift ist nicht erforderlich. Nach § 273 Abs. 4 StPO setzt eine wirksame Zustellung einzig voraus, dass die Niederschrift fertig gestellt ist. Die Fertigstellung erfolgt zu dem Zeitpunkt, zu dem die letzte der beiden erforderlichen Unterschriften geleistet wurde (§ 271 Abs. 1 StPO), selbst wenn die Niederschrift sachlich oder formell fehlerhaft ist oder Lücken aufweist (vgl. Engelhardt in KK-StPO 5. Aufl. § 271 Rdn. 8; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 31, § 273 Rdn. 56). Spätere Berichtigungen derartiger Mängel be- rühren den Zeitpunkt der Fertigstellung nicht mehr (vgl. Gollwitzer aaO). Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes. In seinem Vertrauen, eine bestimmte Verfahrensrüge werde erfolgreich sein, wird der Beschwerdeführer auch sonst nicht geschützt.
65
3. Die Gründe der Berichtigungsentscheidung unterliegen im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Tragen sie die Berichtigung, so ist das berichtigte Protokoll zugrunde zu legen. Allerdings kommt dem berichtigten Teil des Protokolls nicht die formelle Beweiskraft des § 274 StPO zu. Nur so ist das Revisionsgericht in der Lage, zum Schutz der Beschwerdeführer die rügevernichtende Protokollberichtigung zu überprüfen. Verbleiben dem Revisionsgericht Zweifel, ob die Berichtigung zu Recht erfolgt ist, kann es den Sachverhalt im Freibeweisverfahren weiter aufklären. Insoweit gelten die Grundsätze, die schon bisher für eine ursprünglich offensichtlich mangelhafte Sitzungsniederschrift zur Anwendung kamen. Verbleiben dem Revisionsgericht auch nach seiner Überprüfung Zweifel an der Richtigkeit des berichtigten Protokolls, hat es seiner Entscheidung das Protokoll in der ursprünglichen Fassung zugrunde zu legen. Hirsch Rissing-van Saan Nack Basdorf Häger Maatz Wahl Bode Kuckein Pfister Becker
28
Unbeachtlich ist allerdings der Berichtigungsbeschluss des Landgerichts vom 5. November 2010, denn mangels Anhörung des Beschwerdeführers ist er nicht in einem Verfahren ergangen, das den im Beschluss des Großen Senats (aaO) niedergelegten Grundsätzen genügt. Dasselbe gilt für die vom Landgericht am 21. März 2011 - nach Rückgabe der Sache durch den Senat - beschlossene gleichlautende Protokollberichtigung, die unberücksichtigt ließ, dass der Beschwerdeführer der Maßnahme am 15. März 2011 widersprochen hatte. Indes hat das Landgericht schließlich am 17. Mai 2011, wiederum mit demselben Wortlaut, einen weiteren Berichtigungsbeschluss gefasst, der nach Überprüfung durch den Senat auf einem den genannten Vorgaben entsprechenden Verfahren beruht.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
5 StR 70/14
vom
11. März 2014
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. März 2014 beschlossen:
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 7. August 2013 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit es sie betrifft.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe und den Angeklagten G. wegen gefährlicher Körperverletzung sowie Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Jugendstrafe (nebst isolierter Fahrerlaubnissperre) verurteilt. Die Revisionen der Angeklagten haben mit einer Verfahrensrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
2
1. Mit dieser machen sie – wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 18. Februar 2014 zutreffend dargelegt hat – in § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügender Weise und zu Recht geltend, das Landgericht habe gegen § 258 Abs. 2 Halbsatz 2 und Abs. 3 StPO verstoßen. Dem liegt folgendes Geschehen zugrunde:
3
a) Am 21. Hauptverhandlungstag wurde die Beweisaufnahme geschlossen ; der Staatsanwalt hielt seinen Schlussvortrag. Am folgenden Hauptver- handlungstag plädierten die Verteidiger; der Angeklagte S. gab eine Schlusserklärung ab, der Angeklagte G. nahm die hierzu eingeräumte Gelegenheit nicht wahr. Nachdem beide Angeklagte das letzte Wort gehabt hatten, wurde die Sitzung unterbrochen. Zu Beginn des letzten Hauptverhandlungstages stellte der Verteidiger des Angeklagten S. mehrere Beweisanträge, zu denen der Staatsanwalt Stellung nahm, denen sich der Verteidiger des Angeklagten G. anschloss und die sodann mit gerichtlichen Beschlüssen zurückgewiesen wurden. Im Anschluss wurde das Urteil verkündet, ohne dass die Angeklagten nochmals Gelegenheit zum letzten Wort gehabt hätten.
4
b) Diese durch das Sitzungsprotokoll bewiesene (§ 274 Satz 1 StPO) Verfahrensweise hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Denn das Landgericht war wieder in die Beweisaufnahme eingetreten, indem es Beweisanträge entgegengenommen, hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben und die Anträge durch Beschlüsse zurückgewiesen hatte (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1988 – 4 StR 543/88, BGHR StPO § 258 Abs. 3 Wiedereintritt 6). Das nahm den vorausgegangenen Schlusserklärungen der Angeklagten (bzw. der Gelegenheit hierzu) die Bedeutung des letzten Wortes und machte dessen nochmalige Gewährung erforderlich (BGH, Urteil vom 25. Juli 1996 – 4StR 193/96, BGHR StPO § 258 Abs. 3 Wiedereintritt 8; BGH, Beschluss vom 10. März 1998 – 1 StR 32/98). Ein Fall, in dem dies ausnahmsweise für entbehrlich erachtet werden könnte, liegt nicht vor.
5
c) Der Verfahrensverstoß macht die Aufhebung des Urteils, soweit es die Beschwerdeführer betrifft, notwendig. Die Nichterteilung des letzten Wortes begründet zwar nicht stets und ausnahmslos die Revision, sondern nur dann, wenn und soweit das Urteil auf dem Fehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Dies ist hier indes nicht auszuschließen. Denn die Angeklagten haben zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen geschwiegen; möglicherweise hätten sie sich erstmalig zur Sache geäußert, wenn ihnen die Gelegenheit zum letzten Wort noch einmal eingeräumt worden wäre (vgl. BGH aaO).
6
2. Für die neu zu treffende Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin: Sofern nach sachverständiger Einschätzung der aufgefundenen DNASpuren die Angeklagten G. und S. – dessen Geburtstag in den Gründen (UA S. 13) vom Rubrum abweichend festgestellt worden ist – wiederum lediglich „als Mitverursacher in Frage kommen“ sollten (UA S. 23), würde dies allein den Schluss, die beiden Angeklagten seien als Mitverursacher „festgestellt“ (UA S. 45), nicht tragen können.
Basdorf Sander Schneider Berger Bellay

