Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 11. Juli 2017 - 20 BV 15.2010, 20 BV 15.2073

bei uns veröffentlicht am11.07.2017

Tenor

I. Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU dahingehend auszulegen, dass unter „Erzeugnissen, die zum Kauen bestimmt sind“, allein Kautabakerzeugnisse im klassischen Sinn zu verstehen sind?

2. Ist Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU dahingehend auszulegen, dass „Erzeugnisse, die zum Kauen bestimmt sind“, gleichbedeutend mit „Kautabak“ im Sinne von Art. 2 Nr. 6 der Richtlinie sind?

3. Ist für die Frage, ob ein Tabakerzeugnis i.S.v. Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU „zum Kauen bestimmt“ ist, auf eine auf das Produkt bezogene objektive Betrachtungsweise und nicht auf die Angaben des Herstellers oder die tatsächliche Verwendung durch Konsumenten abzustellen?

4. Ist Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU dahingehend auszulegen, dass die Bestimmung zum Kauen erfordert, dass das Tabakerzeugnis von seiner Konsistenz und Festigkeit her objektiv geeignet ist, gekaut zu werden und dass das Kauen des Tabakerzeugnisses dazu führt, dass sich die im Erzeugnis enthaltenen Inhaltsstoffe lösen?

5. Ist Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU dahingehend auszulegen, dass es für die Bestimmung eines Tabakerzeugnisses „zum Kauen“ als zusätzliche Bedingung erforderlich, aber auch ausreichend ist, wenn durch eine leichte, wiederkehrende Druckausübung mit den Zähnen oder der Zunge auf das Tabakerzeugnis mehr von den Inhaltsstoffen des Erzeugnisses gelöst werden, als wenn es nur im Mund gehalten wird?

6. Oder ist es für eine „Bestimmung zum Kauen“ notwendig, dass ein bloßes im Mund halten oder Lutschen zu keiner Herauslösung von Inhaltsstoffen führt?

7. Kann die Eignung eines Tabakerzeugnisses „zum Kauen“ i.S.v. Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU auch durch die außerhalb des verarbeiteten Tabaks vermittelte Darreichungsform wie z.B. einen Zellulosebeutel vermittelt werden?

III. Das Berufungsverfahren wird für die Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens ausgesetzt.

Gründe

A) Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

Die Klägerin wendet sich im Rahmen zweier Berufungsverfahren gegen von der Beklagten verfügte Vertriebsverbote für die von der Klägerin auf dem deutschen Markt vertriebenen Tabakerzeugnisse „Thunder Chewing Tobacco“ (Az. 20 BV 15.2010) und „...“ (Az. 20 BV 15.2073) der dänischen Firma „V2 Tobacco“.

I. Sachverhalt

Die Klägerin ist eine im Zuständigkeitsbereich der Beklagten ansässige Gesellschaft, die verschiedenste Tabakerzeugnisse nach Deutschland einführt und auf dem deutschen Markt vertreibt.

Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) beanstandete mit Gutachten vom 19. November 2014 und 26. November 2014 Proben der von der Klägerin in den Verkehr gebrachten Tabakerzeugnisse „...“ und „...“. In den Gutachten kam das LGL zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Proben aufgrund der Struktur, Konsistenz und Verwendungsart um verbotene Tabakprodukte handele, da sie zum anderweitigen oralen Gebrauch als Rauchen oder Kauen bestimmt seien. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten neuartige Produkte zum oralen Gebrauch mit Ausnahme des herkömmlichen Kautabaks untersagt werden. In der Literatur würden Tabakprodukte, die für den oralen Gebrauch bestimmt seien, in zwei Gruppen aufgeteilt, nämlich Produkte zum Saugen und Lutschen sowie Produkte zum Kauen. Erzeugnisse zum Kauen würden als zu Riegeln gepresste Produkte und gerollte Tabakblätter beschrieben. Traditionelle Kautabake bestünden aus Tabakblättern, die beispielsweise zu Stängeln aufgerollt seien. Bei dem begutachteten Tabakprodukt handele es sich anstelle von gerollten Tabakblättern um eine pastöse Masse auf der Grundlage von fein gemahlenem Tabak. Das Produkt werde wie Snus verwendet, indem man ein Kügelchen forme und es zwischen Lippen und Zahnfleisch oder in der Wangenfalte positioniere. Würde der Konsument die mit Speichel durchtränkte Portion hin und her bewegen oder versuchen, auf sie zu beißen oder sie zu kauen, würde sich das Kügelchen nach kurzer Zeit zumindest teilweise auflösen bzw. auseinanderbrechen und sich im Mund verteilen. Die Frage, ob ein Produkt zum Kauen bestimmt sei, sei aus der Sicht des Verbrauchers zu beurteilen. Eine Internetrecherche habe ergeben, dass das Produkt von vielen Nutzern als Snus-Ersatz angesehen werde.

Mit Gutachten vom 18. September 2014 begutachtete das LGL das Tabakerzeugnis „...“. Es kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Probe aufgrund der Struktur, Konsistenz und Verwendungsart um ein verbotenes Tabakprodukt handele, da es zum anderweitigen oralen Gebrauch als Rauchen oder Kauen bestimmt sei. Bei dem vorliegenden Tabakprodukt handele es sich um fein geschnittenen Tabak, der in kleinen porösen Zellulosebeutelchen verpackt sei und damit von traditionellem Kautabak deutlich abweiche. Das Produkt sei optisch nahezu identisch mit Snus und werde auch wie dieser verwendet, indem man ihn zwischen Lippen und Zahnfleisch oder in der Wangenfalte positioniere. Im Übrigen decken sich die Ausführungen mit denen des Gutachtens vom 19./26. November 2014.

