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13. Die frist- und formgerecht zu dem zuständigen Sozialgericht Stuttgart erhobene Klage ist zulässig und begründet. Streitgegenstand der vorliegenden kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist im Kern die Beantwortung der Frage, ob die Beklagte in der erforderlichen Übereinstimmung zu der maßgeblichen Sach- und Rechtslage das Abfindungsbegehren des Klägers in einer ermessensfehlerfreien Weise ablehnen konnte. Das ist vorliegend indessen nach den Feststellungen des Gerichts nicht der Fall. Da der Kläger im Ergebnis durch das von ihm angefochtene Verwaltungshandeln der Beklagten aufgrund Ermessensfehlerhaftigkeit in seinen Rechten in rechtswidriger Weise beeinträchtigt ist, war in der tenorierten Weise seiner Klage der erstrebte Erfolg beizumessen.
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14. Die vorliegend einschlägige – einzige – Rechtsgrundlage in Gestalt von § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist zwischen den Beteiligten ebenso unstreitig wie der rechtliche Gesichtspunkt, dass es sich hier um eine Ermessensvorschrift handelt, sowie die Größenordnungen der maßgeblichen finanziellen Gegebenheiten des Klägers. Eine weitergehende Darstellung erübrigt sich deshalb zur Vermeidung von Wiederholungen.
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15. Ebenso unstreitig ist auch die von der Beklagten errechnete Höhe der Abfindungssumme. Vor diesem Hintergrund erübrigt sich zu diesem speziellen Punkt eine tiefergehende Betrachtung der Frage, ob die der Bundesregierung eingeräumte Verordnungsermächtigung des § 76 Abs. 1 Satz 3 den einschlägigen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des Artikel 80 Abs. 1 Satz 2 GG genügt. Bereits vor Inkrafttreten des SGB VII in Gestalt des Artikel I des Gesetzes vom 7. August 1996 (BGBl. I S. 1254) fanden sich beispielsweise in der vormals gültigen Reichsversicherungsordnung (RVO) zuletzt in § 604 Satz 3 bzw. § 616 Abs. 2 RVO bzw. deren Vorgängerregelungen entsprechende Verordnungsermächtigungen.
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16. Da es sich bei dem Institut „Abfinden von Unfallrenten“ um eine Möglichkeit des Leistungsbezugs von mehreren handelt, die in dem System der deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung – mit gewissen Varianten – bereits seit langem vorhanden ist, ergab sich auch jeweils die Notwendigkeit zum Erlass entsprechender Rechtsverordnungen, hier beginnend mit der Verordnung vom 14. Juni 1926 (RGBl. I S. 269), insoweit zuletzt geändert auch durch Verordnung vom 1. September 1941 (RGBl. I S. 555). Eine inhaltliche Modifizierung der Abfindungsregelungen erfolgte durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl. I S. 241), wobei noch während der parlamentarischen Beratungen eine gewisse Änderung der Entwurfsvorschrift erfolgte, wonach nunmehr (wieder) die Berücksichtigung des sog. „Kapitalwerts“ als eines der für die Festsetzung der Abfindungshöhe maßgeblichen Parameter erfolgte (vgl. zum Gesetzgebungsverfahren auch die Darstellung in BSG, Beschluss des Großen Senats vom 7. Oktober 1992 [Az.: GS 2/91], dort Rn. 20 ff. – m.w.N.).
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17. Der Sache nach bedeutete das einen gewissen Paradigmenwechsel. Da wie in § 604 Satz 3 RVO enthaltene Ermächtigungsgrundlage, gezielt auf die Abfindung dieser (sc. Abfindungen) Leistungen sich lediglich auf den Berechnungsmodus der Leistungshöhe beschränkt, nicht jedoch auf die sprachlich ebenso denkbaren weiteren Voraussetzungen derartiger Abfindungen, könnten sich hier vor dem Hintergrund der während der vorangegangenen Jahre zunehmend präziser gewordenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu dem notwendigen Inhalt entsprechender Ermächtigungsnormen unter dem Blickwinkel von Artikel 80 Abs. 1 Satz 2 GG durchaus Bedenken ergeben (s.a. BVerfG, Beschluss vom 14. März 1989 [Az.: 1 BvR 1083/83 u.a.] – E 80, 1 – Multiple-Choice-Verfahren – oder auch zuletzt BVerfG, Urteil vom 3. März 2009 [Az.: 2 BvC 3/07] – Wahlcomputer -) mangels Fehlens einer eindeutigen Zielvorgabe an den Verordnungsgeber.
