Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 04. März 2010 - L 3 R 233/07

ECLI:ECLI:DE:LSGST:2010:0304.L3R233.07.0A
bei uns veröffentlicht am04.03.2010

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI).

2

Der am ... 1964 geborene Kläger absolvierte nach seiner Schulausbildung (Zehn-Klassen-Abschluss) Berufsausbildungen zum Zerspanungsfacharbeiter und Facharbeiter für Glas- und Gebäudereinigung. Nach seinem Grundwehrdienst bis April 1990 war er - mit kürzeren Unterbrechungen durch Zeiträume der Arbeitslosigkeit - als Glasreiniger, Monteur, Tourensteller im Lager, Automatenbestücker und Lieferer, "Night Auditor", Fahrer und bis zum 19. Januar 2000 als Nachtportier/Assistent des Haustechnikers versicherungspflichtig beschäftigt. Im Anschluss daran war er arbeitslos und nahm vom 14. Mai bis zum 2. Juli 2000 an einer Feststellungsmaßnahme "Industriekaufmann" teil. Die Beklagte gewährte ihm eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 20. Februar bis zum 13. März 2002. Der Kläger bezog Sozialleistungen - seit dem 1. Januar 2005 Arbeitslosengeld II - und steht seit dem 13. September 2007 vollschichtig in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis als Gabelstaplerfahrer.

3

Der zuständige Unfallversicherungsträger lehnte die Gewährung einer Verletztenrente auf Grund von Folgen eines vom Kläger am 29. September 1998 erlittenen Arbeitsunfalls (Prellung des linken Ellenbogens an einer Safetür im Hotel) ab (Bescheid vom 9. Januar 2003, Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2003, Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 12. Juli 2004 - S 13 U 114/03 -). Bei dem Kläger wurde ab dem Jahr 2001 ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt.

4

Die Beklagte lehnte den ersten Antrag des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung vom 1. Februar 2001 ab. Die hiergegen gerichtete Klage wies das Sozialgericht Magdeburg mit rechtskräftigem Urteil vom 15. März 2004 - S 9 RJ 298/02 - ab.

5

Der Kläger beantragte am 15. April 2005 erneut die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung auf Grund von Beschwerden am Haltungs- und Bewegungsapparat, eines hohen Blutdrucks und einer chronischen Sehnenscheidenentzündung in beiden Handgelenken. Die Beklagte zog zunächst die Unterlagen aus dem vorausgegangenen Renten- bzw. Rehabilitationsverfahren und dem Verfahren über die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung bei:

6

In dem von der Beklagten eingeholten Gutachten vom 14. Juni 2001 gab der Facharzt f. Orthopädie Dr. Q. an, der Kläger sei deutlich übergewichtig mit Hängeleib. Der Gang sei unauffällig mit einem kräftigen Zehen- und Fersengang. Er habe bei der Untersuchung sehr ängstlich, etwas antriebsarm, fast phobisch und depressiv verstimmt gewirkt. Bei der klinischen Untersuchung, die Hinweise auf eine Chondropathia patellae, eine endgradig schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule (HWS), Muskeldysbalancen und eine Bauchmuskelinsuffizienz ergeben habe, seien an allen großen Gelenken keine wesentlichen Funktionsstörungen nachweisbar gewesen. Aus orthopädischer Sicht sei der Kläger für leichte körperliche Arbeiten, ohne Zwangshaltungen und Tätigkeiten im Bücken, Knien, Hocken vollschichtig einsetzbar.

7

In dem auf Empfehlung von Dr. Q. eingeholten Gutachten vom 11. Oktober 2001 gab der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. an, der Kläger habe von seiner Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen, und von Suizidgedanken berichtet. Spezifische depressive Symptome habe er nicht angegeben. Neurologisch hätten sich keine Ausfälle oder Reizerscheinungen gefunden. Im elektrischen Hirnstrombild hätten sich dezente Veränderungen gefunden, die durch die hypertonen Blutdruckwerte möglich seien. Die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben sei durch die neurologischpsychiatrischen Störungen nicht wesentlich eingeengt.

