Europäischer Gerichtshof Urteil, 29. Okt. 2015 - C-583/14

ECLI:ECLI:EU:C:2015:737
bei uns veröffentlicht am29.10.2015

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

29. Oktober 2015 ( * )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Diskriminierungsverbot — Art. 18 AEUV — Unionsbürgerschaft — Art. 20 AEUV — Freizügigkeit — Art. 63 AEUV — Freier Kapitalverkehr — Straßenverkehr — Fahrzeugführer mit Wohnsitz im betreffenden Mitgliedstaat — Verpflichtung, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle den Nachweis der ordnungsgemäßen Nutzung von in einem anderen Staat zugelassenen Fahrzeugen zu erbringen“

In der Rechtssache C‑583/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely, Ungarn) mit Entscheidung vom 11. Dezember 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Dezember 2014, in dem Verfahren

Benjámin Dávid Nagy

gegen

Vas Megyei Rendőr-főkapitányság

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Sechsten Kammer A. Arabadjiev in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Siebten Kammer sowie der Richter C. Lycourgos (Berichterstatter) und J.‑C. Bonichot,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Tátrai und G. Koós als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und B. Béres als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 AEUV und 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Nagy und dem Vas Megyei Rendőr-főkapitányság (Polizeipräsidium für das Komitat Eisenburg, im Folgenden: Polizeipräsidium) über eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen die nationalen Vorschriften über die Nutzung von Fahrzeugen mit ausländischem Kennzeichen durch in Ungarn wohnhafte Personen im Inland.

Rechtlicher Rahmen

3

In Ungarn bestimmt § 20 Abs. 1 Buchst. l und Abs. 4 des Gesetzes I von 1988 über den Straßenverkehr (A közúti közlekedésről szóló 1988. évi I. törvény, im Folgenden: Straßenverkehrsgesetz):

„(1)   Wer gegen die Vorschriften dieses Gesetzes, besondere Vorschriften oder gemeinschaftsrechtliche Vorschriften über die Inbetriebhaltung oder Nutzung von Fahrzeugen mit ausländischem Kennzeichen im Inland durch in Ungarn ansässige Personen oder Einrichtungen verstößt, kann mit einer Geldbuße belegt werden.

(4)   Wegen eines Verstoßes gegen eine in Abs. 1 … Buchst. l … genannte Vorschrift kann eine Geldbuße zwischen 10000 und 800000 [ungarische Forint (HUF) (etwa 32 Euro bis 2500 Euro)] festgesetzt werden. Der Höchstbetrag der Geldbuße wird durch eine besondere Rechtsnorm bestimmt …“

4

§ 25/B dieses Gesetzes lautet:

„(1)   Ein Kraftfahrzeug … darf am Straßenverkehr mit einer ungarischen amtlichen Zulassung und einem ungarischen amtlichen Kennzeichen, die von der Straßenverkehrsbehörde erteilt worden sind, teilnehmen, sofern

a)

sein Halter nach den Vorschriften dieses Gesetzes als inländischer Halter gilt oder

b)

der Fahrzeugführer im ungarischen Hoheitsgebiet über einen Wohnsitz verfügt.

(2)   Abs. 1 Buchst. a findet keine Anwendung, wenn

a)

der Halter keine natürliche Person ist und seine regelmäßige Tätigkeit in einem anderem Staat ausübt und dort über eine eingetragene Niederlassung (Zweigstelle) verfügt …

(4)   Abs. 1 Buchst. b findet keine Anwendung, wenn der Fahrzeugführer:

a)

seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im ungarischen Hoheitsgebiet hat,

b)

das Fahrzeug im ungarischen Hoheitsgebiet für einen Zeitraum von nicht mehr als 30 Tagen innerhalb von sechs Monaten nutzt und der Halter der Nutzung durch eine Erklärung zugestimmt hat, die in einer Urkunde festgehalten ist, in der der Zeitpunkt der Überlassung des Besitzes an dem Fahrzeug sowie der Zeitraum der Nutzungsberechtigung angegeben sind, oder

c)

das im Inland genutzte Fahrzeug von einem ausländischen Halter erhalten hat, um es bei seiner regelmäßigen Arbeitsleistung zu nutzen.

