Verwaltungsgericht Trier Urteil, 27. Nov. 2014 - 5 K 6/14.TR

ECLI: ECLI:DE:VGTRIER:2014:1127.5K6.14.TR.0A
published on 27/11/2014 00:00
Verwaltungsgericht Trier Urteil, 27. Nov. 2014 - 5 K 6/14.TR
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Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckungsfähigen Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland.

2

Am 5. September 2013 stellte der Kläger bei der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) in Trier einen Asylantrag, nachdem er am 9. August 2013 bei der Zentralen Ausländerbehörde ... als Asylsuchender erfasst worden war. Bei der Antragstellung gab der Kläger an, irakischer Staatsangehöriger und am ... 1985 geboren zu sein; er gehöre der Volksgruppe der Araber an und sei sunnitischen Glaubens.

3

Der Asylantrag blieb erfolglos; er wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 9. Dezember 2013 – zugestellt am 19. Dezember 2013 - gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt, da Tschechien aufgrund eines dort vergebenen Visums gemäß Art. 9 Abs. 4 Dublin-II-VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich und würden vom Kläger auch nicht geltend gemacht. Weiter wurde gestützt auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Tschechien angeordnet.

4

Am 2. Januar 2014 hat der anwaltlich vertretene Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung er im Wesentlichen vorträgt, dass mit Blick auf die familiären Bindungen nach Deutschland das Asylverfahren nach Art. 7 Dublin-II-VO, der insoweit auch Onkel und Cousin als Familienangehöriger erfasse, hier durchzuführen sei. Darüber hinaus sei das Aufnahmeersuchen an Tschechien entgegen Art. 17 Abs. 1 Dublin-II-VO verspätet erfolgt. Schließlich leide das Asylverfahren in Tschechien an systemischen Mängeln, weil Asylsuchende vielfach zunächst in Haft genommen und dann ohne inhaltliche Prüfung ihres Antrags in ihr Heimatland abgeschoben würden, so dass die Bundesrepublik Deutschland auch vor diesem Hintergrund gehalten sei, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

5

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

6

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. Dezember 2013 aufzuheben.

7

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

8

die Klage abzuweisen.

9

Zur Begründung führt sie aus, dass der klägerseits vorgebrachte Art. 7 Dublin-II-VO - die Dublin-II-VO sei im vorliegenden Fall anwendbar, weil der Asylantrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt worden sei - nicht Platz greife, da Onkel und Cousin, die der Kläger hier benenne, nicht unter den in Art. 2 Buchstabe i Dublin-II-VO definierten Begriff der „Familienangehörigen“ des Art. 7 Dublin-II-VO fielen. Diesbezüglich sei auch festzustellen, dass der Beklagten nicht bekannt gewesen sei, dass der Kläger über familiäre Bindung im Bundesgebiet verfüge. Im Gegenteil habe der Kläger sogar explizit angegeben, keine Verwandtschaft im Bundesgebiet zu haben (vgl. Frage 15 der Niederschrift über die Befragung zur Vorbereitung der Anhörung am 26. November 2013 sowie die Angaben zu Verwandten in Deutschland auf Bl. 33 der Verwaltungsakte). Im Übrigen bezieht sich die Beklagte zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

10

Die Kammer hat mit Beschluss vom 8. Januar 2014 die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung sowie auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Mit Beschluss vom 9. Januar 2014 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Einzelrichter übertragen.

11

Die Beteiligten - die Beklagte mit Schriftsatz vom 13. Januar 2014, der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2014 - haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten. Die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die auf Bl. 74 ff. der Prozessakte aufgelisteten Unterlagen zu den Verhältnissen im Irak lagen vor und waren Gegenstand der Beratung. Auf ihren Inhalt wird ebenfalls verwiesen.

Entscheidungsgründe

13

Die Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist zulässig (1.) hat in der Sache jedoch keinen Erfolg (2.).

14

1. Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig.

