Bundesgerichtshof Urteil, 4. Juni 2024 - 5 StR 205/23

bei uns veröffentlicht am27.06.2024

Eingereicht durch

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

Amtliche Leitsätze

Ist wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich, ist eine Jugendstrafe zu verhängen, ohne dass es darauf ankommt, ob eine Erziehungsbedürftigkeit oder -fähigkeit festgestellt werden kann. 

Bundesgerichtshof

Urteil vom 4. Juni 2024

Az.: 5 StR 205/23

 

Tenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 21. Dezember 2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

 

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten des Landfriedensbruchs in Tateinheit mit Beihilfe zur Brandstiftung schuldig gesprochen. In einem ersten Rechtsgang hatte es ihnen jeweils die Auflage erteilt, binnen eines Jahres ab Rechtskraft des Urteils 20 Arbeitsleistungen nach Weisung der Jugendgerichtshilfe zu erbringen. Dabei hatte es sich an der Verhängung einer Jugendstrafe gehindert gesehen, weil in der Tat weder schädliche Neigungen (§ 17 Abs. 2 Alt. 1 JGG) hervorgetreten seien, noch die Schwere der Schuld eine Jugendstrafe erforderlich mache (§ 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG); zudem sei eine solche erzieherisch nicht geboten.

Diese Entscheidung hat der Senat mit Urteil vom 13. Dezember 2021 – 5 StR 115/21, NStZ 2022, 749 im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen, weil die Annahme des Landgerichts, der jugendspezifisch zu bemessende Schuldgehalt der durch die Angeklagten begangenen Taten erreiche nicht das erforderliche Maß der Schwere der Schuld, nicht rechtsfehlerfrei begründet worden war. Die Verneinung einer Erziehungsbedürftigkeit durch die Strafkammer erwies sich als rechtsfehlerhaft, weil sie nur die schulische und berufliche Entwicklung der Angeklagten sowie ihr soziales Engagement in den Blick genommen hatte, nicht aber ihre grundsätzliche Einstellung zu politisch motivierter Gewaltkriminalität.

Die zur neuen Entscheidung berufene Jugendkammer hat gegen die Angeklagten wiederum keine Jugendstrafe verhängt, sondern sie zur Erbringung von Arbeitsleistungen (15 Arbeitsleistungen zu je sechs Stunden) nach Weisung der Jugendgerichtshilfe verurteilt. Dabei hat sie das Vorliegen schädlicher Neigungen verneint, eine Schwere der Schuld im Sinne von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG hingegen bejaht. Eine Jugendstrafe komme gleichwohl nicht in Betracht, weil bei den Angeklagten keine nachhaltige Erziehungsbedürftigkeit (mehr) vorliege, die jedenfalls bei Taten, bei denen es sich nicht um Kapitaldelikte oder andere schwerste Straftaten handele, eine kumulative Voraussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld darstelle. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihren auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen. Die Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

1. Nach den bestandskräftigen Feststellungen des Landgerichts reisten die zum Tatzeitpunkt jugendlichen Angeklagten Anfang Juli 2017 gemeinsam mit zwei zum Tatzeitpunkt bereits erwachsenen früheren Mitangeklagten nach H. , um an den Protesten gegen den dort stattfindenden G20-Gipfel teilzunehmen. Dort angekommen liefen sie zunächst bei einer angemeldeten Demonstration mit und waren über deren Auflösung durch die Polizei erbost. Neben ihrem generellen Willen zum politischen Protest gegen den G20-Gipfel und die Politik der G20-Staaten waren sie nunmehr durch ihre Wut auf die Polizei zusätzlich motiviert und beschlossen, am frühen Morgen des 7. Juli 2017 gemeinsam zum Treffpunkt für eine im Bereich der E. in H. avisierte „Protestaktion“ zu gehen, die als in Richtung Innenstadt ziehender „Schwarzer Block“ stattfinden sollte. Allein aufgrund der Ankündigung eines „Schwarzen Blocks“ wussten die Angeklagten, dass mit dessen Aufmarsch die Bevölkerung und etwaige Polizeikräfte erheblich eingeschüchtert und die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt werden würde. Zudem war ihnen klar, dass jedenfalls einige Teilnehmer der Protestaktion aktiv gewaltbereit sein würden und es als Mittel des „Protests“ aus dem Aufmarsch heraus auch zur Begehung von Gewalttätigkeiten gegen Sachen und gegen die Polizei kommen könnte.

