Bundesgerichtshof Beschluss, 22. Jan. 2020 - 2 ARs 230/19
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Verurteilten am 22. Januar 2020 beschlossen:
Gründe:
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- 1. a) Das Amtsgericht Herford hatte gegen den Verurteilten am 27. Januar 2011 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verhängt und dessen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt unter Vorwegvollzug von einem Teil der verhängten Freiheitsstrafe angeordnet. Nach teilweiser Verbüßung der Gesamtfreiheitsstrafe und der Maßregel hatte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn mit Beschluss vom 5. Dezember 2014 den Vollzug der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und der Restfreiheitstrafe zur Bewährung ausgesetzt; die Dauer der Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit wurde auf vier Jahre festgesetzt.
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- Die ausgesetzte Maßregel hatte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn am 22. Februar 2017 zur Krisenintervention gemäß § 67h StGB für drei Monate wieder in Vollzug gesetzt. Aufgrund dessen wurde der Verurteilte erneut in das LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt aufgenommen. Nach Beendigung der Krisenintervention wurde der Verurteilte am 2. Juni 2017 zum Vollzug der Untersuchungshaft im Verfahren 201 Js 319/17 der Staatsanwaltschaft Aachen in die JVA Aachen verlegt.
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- Bereits am 27. April 2017 hatte die Staatsanwaltschaft Aachen der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn mitgeteilt, dass gegen den Verurteilten im Verfahren 201 Js 319/17 ein Haftbefehl des Amtsgerichts Aachen vom 18. April 2017 wegen des dringenden Tatverdachts neuerlicher Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern vorliege. Am 28. April 2017 hatte sie zudem die Anklageschrift im Verfahren 609 Js 584/17 übersandt, mit der dem Verurteilten 102 Taten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln vorgeworfen wurde.
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- Mit Urteil vom 22. März 2018, rechtskräftig seit dem 7. Februar 2019, hat das Landgericht Aachen gegen den Verurteilten eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verhängt und die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft Bielefeld bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn den Widerruf der Aussetzung des Vollzugs der Maßregel und der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung beantragt.
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- b) Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn hat sich mit Beschluss vom 20. März 2019 für örtlich unzuständig erklärt und die Sache an die Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Aachen abgegeben. Diese hält sich ebenfalls für örtlich unzuständig und hat die Sache daraufhin dem Bundesgerichtshof nach § 19 StPO zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
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- 2. Der Bundesgerichtshof ist als gemeinsames oberes Gericht nach § 14 StPO zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits der in verschiedenen Oberlandesgerichtsbezirken liegenden Landgerichte berufen.
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- Zuständig für die Entscheidung über den Widerruf der mit Beschluss des Landgerichts Paderborn vom 5. Dezember 2014 bewilligten Aussetzung des Vollzugs der Maßregel und der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ist die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Paderborn.