Mit Bescheiden vom 13. Oktober 2014 bzw. vom 15. Januar 2015 verpflichtete die Beklagte die Klägerin, die streitgegenständlichen Tabakerzeugnisse nicht mehr in den Verkehr zu bringen. Hiergegen erhob die Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg (Verwaltungsgericht). Dieses verhandelte am 28. Juli 2015 über die beiden Klagen. Im Rahmen der Verhandlung hat das Verwaltungsgericht die streitgegenständlichen Tabakerzeugnisse sowie klassischen Kautabak und Snus in Augenschein genommen und diese zur Prüfung der Konsistenz für ca. eine Stunde in Wasser gelegt. Das Verwaltungsgericht hat Folgendes in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung festgestellt:

„Beim klassischen Kautabak handelt es sich um eine feste Masse, die von der Konsistenz Lakritze ähnelt. Sie kann durch einfachen Fingerdruck nicht verformt werden. In Wasser löst sich Kautabak ohne mechanische Einwirkung sehr langsam. Das Wasser verfärbt sich schwach, es verbleibt ein Tabakblatt.

Beim Snus handelt es sich um ein Pulver. Der lose Snus kann mit Mühe zu einer Kugel geformt werden, in Wasser löst er sich in kürzester Zeit auf. Es verbleibt ein feuchtes Pulver, ähnlich Kaffeesatz.

Beim Thunder Chew (…) handelt es sich um eine Paste, die zu einer Kugel oder länglichen Pille geformt werden kann. Das Produkt ähnelt weicher Knetmasse. Ein geformter Ball löst sich in Wasser deutlich langsamer auf als der lose Snus, allerdings deutlich schneller als Kautabak. Die Konsistenz der Masse bleibt erhalten. Sie kann durch leichten Fingerdruck verformt werden.

Bei den Thunder Bags (…) handelt es sich um Zellulosebeutel, in denen sehr klein geschnittener Tabak enthalten ist. Der Tabak ist etwas gröber als bei Snus Bags. Die Thunder Bags werden weniger angefeuchtet als Snus Bags. Gebraucht verbleibt der Beutel. Die Beutel sind etwas fester als beim Snus.“

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 28. Juli 2015 den Bescheid bezüglich „Thunder Chewing Tobacco“ aufgehoben. Es handele sich um Erzeugnisse, die zum Kauen bestimmt und deshalb verkehrsfähig seien. Allein die Tatsache, dass es sich um ein neuartiges Produkt handele, das sich vom herkömmlichen Kautabak unterscheide, rechtfertige kein Vertriebsverbot. Ob ein Produkt zum Kauen bestimmt sei, müsse sich aus dem Produkt selbst ergeben. Es sei weder maßgeblich auf die Angabe des Herstellers noch auf die Meinung des Konsumenten abzustellen. Ausschlaggebend sei eine auf das Produkt bezogene objektive Betrachtungsweise. Die Inaugenscheinnahme habe ergeben, dass es sich bei dem Tabakerzeugnis um ein Produkt handele, das gekaut werden könne. Auch nach dem Einlegen in ein Wasserglas sei bis zum Ende der mündlichen Verhandlung ein zusammenhängendes Stück in sich konsistenter Masse verblieben, das Druck standgehalten habe, ohne auseinanderzufallen. Demgegenüber habe sich der lose Snus in Wasser in kürzester Zeit aufgelöst und sei am Boden des Wasserglases verblieben. Das Gericht gehe davon aus, dass das streitgegenständliche Produkt einer mechanischen Einwirkung durch die Zähne standhalte und einer solchen auch in einem gewissen Maße bedürfe, um die Inhaltsstoffe des Tabaks zu lösen.

Bezüglich des Tabakerzeugnisses „...“ hat das Verwaltungsgericht die Klage mit Urteil vom 28. Juli 2015 abgewiesen. Ob ein Produkt zum Kauen bestimmt sei, müsse sich aus dem Produkt selbst ergeben. Ausschlaggebend sei eine auf das Produkt bezogene objektive Betrachtungsweise. Ein Öffnen der Zellulosebeutel der „...“ in der mündlichen Verhandlung habe ergeben, dass diese einen sehr fein geschnittenen Tabak eher körniger Substanz enthielten. Angesichts der feinkörnigen Konsistenz gehe das Gericht davon aus, dass der in den Beuteln befindliche Tabak keiner mechanischen Einwirkung durch die Zähne standhalte bzw. keiner solchen bedürfe, um die Inhaltsstoffe zu lösen. Auch wenn Kauen im Bereich des Tabakkonsums keine stetige mechanische Einwirkung auf das Tabakprodukt bedeute, könne ein Tabakerzeugnis nur dann zum Kauen bestimmt sein, wenn es eines Kauvorganges bedürfe oder dieser zumindest möglich sei und dazu führe, dass sich die Inhaltsstoffe in der gewünschten Weise lösen. Dies sei hier fraglich, da eine feste, konsistente Masse fehle. Die festen Zellulosebeutel, die einem Kauvorgang durchaus standhalten könnten, genügten hier nicht. Denn ein Tabakprodukt sei nicht bereits dann zum Kauen bestimmt, wenn seine Kaueignung durch eine außerhalb des eigentlichen Tabakerzeugnisses liegende Darreichungsform vermittelt werde. Von einer Bestimmung zum Kauen könne erst ausgegangen werden, wenn der Tabak als solcher so verarbeitet sei, dass er mechanischem Druck durch die Zähne standhalte und dadurch seine Inhaltsstoffe preisgebe. Die Kaubeständigkeit der Beutelchen genüge auch im Hinblick auf Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2001/37/EG nicht den gesetzlichen Anforderungen. Denn dort stelle der Richtliniengeber klar, dass insbesondere auch Tabakprodukte in Portionsbeuteln bzw. porösen Beuteln verboten werden sollten. Dieser Bestimmung würde es zuwiderlaufen, wenn die Kaubestimmung wesentlich durch den Beutel vermittelt werde.