(5)   Der Halter oder Führer des Fahrzeugs hat bei einer Kontrolle durch eine öffentliche oder in vollem Umfang beweiskräftige private Urkunde, die in ungarischer Sprache abgefasst ist oder der eine beglaubigte oder nicht beglaubigte einfache Übersetzung ins Ungarische beigefügt ist, nachzuweisen, dass die in den Abs. 2 und 4 festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind.“

5

§ 12/A der Regierungsverordnung Nr. 156/2009 vom 29. Juli 2009 über die Höhe der Geldbußen wegen Verstoßes gegen bestimmte Vorschriften betreffend den Transport von Gütern und die Beförderung von Personen auf der Straße und den Straßenverkehr und über die Aufgaben der Behörden bei der Verhängung von Geldbußen (A közúti árufuvarozáshoz, személyszállításhoz és a közúti közlekedéshez kapcsolódó egyes rendelkezések megsértése esetén kiszabható bírságok összegéről, valamint a bírságolással ősszefüggő hatósági feladatokról szóló 156/2009. Kormányrendelet) bestimmt:

„(1)   Verstößt ein inländischer Halter, der keine natürliche Person ist, gegen § 20 Abs. 1 Buchst. l [des Straßenverkehrsgesetzes], ist er zur Zahlung einer Geldbuße in Höhe von

a)

400000 HUF [etwa 1250 Euro] im Fall eines Personenkraftwagens mit bis zu 2000 cm3 Hubraum,

b)

800000 HUF [etwa 2500 Euro] im Fall eines Personenkraftwagens mit mehr als 2000 cm3 Hubraum oder

c)

200000 HUF [etwa 625 Euro] im Fall anderer Fahrzeuge

verpflichtet.

(2)   Verstößt eine natürliche Person gegen Art. 20 Abs. 1 Buchst. l des [Straßenverkehrsgesetzes], ist sie zur Zahlung einer Geldbuße in Höhe der Hälfte des in Abs. 1 genannten Betrags verpflichtet.“

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6

Herr Nagy, ungarischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Ungarn, stand bis 16. Mai 2013 in keinem Arbeitsverhältnis im Sinne des Unionsrechts und hatte keinen gewöhnlichen Aufenthaltsort im Ausland.

7

Der Halbbruder von Herrn Nagy, ungarischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Österreich, ist einer der Gesellschafter und der gesetzliche Vertreter der in Österreich registrierten Alpen-Reisen Horváth OG (im Folgenden: Alpen‑Reisen).

8

Alpen-Reisen gestattete Herrn Nagy mit Vertrag vom 3. Dezember 2010, ab dem 7. Dezember 2010 bis auf Widerruf einen Pkw mit einem österreichischen Kennzeichen zu nutzen.

9

Herr Nagy war nicht ständig im Besitz des vorgenannten Fahrzeugs, sondern nutzte es gelegentlich, wenn sein Halbbruder ihn bat, Angelegenheiten für die Alpen-Reisen zu erledigen. Das Unternehmen trug die Kosten für den Unterhalt des Fahrzeugs.

10

Herr Nagy führte diesen Pkw am 16. Mai 2013 im Straßenverkehr in Szombathely (Ungarn), als er von der Polizei kontrolliert wurde. Bei der Kontrolle gab Herr Nagy an, dass sein Halbbruder ihm das Fahrzeug leihweise überlassen habe, damit er es in Ungarn nutzen könne, konnte aber an Ort und Stelle den Vertrag, der ihm das Recht zur Nutzung des Fahrzeugs verlieh, nicht vorlegen. Die Polizisten behielten daraufhin die Kennzeichen und die Verkehrszulassung für das Fahrzeug ein.

11

Mit Bescheid vom 30. Mai 2013 setzte das Polizeikommissariat Szombathely (Szombathelyi Rendőrkapitányság) gegen Herrn Nagy eine Geldbuße in Höhe von 400000 HUF (etwa 1250 Euro) wegen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Nutzung von Fahrzeugen mit ausländischem Kennzeichen durch in Ungarn wohnhafte Personen im Inland fest.