Bereits anfänglich führten die Angeklagten dunkle Kleidung und Utensilien bei sich, um sich wie die anderen Teilnehmer des „Schwarzen Blocks“ zu uniformieren und zu vermummen, was sie vor Beginn der Aktion auch taten. Als sich der „Schwarze Block“ in Bewegung setzte, marschierten sie relativ weit vorne mit. Aus dem Aufmarsch heraus kam es zum Anzünden von Mülltonnen als Straßenbarrikade, dem Einwerfen von Glasscheiben in Geschäftshäusern und im Rathaus A. , dem Beschmieren von Wänden mit Parolen sowie zu einer durch den Aufmarsch vermittelten Bedrohung der Anwohner.

 Weiter wurden während ihres Mitmarschierens insgesamt 15 private Pkw angezündet, was die Angeklagten allerdings erst nach dem Inbrandsetzen des elften Fahrzeugs bemerkten. Da sie in Kenntnis der vorangegangenen Brandstiftungen gleichwohl im „Schwarzen Block“ weiter mitzogen, hat ihnen die Jugendkammer die letzten vier vor ihrem Verlassen des Aufmarsches angezündeten Fahrzeuge zugerechnet.

Aus dem hinteren Teil des Aufzugs wurde ein Gelenkbus, der infolge der Straßenbarrikaden hatte anhalten müssen, angegriffen. Eine Passantin, die den Aufmarsch mit dem Mobiltelefon filmte, wurde lautstark aufgefordert, das zu unterlassen und das Gerät herauszugeben. Ein unbekannter Teilnehmer des Aufmarschs warf einen schweren Pflasterstein in Fenster einer Privatwohnung, wodurch zwar durch einen glücklichen Zufall niemand getroffen, die Bewohner aber verängstigt wurden. Die letztgenannten Tathandlungen hat das Landgericht den Angeklagten nicht zugerechnet, denn sie hätten, auch nachdem sie das In[1]brandsetzen von Privat-Pkws mitbekommen hatten, nicht mit tätlicher Gewalt gegen Privatpersonen gerechnet und diese auch nicht gewollt. Nach dem Wurf mit dem Pflasterstein verließen die Angeklagten den Aufmarsch. Es kam danach zu weiteren Gewalttätigkeiten, unter anderem auch zu einem überraschenden tätlichen Angriff auf Polizeibeamte, bei dem mehrere Polizeifahrzeuge beschädigt wurden. Auch diese Taten hat das Landgericht den Angeklagten nicht zugerechnet.

2. a) Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat die Jugendkammer die Angeklagten im ersten Rechtsgang des Landfriedensbruchs in Tateinheit mit Beihilfe zur Brandstiftung für schuldig befunden und dabei die Tatbestandsvarianten des § 125 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB – Gewalttätigkeiten gegen Sachen – und des § 125 Abs. 1 Nr. 2 StGB – Bedrohung von Menschen mit einer Gewalttätigkeit – als erfüllt angesehen. Allerdings hätten sie den Tatbestand des Landfriedensbruchs nur als Teilnehmer, nicht aber auch als Täter verwirklicht, was sich zwar wegen des Einheitstäterbegriffs in § 125 Abs. 1 StGB auf den Schuldspruch nicht auswirke, aber für die Strafzumessung von Bedeutung sei.

Der Senat hat den Schuldspruch bestätigt, die rechtliche Einordnung der Handlungen der Angeklagten lediglich als Teilnahme am Landfriedensbruch hingegen beanstandet, weil die Angeklagten nach den Feststellungen des Landgerichts eine Bedrohung von Menschen mit einer Gewalttätigkeit nach § 125 Abs. 1 Nr. 2 StGB als Täter verwirklichten (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2021 – 5 StR 115/21, NStZ 2022, 749 Rn. 18 ff.). Neben anderen Rechtsfehlern bei der Bemessung der Jugendstrafe stellte diese sich nur auf die Bestimmung des Schuldgehalts auswirkende fehlerhafte rechtliche Einordnung einen der Gründe dar, aus denen der Senat das Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben hat.

b) Die im zweiten Rechtsgang zur Entscheidung berufene Jugendkammer ist davon ausgegangen, dass schädliche Neigungen im Sinne von § 17 Abs. 2 Alt. 1 JGG bei den Angeklagten jedenfalls im Zeitpunkt der Urteilsverkündung nicht (mehr) vorgelegen hätten. Dabei hat sie nicht zuletzt auf eine von den Angeklagten seit der Tatbegehung bis zur (zweiten) Hauptverhandlung durchgemachte „bemerkenswerte“ persönliche Entwicklung im Hinblick auf die Bewertung ihrer Teilnahme an dem Aufmarsch in der E. , den hierbei begangenen Gewalttätigkeiten, ihrer eigenen Verantwortlichkeit hierfür und ihrer Einstellung zu politisch motivierter Gewalt abgestellt.