Im Verfahren 20 BV 15.2073 legte die Klägerin eine Entscheidung des dänischen Sicherheitsamts (Sikkerhedsstyrelsen) vom 19. Januar 2017 bezüglich der „...“ in Kopie des dänischen Originals und in deutscher Übersetzung vor. Daraus geht hervor, dass das Sicherheitsamt das Produkt geprüft und beurteilt hat, dass es sich dabei um ein Kautabakprodukt handele. In der Begründung wird ausgeführt, dass gemäß dem dänischen Tabakwarengesetz unter anderem Tabak, der oral eingenommen werde, verboten sei. Eine Ausnahme davon sei Kautabak. Kautabak sei dadurch gekennzeichnet, rauchfreie Tabakwaren zu sein, die ausschließlich dafür vorgesehen seien, gekaut zu werden. Nach dem dänischen Tabakwarengesetz sei das entscheidende, dass die Tabakware dafür vorgesehen sei, gekaut zu werden. Es werde somit nicht verlangt, dass die Tabakware besonders häufig gekaut werden solle und damit sei es nicht erforderlich, dass das Produkt in der gleichen Weise wie z.B. Kaugummi gekaut werde. Die Beurteilung habe auf Informationen über die tatsächliche Anwendung des Produktes zu beruhen sowie auf einer Beurteilung des Aussehens, der Konsistenz und Zusammensetzung des Produktes im Verhältnis zu Tabak, der oral eingenommen werde. Das Sicherheitsamt habe einen Test in Auftrag gegeben. Es habe Wert darauf gelegt, dass das Produkt mehr künstlichen Speichel abgebe bei Kauen des Produktes als bei Heraussickern allein. Im Test sei festgestellt worden, dass mehr künstlicher Speichel bei Kauen des Produktes abgegeben werde als bei Heraussickern allein. Das Sicherheitsamt habe beurteilt, dass es wahrscheinlich sei, dass prozentual mehr Nikotin bei Kauen von Kautabak als bei Kauen von Schnupftabak (gemeint offensichtlich: Snus, im dänischen Original auch so bezeichnet) freigegeben werde. Kautabak und Snus ließen sich bei visueller und mikroskopischer Untersuchung trennen, da es Unterschiede in der Struktur der Proben gebe. Kautabak enthalte viel geschnittenen Tabak und fast kein Pulver, wogegen Snus gemahlener Tabak sei, der viel Pulver enthalte und fast keinen oder nur wenig Tabakstreifen. Der Inhalt von Nikotin bei Extraktion eines ganzen Beutels mit Tabak sei deutlich höher bei Snus als bei Kautabak.

Gegen die genannten Urteile des Verwaltungsgerichts haben die Klägerin bzw. die Beklagte die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt. Der Verwaltungsgerichtshof hat am 1. Juni 2017 in der Sache verhandelt. Er hat die streitgegenständlichen Tabakerzeugnisse ebenso wie klassische Kautabakprodukte und schwedische Snus-Produkte eingesehen. Proben der Produkte wurden zu den Akten genommen und werden dem Europäischen Gerichtshof mit dem Vorlagebeschluss vorgelegt.

II. Nationaler Rechtsrahmen

Das deutsche Recht regelte bei Erlass der streitgegenständlichen Verfügungen bzw. im Zeitpunkt der Entscheidungen des Verwaltungsgerichts in § 20 Vorläufiges Tabakgesetz ein Verbot des gewerbsmäßigen Inverkehrbringens von bestimmten Tabakerzeugnissen. Nach § 20 Abs. 1 Nr. 2 Vorläufiges Tabakgesetz war es verboten, Tabakerzeugnisse gewerbsmäßig in den Verkehr zu bringen, die entgegen dem Verbot der Nr. 1 hergestellt sind oder einer nach Abs. 3 Nr. 1 oder Nr. 2a erlassenen Rechtsverordnung nicht entsprechen.

Mit der u.a. aufgrund des § 20 Abs. 3 Vorläufiges Tabakgesetz erlassenen Verordnung über Tabakerzeugnisse (Tabakverordnung) hat der deutsche Verordnungsgeber in § 5a ein Verbot von Tabakerzeugnissen zum anderweitigen oralen Gebrauch erlassen. § 5a Tabakverordnung lautete:

Es ist verboten Tabakerzeugnisse, die zum anderweitigen oralen Gebrauch als Rauchen oder Kauen bestimmt sind, in den Verkehr zu bringen.

Aufgrund der Umsetzungspflicht nach Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40/EU hat der deutsche Gesetzgeber zum 20. Mai 2016 das Vorläufige Tabakgesetz durch das Gesetz über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse (Tabakerzeugnisgesetz – TabakerzG) vom 4. April 2016 (BGBl. I S. 569) und die Tabakverordnung durch die Verordnung über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse (TabakerzeugnisverordnungTabakerzV) vom 27. April 2016 (BGBl. I 2016, 980) ersetzt.

Die maßgeblichen Vorschriften des Tabakerzeugnisgesetzes lauten:

§ 1 Begriffsbestimmungen; Anwendbarkeit weiterer Bestimmungen.