12

Herr Nagy erhob gegen diesen Bescheid beim Polizeipräsidium Widerspruch. Zur Begründung machte er geltend, dass er über das Einverständnis seines Halbbruders verfüge, den fraglichen Wagen zu führen, und dass die Bestimmungen des ungarischen Rechts, auf die die Geldbuße gestützt werde, gegen das Unionsrecht und insbesondere den Grundsatz der Freizügigkeit verstießen. Er bezog sich hierzu auf die zum damaligen Zeitpunkt beim Gerichtshof anhängige Rechtssache, in der später der Beschluss Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705) erging und die dieselbe ungarische Regelung betraf.

13

Das Polizeipräsidium bestätigte mit Bescheid vom 15. Juli 2013 den Bescheid des Polizeikommissariats Szombathely. Das Polizeipräsidium führte insbesondere aus, dass Herr Nagy an Ort und Stelle kein Schriftstück zum Nachweis dafür habe vorlegen können, dass er das Fahrzeug im Inland rechtmäßig nutze.

14

Herr Nagy erhob gegen diesen Bescheid des Polizeipräsidiums Klage beim Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely). Zur Stützung dieser Klage machte er geltend, § 20 Abs. 1 Buchst. l und § 25/B Abs. 1 Buchst. b des Straßenverkehrsgesetzes, auf die der angegriffene Bescheid des Polizeipräsidiums vom 15. Juli 2013 gestützt sei, verstießen gegen Unionsrecht. Er legte den Vertrag vom 3. Dezember 2010 über die Überlassung des fraglichen Kraftfahrzeugs zur Nutzung bei und trug vor, nie eine berufliche Tätigkeit ausgeübt zu haben.

15

Das vorlegende Gericht setzte das Ausgangsverfahren bis zur Verkündung des Beschlusses Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705) aus. In diesem Beschluss hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats, bei der es sich um dieselbe handelte wie im Ausgangsverfahren, entgegensteht, wonach im Straßennetz dieses Mitgliedstaats grundsätzlich nur Fahrzeuge verkehren dürfen, die über eine amtliche Zulassung und ein amtliches Kennzeichen dieses Mitgliedstaats verfügen, und eine in diesem Mitgliedstaat wohnende Person, die sich auf eine Ausnahme von dieser Regel berufen will, weil sie ein Fahrzeug nutzt, das ihr von ihrem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen können muss, dass sie die in der streitigen nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Ausnahme erfüllt, da ihr sonst sofort und ohne Möglichkeit einer Befreiung eine Geldbuße auferlegt wird, deren Betrag der Geldbuße im Fall eines Verstoßes gegen die Registrierungspflicht entspricht.

16

Da Herr Kovács Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts war, antwortete der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache im Hinblick auf Art. 45 AEUV und nicht im Hinblick auf Art. 18 AEUV und 20 AEUV, die ebenfalls Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens gewesen waren.

17

Nach der Wiederaufnahme des Ausgangsverfahrens ergänzte Herr Nagy seinen Sachvortrag und gab an, dass er auf Bitte seines Halbbruders regelmäßig als mithelfender Familienangehöriger bei Alpen‑Reisen im Rahmen ihrer grenzüberschreitenden Tätigkeiten zwischen Ungarn und Österreich ausgeholfen habe, dies aber unentgeltlich getan habe. Dem vorlegenden Gericht zufolge sollte Herr Nagy auch an dem Tag, an dem ihn die Polizei kontrolliert habe, eine solche Tätigkeit ausführen.

18

Unter diesen Umständen beschloss das Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely), das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 18 AEUV dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach in diesem Mitgliedstaat am Straßenverkehr grundsätzlich nur Kraftfahrzeuge teilnehmen dürfen, denen von diesem Mitgliedstaat eine Zulassung und ein Kennzeichen erteilt worden sind, und eine Person, die in diesem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz hat und kein Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts ist, wenn sie eine Befreiung von dieser Regel in Anspruch nehmen möchte, weil sie ein Kraftfahrzeug nutzt, das ihr ein Wirtschaftsteilnehmer mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung gestellt hat, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen muss, dass sie die Voraussetzungen erfüllt, die die in Rede stehende Regelung des Mitgliedstaats vorsieht, und anderenfalls sofort eine Geldbuße verhängt wird, von der eine Befreiung nicht möglich ist und deren Betrag der Geldbuße entspricht, die bei einem Verstoß gegen die Registrierungspflicht festzusetzen ist?