8

Aus der im Jahr 2002 durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme wurde der Kläger nach den Feststellungen in dem Entlassungsbericht der Reha Klinik G. vom 20. März 2002 mit einem Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich für körperlich mittelschwere Arbeiten in wechselnder Körperhaltung des allgemeinen Arbeitsmarktes entlassen. Nicht zumutbar seien eine überwiegend einseitige Körperhaltung, häufiges Bücken oder Hocken, häufige Überkopfarbeit oder Gefährdung durch starke Temperaturschwankungen, Witterungseinflüsse (Kälte, Nässe, Zugluft). Bezüglich der arteriellen Hypertonie sollten Arbeiten in Nachtschicht vermieden werden. Aus psychologischer Sicht bestünden keine Einschränkungen des Leistungsvermögens. Bei einem dringenden Verdacht auf eine somatoforme Schmerzstörung sei eine Psychotherapie wünschenswert. Eine Motivation hierzu lasse sich derzeit nicht erarbeiten.

9

Nach dem für den Unfallversicherungsträger erstatteten Gutachten von Prof. Dr. W., Direktor bzw. Oberarzt der Klinik für Unfallchirurgie der Ottovon-Guericke-Universiät im M., vom 3. Oktober 2002, ist die vom Kläger als Folge einer Prellung des Ellenbogens an einer Safetür angegebene HWS-Distorsion wissenschaftlich nicht nachvollziehbar. Als Verletzungsfolge könne allenfalls noch eine Schmerzsymptomatik im Bereich des linken Ellenbogens anerkannt werden. Unfallunabhängig lägen ein Taubheitsgefühl im Bereich der Fingerbeere des vierten Fingers links und eine schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit der HWS vor. Ab Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit (spätestens am 1. November 1998) liege wegen der Unfallfolgen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von unter 10 v.H. vor.

10

In dem beigezogenen Befundbericht vom 25. November 2003, den der Facharzt für Orthopädie Dr. N. in dem Verfahren S 9 RJ 298/02 erstellte, wird dem Kläger bei einem zervikobrachialen Schmerzsyndrom mit Funktionsstörungen der oberen und unteren HWS, einer Tendinose der Rotatorenmanschette des rechten Schultergelenks, einer rezidivierenden Lumbalgie und einem Patella-Kompressionssyndrom beider Kniegelenke ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte Arbeiten (teilweise sitzend, ohne Zwangshaltung) attestiert. Diese Feststellung ist auch dem Befundbericht der Internistin Dr. K. vom 2. Dezember 2003 zu entnehmen, die als Diagnosen eine Hypertonie und Adipositas angab.

11

Auf den dem Streitverfahren zugrunde liegenden Rentenantrag holte die Beklagte ein Gutachten von Prof. Dr. K., Ärztliche Direktorin der Teufelsbad Fachklinik, und der Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. N. vom 18. Juni 2005 ein. Der Kläger habe als Beschwerden häufige Herzschmerzen (besonders bei Kälte), ständige Beschwerden im Lumbalbereich, im Bereich des rechten Beines und des linken Knies angegeben. Seit dem Stoß am Tresor "sei es mit ihm ganz vorbei". Es werde ihm schwarz vor Augen, wenn er den Kopf nach unten halte. Das rechte Handgelenk könne er auf Grund einer Sehnenscheidenentzündung, die seit einem Jahr mit einer Bandage versorgt werde, schlecht drehen und bewegen. Entsprechende Symptome begönnen auch an der linken Hand. Die Untersuchung habe einen normalen Allgemeinzustand und einen adipösen Ernährungszustand gezeigt (176 cm/133 kg). Das Gangbild sei etwas zögerlich, schwerfällig, aber ausreichend sicher. Bei der klinischen Untersuchung sei es immer wieder zu Schmerzäußerungen, sowohl in verbaler als auch in nonverbaler Form, mit einem demonstrativen Stöhnen bei der orthopädischen Untersuchung gekommen. Die leichten beginnenden degenerativen Veränderungen im Bereich der HWS, der Lendenwirbelsäule (LWS), des Beckens und der Kniegelenke könnten die geschilderten starken Schmerzen nicht begründen, sodass sich der Verdacht auf ein chronifiziertes Schmerzgeschehen ergebe. Bei deutlichen Dysbalancen im Rumpf ohne motorische Ausfälle sei die Funktion der oberen und unteren Extremitäten noch ausreichend. Auffällig sei die eingeschränkte Beweglichkeit im Bereich des rechten Handgelenks. Aus orthopädischer Sicht sei der Kläger noch für körperlich leichte Tätigkeiten, überwiegend im Sitzen, nur zeitweise im Gehen und Stehen vollschichtig einsetzbar. Zu vermeiden seien Zwangshaltungen für die Wirbelsäule, ein Bücken, Hocken, Klettern oder Steigen sowie ein Heben oder Tragen von Lasten über zehn Kilogramm. Es werde eine Gewichtsreduktion und eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme zur Krankheitsbewältigung empfohlen.