(1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort.

(2) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten gebührt das letzte Wort.

(3) Der Angeklagte ist, auch wenn ein Verteidiger für ihn gesprochen hat, zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung anzuführen habe.

(1) Wer im Straßenverkehr

1.
ein Fahrzeug führt, obwohl er
a)
infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel oder
b)
infolge geistiger oder körperlicher Mängel
nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, oder
2.
grob verkehrswidrig und rücksichtslos
a)
die Vorfahrt nicht beachtet,
b)
falsch überholt oder sonst bei Überholvorgängen falsch fährt,
c)
an Fußgängerüberwegen falsch fährt,
d)
an unübersichtlichen Stellen, an Straßenkreuzungen, Straßeneinmündungen oder Bahnübergängen zu schnell fährt,
e)
an unübersichtlichen Stellen nicht die rechte Seite der Fahrbahn einhält,
f)
auf Autobahnen oder Kraftfahrstraßen wendet, rückwärts oder entgegen der Fahrtrichtung fährt oder dies versucht oder
g)
haltende oder liegengebliebene Fahrzeuge nicht auf ausreichende Entfernung kenntlich macht, obwohl das zur Sicherung des Verkehrs erforderlich ist,
und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist der Versuch strafbar.

(3) Wer in den Fällen des Absatzes 1

1.
die Gefahr fahrlässig verursacht oder
2.
fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 459/06
vom
21. November 2006
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 21. November 2006 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 13. April 2006 im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und der fahrlässigen Körperverletzung in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen schuldig ist. 2. Die weiter gehende Revision wird verworfen. 3. Von der Erhebung von Kosten und Auslagen im Revisionsverfahren wird abgesehen (§ 109 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 74 JGG); jedoch trägt der Angeklagte die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Fall II. 1 der Urteilsgründe, Tat in der Nacht zum 11. September 2005) sowie der "Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung" (Fall II. 2 der Urteilsgründe; Verkehrsunfall vom 18. September 2005) für schuldig befunden und ihn zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel führt lediglich zu einer den Vorfall vom 18. Sep- tember 2005 betreffenden Schuldspruchänderung; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben, soweit ihn das Landgericht hinsichtlich der Tat in der Nacht zum 11. September 2005 des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und hinsichtlich des Verkehrsunfallgeschehens vom 18. September 2005 der fahrlässigen Körperverletzung (zu ergänzen: in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen) für schuldig befunden und ihn zu der erkannten Jugendstrafe verurteilt hat. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 25. Oktober 2006. Das weitere Vorbringen des Beschwerdeführers im Schriftsatz seines Verteidigers vom 1. November 2006 führt zu keinem anderen Ergebnis.
3
Es beschwert den Angeklagten auch nicht, dass das Landgericht ohne weitere Begründung davon abgesehen hat, dem Angeklagten mit Blick auf das Verkehrsunfallgeschehen vom 18. September 2005 die Fahrerlaubnis zu entziehen.
4