2.

Ist Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach in diesem Mitgliedstaat am Straßenverkehr grundsätzlich nur Kraftfahrzeuge teilnehmen dürfen, denen von diesem Mitgliedstaat eine Zulassung und ein Kennzeichen erteilt worden sind, und eine Person, die in diesem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz hat und kein Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts ist, wenn sie eine Befreiung von dieser Regel in Anspruch nehmen möchte, weil sie ein Kraftfahrzeug nutzt, das ihr ein Wirtschaftsteilnehmer mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung gestellt hat, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen muss, dass sie die Voraussetzungen erfüllt, die die in Rede stehende Regelung des Mitgliedstaats vorsieht, und anderenfalls sofort eine Geldbuße verhängt wird, von der eine Befreiung nicht möglich ist und deren Betrag der Geldbuße entspricht, die bei einem Verstoß gegen die Registrierungspflicht festzusetzen ist?

Zu den Vorlagefragen

19

Mit diesen gemeinsam zu prüfenden Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 18 AEUV und 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV einer nationalen Regelung entgegenstehen, die bestimmt, dass im Straßennetz des betreffenden Mitgliedstaats grundsätzlich nur Fahrzeuge verkehren dürfen, die über eine amtliche Zulassung und ein amtliches Kennzeichen dieses Mitgliedstaats verfügen, und eine Person mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, die sich auf eine Ausnahme von dieser Regel berufen will, weil sie ein Fahrzeug nutzt, das ihr von dem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Halter des Fahrzeugs zur Verfügung gestellt wird, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen können muss, dass sie die in der betreffenden nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Ausnahme erfüllt, und ihr anderenfalls sofort und ohne Möglichkeit einer Befreiung eine Geldbuße auferlegt wird, deren Betrag der Geldbuße im Fall eines Verstoßes gegen die Registrierungspflicht entspricht.

20

Zunächst sei bemerkt, dass der Gerichtshof, selbst wenn das vorlegende Gericht seine Fragen der Form nach auf die Auslegung der Art. 18 AEUV und 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV beschränkt hat, nicht daran gehindert ist, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile ING. AUER, C‑251/06, EU:C:2007:658, Rn. 38, und van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 23).

21

Die gestellten Fragen müssen nämlich im Licht sämtlicher Bestimmungen des Vertrags und des abgeleiteten Rechts, die für die aufgeworfene Problematik von Bedeutung sein können, beantwortet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile Mutsch, 137/84, EU:C:1985:335, Rn. 10, und van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 24).

22

Aus den dem Gerichtshof unterbreiteten Akten geht hervor, dass Herr Nagy im ungarischen Straßennetz als Gebietsansässiger ein in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenes Fahrzeug nutzte, das ihm unentgeltlich von dem österreichischen Unternehmen Alpen-Reisen überlassen worden war, und dass der Halbbruder von Herrn Nagy einer der Gesellschafter und der gesetzliche Vertreter dieses Unternehmens ist.

23

Wie die Europäische Kommission zu Recht angemerkt hat, hat der Gerichtshof zu einer zwischen in verschiedenen Mitgliedstaaten wohnhaften Bürgern vereinbarten Leihe bereits entschieden, dass es sich beim grenzüberschreitenden unentgeltlichen Verleih eines Kraftfahrzeugs um Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 AEUV handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 28 und 36).

24

Da Art. 63 AEUV anwendbar ist und besondere Diskriminierungsverbote vorsieht, findet Art. 18 AEUV keine Anwendung (vgl. in diesem Sinne Urteil Missionswerk Werner Heukelbach, C‑25/10, EU:C:2011:65, Rn. 19).