Das Merkmal der Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG hat das Landgericht hingegen im Wege einer jugendspezifischen Prüfung des Schuldgehalts auf der Grundlage einer eingehenden Gesamtbewertung aller wesentlichen Umstände bejaht, weil die Angeklagten mit ihrem Verhalten nicht nur erhebliche Straftatbestände verwirklicht hätten, sondern ihre Handlungen sich auch als verwerfliche Tat mit schwerem Verschulden darstelle. An der Verhängung einer Jugendstrafe hat es sich gleichwohl gehindert gesehen, weil bei den Angeklagten – wiederum insbesondere mit Blick auf ihre persönliche Entwicklung – eine nachhaltige Erziehungsbedürftigkeit nicht (mehr) bestanden habe.

II.

Die dagegen gerichteten, mit der Sachrüge geführten und vom Generalbundesanwalt vertretenen Revisionen der Staatsanwaltschaft, die die Verhängung von Jugendstrafen gegen die Angeklagten erstreben, haben Erfolg und führen zur (erneuten) Aufhebung des die Angeklagten betreffenden Rechtsfolgenausspruchs.

Die Auffassung des Landgerichts, jedenfalls bei Taten, bei denen es sich nicht um Kapitaldelikte oder um schwerste Gewalt- oder Sexualdelikte oder andere Fälle schwerster Kriminalität handele, komme die Verhängung einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld nur in Betracht, wenn – kumulativ – eine solche auch aus erzieherischen Gründen erforderlich sei und mithin „ein entsprechendes Erziehungsbedürfnis“ bestehe, erweist sich als rechtsfehlerhaft.

Vielmehr ist in allen Fällen, in denen wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist (§ 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG), eine Jugendstrafe zu verhängen, ohne dass es darauf ankommt, ob eine Erziehungsbedürftigkeit oder -fähigkeit festgestellt werden kann. Das ergibt sich aus Folgendem:

1. Nach § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG wird Jugendstrafe verhängt, wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist. Die Schuldschwere ist nach einhelliger Ansicht in Rechtsprechung und Literatur nach jugendspezifischen Kriterien zu bestimmen. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist die innere Tatseite; dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt nur insofern Bedeutung zu, als hieraus Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß der persönlichen Schuld gezogen werden können. Entscheidend ist, inwieweit sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des jugendlichen oder heranwachsenden Täters in der Tat in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa BGH, Urteile vom 2. August 2023 – 2 StR 122/23, NStZ-RR 2023, 390, 391; vom 1. Dezember 2022 – 3 StR 471/21, NStZ 2023, 428 Rn. 8 mwN; MüKo-StGB/Radtke/Scholze, 4. Aufl., § 17 JGG Rn. 65; Meier/Rössner/Laue, JGG, 2. Aufl., § 17 Rn. 26; BeckOK JGG/Brögeler, 33. Ed., § 17 Rn. 17 f.; Eisenberg/Kölbel, JGG, 25. Aufl., § 17 Rn. 46 ff. jeweils mwN).

2. Ein Erfordernis der Erziehungsbedürftigkeit bei der wegen der Schwere der Schuld erforderlichen Jugendstrafe sieht der Wortlaut des § 17 Abs. 2 JGG nicht vor. Die Vorschrift lautet:

„Der Richter verhängt Jugendstrafe, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist.“

Das zwischen den beiden Alternativen stehende „oder“ macht deutlich, dass mit § 17 Abs. 2 Alt. 1 JGG (schädliche Neigungen) die schon in den Gesetzesmaterialien zur Änderung des Reichsjugendgerichtsgesetzes im Jahr 1952 angesprochene „Erziehungsstrafe“ adressiert ist, und mit § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG – als selbständige Alternative dazu – die „Schuldstrafe“ (vgl. BT-Drucks. I/3264, S. 40).