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- Der Generalbundesanwalt hat insoweit ausgeführt: „Die mit der Aufnahme des Angeklagten in das LWL-Zentrum für Foren- sische Psychiatrie Lippstadt zum Vollzug der Maßregel aus dem Urteil des Amtsgerichts Herford vom 27. Januar 2011 gemäß § 463 Abs. 1 i.V.m. § 462a Abs. 1 S. 1 StPO begründete örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn blieb nach § 463 Abs. 1 i.V.m. § 462a Abs. 1 S. 2 StPO nach der Aussetzung des Vollzugs zur Bewährung bestehen. Sie besteht auch für die Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung zur Bewährung fort und ist insoweit nicht auf die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Aachen übergegangen. Denn die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Paderborn war bereits mit der Frage des Bewährungswiderrufs befasst , als die in der JVA Aachen verbüßte Untersuchungshaft mit der Rechtskraft des Urteils des Landgerichts Aachen am 7. Februar 2019 in Strafhaft überging. Mit einer Sache befasst ist ein Gericht schon, sobald eine nachträgliche Entscheidung von Amts wegen erforderlich sein kann, weil Tatsachen aktenkundig sind, die einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung erfordern können (BGH Beschluss vom 14. August 1981 - 2 ARs 174/81 - BGHSt 30, 189; BGH Beschluss vom 19. Juni 2013 - 2 ARs 227/13 m.w.N.; KK-StPO/Appl [8. Aufl.] § 462a Rn. 17). Solche Tatsachen wurden hier bereits vor dem 7. Februar 2019 aktenkundig, nämlich durch die am 27. April 2017 zum Bewährungsheft eingegangene Mitteilung des Haftbefehls des Amtsgerichts Aachen am 18. April 2017 sowie durch die am 28. April 2017 mitgeteilte Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Aachen. Beide Mitteilungen gaben Anlass, die Frage des Bewährungswiderrufs von Amts wegen zu prüfen, wie auch die Verfügung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Paderborn vom 14. Januar 2019 zeigt, mit der sie dem damals noch in Untersuchungshaft einsitzenden Verurteilten mitgeteilt hat, eine Entscheidung über einen Straferlass könne aufgrund des - zum damaligen Zeitpunkt - noch nicht rechtskräftigen Urteils des Landgerichts Aachen vom 22. März 2018 nicht getroffen werden […]. Unerheblich ist, dass bei Eingang der Mittei- lungen noch nicht feststand, ob es tatsächlich zu einer Verurteilung kommt. Denn befasst ist ein Gericht auch dann, wenn es zunächst nichts veranlasst, sondern den Ausgang des neuen Verfahrens abwartet, aus dem sich Widerrufsgründe ergeben können (BGH aaO.; KK-StPO/Appl aaO.).“
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- Dem tritt der Senat bei. Im Übrigen weist er darauf hin, dass von der Vollstreckung einer Maßregel im Sinne von § 463 Abs. 1 i.V.m. § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO auch die Krisenintervention nach § 67h StGB erfasst ist (vgl. auch Senat, Beschluss vom 15. September 2010 - 2 StR 293/10, BGHSt 56, 1, 2 f.).
Grube Schmidt
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(1) Während der Dauer der Führungsaufsicht kann das Gericht die ausgesetzte Unterbringung nach § 63 oder § 64 für eine Dauer von höchstens drei Monaten wieder in Vollzug setzen, wenn eine akute Verschlechterung des Zustands der aus der Unterbringung entlassenen Person oder ein Rückfall in ihr Suchtverhalten eingetreten ist und die Maßnahme erforderlich ist, um einen Widerruf nach § 67g zu vermeiden. Unter den Voraussetzungen des Satzes 1 kann es die Maßnahme erneut anordnen oder ihre Dauer verlängern; die Dauer der Maßnahme darf insgesamt sechs Monate nicht überschreiten. § 67g Abs. 4 gilt entsprechend.
(2) Das Gericht hebt die Maßnahme vor Ablauf der nach Absatz 1 gesetzten Frist auf, wenn ihr Zweck erreicht ist.
Haben mehrere Gerichte, von denen eines das zuständige ist, durch Entscheidungen, die nicht mehr anfechtbar sind, ihre Unzuständigkeit ausgesprochen, so bezeichnet das gemeinschaftliche obere Gericht das zuständige Gericht.
Besteht zwischen mehreren Gerichten Streit über die Zuständigkeit, so bestimmt das gemeinschaftliche obere Gericht das Gericht, das sich der Untersuchung und Entscheidung zu unterziehen hat.
(1) Wird gegen den Verurteilten eine Freiheitsstrafe vollstreckt, so ist für die nach den §§ 453, 454, 454a und 462 zu treffenden Entscheidungen die Strafvollstreckungskammer zuständig, in deren Bezirk die Strafanstalt liegt, in die der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befaßt wird, aufgenommen ist. Diese Strafvollstreckungskammer bleibt auch zuständig für Entscheidungen, die zu treffen sind, nachdem die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe unterbrochen oder die Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Strafvollstreckungskammer kann einzelne Entscheidungen nach § 462 in Verbindung mit § 458 Abs. 1 an das Gericht des ersten Rechtszuges abgeben; die Abgabe ist bindend.