25

Angesichts dessen sind die Vorlagefragen zunächst im Licht des Art. 63 AEUV und anschließend gegebenenfalls im Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV zu prüfen.

26

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Maßnahmen eines Mitgliedstaats Beschränkungen im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV darstellen, wenn sie geeignet sind, die Gebietsansässigen davon abzuhalten, in einem anderen Mitgliedstaat Darlehen aufzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Belgien, C‑478/98, EU:C:2000:497, Rn. 18, und van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 40).

27

In Rn. 29 des Beschlusses Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705), in dem es um dieselbe ungarische Regelung wie im Ausgangsverfahren ging, hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Regelung in ihren Folgen der Aufrechterhaltung der Verpflichtung, das Fahrzeug in Ungarn zuzulassen, gleichkommt.

28

Diese Regelung zwingt einen Fahrer wie den Kläger des Ausgangsverfahrens nämlich dazu, ständig die Schriftstücke bei sich zu führen, die belegen, dass die Voraussetzungen der Befreiung von der Zulassungspflicht erfüllt sind, da gegen ihn anderenfalls ein Bußgeld in gleicher Höhe verhängt wird wie gegen eine Person, die gegen die Verpflichtung zur Zulassung eines Fahrzeuges verstößt. Eine solche Sanktion steht offensichtlich außer Verhältnis zum im Ausgangsverfahren fraglichen Verstoß, der wesentlich weniger schwer wiegt als der Verstoß der Nichtzulassung eines Fahrzeugs (vgl. in diesem Sinne Beschluss Kovács, C‑5/13, EU:C:2013:705, Rn. 25 und 28).

29

Die Situation eines in Ungarn Ansässigen, der im Straßennetz dieses Mitgliedstaats ein Fahrzeug nutzt, das dort zugelassen ist und ihm unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde, ist objektiv mit der Situation vergleichbar, in der ein solcher Gebietsansässiger unter denselben Umständen ein in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenes Fahrzeug nutzt. Nun unterliegt aber die Nutzung eines unentgeltlich überlassenen Fahrzeugs nicht den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Verpflichtungen, wenn es sich um ein in Ungarn zugelassenes Fahrzeug handelt.

30

Demnach stellt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs im Sinne des Art. 63 Abs. 1 AEUV dar, es sei denn, dass das in einem anderen Mitgliedstaat zugelassene Fahrzeug im Wesentlichen dauerhaft in Ungarn benutzt werden soll oder tatsächlich benutzt wird, was zu prüfen Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist (vgl. in diesem Sinne Urteil van Putten u. a., C‑578/10 bis C‑580/10, EU:C:2012:246, Rn. 50).

31

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine solche Beschränkung einer der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten nur zulässig sein, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit diesem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In einem solchen Fall muss aber die Anwendung einer solchen Maßnahme auch geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten Zwecks zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zu seiner Erreichung erforderlich ist (vgl. u. a. Beschluss Kovács, C‑5/13, EU:C:2013:705, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Der Gerichtshof hat in Rn. 34 des Beschlusses Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705) entschieden, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zwar geeignet erscheint, die Durchsetzung des Ziels der Bekämpfung von Steuerbetrug in den Bereichen der Zulassungssteuer und der Kraftfahrzeugsteuer zu gewährleisten, jedoch über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgeht.

33

Ähnlich wie in dem Sachverhalt, der dem Beschluss Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705) zugrunde lag, lassen sich den dem Gerichtshof unterbreiteten Akten keine Gesichtspunkte entnehmen, die den Schluss zulassen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens das Ziel der Bekämpfung des Steuerbetrugs nur dann erreicht werden könnte, wenn die Schriftstücke, die belegen, dass die Voraussetzungen der Befreiung von der Zulassungspflicht erfüllt sind, zum Zeitpunkt der Verkehrskontrolle vorgelegt werden, und anderenfalls ein Bußgeld verhängt wird, das dem Bußgeld für einen Verstoß gegen die Zulassungspflicht entspricht, und dass dieses Ziel nicht mehr erreicht werden könnte, wenn diese Schriftstücke wie im Ausgangsverfahren innerhalb kurzer Frist nach der Kontrolle vorgelegt werden (Beschluss Kovács, C‑5/13, EU:C:2013:705, Rn. 35).