 a) Diese setzt nach dem Wortlaut des § 17 Abs. 2 JGG gerade nicht voraus, dass ihre Verhängung zu Erziehungszwecken notwendig ist (in diesem Sinne auch BGH, Beschluss vom 6. Mai 2013 – 1 StR 178/13, NStZ 2013, 658, 659; MüKo-StGB/Radtke/Scholze aaO Rn. 61; BeckOK JGG/Brögeler aaO Rn. 4.1; Meier/Rössner/Laue aaO Rn. 28; Brunner/Dölling, JGG, 14. Aufl., § 17 Rn. 27; Petersen, Sanktionsmaßstäbe im Jugendstrafrecht, 2008, S. 182 f.).

Auch aus der Verwendung des Wortes „erforderlich“ lässt sich nicht ableiten, dass das Jugendgericht kumulativ das Erziehungsbedürfnis und/oder die -fähigkeit des jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten prüfen und feststellen müsste. Denn die Erforderlichkeit knüpft in § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG gerade nicht an erzieherische Notwendigkeiten oder Möglichkeiten an, sondern allein an die Schuldschwere, was durch die Formulierung „wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist“ zum Ausdruck kommt (vgl. dazu auch unten 5.b).

b) Aus dem in § 2 Abs. 1 JGG normierten Leitprinzip, nach dem vorrangig alle Rechtsfolgen am Erziehungsgedanken auszurichten sind, sowie aus der Regelung des § 18 Abs. 2 JGG lässt sich eine andere wortgetreue Auslegung des § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG nicht herleiten. Solches ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass bei der Bemessung der Jugendstrafe „die erforderliche erzieherische Einwirkung“ zu ermöglichen ist. Denn daraus kann angesichts des dargelegten Wortlauts des § 17 Abs. 2 JGG gerade nicht der Schluss gezogen werden, ein Erziehungsbedürfnis und eine -fähigkeit würden auch schon bei der Verhängung vorausgesetzt (so aber Eisenberg, NStZ 2013, 636, 637; ähnlich Buckolt, Die Zumessung der Jugendstrafe, 2009, S. 47; in diesem Sinne auch die Jugendkammer in dem angefochtenen Urteil).

Es ist zur Berücksichtigung des Erziehungsgedankens auch nicht erforderlich, die erzieherische Notwendigkeit zur Anordnungsvoraussetzung einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld zu machen. Denn bereits für die Beantwortung der Frage, ob die für § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG ausreichende Schwere der Schuld vorliegt, ist – wie oben dargelegt – maßgeblich auf jugendtypische Kriterien abzustellen. Insoweit gilt nichts anderes als im allgemeinen Strafrecht, in dem die Resozialisierung des Täters zwar grundsätzlich einen wichtigen Strafzweck darstellt (allg. Meinung, vgl. nur BGH, Beschluss vom 12. Juni 2017 – GSSt 2/17, BGHSt 62, 184 Rn. 24 mwN; BVerfG, Urteil vom 5. Juni 1973 – 1 BvR 536/72, BVerfGE 35, 202 Rn. 70 mwN), diese aber nicht Voraussetzung der Anordnung einer Freiheitsstrafe ist (MüKo-StGB/Radtke/Scholze aaO Rn. 53; vgl. auch SSW-StGB/Eschelbach, 5. Aufl., § 46 Rn. 28; aA mit Blick auf die Regelung des § 91 JGG für die Jugendstrafe aber wohl Buckolt aaO S. 47 mwN).

Auch § 18 Abs. 2 JGG gebietet eine vom Wortlaut abweichende Auslegung des § 17 Abs. 2 JGG nicht. Indem die Vorschrift darauf abstellt, dass bei der Bemessung die „erforderliche“ erzieherische Einwirkung im Blick zu behalten ist, wird lediglich zum Ausdruck gebracht, dass der Erziehungsgedanke auf der Ebene der Bemessung der Jugendstrafe vorrangig zu berücksichtigen ist (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 7. Februar 2023 – 3 StR 481/22 Rn. 13 f. mwN; vgl. auch Kaspar, Festschrift für Schöch, 2010, S. 209, 221); dies 22 23 - 12 - gilt auch dann, wenn Jugendstrafe ausschließlich wegen Schwere der Schuld verhängt wird (BGH, aaO Rn. 14; Urteil vom 21. Juli 2022 – 4 StR 177/22, NStZ 2022, 755 Rn. 6 mwN). Aus Letzterem ergibt sich zugleich, dass § 18 Abs. 2 JGG für die Frage der Auswahl der Jugendstrafe als gebotener Sanktion keine Vorgaben macht.