15

Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 9. Dezember 2013 hat die Beklagte den Asylantrag des Klägers unter Bezugnahme auf § 27a des Asylverfahrensgesetzes (- AsylVfG -), bei dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz AsylVfG bei Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung der Zeitpunkt maßgebend ist, in dem die Entscheidung gefällt wird, mithin hier die Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. August 2013 (BGBl I S. 3474) anzuwenden ist, für unzulässig erklärt und auf der Grundlage des § 34a AsylVfG seine Abschiebung nach Tschechien angeordnet. Gegen beide Entscheidungen ist eine Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 2 VwGO statthaft, da die Beklagte mit ihrem Bescheid das Asylverfahren des Klägers ohne Sachprüfung abgeschlossen hat (vgl. insoweit BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 -; Urteil vom 6. Juli 1998 - 9 C 45/97 -; Urteil vom 7. März 1995 - 9 C 264/94 -, alle veröffentlicht bei juris; Bayerischer VGH, Urteil vom 14. Januar 2013 - 20 B 12.30348 -, juris; Urteil der erkennenden Kammer vom 30. Mai 2012 - 5 K 967/11.TR -, ESOVGRP), so dass für ein weitergehendes Verpflichtungsbegehren kein Raum ist.

16

2. Die Klage ist indessen nicht begründet.

17

Die Beklagte hat den Asylantrag des Klägers in rechtlich nicht zu beanstandender Weise als unzulässig angesehen, nachdem Tschechien mit Schreiben vom 2. Dezember 2013 seine Zuständigkeit zur Bearbeitung des Asylantrags - gestützt auf Art. 9 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (- Dublin-II-VO -) - bejaht hat. Die Dublin-II-VO ist hier gemäß Art. 49 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (- Dublin-III-VO -) weiterhin maßgeblich, da der Kläger den Antrag auf internationalen Schutz vor dem 1. Januar 2014 gestellt hat.

18

a. Zwar prüfen nach Art. 3 Abs. 1 Dublin-II-VO die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates stellt. Der Antrag wird allerdings nur von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin-II-VO als zuständiger Staat bestimmt ist. Vorliegend ergibt sich danach eine Zuständigkeit Tschechiens aus Art. 9 Abs. 4 Dublin-II-VO; Tschechien hat unter Bezugnahme auf diese Bestimmung seine Zuständigkeit zur Bearbeitung des Asylantrags des Klägers bejaht.

19

aa. Soweit der Kläger mit seiner Klagebegründung geltend macht, eine abweichende Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens zugunsten Deutschlands folge „zur Wahrung der Familieneinheit“ aus Art. 7 Dublin-II-VO und hierfür auf einen in Deutschland lebenden Onkel und einen Cousin Bezug nimmt, vermag dies eine Zuständigkeit der Beklagten nach Kapitel III der Dublin-II-VO nicht zu begründen. Zutreffend ist zwar, dass nach Art. 5 Abs. 1 Dublin II-VO eine an die Familienzugehörigkeit anknüpfende Zuständigkeit - wie der hier geltend gemachte Art. 7 Dublin-II-VO - einer solchen nach Art. 9 Abs. 4 Dublin-II-VO vorginge. Indes lässt der anwaltlich vertretene Kläger bei seinem Vortrag zur „Familieneinheit“ außen vor, dass Art. 2 Buchst. i Dublin-II-VO den Kreis der Familienangehörigen definiert, für die eine vorrangige Zuständigkeit gilt. Der vom Kläger angeführten Onkel und Cousin fallen danach nicht unter den Begriff der „Familienangehörigen“ im Sinne der Verordnung. Für Verwandte, die inzwischen in Art. 2 Buchst. h Dublin-III-VO definiert werden, enthält die Verordnung keine vorrangigen Zuständigkeitsanknüpfungen.

20

Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang auf einen Beschluss des VG Wiesbaden vom 9. Dezember 2013 - 2 L 1256/13.WI.A - verweist, ergibt sich daraus nichts Abweichendes: Im Ausgangspunkt werden dort Onkel und Cousins ebenfalls nicht als Familienangehörige im Sinne des Art. 7 Dublin-II-VO qualifiziert, sondern dies vielmehr in Verbindung mit der Ermessenentscheidung nach Art. 15 Abs. 1 Dublin-II-VO gesetzt und insoweit ein Ermessensausfall festgestellt, weil sich die Beklagte dort nicht mit den vorgetragenen verwandtschaftlichen Beziehungen auseinandergesetzt und stattdessen nur pauschal „außergewöhnliche humanitäre Gründe“ abgelehnt habe.