12

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag des Klägers ab. Er verfüge noch über ein Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich für leichte Arbeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes in wechselnder Körperhaltung (überwiegend im Sitzen), ohne ein Heben oder Tragen von Lasten über zehn Kilogramm, ohne häufiges Bücken, Hocken, Knien, Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten, dauernde Vorbeugehaltung sowie ohne Arbeiten auf Leitern und Gerüsten (Bescheid vom 11. Juli 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 2005).

13

Mit seiner am 9. Januar 2006 bei dem Sozialgericht Magdeburg erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Er leide seit einem Arbeitsunfall im Jahr 1991 unter erheblichen Schmerzen im Kopf- und Halsbereich, der Wirbelsäule, der Beine sowie einer Sehnenscheidenentzündung und internistischen Beschwerden (Asthma, Bluthochdruck, Schilddrüsenerkrankung mit Knotenbildung). Er sei deshalb nicht in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

14

Das Sozialgericht hat durch Einholung von Befundberichten ermittelt. Der Facharzt für Orthopädie Dr. B. hat in seinem Befundbericht vom 6. Juli 2006 eine vollschichtige Leistungsfähigkeit des Klägers bei Abschluss der Behandlung im Juni 2004 angegeben. In dem beigefügten Arztbrief von Dr. L., Radiologische Gemeinschaftspraxis Goslar, vom 10. März 2004 wird ausgeführt, die auf Grund von Schmerzen des rechten Handgelenks nach handwerklicher Anstrengung bei dem Kläger angefertigte Kernspintomografie habe Ausstülpungen flüssigkeitsgefüllter Räume - wahrscheinlich ohne klinische Bedeutung - ergeben. Der Facharzt für Allgemeinmedizin MR Dr. H. hat in seinem Befundbericht vom 23. August 2006 auf eine letzte Behandlung des Klägers im Mai 2004 verwiesen. In seiner nach einem Hinweis des Klägers auf seine "beidseitige Hüftknochenentzündung" vom Sozialgericht eingeholten Kurzstellungnahme vom 6. November 2006 hat Dr. B. angegeben, es liege keine Hüftknochenentzündung, sondern ein Sehnenansatzschmerz vorn. An der Leistungseinschätzung ändere sich nach der im Oktober 2006 durchgeführten Behandlung nichts.

15

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 3. Mai 2007 abgewiesen. Einer weiteren Sachaufklärung durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens habe es nicht bedurft, da Dr. B. gerichtsbekannt über fachliche Kompetenz in der sozialmedizinischen Beurteilung des Leistungsvermögens verfüge und in zwei Stellungnahmen eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers ausgeschlossen habe. Der Kläger sei nicht erwerbsgemindert, da er nach den übereinstimmenden medizinischen Einschätzungen im ersten Rentenverfahren, dem von der Beklagten eingeholten Gutachten von Prof. Dr. K./Dr. N. sowie den Stellungnahmen von Dr. B. in der Lage sei, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten. Der Kläger könne Wegstrecken von viermal 500 Metern täglich ohne unzumutbare Beschwerden zurücklegen. Auf Grund des Bluthochdrucks sei dem Kläger nur Schicht- und Akkordarbeit nicht zumutbar. Der Hinweis auf die allgemeinen Schmerzen des Klägers sei nicht nachvollziehbar. Unterstelle man diese These als richtig, hätten alle Versicherten mit Schmerzen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung. Dass dies dem gesetzlichen Gedanken widerspreche, bedürfe keiner weiteren Erläuterung.