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18. Diesem Bedenken muss jedoch vorliegend letztlich nicht weiter nachgegangen werden, da zur Überzeugung des Gerichts die abschlägigen Bescheide der Beklagten bereits deshalb rechtswidrig sind, da seitens der Beklagten in keiner nachvollziehbaren Weise eine sachgerechte Ermessensausübung dargetan werden konnte.
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19. Insbesondere während des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens hat die Beklagte ihre Überlegungen auf die Vermögensverhältnisse des Klägers fokussiert. Die Beklagte hat indessen in keiner nachvollziehbaren Weise zum Ausdruck gebracht, weshalb gerade im Falle des Klägers sie von der ihr auch im Rahmen der ihr obliegenden Fürsorgepflicht gebotene großzügigen Bemessungen (s.a. Streubel in LPK-SGB VII, § 76 Rn. 2) keine anderen Erwägungen vor Erlass ihrer Ablehnung angestellt hat. Erkennbar orientiert sich vielmehr die Beklagte an dem Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. August 1996, das nach Veröffentlichung in den HVBG-Info 1996, S. 3060 dann die faktische Qualität einer Verbandsempfehlung gewonnen hat. Zwar erwuchs seinerzeit diese Entscheidung in Rechtskraft, allerdings war sie sie immerhin Anlass dazu gewesen, dass unter dem Az.: 2 RU 35/96 Revision zu dem Bundessozialgericht eingelegt worden war, wobei das Rechtsmittelverfahren allerdings durch Rücknahme der Revision endete ohne dass die näheren Gründe hierfür bekannt wurden (zit. nach SGB VII-Komm./ Burchardt § 7 Rn. 10 – m.w.N.).
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20. Zwar mögen allgemein derartige – möglicherweise auch unausgesprochene – Verbandsempfehlungen zu einer gewissen Kanalisierung des Ermessens beitragen, die unter rechtlichen Gesichtspunkten nicht von vornherein zwingend zu beanstanden wäre. Im vor-liegenden Fall tritt indessen aber noch hinzu, dass das angeführte Argument drohenden Sozialhilfebezugs nicht weiter substantiiert wurde, sondern lediglich auf einer Momentberechnung der aktuellen Vermögensverhältnisse beruhte. Es war jedoch in keiner Weise nachzuvollziehen, welche Bedeutung seitens der Beklagten dem von dem Kläger vorgetragenen Argument, mit der Abfindung könne er seine Schulden ablösen, beigemessen wurde. Die von dem Kläger angeführte Zinsbelastung in Höhe von knapp 300,00 EUR monatlich war im Übrigen betragsmäßig auch von der vergleichsweise geringen Verletztenrente nicht so deutlich unterschiedlich, als dass bei grober rechnerischer Übersicht sich hier nicht hätte die Möglichkeit eines sog. „Null-Summen-Spiels“ aufdrängen können, was das Sozialhilfeargument noch weiter hätte nach hinten rücken lassen müssen.
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21. Soweit im Übrigen in einem Teil der Literatur (s. Streubel a.a.O. Rn. 4 auf Empfehlungen der Spitzenverbände der Unfallversicherungs-Träger betreffend ein Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) hingewiesen wird, so muss es sich insoweit jedoch um eine fehlerhafte Interpretation handeln. Zwar hat sich die Internationale Arbeitsorganisation (englische Abkürzung: ILO) in der Vergangenheit mit der Materie befasst. Das in BGBl. II 1971 S. 1169 abgedruckte Gesetz zu dem Übereinkommen Nr. 121 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 8. Juli 1964 über Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten vom 29. Oktober 1971 sieht indessen in Artikel 22 Abs. 1 lit. b) vor, dass eine Leistung dann in einem vorgeschriebenen Ausmaß ruhen kann, „solange der Unterhalt der betreffenden Person aus öffentlichen Mitteln oder von einer Einrichtung oder einem Dienst der Sozialen Sicherheit bestritten wird ...“. Diese Aussage betrifft indessen Sachverhalte vorliegender Art gerade nicht. Denn aus dem Kontext der Regelung, wie z.B. Leistungsausschlüssen in Fällen von Betrug, fehlender Mitwirkung, Vorsatz oder Trunkenheit ist erkennbar, dass hier eher gedacht wird an Leistungsausschlüsse etwa für die Zeit stationärer Aufenthalte, strafrechtlicher Freiheitsentziehungen u.ä. – der Querverweis auf eine überstattliche Rechtsidee geht somit ins Leere.