21

Letztgenanntes ist indes keine Frage der Vorrangigkeit innerhalb der Zuständigkeiten des Kapitel III der Dublin-II-VO, sondern betrifft allein den Einwand, die Beklagte habe ihr Ermessen in Bezug auf das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art 15 Abs. 1 Dublin-II-VO fehlerhaft ausgeübt, indem sie die nach Deutschland bestehenden verwandtschaftlichen Beziehungen nicht ausreichend berücksichtigt habe.

22

bb. Im Gegensatz zur klägerseits angeführten Entscheidung des VG Wiesbaden (a.a.O.) sieht das erkennende Gericht in der vorliegenden Konstellation indes keinen Ermessensausfall der Beklagten, die im angegriffenen Bescheid ebenfalls allein in allgemeiner Form das Vorliegen außergewöhnlicher humanitärer Gründe abgelehnt hat.

23

Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Kläger bei der Vorbereitung zur Anhörung am 26. November 2013 angegeben hatte, keine Verwandten außerhalb des Heimatlandes zu haben (vgl. Frage Nr. 15, Bl. 52R der Verwaltungsakte), so dass für die Beklagte schon deshalb kein Anlass bestand, hierzu im Bescheid gesonderte Ausführungen zu machen. Diesbezüglich hilft auch nicht der Einwand des Klägers, die Beklagte habe durch die erteilte Erlaubnis nach § 58 AsylVfG von den verwandtschaftlichen Beziehung erfahren, weil allein aus der von der Ausländerbehörde ausgestellten Erlaubnis nicht ersichtlich ist, aus welchem Grund die Erlaubnis zum Verlassen eines zugewiesenen Aufenthaltsbereichs erteilt wurde.

24

Ungeachtet dessen, begründete auch allein die Kenntnis der Beklagten von verwandtschaftlichen Beziehungen in das Bundesgebiet keine gesonderte Begründungspflicht in Bezug auf die getroffene Ermessensentscheidung. Darüber hinaus fehlt es in der Sache jedenfalls auch an einer Ermessensreduzierung, die die Beklagte verpflichten würde, eine auf Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art 15 Abs. 1 Dublin-II-VO gestützte Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens anzunehmen:

25

Im Ausgangspunkt ist dem Kläger zwar zuzugeben, dass nach Erwägungsgrund (7) der Dublin-II-VO (heute ähnlich in Erwägungsgrund (17) der Dublin-III-VO) die Mitgliedstaaten aus humanitären Gründen von den Zuständigkeitskriterien abweichen können sollten, um eine räumliche Annäherung von Familienmitgliedern vorzunehmen. Wenn jedoch, wie es der Kläger begehrt, bereits schlichte verwandtschaftliche Beziehungen ausreichten, um über Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art 15 Abs. 1 Dublin-II-VO eine Pflicht zum Selbsteintritt und damit auf Durchführung eines Asylverfahrens zu erreichen, würde das in Kapitel III der Dublin-II-VO niedergelegte, ausdifferenzierte Zuständigkeitssystem und damit das Ziel der Verordnung unterlaufen, „eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaates“ (vgl. Erwägungsgrund (3) Dublin-II-VO) zu schaffen. Ausgehend davon ist es nicht erforderlich, die Ermessenentscheidung weiter zu begründen, wenn außer der verwandtschaftlichen Verbindung, für die der Verordnungsgeber gerade keine vorrangige Zuständigkeit formuliert hat, keine Umstände hinzutreten, die außergewöhnliche humanitäre Gründe begründen könnten. Derartiges ist hier weder vorgetragen noch ersichtlich.

26

Scheidet danach eine fehlerhafte Ermessensausübung aus, bedarf es an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob das hierdurch in Bezug genommene Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art 15 Abs. 1 Dublin-II-VO zugunsten des Antragstellers überhaupt ein subjektives öffentliches Recht begründet, auf das er sich berufen könnte (vgl. dazu EuGH (Große Kammer), Urteil vom 14. November 2013 - C-4/13 -, BRD ./. Kaveh Puid, NVwZ 2014, 129, mit Anmerkung Thym).