(1) Für die Anwendung dieses Gesetzes und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen gelten die Begriffsbestimmungen des Art. 2 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. L 127 vom 29.4.2014, S. 1). Art. 2 Nr. 40 gilt mit der Maßgabe, dass die Bereitstellung von Produkten jede Abgabe eines Produkts zum Vertrieb, Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Gemeinschaftsmarkt im Rahmen einer Geschäftstätigkeit umfasst.

§ 11 Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch.

Es ist verboten, Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch in den Verkehr zu bringen.

§ 12 neuartige Tabakerzeugnisse.

(1) Neuartige Tabakerzeugnisse dürfen nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie zugelassen sind.

(…)

Die Tabakerzeugnisverordnung regelt in § 9 das Verfahren zur Zulassung neuartiger Tabakerzeugnisse.

Da es sich bei den streitgegenständlichen Verfügungen um Dauerverwaltungsakte handelt, ist nach dem maßgeblichen deutschen Recht für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs maßgeblich.

B. Vorlagefragen und Entscheidungserheblichkeit

I. Unionsrechtlicher Rechtsrahmen

Richtlinie 92/41/EWG des Rates vom 15. Mai 1992 zur Änderung der Richtlinie 89/622/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen (ABl. L158 vom 11.6.1992, S. 30 ff.).

Erwägungsgründe:

(…)

Neuartige Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch, die in einigen Mitgliedstaaten in Umlauf gebracht werden, wirken besonders anziehend auf Kinder und Jugendliche; die hiervon am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten haben diese neuartigen Tabakerzeugnisse bereits vollständig untersagt bzw. beabsichtigen, dies zu tun.

Bezüglich dieser Erzeugnisse unterscheiden sich die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten; diese Erzeugnisse sind daher gemeinsamen Regeln zu unterwerfen.

Es besteht ein ernst zu nehmendes Risiko, dass diese neuartigen Erzeugnisse zum oralen Gebrauch vor allem von Kindern und Jugendlichen verwendet werden und damit eine Nikotinabhängigkeit verursachen, falls nicht rechtzeitig einschränkende Maßnahmen getroffen werden.

(…)

Das bereits von drei Mitgliedstaaten eingeführte Verbot der Vermarktung dieser Tabake hat unmittelbare Auswirkungen auf die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarktes. Die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet müssen daher angenähert werden, wobei von einem Gesundheitsschutz auf hohem Niveau auszugehen ist. Als dazu geeignete Maßnahme erscheint allein ein Totalverbot. Dieses Verbot betrifft jedoch nicht die herkömmlichen zum oralen Gebrauch bestimmten Tabakerzeugnisse, für die weiterhin die Bestimmungen der Richtlinie 89/622/EWG in der Fassung dieser Richtlinie gelten, die auf die nicht zum Rauchen bestimmten Tabakerzeugnisse anwendbar sind.

Artikel 1:

Die Richtlinie 89/622/EWG wird wie folgt geändert:

(…)

2. In Artikel 2 wird folgende Nummer hinzugefügt:

„4. Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch im Sinne des Art. 8a:

Alle zum oralen Gebrauch bestimmten Erzeugnisse, die ganz oder teilweise aus Tabak bestehen, sei es in Form eines Pulvers oder eines feinkörnigen Granulats oder einer Kombination dieser Formen, insbesondere in Portionsbeuteln bzw. porösen Beuteln, oder in einer Form, die an ein Lebensmittel erinnert, mit Ausnahme von Erzeugnissen, die zum Rauchen oder Kauen bestimmt sind.“

(…)

5. Folgender Artikel wird eingefügt:

„Artikel 8a

Die Mitgliedstaaten untersagen den Verkauf von Tabaken zum oralen Gebrauch im Sinne von Art. 2 Nr. 4.“

In Art. 151 des Vertrags zwischen der Europäischen Union und u.a. dem Königreich Schweden über dessen Beitritt zur Europäischen Union wurde geregelt, dass das Verbot gemäß Art. 8a der Richtlinie 89/622/EWG, geändert durch die Richtlinie 92/41/EWG betreffend die Vermarktung des Erzeugnisses im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 89/622/EWG, geändert durch die Richtlinie 92/41/EWG nicht für das Königreich Schweden gelte, mit Ausnahme des Verbots, dieses Erzeugnis in einer Form, die an ein Lebensmittel erinnert, in den Verkehr zu bringen (ABl. vom 29.8.1994, S. 341).

Richtlinie 2001/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen (ABl. L 194 vom 18.7.2001, S. 26 ff.):

Erwägungsgründe:

(1) Die Richtlinie 89/622/EWG des Rates vom 13. November 1989 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen sowie zum Verbot bestimmter Tabake zum oralen Gebrauch ist durch die Richtlinie 92/41/EWG des Rates in wesentlichen Punkten geändert worden. Da weitere Änderungen jener Richtlinie und der Richtlinie 90/239/EWG des Rates vom 17. Mai 1990 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den höchstzulässigen Teergehalt von Zigaretten erforderlich sind, sollten die genannten Richtlinien aus Gründen der Klarheit neu gefasst werden.

(…)

(28) Mit der Richtlinie 89/622/EWG wurde der Verkauf bestimmter Tabake zum oralen Gebrauch in den Mitgliedstaaten verboten. Artikel 151 der Akte über den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens sieht für Schweden diesbezüglich jedoch eine Ausnahmeregelung zu der genannten Richtlinie vor.

Artikel 2 Definitionen

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck (…)

4. „Tabak zum oralen Gebrauch“

Alle zum oralen Gebrauch bestimmten Erzeugnisse, die ganz oder teilweise aus Tabak bestehen, sei es in Form eines Pulvers oder feinkörnigen Granulats oder einer Kombination dieser Formen, insbesondere in Portionsbeuteln bzw. porösen Beuteln, oder in einer Form, die an ein Lebensmittel erinnert, mit Ausnahme von Erzeugnissen, die zum Rauchen oder Kauen bestimmt sind;

Artikel 8 Tabak zum oralen Gebrauch

Die Mitgliedstaaten verbieten das Inverkehrbringen von Tabak zum oralen Gebrauch unbeschadet des Art. 151 der Akte über den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens.

Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. L 127 vom 29.4.2014, S. 1 ff.):

Erwägungsgründe:

(32) Gemäß der Richtlinie 89/622/EWG des Rates war der Verkauf bestimmter Tabake zum oralen Gebrauch in den Mitgliedstaaten verboten. Mit der Richtlinie 2001/37/EG wurde dieses Verbot bestätigt. Art. 151 der Akte über den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens sieht für Schweden eine Ausnahme von dem Verbot vor. Das Verkaufsverbot für Tabak zum oralen Gebrauch sollte beibehalten werden, damit verhindert wird, dass ein Produkt in die Union (abgesehen von Schweden) gelangt, das suchterzeugend ist und gesundheitsschädigende Wirkungen hat. Bei anderen rauchlosen Tabakerzeugnissen, die nicht für den Massenmarkt hergestellt werden, werden strenge Kennzeichnungsvorschriften und bestimmte Vorschriften in Bezug auf ihre Inhaltsstoffe als ausreichend angesehen, um eine über den herkömmlichen Konsum dieser Erzeugnisse hinausgehende Expansion auf den Märkten einzudämmen.

(…)

(34) Alle Tabakerzeugnisse können Todesfälle, Morbidität und Behinderungen verursachen. Daher sollte ihre Herstellung, ihr Vertrieb und ihr Konsum geregelt werden. Es ist daher wichtig, Entwicklungen im Zusammenhang mit neuartigen Tabakerzeugnissen zu beobachten. Den Herstellern und Importeuren neuartiger Tabakerzeugnisse sollte daher – unbeschadet der Befugnis der Mitgliedstaaten, diese neuartigen Tabakerzeugnisse zu verbieten oder zuzulassen – eine Meldepflicht für neuartige Tabakerzeugnisse auferlegt werden.

(35) Damit gleiche Ausgangsbedingungen gewährleistet sind, sollten neuartige Tabakerzeugnisse, die Tabakerzeugnisse im Sinne dieser Richtlinie sind, den Anforderungen dieser Richtlinie genügen.

Artikel 2 Begriffsbestimmungen

4. „Tabakerzeugnis“

Ein Erzeugnis, das konsumiert werden kann und das, auch teilweise, aus genetisch verändertem oder genetisch nicht verändertem Tabak besteht;

6. „Kautabak“

Ein rauchloses Tabakerzeugnis, das ausschließlich zum Kauen bestimmt ist;

8. „Tabak zum oralen Gebrauch“

Alle Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch – mit Ausnahme von Erzeugnissen, die zum Inhalieren oder Kauen bestimmt sind –, die ganz oder teilweise aus Tabak bestehen und die in Pulver oder Granulatform oder in einer Kombination aus beiden Formen, insbesondere in Portionsbeuteln oder porösen Beuteln, angeboten werden;

14. „neuartiges Tabakerzeugnis“

Ein Tabakerzeugnis, das

a) nicht in eine der nachstehenden Kategorien fällt: Zigaretten, Tabak zum selbstdrehen, Pfeifentabak, Wasserpfeifentabak, Zigarren, Zigarillos, Kautabak, Schnupftabak und Tabak zum oralen Gebrauch; und

b) nach dem 19. Mai 2014 in Verkehr gebracht wird;

Artikel 17 Tabak zum oralen Gebrauch

Die Mitgliedstaaten verbieten das Inverkehrbringen von Tabak zum oralen Gebrauch unbeschadet des Art. 151 der Akte über den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens.

Artikel 19 Meldung neuartiger Tabakerzeugnisse

(1) Die Mitgliedstaaten schreiben Herstellern und Importeuren von neuartigen Tabakerzeugnissen vor, bei den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten jedes derartige Erzeugnis zu melden, das sie in dem Mitgliedstaat in den Verkehr zu bringen beabsichtigen. Diese Meldung muss in elektronischer Form sechs Monate vor dem beabsichtigten Inverkehrbringen erfolgen und eine detaillierte Beschreibung des betreffenden neuartigen Tabakerzeugnisses sowie Gebrauchsanweisung dafür und Informationen über Inhaltsstoffe und Emissionen gemäß Art. 5 enthalten.

(…)

(3) Die Mitgliedstaaten können ein System für die Zulassung neuartiger Tabakerzeugnisse einführen. Die Mitgliedstaaten können für diese Zulassung bei den Herstellern und Importeuren eine angemessene Gebühr erheben.

II. Auslegungsbedürftigkeit des Unionsrechts

Maßgeblich für die Entscheidung in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten ist, ob es sich bei den streitgegenständlichen Produkten um Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch, die nicht zum Kauen bestimmt sind, im Sinne von Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU handelt. Denn dann wären diese nach dem Art. 17 der Richtlinie 2014/40/EU ins deutsche Recht umsetzenden § 11 TabakerzG verboten und die streitgegenständlichen Verfügungen der Beklagten wären rechtmäßig. Für die Entscheidung der Ausgangsfälle ist allein die Auslegung der Richtlinie maßgeblich, da das deutsche Recht hiervon nicht abweicht und sogar ausdrücklich in § 1 Abs. 1 TabakerzG die Definitionen der Richtlinie 2014/40/EU für anwendbar erklärt.