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22. Die von der Beklagten angeführte Berücksichtigung schutzwürdiger Interessen der Allgemeinheit in Gestalt einer drohenden Sozialhilfebedürftigkeit im Falle von Rentenabfindung überzeugt auch aus rechtsstrukturellen Gründen nicht. In der einschlägigen Literatur wird dieses Argument ohnedies kontrovers beurteilt (s.a. beispielsweise Wiesner, BG 1985, S. 327 ff. – m.w.N.). Diese wohl vornehmend von dem LSG Rheinland-Pfalz (s.o.) entwickelte und dann in Teilen des Schrifttums ohne erkennbar weitere Würdigung übernommene Rechtsmeinung beachtet nicht, dass das System der deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung nämlich typprägend und durchgängig von der Vorstellung erfasst ist, dass dieser Zweig der gesetzlichen Sozialversicherung sich vollständig aus eigenen Mitteln finanziert. Staatliche Subsidien sind ihm vielmehr systemfremd, worauf seitens der Selbstverwaltung auch immer mit Stolz hingewiesen wird. Nunmehr hier sozialhilferechtliche Überlegungen ohne zwingende Not als gravierendes Entscheidungskriterium ins Feld zu führen, erscheint bereits als vom Ansatz her fragwürdig, da die Versichertengemeinschaft keine Garantenpflicht für fiskalisches Wohlergeben trifft.
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23. Medizinische Aspekte, die vom Ansatz her für krasse Fälle, wie z.B. ein zeitnah zu befürchtendes Ableben, im Rahmen der Ermessensprüfung entscheidend sein könnten, wären im vorliegenden Fall ohnedies nicht berücksichtigbar. Diese wurden nämlich vom Ansatz her in einer nach außen hin erkennbaren Weise von der Beklagten erst während des bereits laufenden Klagverfahrens vorgetragen. Hiermit kann die Beklagte indessen nicht mehr durchdringen, da eine unterbliebene Ermessensausübung mit heilender Wirkung nur bis zum Abschluss des Vorverfahrens bzw. der Klagerhebung nachgeholt werden kann (s.a. BSG, Urteil vom 18. April 2000 [Az.: B 2 U 19/99 R]).
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24. Aber auch ansonsten müsste zumindest zum derzeitigen Ermittlungsstand die ärztliche Beurteilung durch Dr. H. nicht nur deshalb als fragwürdig bezeichnet werden, da er seine Ausführungen bezüglich der zu erwartenden Lebensdauer nur floskelhaft begründet und es sich bei dem so bezeichneten „Gutachten“ von Hausarzt für Allgemeinmedizin Dr. B. der Sache nach nur um einen ärztlichen Befundbericht handelt. Weiter sind auch die medizinischen Details weder zum Zeitpunkt der damaligen Verwaltungsentscheidung noch nachfolgend während des gerichtlichen Klagverfahrens im Einzelnen dafür bekannt, weshalb bei dem Kläger neben der unfallbedingten MdE noch weitere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die zu einer Anerkennung seiner Schwerbehinderteneigenschaft entsprechend eines Gesamt-GdB in Höhe von 50 haben führen müssen. Neben einer gewissen Schwerhörigkeit mögen hier kardiologische Aspekte mit zum Tragen gekommen sein. Auf der anderen Seite entspricht es jedoch einer sehr langjährigen dienstlichen Erfahrung des Gerichts, diese auch gewonnen aus dem Bereich des Sozialen Entschädigungsrechts (SER) wie auch des Schwerbehindertenrechts, dass kein zwingendes Korrelat dafür besteht, das Vorliegen einer Schwerbeschädigteneigenschaft bedeute schon für sich eine deutliche Reduzierung der zu erwartenden Gesamtlebenszeit. Dagegen spräche auch der allgemein bekannte Umstand, dass zumindest in Deutschland trotz nicht unbeträchtlicher Zunahme des Quotienten Schwerbeschädigter an der Gesamtbevölkerungszahl bei beiden Geschlechtern gleichermaßen sich statistisch eine Verlängerung des Gesamtlebensalters verzeichnen lässt. Somit hätte es im Falle des Klägers einer deutlich eingehenden Würdigung des medizinischen Sachverhalts bedurft, die jedoch fehlte.
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25. Insgesamt wird es nunmehr Sache der Beklagten sein, die Voraussetzungen für die von dem Kläger angestrebte Abfindung nochmals unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Ermessensparameter unter Zugrundelegung des gebotenen großzügigen Maßstabs erneut zu verbescheiden.
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