27

b. Auch unter Berücksichtigung der pauschal behaupteten systemischen Mängeln im tschechischen Asylverfahren besteht kein Anspruch des Klägers auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO.

28

Zu den Voraussetzungen und Grenzen eines Anspruchs auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts hat das OVG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 21. Februar 2014 - 10 A 10656/13.OVG -, juris, UA S. 9 ff.) ausgeführt:

29

„Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die mittlerweile ihren Niederschlag in Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO gefunden hat, kann ein Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen dazu verpflichtet sein, von der Rückführung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat abzusehen. Das ihm insofern eingeräumte Ermessen ist nämlich Teil des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats und stellt ein Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dar. Bei der Ermessensausübung führt der Mitgliedstaat daher Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aus. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Europäischen Grundrechtscharta, aber auch der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Art. 18 der Charta und Art. 78 AEUV). Die Mitgliedstaaten haben bei der Ausübung ihres Ermessens diese Grundsätze daher zu beachten (EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 u. C-493/10, N.S. u.a. - Slg. 2011-0000, Rn. 68 ff.).

30

Dabei kann jeder Mitgliedstaat grundsätzlich davon ausgehen, dass alle an dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem beteiligten Staaten die Grundrechte einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, beachten und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen (sogenanntes Prinzip gegenseitigen Vertrauens beziehungsweise normativer Vergewisserung, vgl. grundlegend BVerfG, Urteil vom 15.05.1996, 2 BvR 1938/93, Juris-Rn. 179 ff.). Es gilt daher die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Diese Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Menschenrechten unvereinbar ist.

31

Allerdings berührt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat das in der Dublin-II- bzw. Dublin-III-Verordnung niedergelegte Zuständigkeitssystem. Der Europäische Gerichtshof macht deutlich, dass nicht weniger als der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, auf dem Spiel steht (EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a.a.O., Rn. 83). Das Zuständigkeitssystem ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs deshalb nur dann auszusetzen, wenn einem Mitgliedstaat aufgrund der ihm vorliegenden Informationen nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in dem an sich zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller dort Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtecharta ausgesetzt zu sein (vgl. zum Ganzen EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a.a.O., Rn. 78 bis Rn. 106).

32

Anhaltspunkte dafür, wann eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzunehmen ist, lassen sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK entnehmen, der mit Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta übereinstimmt. In seinem Urteil vom 21. Januar 2011 hat der Gerichtshof eine Überstellung nach Griechenland als nicht mit Art. 3 EMRK vereinbar angesehen, da die systematische Unterbringung von Asylbewerbern in Haftzentren ohne Angabe von Gründen eine weit verbreitete Praxis der griechischen Behörden sei. Es gebe auch zahlreiche übereinstimmende Zeugenaussagen zu überfüllten Zellen, Schlägen durch Polizisten und unhygienischen Bedingungen in dem Haftzentrum neben dem internationalen Flughafen von Athen. Hinzu komme, dass der Beschwerdeführer monatelang in extremer Armut gelebt habe und außer Stande gewesen sei, für seine Grundbedürfnisse - Nahrung, Hygieneartikel und eine Unterkunft - aufzukommen. Er sei über Abhilfemöglichkeiten nicht angemessen informiert worden und habe in der ständigen Angst gelebt, angegriffen beziehungsweise überfallen zu werden (Urteil vom 21.01.2011, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, Beschwerde-Nr. 30696/09, Rn. 226 und Rn. 254 ff.).“

33

Ausgehend von diesen Maßstäben, die sich das erkennende Gericht zu Eigen macht, sind systemische Mängel in Bezug auf den Zielstaat Tschechien weder vorgetragen noch ersichtlich. Der Kläger beschränkt sich insoweit auf die pauschale Behauptung, in Tschechien gelangten Asylsuchende vielfach zunächst in Haft und würden sodann ohne inhaltliche Prüfung ihres Asylantrags in ihr Heimatland abgeschoben.