Aus der Richtlinie 2014/40/EU ist aber nicht zu entnehmen, wann ein Tabakerzeugnis zum Kauen bestimmt im Sinne von Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie ist. Diesbezüglich wurden im Ausgangsverfahren mehrere Auslegungsvarianten vertreten, von denen keine eindeutig Vorrang beansprucht.

a) So vertritt insbesondere die Landesanwaltschaft Bayern, die sich als Vertreter des öffentlichen Interesses am Ausgangsverfahren beteiligt hat, die Auffassung, dass als Tabakerzeugnis zum oralen Gebrauch, das zum Kauen bestimmt ist, allein Kautabakprodukte im klassischen Sinne zu verstehen seien. Diese Auslegung wird insbesondere aus der Entstehungsgeschichte des Verbots des Tabaks zum oralen Gebrauch abgeleitet. Das Verbot wurde erstmals durch die Richtlinie 92/41/EWG in das Unionsrecht eingeführt und seither im Wesentlichen unverändert in die Folgerichtlinien übernommen. In den Erwägungsgründen dieser Richtlinie führt der Richtliniengeber als maßgebliche Gründe für das Verbot an, dass „neuartige Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch“ besonders anziehend auf Kinder und Jugendliche wirkten. Es bestehe ein ernstzunehmendes Risiko, dass diese Erzeugnisse vor allem von Kindern und Jugendlichen verwendet würden und damit eine Nikotinabhängigkeit verursacht werde. Ausschlaggebend sei daher nach der Argumentation der Landesanwaltschaft die Neuartigkeit dieser Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch gewesen. In den Erwägungsgründen werde aber auch ausgeführt, dass als geeignete Maßnahme ein Totalverbot geeigneter erscheine, dieses jedoch nicht die herkömmlichen zum oralen Gebrauch bestimmten Tabakerzeugnisse erfasse. Damit unterfielen alle nicht herkömmlichen, zum oralen Gebrauch bestimmten Tabakerzeugnisse, die neuartig aus der Perspektive des Jahres 1992 seien, dem Verbot.

Für diese Argumentation spricht zwar einerseits, dass das 1992 eingeführte Verbot in den Folgerichtlinien ohne genauere Spezifikationen übernommen wurde. Allerdings wird in der Richtlinie 2014/40/EU in Art. 2 Nr. 6 der offensichtlich unter „herkömmliche zum oralen Gebrauch bestimmte Tabakerzeugnisse“ fallende Kautabak definiert. Diese Definition unterscheidet sich aber von der Definition in Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie. Darüber hinaus wird in der Richtlinie auch das „neuartige Tabakerzeugnis“ in Art. 2 Nr. 14, und zwar ebenfalls abweichend von der Definition in Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie definiert. Beides dürfte gegen eine derartige Auslegung sprechen.

Die in der Richtlinie 2014/40/EU enthaltene neue Definition des Kautabaks in Art. 2 Nr. 6 beschränkt den Begriff „Kautabak“ nicht auf die klassischen Kautabakformen, sondern versteht darunter ein rauchloses Tabakerzeugnis, das ausschließlich zum Kauen bestimmt ist. Der Begriff des Kautabaks hat damit mit der in Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU enthaltenen Definition des Tabaks zum oralen Gebrauch die „Bestimmung zum Kauen“ gemein. Daher ist grundsätzlich eine Auslegung der Ausnahme vom Tabakerzeugnis zum oralen Gebrauch denkbar, die eine „Bestimmung zum Kauen“ nur dann annimmt, wenn das Tabakerzeugnis im Sinne von Art. 2 Nr. 6 der Richtlinie 2014/40/EU ausschließlich zum Kauen bestimmt ist. Dagegen spricht jedoch, dass bereits nach dem Wortlaut des Art. 2 Nr. 6 der Richtlinie 2014/40/EU für Kautabak erforderlich ist, dass das Tabakerzeugnis „ausschließlich“ zum Kauen bestimmt ist, während in Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU dieses Tatbestandsmerkmal nicht enthalten ist.

Gegen eine Auslegung, die als „zum Kauen bestimmte“ Tabakerzeugnisse allein herkömmliche Kautabakerzeugnisse ansieht, die aus der Perspektive des Jahres 1992 nicht neuartig sind, spricht aber auch die Einführung des „neuartigen Tabakerzeugnisses“ in Art. 2 Nr. 14 der Richtlinie 2014/40/EU. Denn für die Annahme eines solchen ist u.a. entscheidend, dass es sich dabei nicht um ein Tabakerzeugnis zum oralen Gebrauch im Sinne von Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU handelt. Wenn diese Kategorie aber alle zum oralen Gebrauch bestimmten Tabakerzeugnisse mit Ausnahme allein der Kautabakerzeugnisse, die aus der Perspektive des Jahres 1992 nicht neuartig waren, umfasst, dann ist ein neuartiges Tabakerzeugnis zum oralen Gebrauch kaum denkbar: Denn dieses dürfte aus der Perspektive des Jahres 1992 nicht neuartig sein, um nicht in die Kategorie „Tabakerzeugnis zum oralen Gebrauch“ zu fallen. Dann wäre es aber wahrscheinlich „Kautabak“ mit der Folge, dass es eben nicht unter Art. 2 Nr. 14 der Richtlinie 2014/40/EU fallen würde.

b) Sollte der Begriff des „Tabakerzeugnis, das zum Kauen bestimmt ist“ nicht in der dargestellten Weise auszulegen sein, wäre der Begriff eigenständig anhand seiner Tatbestandsmerkmale auszulegen. Insoweit ist zunächst fraglich, wonach die „Bestimmung zum Kauen“ festzustellen ist. Insoweit ist klar und zwischen den Beteiligten des Ausgangsverfahrens unstreitig, dass „Kauen“ im Bereich von Tabakprodukten nicht im Sinne eines Kauens von Lebensmittel zu verstehen ist. Es geht beim Kauen von Tabakerzeugnissen also nicht um die Vorbereitung des Schluckens und damit um die Zerkleinerung des Nahrungsmittels.