3. Maßgeblich dafür, dass es in Fällen der Verhängung einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG nicht auf eine Erziehungsbedürftigkeit oder -fähigkeit ankommt, spricht – entgegen der Auffassung der Jugendkammer – die Entstehungsgeschichte der Norm:

a) Wie auch das Landgericht im Kern nicht verkannt hat, hat der Gesetzgeber bereits in den Materialien zum Gesetz zur Änderung des Reichsjugendgerichtsgesetzes ausgeführt, dass „Jugendstrafe nur verhängt werden [soll], wenn der Täter erziehungsfähig und der Erziehung durch Strafe bedürftig ist oder, wenn wegen der Größe seiner Schuld eine Strafe nicht entbehrt werden kann. Damit ist nach dem erklärten Willen des Gesetzes nur die Erziehungs- und die Schuldstrafe zugelassen. Auf letztere kann nicht verzichtet werden, da sonst die Möglichkeit einer Bestrafung Jugendlicher, die zwar schuldhaft gehandelt haben, aber nicht erziehungsbedürftig oder erziehungsfähig sind, ganz ausgeschlossen würde“ (BT-Drucks. I/3264, S. 40 f.). Auch wenn zuvor in den Materialien in der Begründung zu § 2 JGG aF hervorgehoben wurde, dass Strafe hinter anderen Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln zurücktreten solle (BT-Drucks. I/3264 S. 39), ergibt sich aus dieser Formulierung, dass es nach der gesetzgeberischen Konzeption sowohl die Erziehungsstrafe – bei schädlichen Neigungen – als auch die Schuldstrafe gibt, wobei letztere gerade nicht an eine Erziehungsbedürftigkeit anknüpft. Soweit das Landgericht dem entnommen hat, „dass ein gewisses Schuldausmaß vorausgesetzt wird und es sich bei Fällen, in denen ohne Erziehungsbedarf eine Jugendstrafe verhängt werden kann, um Ausnahmefälle handeln soll“, besagt dies nichts über ein kumulatives Erfordernis der Erziehungsbedürftigkeit in Fällen der Verhängung einer Jugendstrafe nach § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG.

b) Auch aus der Neufassung von § 2 Abs. 1 JGG durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und anderer Gesetze vom 13. Dezember 2007, BGBl. I, S. 2894, ergibt sich nichts Anderes. Die Vorschrift lautet:

„Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.“

 In der Begründung zu dieser Gesetzesänderung ist – was auch das Landgericht nicht verkannt hat – ausdrücklich klargestellt worden, dass die Formulierung „vor allem“ in Satz 1 der Vorschrift „Raum dafür [lässt], in Einzelfällen neben dem Gedanken der Spezialprävention auch andere Sanktionszwecke zu berücksichtigen. Entsprechend verdeutlicht der Zusatz „vorrangig“ in Satz 2, dass nicht in allen Fällen ausschließlich erzieherische Erwägungen im Sinne moderner Pädagogik, die vornehmlich auf helfende und fördernde Maßnahmen ausgerichtet sind, maßgeblich sein können.“ Weiter heißt es: „Insbesondere bei der Verhängung einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2, zweite Alternative), die bereits als solche eine Berücksichtigung des Schuldgedankens über das erziehungsnotwendige Maß hinaus impliziert, und bei der „vorrangig“ am Erziehungsgedanken orientierten Bemessung der Jugendstrafe kann danach auch Belangen des Schuldausgleichs Rechnung getragen werden.“ (BT-Drucks. 16/6293, S. 9).