16

Gegen das ihm am 11. Mai 2007 zugestellte Urteil hat der Kläger am 6. Juni 2007 Berufung bei dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, das Sozialgericht sei verpflichtet gewesen, den Sachverhalt durch Einholung eines Sachverständigengutachten vollständig aufzuklären. Seine Leistungsfähigkeit sei weiter herabgesunken.

17

Der Kläger beantragt,

18

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 3. Mai 2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1. April 2005 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu bewilligen.

19

Die Beklagte beantragt,

20

die Berufung zurückzuweisen.

21

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

22

Der Senat hat zunächst durch Einholung von Befundberichten von den Fachärzten für HNO-Heilkunde Dres. B. vom 22. Januar 2008, von dem Facharzt für Allgemeinmedizin/Chirotherapie/Sportmedizin Dr. L. vom 11. Juni 2008 und von Dr. B. vom 25. April 2008 eingeholt. Dres. B. haben einen unveränderten Gesundheitszustand bei einer von ihnen diagnostizierten chronisch rezidivierenden Nasennebenhöhlenentzündung ohne Polypenneubildung angegeben. Dr. L. hat von der im Januar 2008 festgestellten Schwellung des Handgelenks mit Verdacht auf eine Sehnenscheidenentzündung berichtet. Weiter lägen bei dem Kläger eine Hypertonie, ein Asthma bronchiale, eine Struma sowie eine Adipositas vor. Dr. B. hat ausgeführt, der Kläger habe im Oktober 2006 über Schmerzen in beiden Hüftgelenken nach vermehrtem Schwimmen geklagt. Nach einer Befundbesserung bezüglich des Rollhügels am Oberschenkel (Trochanter major rechts) seien im Januar 2008 ein deutlicher Druckschmerz über dem 1. Strecksehnenfach am Handgelenk rechts (über dem Processus Styloideus) aufgetreten. Er habe eine Bandage, Salbe und Schmerzmittel verordnet.

23

Der Senat hat sodann ein Gutachten von dem Facharzt für Orthopädie/Unfallchirurgie/Rheumatologie Dr. O. vom 13. Februar 2009 eingeholt. Der Kläger habe starke Schmerzen im Bereich der HWS mit Kopfschmerzen sowie Schmerzen im Bereich der LWS, der Knie und Beine, im rechten Daumen und Handgelenk mit Ausstrahlung in den gesamten Arm angegeben. Die Schmerzen hätten Auswirkungen auch auf innere Organe, z.B. im Darmbereich. Er könne schwer längere Zeit liegen, sitzen oder stehen, sich nicht lange bücken oder Gegenstände tragen. An der rechten Hand trage er ständig eine Bandage.

24

Der Kläger befinde sich in einem normalen Allgemeinzustand bei Adipositas (175 cm/125 kg). Das Gangbild sei zügig und sicher. Als Gesundheitsstörungen lägen bei ihm vor: Somatoforme Schmerzfindungsstörung/Fibromyalgiesyndrom. Mäßiggradig degeneratives HWS-Syndrom. Adipositas per magna.

25

Die durchgeführte umfangreiche Röntgendiagnostik habe - bis auf eine leichte Degeneration der HWS - Normalbefunde ohne altersvorauseilenden Verschleiß oder sonstige Auffälligkeiten gezeigt. Die Anamnese und die allgemeine Beschwerdesymptomatik von Schlafstörungen bis hin zu Schweißausbrüchen sowie Gelenkbeschwerden sprächen für ein primäres Fibromyalgiesyndrom/eine somatoforme Schmerzstörung als Hauptproblem des Klägers. Auf orthopädischem Fachgebiet lägen keine relevanten Erkrankungen vor, die die primäre Fibromyalgie negativ verstärkten. Der Kläger könne aus orthopädischer Sicht noch vollschichtig körperlich leichte und gelegentlich mittelschwere Arbeiten in wechselnder Körperhaltung oder überwiegend im Sitzen durchführen. Große Einflüsse von Zugluft oder Nässe seien nicht zumutbar. Tätigkeiten mit häufigem Publikumsverkehr seien für Patienten mit primärer Fibromyalgie häufig belastend und sollten nicht durchgeführt werden. Der dem Kläger mögliche Gehweg sei sozialmedizinisch nicht relevant eingeschränkt; er könne auch ein Kfz führen. Es bestehe eine deutliche Diskrepanz zwischen den subjektiv geklagten Beschwerden und den nachhaltbaren objektivierbaren Befunden auf orthopädischem Fachgebiet. Eine bewusste Simulation könne man nicht unterstellen. Eine psychiatrische Zusatzbegutachtung sei empfehlenswert.