Das bayerische LGL stellte insoweit auch auf die Verwendung des jeweiligen Produktes durch die Nutzer laut deren Angaben in entsprechenden Internetforen ab. Dem gegenüber ging das Verwaltungsgericht von einer objektiven Betrachtungsweise aus, bei der insbesondere auch die Eignung des jeweiligen Produktes zum Kauen und die Förderlichkeit des Kauvorgangs zum Herauslösen der Inhaltsstoffe als maßgeblich erachtet wurden. Das dänische Sicherheitsamt wiederum hat für die Frage, ob ein Produkt dafür bestimmt ist, gekaut zu werden, auf Informationen über die tatsächliche Anwendung des Produkts (ähnlich dem LGL) sowie auf eine Beurteilung des Aussehens, der Konsistenz und Zusammensetzung des Produkts (ähnlich dem VG) im Verhältnis zu Tabak, der oral eingenommen werde, abgestellt.

Für die Auslegung des Verwaltungsgerichts spricht, dass zwar einerseits der Hersteller bzw. in den Verkehr Bringende eines Produkts vorgibt, wie sein Produkt bestimmungsgemäß zu verwenden ist. Auf eine mögliche missbräuchliche Verwendung durch Benutzer hat er grundsätzlich keinen Einfluss. Fehlt es jedoch bereits an der objektiven Eignung, so kann dieser Mangel auch nicht durch entsprechende Angaben oder Verwendungsempfehlungen des Herstellers bzw. in den Verkehr Bringenden aufgewogen werden. Daneben muss die vorgegebene Verwendungsweise aber auch in Bezug auf das Produkt sinnvoll sein. Hierauf zielen die Fragen 5 und 6 ab.

c) Bei Zugrundelegung der in Frage 4 formulierten Auslegung für die „Bestimmung zum Kauen“ stellt sich die weitere Frage, inwieweit der Kauvorgang für das Herauslösen der im Tabakerzeugnis enthaltenen Inhaltsstoffe notwendig sein muss. Das Bayerische LGL geht zusammen mit einer in Deutschland vertretenen Literaturmeinung (Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Kommentar, Loseblattsammlung, G902, § 5a Tabakverordnung, Rn. 4) davon aus, dass von dem Verbot der Tabake zum oralen Gebrauch im Sinne der unionsrechtlichen Vorschriften jedenfalls „Lutschtabak“ erfasst ist, bei dem durch ein bloßes im Mund halten die Inhaltsstoffe gelöst werden. Ein ähnliches Verständnis liegt wohl auch der Entscheidung des dänischen Sicherheitsamtes zugrunde, das für die Frage, ob es sich bei den „...“ um ein zum Kauen bestimmtes Tabakerzeugnis handelt, maßgeblich darauf abstellt, ob durch das Kauen mehr künstlicher Speichel gelöst wird als ohne das Kauen. Allerdings geht aus der Entscheidung des dänischen Sicherheitsamtes nicht hervor, dass der Kauvorgang für das Herauslösen der Inhaltsstoffe erforderlich ist, dass also ohne einen Kauvorgang keine Inhaltsstoffe herausgelöst wurden. Werden jedoch auch ohne einen Kauvorgang aus dem Tabakerzeugnis Inhaltsstoffe herausgelöst, wenn auch in geringerem Umfang, so könnten diese Tabakerzeugnisse auch gelutscht oder nur im Mund gehalten werden. Die Grenze zwischen den verkehrsfähigen zum Kauen bestimmten Tabakerzeugnissen und den verbotenen Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch wäre dann fließend. Eine praktikable Abgrenzung wäre, wenn nicht unmöglich, so jedenfalls sehr schwer vorzunehmen.

Besser abzugrenzen wären beide Formen von Tabakerzeugnissen, wenn für die Bestimmung zum Kauen als zusätzliche Bedingung erforderlich wäre, dass nur durch Kauen eine Herauslösung der Inhaltsstoffe erfolgt, mithin durch ein bloßes im Mund halten oder lutschen keine Herauslösung der Inhaltsstoffe erfolgt. In diese Richtung deutet wohl auch die Definition des Kautabaks in Art. 2 Nr. 6 der Richtlinie 2014/40/EU, die aber, wie bereits oben erwähnt, nach ihrem Wortlaut nicht mit der Definition in Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU identisch ist.

d) Bei dem im Verfahren 20 BV 15.2073 streitgegenständlichen Produkt „...“ wird die Möglichkeit bzw. Eignung zum Kauen durch den den Tabak umgebenden Zellulosebeutel vermittelt. Der im Beutel befindliche lose geschnittene Tabak wäre für sich genommen nicht zum Kauen geeignet, da sich der Tabak unkontrolliert im Mundraum verteilen würde. Das Verwaltungsgericht ging in seiner Entscheidung insoweit davon aus, dass für die Bestimmung zum Kauen der Zellulosebeutel nicht berücksichtigt werden dürfe. Abgeleitet hat es dies aus der ausdrücklichen Nennung der Portionsbeutel oder porösen Beutel in Art. 2 Nr. 4 der damals noch maßgeblichen Richtlinie 2001/37/EG. Der nun maßgebliche Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU ist damit gleichlautend.

