Urteils-Kommentar zu Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Urteil, 24. Okt. 2024 - L 12 BA 9/23 von Dirk Streifler

originally published: 08/04/2025 15:36, updated: 08/04/2025 15:40
Urteils-Kommentar zu Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Urteil, 24. Okt. 2024 - L 12 BA 9/23 von Dirk Streifler
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Urteil, 24. Okt. 2024 - L 12 BA 9/23

Author’s summary by Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner

Die Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 24. Oktober 2024 (Az. L 12 BA 9/23) beschäftigt sich mit einer für die Medienbranche zentralen Frage: Wann liegt bei freien Mitarbeiter:innen in Rundfunkanstalten eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vor – und wann handelt es sich um eine selbstständige Tätigkeit? Die Entscheidung bringt Klarheit in eine bislang vielfach unscharfe Abgrenzung und hat weitreichende Auswirkungen insbesondere für freie Reporter, Redakteure, Autorinnen und andere Medienschaffende. Im Fokus steht dabei die Problematik der Scheinselbständigkeit, also der Konstellation, in der eine formal selbstständige Tätigkeit tatsächlich den Kriterien abhängiger Beschäftigung entspricht.

Kernaussage des Urteils

Das LSG stellte klar, dass eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung dann vorliegt, wenn ein Reporter im Rahmen von im Voraus vereinbarten, pauschal vergüteten Diensten mit bestimmten Anfangs- und Endzeiten für eine Rundfunkanstalt tätig wird. Dies gelte selbst dann, wenn die Arbeit einen erheblichen journalistisch-eigenschöpferischen Anteil aufweist. Demgegenüber liege eine selbstständige Tätigkeit nur dann vor, wenn der Reporter auf Basis einzelner Werkverträge beitragsbezogene Produktionen nach eigenem Ermessen übernimmt.

Die juristische Systematik: Abgrenzung von Beschäftigung und Selbständigkeit

Das Gericht folgt in seiner Entscheidung der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach für die Frage der Versicherungspflicht die Merkmale Weisungsgebundenheit und Eingliederung in den Betrieb entscheidend sind. Es bestätigte, dass es sich auch dann um abhängige Beschäftigung handeln kann, wenn eine gewisse Eigenständigkeit in der Aufgabenwahrnehmung verbleibt – etwa in Form journalistischer Gestaltungsspielräume.

Im konkreten Fall war der Reporter regelmäßig im Funkhaus der Anstalt präsent, arbeitete mit Redakteuren zusammen, nahm an Konferenzen teil und nutzte das technische Equipment der Anstalt. Die Zusammenarbeit erfolgte auf Basis monatlicher Planung, wobei die Arbeitszeiten – sogenannte "Schichten" – im Voraus vereinbart wurden. Das LSG erkannte hierin eine Eingliederung in den redaktionellen Arbeitsprozess und eine vertraglich vereinbarte Dienstverpflichtung mit klar definierten Zeiten. In diesen Fällen liege keine freie Mitarbeit mehr vor, sondern abhängige Beschäftigung.

Differenzierte Betrachtung statt Pauschalbewertung

Bemerkenswert an der Entscheidung ist die konsequente Trennung zwischen unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit mit einem einzigen Auftraggeber: Das Gericht verwarf die Argumentation der Beklagten (DRV), wonach ein Reporter entweder ganz als selbständig oder ganz als sozialversicherungspflichtig einzustufen sei. Vielmehr sei eine einzelfallbezogene Differenzierung geboten. Voraussetzung hierfür sei, dass sich die jeweiligen Tätigkeiten klar voneinander abgrenzen lassen und jeweils eigenen vertraglichen Regelungen unterliegen. Eine pauschale Einordnung ohne Rücksicht auf die konkreten Rahmenbedingungen sei mit dem sozialrechtlichen Statusbegriff unvereinbar.

Scheinselbständigkeit und journalistische Freiheit

Die Entscheidung hat auch deshalb Relevanz, weil sie ein verbreitetes Missverständnis korrigiert: Selbst eine hohe kreative Eigenleistung oder programmgestaltende Tätigkeit schließt eine abhängige Beschäftigung nicht zwingend aus. Das Gericht stellt klar: Scheinselbständigkeit liegt nicht erst dann vor, wenn vollständig weisungsabhängig gearbeitet wird. Vielmehr reicht bereits eine organisatorische Eingliederung in den Betriebsablauf in Verbindung mit einer pauschalen Dienstverpflichtung aus.

Die Abgrenzung von echter freier Mitarbeit und Scheinselbständigkeit ist insbesondere in der Medienbranche schwierig, da hier kreative Freiräume, flexible Strukturen und projektbezogene Honorare gang und gäbe sind. Das Urteil zeigt: Auch dort, wo keine klassischen Arbeitsverhältnisse bestehen, kann eine Pflicht zur Sozialversicherung vorliegen. Für Auftraggeber und freie Mitarbeiter birgt dies erhebliche rechtliche und wirtschaftliche Risiken.

Abweichende Auffassungen und Kritik

Die Entscheidung des LSG widerspricht teils der bisherigen Verwaltungspraxis und den Auslegungen im sogenannten "Abgrenzungskatalog" der Sozialversicherungsträger. Dieser sieht eine einheitliche Statusbewertung bei mehrfacher Tätigkeit für denselben Auftraggeber vor. Das LSG stellt sich dem bewusst entgegen und fordert eine tätigkeitsspezifische Betrachtung, solange eine Trennung von selbstständiger und abhängiger Tätigkeit tatsächlich möglich ist.

Zudem wird in der Literatur mitunter argumentiert, dass die journalistische Freiheit im Sinne von Art. 5 GG einer Qualifikation als abhängige Beschäftigung entgegenstehen müsse. Dem erteilt das LSG eine klare Absage: Die Rundfunkfreiheit sei durch eine Statusfeststellung nicht berührt, solange keine Einschränkungen im Programmbereich erfolgen.

Fazit und praktische Konsequenzen

Das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen setzt einen wichtigen Akzent im sozialrechtlichen Diskurs um Scheinselbständigkeit. Es zeigt auf, dass auch scheinbar freie Mitarbeit – gerade bei pauschaler Vergütung und organisatorischer Eingliederung – eine abhängige Beschäftigung darstellen kann. Gleichzeitig lässt das Gericht eine differenzierende Betrachtung zu, was sowohl die Rechte der freien Mitarbeiter stärkt als auch für Auftraggeber mehr Planungssicherheit schafft.

Für Medienunternehmen empfiehlt sich eine kritische Prüfung bestehender Vertragsmodelle. Reporter:innen, Redakteur:innen und andere Medienschaffende sollten ihren Status im Zweifel klären lassen, um unerwartete Nachforderungen bei der Sozialversicherung zu vermeiden. Die Revision wurde zugelassen, sodass eine Entscheidung des Bundessozialgerichts zu erwarten ist – mit potenziell bundesweiter Signalwirkung.

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