34

Was das von der ungarischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen als Rechtfertigung angeführte Erfordernis wirksamer Verkehrskontrollen angeht, ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung ein beträchtliches Bußgeld festsetzt, mit dem spezifisch die Missachtung der Zulassungspflicht geahndet werden soll. Eine solche Maßnahme geht jedoch über das für die Erreichung des Ziels der Wirksamkeit von Verkehrskontrollen Erforderliche hinaus (vgl. in diesem Sinne BeschlussKovács, C‑5/13, EU:C:2013:705, Rn. 38).

35

Hierzu vertritt die ungarische Regierung die Ansicht, dass das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung, das der Gerichtshof in der Rechtssache, in der der Beschluss Kovács (C‑5/13, EU:C:2013:705) ergangen ist, als nicht erfüllt ansah, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens erfüllt sei, in dem es um einen „Unionsbürger“ im Sinne des Art. 20 AEUV gehe, der kein „Arbeitnehmer“ im Sinne des Art. 45 AEUV sei. Im Fall eines Unionsbürgers, der kein Arbeitnehmer sei, seien nämlich die Kontrollmöglichkeiten der zuständigen nationalen Behörden geringer und das Risiko der Umgehung der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelungen, insbesondere der in § 25/B des Straßenverkehrsgesetzes vorgesehenen Voraussetzungen für die Befreiung von der Zulassungspflicht, erhöht. Selbst unter der Annahme, dass ein solcher Unterschied zwischen der Situation von Arbeitnehmern und anderen Unionsbürgern in Bezug auf die Kontrollmöglichkeiten besteht, kann er es jedoch in keinem Fall rechtfertigen, unter Berufung auf das Ziel der Wirksamkeit von Verkehrskontrollen eine Geldbuße, wie sie nach dieser nationalen Regelung vorgesehen ist, zu verhängen.

36

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung den in Art. 63 AEUV niedergelegten Grundsatz der Freiheit des Kapitalverkehrs nicht beachtet, so dass sich die Beantwortung der im Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV vorgelegten Fragen erübrigt.

37

Daher ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 63 Abs. 1 AEUV einer nationalen Regelung entgegensteht, die bestimmt, dass im Straßennetz des betreffenden Mitgliedstaats grundsätzlich nur Fahrzeuge verkehren dürfen, die über eine amtliche Zulassung und ein amtliches Kennzeichen dieses Mitgliedstaats verfügen, und eine Person mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, die sich auf eine Ausnahme von dieser Regel berufen will, weil sie ein Fahrzeug nutzt, das ihr von dem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Halter des Fahrzeugs zur Verfügung gestellt wird, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen können muss, dass sie die in der betreffenden nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Ausnahme erfüllt, und ihr anderenfalls sofort und ohne Möglichkeit einer Befreiung eine Geldbuße auferlegt wird, deren Betrag der Geldbuße im Fall eines Verstoßes gegen die Registrierungspflicht entspricht.

Kosten

38

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 63 Abs. 1 AEUV steht einer nationalen Regelung entgegen, die bestimmt, dass im Straßennetz des betreffenden Mitgliedstaats grundsätzlich nur Fahrzeuge verkehren dürfen, die über eine amtliche Zulassung und ein amtliches Kennzeichen dieses Mitgliedstaats verfügen, und eine Person mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, die sich auf eine Ausnahme von dieser Regel berufen will, weil sie ein Fahrzeug nutzt, das ihr von dem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Halter des Fahrzeugs zur Verfügung gestellt wird, bei einer Polizeikontrolle an Ort und Stelle nachweisen können muss, dass sie die in der betreffenden nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Ausnahme erfüllt, und ihr anderenfalls sofort und ohne Möglichkeit einer Befreiung eine Geldbuße auferlegt wird, deren Betrag der Geldbuße im Fall eines Verstoßes gegen die Registrierungspflicht entspricht.

 

Unterschriften


( * )   Verfahrenssprache: Ungarisch.

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