Daraus ergibt sich nicht, dass durch die Einführung von § 2 Abs. 1 JGG etwas an der Selbständigkeit der beiden Alternativen in § 17 Abs. 2 JGG – Erziehungsstrafe einerseits und Schuldstrafe andererseits – geändert werden sollte. Es trifft deshalb nicht zu, dass der Gesetzgeber die Erziehungsbedürftigkeit stets als kumulatives Erfordernis einer wegen Schwere der Schuld zu verhängenden Jugendstrafe angesehen hätte (so auch Meier/Rössner/Laue aaO Rn. 28; aA aber im Ergebnis wohl Eisenberg, NStZ 2013, 636, 638; ders., NStZ 2018, 729, 730; Eisenberg/Kölbel aaO Rn. 59); vielmehr belegt gerade das angenommene Bedürfnis für eine Öffnung für „Belange des Schuldausgleichs“, dass es in Fällen des § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG Jugendstrafen auch „über das erziehungsnotwendige Maß hinaus“ geben kann. Dies erhellt, dass nach der gesetzgeberischen Konzeption ein Erziehungsbedarf nicht Voraussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe sein sollte.

4. Soweit in diesem Zusammenhang in einigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs hervorgehoben wird, ohne nähere Prüfung der Erziehungsbedürftigkeit und -fähigkeit könne jedenfalls in Fällen von „Kapitaldelikten oder anderen besonders schweren Taten“, namentlich „schweren Gewaltdelikten“ und „gravierenden Sexualdelikten“ eine Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld verhängt werden, weil in solchen Fällen der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs nicht völlig hinter dem Erziehungsgedanken zurückstehen dürfe (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 11. Juli 2017 – 3 StR 107/17, StV 2017, 710, 711; Urteile vom 16. November 1993 – 4 StR 591/93, StV 1994, 598; vom 2. Februar 2022 – 2 StR 295/21 Rn. 30 mwN; vgl. auch BGH, Urteil vom 4. August 2016 – 4 StR 142/16, NStZ 2017, 648, 649), kommt auch darin zum Ausdruck, dass eine Erziehungsbedürftigkeit oder -fähigkeit nicht Voraussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld ist. Keinesfalls kann diesen Entscheidungen – anders als das Landgericht gemeint hat – im Umkehrschluss entnommen werden, bei Straftaten, die keiner der genannten Kategorien zuzurechnen sind, bei denen das Merkmal der Schwere der Schuld im Sinne von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG aber gleichwohl verwirklicht ist, komme die Verhängung einer Jugendstrafe nur in Betracht, wenn kumulativ eine Erziehungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Täters festgestellt werden könne.

Denn eine Fallgruppe der „Kapitaldelikte“, der „schweren Gewaltdelikte“ oder der „gravierenden Sexualdelikte“ sieht das Gesetz nicht vor. Es lässt als Voraussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe nach § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG vielmehr genügen, dass „wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist.“ Wiegt die – jugendspezifisch zu bestimmende – Schuld nach der vorzunehmenden Gesamtbewertung aller wesentlichen Umstände so schwer, dass die Verhängung von Jugendstrafe die erforderliche Reaktion darstellt, ist Jugendstrafe zu verhängen; das Vorliegen der Schuldschwere im Sinne von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG ist mithin hinreichende Voraussetzung der Jugendstrafe (MüKo-StGB/Radtke/Scholze aaO Rn. 60; Brunner/Dölling aaO Rn. 27; auch Meier/Rössner/Laue aaO Rn. 28; Ostendorf, JGG, 11. Aufl., § 17 Rn. 4; im Ergebnis auch Meyer, Beiträge zum Strafrecht, 2007, S. 155, 175 f.; aA Eisenberg/Kölbel aaO Rn. 59; unklar Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 8. Aufl., § 17 Rn. 24).

a) Diese gesetzgeberische Wertung ist zu befolgen. Sie kann nicht dadurch unterlaufen werden, dass trotz angenommener Schuldschwere die Verhängung der Jugendstrafe von den ungeschriebenen Merkmalen der Erziehungsbedürftigkeit und/oder -fähigkeit abhängig gemacht wird. Das Merkmal der Schwere der Schuld stellt zwar seinerseits einen unbestimmten Rechtsbegriff dar und ist deshalb auslegungsbedürftig; es kann aber nicht ohne gesetzliche Grundlage durch nach unklaren Maßgaben ausgewählte weitere Kriterien eingeschränkt werden. Dies gilt zumal, da die genannten Begriffe der „Kapitaldelikte“, der „schwersten Gewalt- oder Sexualdelikte“ oder anderer „Fälle schwerster Kriminalität“ keinen Gewinn an Bestimmtheit bieten (vgl. BeckOK JGG/Brögeler aaO Rn. 16.1).