26

Der Senat hat darauf hin ein Gutachten von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S., Chefarzt der Abteilung für psychische Erkrankungen der Klinik B. W., vom 6. Oktober 2009 eingeholt. Der Kläger habe berichtet, sofort einen Arbeitsplatz erhalten zu haben, nachdem er bei Bewerbungsgesprächen nicht mehr auf seine Schmerzen hingewiesen habe. Er könne die gegenwärtig im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses zu verrichtende Arbeit in der Lagerlogistik einer Zulieferfirma für die Automobilindustrie unter Einnahme von Schmerzmitteln verrichten. Er fahre den Gabelstapler, be- und entlade Lkw, bediene elektronische Transportwagen und regele am Computer die Bestückung des Hochregals.

27

Der Kläger verfüge über eine Intelligenz im Normbereich. Er sei über den Gesamtverlauf der mehrstündigen Untersuchungen affektiv gut schwingungsfähig und ausgeglichen geblieben. Das formale Denken sei geordnet; inhaltlich sei er auf die körperliche Beschwerdeproblematik fixiert. Der Kläger insistiere, an einer körperlichen Beschwerdesymptomatik zu leiden, für die er teilweise über viele Jahre - ohne Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit - zurückliegende Traumata als ursächlich ansehe. Es sei ihm aber gelungen, sich trotz der Beschwerdesymptomatik seit 2007 beruflich wieder zu integrieren. Dabei erlebe er Stolz über seine aktuelle berufliche Situation und das von ihm bewältigte Aufgabengebiet. Aus psychiatrischpsychotherapeutischer Sicht lege die aktuell beklagte Schmerzstörung den Verdacht auf eine somatoforme Schmerzstörung nahe. Diese Diagnose werde auch durch das Ergebnis des Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) unterstützt. Andererseits zeige der übrige klinische Zustand während der mehrstündigen Untersuchung ein psychisch weitgehend unbeeinträchtigtes Bild. Der Kläger verweise zwar während der Exploration immer wieder auf die bestehenden Schmerzen, imponiere jedoch ansonsten durchgängig als psychisch ausgeglichener Mann. Möglicherweise habe die Schmerzsymptomatik deutliche funktionale Aspekte. Auch eine gewisse Aggravation lasse sich nicht sicher ausschließen. Aus psychiatrischpsychotherapeutischer Sicht sei eine regelmäßige vollschichtige Erwerbstätigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt möglich und keine qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen.

28

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

29

Die Berufung ist unbegründet.

30

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger deshalb nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

31

Gemäß § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die unter diesen Bedingungen außerstande sind, mindestens drei Stunden erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 bzw. Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

32

Der Kläger ist nicht erwerbsgemindert in diesem Sinne. Er ist noch in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr täglich zumindest körperlich leichte Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten zu verrichten. Zu vermeiden sind Arbeiten im Akkord, am Fließband, in Nachtschicht, mit einseitiger körperlicher Belastung, häufiger Überkopfarbeit, Arbeiten auf Treppen, Leitern und Gerüsten sowie solche mit einem häufigen Heben, Tragen oder Bewegen von schweren Lasten ohne mechanische Hilfsmittel, inhalativen Belastungen und einer Exposition gegenüber starken Temperaturschwankungen, Kälte, Nässe, Zugluft. Der Kläger verfügt über ein normales Seh- und Hörvermögen, uneingeschränkte geistige und mnestische Fähigkeiten sowie eine volle Gebrauchsfähigkeit beider Hände.