34

Es ist unter Berücksichtigung der oben bereits dargestellten Reichweite des Schutzes dieser Normen bezüglich der Lebensbedingungen in einem Mitgliedstaat und der aktuellen Situation in Tschechien weder ersichtlich noch von dem Kläger substantiiert dargelegt worden, dass er im Falle einer Überstellung dorthin mit ausreichender Wahrscheinlichkeit in eine Situation geriete, die einen Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK darstellen würde. Dies gilt selbst dann, wenn man der Auffassung ist, es reiche aus, dass es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gebe, dass der Betroffene im zuständigen Mitgliedstaat tatsächlich Gefahr laufe, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, Beschwerde-Nr. 30696/09, Rn. 365).

35

So lässt sich nicht in ausreichendem Maße erkennen, dass der Kläger im Falle eines Aufenthalts in Tschechien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in eine Lage gerieten, die mit derjenigen vergleichbar ist, die der EGMR im genannten Urteil vom 21. Januar 2011 zu beurteilen hatte. Diesem Urteil lag ein Fall zu Grunde, in dem ein Ausländer in Griechenland nach seinen Angaben monatelang in extremer Armut gelebt habe und seine elementaren Bedürfnisse nicht habe befriedigen, sich nicht habe ernähren und nicht waschen können sowie obdachlos gewesen sei (EGMR, a.a.O., Rn. 254).

36

c. Schließlich ist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auch nicht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-II-VO auf die Beklagte übergegangen. Nach dieser Vorschrift sind Aufnahmegesuche an andere Mitgliedstaaten spätestens innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrags zu stellen. Wird das Gesuch nicht innerhalb dieser Frist unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für die Prüfung zuständig. Allerdings vermittelt diese Vorschrift dem Asylbewerber schon keine subjektiven Rechte, sondern dient als innerstaatliche Organisationsvorschrift in erster Linie der klaren und praktikablen Bestimmung der Zuständigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten (vgl. hierzu die Erwägungsgründe (3) und (16) der Verordnung). Im Vordergrund steht daher das Interesse, die Zuständigkeit zeitnah festzustellen und den Asylantrag durch einzig den zuständigen Mitgliedstaat prüfen zu lassen, nicht aber, die Prüfung einem ganz bestimmten Mitgliedstaat zuzusprechen, in dem der Antragsteller einen (weiteren) Asylantrag gestellt hat (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 - 10 A 10656/13.OVG -, juris, UA S. 8; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, juris, Rn. 25).

37

d. Die Abschiebungsanordnung ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Rechtsgrundlage ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen nach § 27a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies ist der Fall, nachdem Tschechien seine Zuständigkeit akzeptiert hat und der - inzwischen auch durchgeführten - Abschiebung keine relevanten Hindernisgründe entgegenstehen.

38

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.

39

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten folgt aus § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Lastenausgleichsgesetz - LAG

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl
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published on 16/04/2014 00:00

Tenor Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17. Juni 2013 (A 12 K 331/13) geändert.Die Klage wird abgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider Rechtszüge.Die Revisio
published on 30/05/2012 00:00

Diese Entscheidung wird zitiert Tenor 1. Die Beklagte wird verpflichtet, im Asylverfahren des Klägers das ihr durch Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO eröffnete Selbsteintrittsrechts auszuüben und das Asylverfahren durchzuführen. Im Übrige
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published on 16/03/2015 00:00

Tenor Der Antrag wird abgelehnt. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden. 1Gründe: 2Der am 22. Januar 2015 bei Gericht gestellte Antrag, 3die aufschiebende Wirkung der Klage 13 K 457/15.A geg
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Annotations

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.

(2) Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.

In den Fällen des § 708 Nr. 4 bis 11 hat das Gericht auszusprechen, dass der Schuldner die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden darf, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit leistet. § 709 Satz 2 gilt entsprechend, für den Schuldner jedoch mit der Maßgabe, dass Sicherheit in einem bestimmten Verhältnis zur Höhe des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages zu leisten ist. Für den Gläubiger gilt § 710 entsprechend.