b) Es mag zwar zutreffen, dass die Schwere der Schuld insbesondere bei Straftaten gegen das Leben und anderen besonders schweren Straftaten häufiger zu bejahen ist; es kann aber bei der Prüfung nicht schematisch etwa auf den Deliktscharakter (Verbrechen/Vergehen) abgestellt werden, entscheidend ist vielmehr das konkrete Tatbild des Einzelfalls, insbesondere die Art und Weise der Einwirkung auf das Opfer, die Gefährlichkeit der Tathandlung, die Schwere der erlittenen Verletzungen sowie das Vor- und Nachtatverhalten (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa BGH, Urteil vom 1. Dezember 2022 – 3 StR 471/21, NStZ 2023, 428 Rn. 10 mwN). Bei der Frage, was eine „besonders schwere Straftat“ ausmacht, die die Bejahung der Schwere der Schuld im Sinne von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG rechtfertigen kann, ist zudem zu beachten, dass die Qualität einer solchen Tat weder derjenigen von „Kapitaldelikten“ vergleichbar sein muss (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2014 – 4 StR 457/14, NStZ 2016, 102 mwN) noch derjenigen entsprechen muss, die das Gesetz für bestimmte „besonders schwere“ Qualifikationstatbestände (etwa § 250 Abs. 2 StGB) oder „besonders schwere“ Fälle (etwa § 243 Abs. 1 StGB) vorsieht. Auch Vergehen sind grundsätzlich geeignet, die Schuldschwere im Sinne des § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG zu begründen (BGH, Urteile vom 15. Juli 2021 – 3 StR 481/20, NStZ 2022, 753 Rn. 25; vom 13. Dezember 2021 – 5 StR 115/21, NStZ 2022, 749 Rn. 49 ff.; vom 1. Dezember 2022 5– 3 StR 471/21, NStZ 2023, 428 Rn. 10). Im Rahmen der – wie dargelegt – jugendspezifisch vorzunehmenden Prüfung der Schuldschwere ist zudem stets zu berücksichtigen, dass die charakterliche Haltung und das Persönlichkeitsbild, wie sie in der Tat zum Ausdruck gekommen sind, auch für die Bewertung der Schuld von Bedeutung sind, weshalb Erziehungsgedanke und Schuldausgleich in der Regel miteinander in Einklang stehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 23. April 1998 – 4 StR 12/98; vom 29. August 2018 – 5 StR 214/18, NStZ-RR 2018, 358, 359; vom 2. Februar 2022 – 2 StR 295/21 Rn. 30).

5. Gegen das Erfordernis eines kumulativen Merkmals der Erziehungsbedürftigkeit und/oder -fähigkeit als Voraussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG sprechen letztlich auch systematische Gründe.

a) Würde insoweit zwischen „Kapitaldelikten“ und vergleichbar schweren Straftaten einerseits sowie andererseits weniger schwerwiegenden Straftaten in dem Sinne unterschieden werden, dass in der letztgenannten Fallgruppe eine Jugendstrafe nur gegen (noch) erziehungsbedürftige oder -fähige Angeklagte verhängt werden kann, entsprächen sich für die Fallgruppe der „weniger schwerwiegenden Straftaten“ die Anordnungsvoraussetzungen „schädliche Neigungen“ und „Schwere der Schuld“ weitestgehend. Dies steht im Widerspruch dazu, dass nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte die „Erziehungsstrafe“ und die „Schuldstrafe“ als selbständige Alternativen ausgestaltet sind (vgl. MüKo-StGB/Radtke/Scholze aaO Rn. 61; vgl. auch Petersen, aaO S. 182).

 b) Für die Auffassung, dass der Gesetzgeber einerseits schädliche Neigungen und andererseits die Schwere der Schuld als unabhängig voneinander zu beurteilende Anordnungsvoraussetzungen angesehen hat, spricht ein weiteres systematisches Argument, das sich der Regelung des § 27 JGG entnehmen lässt. Die Vorschrift lautet:

„Kann nach Erschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten nicht mit Sicherheit beurteilt werden, ob in der Straftat eines Jugendlichen schädliche Neigungen von einem Umfang hervorgetreten sind, daß eine Jugendstrafe erforderlich ist, so kann der Richter die Schuld des Jugendlichen feststellen, die Entscheidung über die Verhängung der Jugendstrafe aber für eine von ihm zu bestimmende Bewährungszeit aussetzen.“