Dagegen kann der das Verkehrsunfallgeschehen betreffende Schuldspruch nicht bestehen bleiben, soweit das Landgericht den Angeklagten auch wegen tateinheitlich begangener Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c StGB) verurteilt hat. Die Feststellungen belegen nicht, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der vom Landgericht angenommenen Tatbestandsalternative des Absatzes 1 Nr. 2 Buchst. d) der Vorschrift vorliegen. Zwar hat das Landgericht zu Recht angenommen, dass der Angeklagte grob verkehrswidrig und rücksichtslos zu schnell gefahren und dadurch den Verkehrsunfall, bei dem die beiden Insassen erheblich verletzt wurden, verursacht hat. Bei dieser Sachlage hat das Landgericht § 315 c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d) StGB deshalb bejaht, weil sich der Unfall an bzw. in Höhe der Einmündung einer Nebenstraße ereignete (UA 10, 23). Das genügt für sich allein indes nicht. Denn nach dem eindeutigen Tatbestandsaufbau ("und dadurch") muss die herbeigeführte Gefahr in einem inneren Zusammenhang mit den Risiken stehen, die bei dieser Tatbestandsalternative u.a. von unübersichtlichen Stellen bzw. Straßeneinmündungen typischerweise ausgehen. Dass der Gefahrerfolg nur gelegentlich des zu schnellen Fahrens eintritt, reicht damit nicht aus (König in LK, StGB 11. Aufl. § 315 c Rdn. 113; Groeschke in MüKo StGB § 315 c Rdn. 43). Einen solchen Gefahrverwirklichungszusammenhang zwischen dem Unfallgeschehen und der Situation an der Einmündung hat das Landgericht jedoch gerade nicht festgestellt. Es fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass der Angeklagte etwa wegen eines aus der Nebenstraße kommenden Verkehrsteilnehmers in Schreck geraten und deshalb die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hat. Auch für andere Tatbestandsalternativen des § 315 c Abs. 1 Nr. 2 StGB geben die Feststellungen nichts her. Vielmehr hat das Landgericht - insoweit entgegen der Anklage - ausdrücklich nicht festzustellen vermocht, dass der Angeklagte sich in einem Überholvorgang befand oder die rechte Fahrspur an einer unübersichtlichen Stelle nicht einhielt (UA 10). Hiernach muss der Schuldspruch nach § 315 c StGB entfallen.
5
Die Schuldspruchänderung lässt den Rechtsfolgenausspruch unberührt. Denn der Schuldgehalt der Taten, der - wie das Landgericht zu Recht hervorgehoben hat - dadurch geprägt ist, dass der Angeklagte innerhalb von nur einer guten Woche drei Menschen schwer verletzt hat (UA 26), wird dadurch ebenso wenig berührt wie der vom Landgericht für die Rechtsfolgenbemessung rechtsfehlerfrei angenommene Erziehungsbedarf.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible

(1) Wer im Straßenverkehr

1.
ein Fahrzeug führt, obwohl er
a)
infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel oder
b)
infolge geistiger oder körperlicher Mängel
nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, oder
2.
grob verkehrswidrig und rücksichtslos
a)
die Vorfahrt nicht beachtet,
b)
falsch überholt oder sonst bei Überholvorgängen falsch fährt,
c)
an Fußgängerüberwegen falsch fährt,
d)
an unübersichtlichen Stellen, an Straßenkreuzungen, Straßeneinmündungen oder Bahnübergängen zu schnell fährt,
e)
an unübersichtlichen Stellen nicht die rechte Seite der Fahrbahn einhält,
f)
auf Autobahnen oder Kraftfahrstraßen wendet, rückwärts oder entgegen der Fahrtrichtung fährt oder dies versucht oder
g)
haltende oder liegengebliebene Fahrzeuge nicht auf ausreichende Entfernung kenntlich macht, obwohl das zur Sicherung des Verkehrs erforderlich ist,
und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist der Versuch strafbar.

(3) Wer in den Fällen des Absatzes 1

1.
die Gefahr fahrlässig verursacht oder
2.
fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.