Allerdings ist in Art. 2 Nr. 4 bzw. Art. 2 Nr. 8 der maßgeblichen Richtlinie nicht ausdrücklich formuliert, dass Tabakerzeugnisse in porösen Beuteln oder Portionsbeuteln verboten sein sollen. Vielmehr handelt es sich dabei nur um eine beispielhafte, nicht abschließende Aufzählung von Darreichungsformen, was sich durch den Gebrauch des Wortes „insbesondere“ ergibt. Tatsächlich wird das Tabakerzeugnis „...“ nur in derartigen Beuteln in den Verkehr gebracht. Ist für die Bestimmung zum Kauen insbesondere die objektive Eignung zum Kauen in der Art und Weise, wie das Erzeugnis in den Verkehr gebracht wird maßgeblich, so würde sich unter Berücksichtigung der Darreichungsform eine Bestimmung zum Kauen ergeben. Allerdings spricht gegen eine Berücksichtigung des Portionsbeutels, dass dadurch eine gewisse Umgehungsgefahr bestehen wurde: Denn es wäre ein leichtes, ein Tabakerzeugnis zum oralen Gebrauch, das mangels Eignung zum Kauen für sich genommen nicht als zum Kauen bestimmtes Tabakerzeugnis angesehen werden kann, einfach in einen zum Kauen geeigneten Portionsbeutel zu stecken, womit es verkehrsfähig wäre. Damit sprächen Sinn und Zweck des Verbots gegen eine Berücksichtigung des Portionsbeutels.

III. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen für die Ausgangsverfahren.

Sämtliche Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2014/40/EU sind für die Ausgangsverfahren entscheidungserheblich.

Würde die Frage 1 mit „ja“ beantwortet, so wären die streitgegenständlichen Tabakerzeugnisse nicht verkehrsfähig und die Klagen abzuweisen, da es sich bei ihnen nicht um Kautabak im klassischen Sinne handelte.

Wäre die Frage 2 mit „ja“ zu beantworten, so wäre im Anschluss daran zu prüfen, ob die streitgegenständlichen Tabakerzeugnisse „ausschließlich“ zum Kauen bestimmt sind. Insoweit käme es dann darauf an, inwieweit Inhaltsstoffe gelöst würden, wenn das Produkt nur im Mund gehalten oder gelutscht würde.

Würden die Fragen 3 und 4 mit „ja“ beantwortet, so wäre auf die objektive Eignung der streitgegenständlichen Tabakerzeugnisse zum Kauen und die Frage, ob dadurch Inhaltsstoffe gelöst würden, abzustellen. Anderenfalls wäre auf die tatsächliche Verwendung durch die Benutzer unabhängig von der Eignung zum Kauen abzustellen.

Die Frage, welche Bedeutung der Kauvorgang für die Herauslösung der Inhaltsstoffe aus den Tabakerzeugnissen hat, richtet sich nach der Beantwortung der Fragen 5 und 6.

Im Verfahren 20 BV 15.2073 entscheidet die Beantwortung der Frage 7 darüber, ob das Tabakerzeugnis überhaupt zum Kauen bestimmt sein kann im Sinne von Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2014/40/EU, wenn diese mit „ja“ beantwortet wird.

Nach § 94 VwGO wird das Verfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Vorlagefragen ausgesetzt.

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Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 94


Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde fes

Tabakerzeugnisgesetz - TabakerzG | § 1 Begriffsbestimmungen; Anwendbarkeit weiterer Bestimmungen


(1) Für die Anwendung dieses Gesetzes und der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen gelten die Begriffsbestimmungen1.des Artikels 2 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichun

Tabakerzeugnisgesetz - TabakerzG | § 11 Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch


Es ist verboten, Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch in den Verkehr zu bringen.

Referenzen

Es ist verboten, Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch in den Verkehr zu bringen.

(1) Für die Anwendung dieses Gesetzes und der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen gelten die Begriffsbestimmungen

1.
des Artikels 2 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. L 127 vom 29.4.2014, S. 1) mit folgenden Maßgaben:
a)
die Nummer 14 mit der Maßgabe, dass der Begriff „neuartiges Tabakerzeugnis“ auch erhitzte Tabakerzeugnisse im Sinne des Artikels 7 Absatz 12 Unterabsatz 2 der Richtlinie 2014/40/EU umfasst,
b)
die Nummern 16 und 17 mit der Maßgabe, dass die dort bezeichneten Begriffe auch nicht nikotinhaltige elektronische Zigaretten und nicht nikotinhaltige Nachfüllbehälter umfassen,
c)
die Nummer 40 mit der Maßgabe, dass die Bereitstellung von Produkten jede Abgabe eines Produkts zum Vertrieb, Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Gemeinschaftsmarkt im Rahmen einer Geschäftstätigkeit umfasst,
2.
des Artikels 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/574 der Kommission vom 15. Dezember 2017 über technische Standards für die Errichtung und den Betrieb eines Rückverfolgbarkeitssystems für Tabakerzeugnisse (ABl. L 96 vom 16.4.2018, S. 7),
3.
des Artikels 2 der Delegierten Verordnung (EU) 2018/573 der Kommission vom 15. Dezember 2017 über Kernelemente der im Rahmen eines Rückverfolgbarkeitssystems für Tabakerzeugnisse zu schließenden Datenspeicherungsverträge (ABl. L 96 vom 16.4.2018, S. 1) und
4.
des Artikels 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2018/576 der Kommission vom 15. Dezember 2017 über technische Standards für Sicherheitsmerkmale von Tabakerzeugnissen (ABl. L 96 vom 16.4.2018, S. 57).

(2) Bestimmungen über den Schutz der menschlichen Gesundheit oder zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Täuschung aufgrund anderer Gesetze und der aufgrund dieser Gesetze erlassenen Rechtsverordnungen bleiben unberührt.

Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.