(2) In anderen als den in Absatz 1 bezeichneten Fällen ist das Gericht des ersten Rechtszuges zuständig. Das Gericht kann die nach § 453 zu treffenden Entscheidungen ganz oder zum Teil an das Amtsgericht abgeben, in dessen Bezirk der Verurteilte seinen Wohnsitz oder in Ermangelung eines Wohnsitzes seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat; die Abgabe ist bindend. Abweichend von Absatz 1 ist in den dort bezeichneten Fällen das Gericht des ersten Rechtszuges zuständig, wenn es die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten hat und eine Entscheidung darüber gemäß § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches noch möglich ist.
(3) In den Fällen des § 460 entscheidet das Gericht des ersten Rechtszuges. Waren die verschiedenen Urteile von verschiedenen Gerichten erlassen, so steht die Entscheidung dem Gericht zu, das auf die schwerste Strafart oder bei Strafen gleicher Art auf die höchste Strafe erkannt hat, und falls hiernach mehrere Gerichte zuständig sein würden, dem Gericht, dessen Urteil zuletzt ergangen ist. War das hiernach maßgebende Urteil von einem Gericht eines höheren Rechtszuges erlassen, so setzt das Gericht des ersten Rechtszuges die Gesamtstrafe fest; war eines der Urteile von einem Oberlandesgericht im ersten Rechtszuge erlassen, so setzt das Oberlandesgericht die Gesamtstrafe fest. Wäre ein Amtsgericht zur Bildung der Gesamtstrafe zuständig und reicht seine Strafgewalt nicht aus, so entscheidet die Strafkammer des ihm übergeordneten Landgerichts.
(4) Haben verschiedene Gerichte den Verurteilten in anderen als den in § 460 bezeichneten Fällen rechtskräftig zu Strafe verurteilt oder unter Strafvorbehalt verwarnt, so ist nur eines von ihnen für die nach den §§ 453, 454, 454a und 462 zu treffenden Entscheidungen zuständig. Absatz 3 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. In den Fällen des Absatzes 1 entscheidet die Strafvollstreckungskammer; Absatz 1 Satz 3 bleibt unberührt.
(5) An Stelle der Strafvollstreckungskammer entscheidet das Gericht des ersten Rechtszuges, wenn das Urteil von einem Oberlandesgericht im ersten Rechtszuge erlassen ist. Das Oberlandesgericht kann die nach den Absätzen 1 und 3 zu treffenden Entscheidungen ganz oder zum Teil an die Strafvollstreckungskammer abgeben. Die Abgabe ist bindend; sie kann jedoch vom Oberlandesgericht widerrufen werden.
(6) Gericht des ersten Rechtszuges ist in den Fällen des § 354 Abs. 2 und des § 355 das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen worden ist, und in den Fällen, in denen im Wiederaufnahmeverfahren eine Entscheidung nach § 373 ergangen ist, das Gericht, das diese Entscheidung getroffen hat.
(1) Während der Dauer der Führungsaufsicht kann das Gericht die ausgesetzte Unterbringung nach § 63 oder § 64 für eine Dauer von höchstens drei Monaten wieder in Vollzug setzen, wenn eine akute Verschlechterung des Zustands der aus der Unterbringung entlassenen Person oder ein Rückfall in ihr Suchtverhalten eingetreten ist und die Maßnahme erforderlich ist, um einen Widerruf nach § 67g zu vermeiden. Unter den Voraussetzungen des Satzes 1 kann es die Maßnahme erneut anordnen oder ihre Dauer verlängern; die Dauer der Maßnahme darf insgesamt sechs Monate nicht überschreiten. § 67g Abs. 4 gilt entsprechend.
(2) Das Gericht hebt die Maßnahme vor Ablauf der nach Absatz 1 gesetzten Frist auf, wenn ihr Zweck erreicht ist.