33

Dieses Leistungsbild ergibt sich aus den überzeugenden Feststellungen in den Gutachten von Dr. O. vom 13. Februar 2009 und von Dr. S. vom 6. Oktober 2009 und dem von der Beklagten eingeholten Gutachten von Prof. Dr. Kluge/Dr. N. vom 18. Juni 2005. Bereits die vollschichtige Erwerbstätigkeit des Klägers seit dem 13. September 2007 indiziert ein Leistungsvermögen im Umfang der tatsächlich verrichteten Tätigkeit. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nur auf Kosten seiner Gesundheit arbeiten kann, bestehen nicht.

34

Der Kläger leidet unter altersentsprechenden degenerativen Erscheinungen an der HWS mit mäßigen Funktionsbeeinträchtigungen. Daraus ergeben sich nach den übereinstimmenden Feststellungen von Dr. O. und Prof. Dr. K./Dr. N. in ihren Gutachten vom 13. Februar 2009 bzw. vom 18. Juni 2005 keine Einschränkungen des quantitativen Leistungsvermögens des Klägers. Zu vermeiden sind vor diesem Hintergrund eine einseitige körperlicher Belastung, häufige Überkopfarbeiten, Arbeiten auf Treppen, Leitern und Gerüsten sowie solche mit einem häufigen Heben, Tragen oder Bewegen von schweren Lasten ohne mechanische Hilfsmittel. Aus der Sehnenscheidenentzündung des Klägers hat Dr. O. keine darüber hinausgehende dauerhafte Beeinträchtigung des Leistungsvermögens abgeleitet.

35

Für die von dem Kläger geklagten starken Schmerzen ist kein organisches Korrelat feststellbar. Die somatoforme Schmerzstörung, welche Dr. O. als Gesundheitsstörung angegeben hat, ist von Dr. S. in seinem Gutachten vom 6. Oktober 2009 nur im Sinne einer Verdachtsdiagnose bestätigt worden. Dr. S. hat in diesem Gutachten auch eine Aggravation des Klägers nicht ausschließen können. Beide Sachverständigen stimmen in der Bewertung der Folgen dieser (möglichen) Beeinträchtigung des Klägers im Wesentlichen überein. Der Senat schließt sich der Auffassung von Dr. S. an, der aus Sicht seines Fachgebiets weder quantitative noch qualitative Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers angenommen hat.

36

Wegen der bestehenden Hypertonie sind Arbeiten in Nachtschicht ausgeschlossen. Auf Grund der chronischen Nasennebenhöhlenentzündung und des Asthma bronchiale sind dem Kläger Arbeiten mit schwerer und durchweg mittelschwerer körperlicher Belastung sowie solche unter Einfluss von Nässe, Kälte, Zugluft, starken Temperaturschwankungen bzw. inhalativen Belastungen nicht zumutbar.

37

Bei dem Kläger liegen auch keine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, die trotz des Leistungsvermögens von mehr als sechs Stunden täglich zur Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führen würden (vgl. hierzu den Beschluss des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 - SozR 3-2600 § 44 Nr. 8 = BSGE 80, 24, 33 f.). Auch liegt im Fall des Klägers kein Seltenheits- oder Katalogfall vor, der zur Pflicht der Benennung eines konkreten Arbeitsplatzes führen würde (vgl. BSG, GS, a.a.O.,= S. 35).

38

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

39

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Entscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.


ra.de-Urteilsbesprechung zu Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 04. März 2010 - L 3 R 233/07

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 04. März 2010 - L 3 R 233/07

Referenzen - Gesetze

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 04. März 2010 - L 3 R 233/07 zitiert 5 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 43 Rente wegen Erwerbsminderung


(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise erwerbsgemindert sind,2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge

Referenzen

(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1.
teilweise erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1.
voll erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch
1.
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2.
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

(3) Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

(4) Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind:

1.
Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
2.
Berücksichtigungszeiten,
3.
Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt,
4.
Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung.

(5) Eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit ist nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist.

(6) Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert sind, haben Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.