Bei dieser Reaktionsmöglichkeit der Jugendgerichte handelt es sich nach überwiegender Auffassung um eine eigenständige Sanktionsform, die zwischen den Zuchtmitteln und der Verhängung der Jugendstrafe einzuordnen ist (Eisenberg/Kölbel aaO, § 27 Rn. 2; Ostendorf aaO, Grundlagen zu den §§ 27 bis 30 Rn. 1; BeckOK-JGG/Nehring, aaO, § 27 Rn. 5 jeweils mwN auch zu abweichenden Beurteilungen der Rechtsnatur; vgl. auch Brunner/Dölling aaO, § 27 Rn. 3). Ihre Anwendung setzt voraus, dass schädliche Neigungen festgestellt werden, jedoch zweifelhaft bleibt, ob aufgrund deren Umfangs die Verhängung einer Jugendstrafe erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa BGH, Beschluss vom 21. Januar 2021 – 2 StR 280/20).

Diese Zwischenstufe ist nach der gesetzgeberischen Konzeption auf die Fälle beschränkt, in denen eine Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen (§ 17 Abs. 2 Alt. 1 JGG) in Betracht kommt. Eine Aussetzung zur Prüfung einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG) ist nicht vorgesehen.

Hätte der Gesetzgeber aber die Verhängung einer Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld – auch – von erzieherischen Erfordernissen abhängig machen wollen, hätte es nahegelegen, die Regelung des § 27 JGG auf Fälle der „Schuldstrafe“ nach § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG zu erstrecken, zumal durchaus Fälle denkbar sind, in denen zwar die Schwere der Schuld vorliegt, der Umfang der Erziehungsbedürftigkeit des Jugendlichen aber zunächst noch unklar ist. Zugleich belegt der Umstand, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit der Aussetzung der Jugendstrafe auf die Fälle beschränkt hat, in denen nicht mit Sicherheit beurteilt werden kann, ob der Umfang der schädlichen Neigungen, mithin der erzieherischen Defizite, eine Jugendstrafe „erforderlich“ machen, dass mit der Erforderlichkeit der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld nach § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG gerade nicht auch ein Erziehungsbedarf angesprochen ist (vgl. oben unter 2.a).

6. Der Entscheidung des Senats und der von ihm vorgenommenen Auslegung von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG steht – entgegen den in der Revisionshauptverhandlung geäußerten Bedenken der Verteidigung – schließlich auch Art. 37 Buchst. b der UN-Kinderrechtskonvention (im Folgenden: KRK) nicht entgegen.

Nach dieser Vorschrift darf keinem Kind die Freiheit rechtswidrig oder willkürlich entzogen werden. Festnahme, Freiheitsentziehung oder Freiheitsstrafe dürfen im Einklang mit dem Gesetz nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit angewendet werden. Nach Art. 1 KRK ist Kind im Sinne der Konvention jeder Mensch, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, sofern die Volljährigkeit nach dem anzuwendenden Recht nicht früher eintritt; nach deutschem Recht gilt die Konvention mithin auch für Jugendliche im Sinne von § 1 Abs. 2 JGG.

Die Bundesrepublik Deutschland hat die Kinderrechtskonvention mit dem „Gesetz zu dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes“ vom 17. Februar 1992 (BGBl. 1992 II, S. 121 ff.) ratifiziert. Umsetzungsbedarf betreffend Art. 37 Buchst. b KRK sah der Gesetzgeber ausweislich der Materialien zu dem Ratifizierungsgesetz nicht: Die Vorschrift sei nicht so zu verstehen, dass nur Jugendstrafen von möglichst kurzer absoluter Dauer verhängt werden dürften. Eine solche Auslegung stünde mit dem – auch durch Artikel 40 Abs. 1 KRK anerkannten – erzieherischen Zweck der Jugendstrafe nicht in Einklang, der es erforderlich machen könne, die Dauer der Jugendstrafe nicht möglichst kurz zu bemessen, sondern so, dass der mit ihr verfolgte erzieherische Zweck möglichst umfassend erreicht werde. Den somit von der Konvention geforderten Anforderungen entspreche § 18 JGG (vgl. BT-Drucks. 12/42, S. 51). Dieses Verständnis wird auch in der Kommentarliteratur zu Art. 37 KRK geteilt (Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl., Art. 37 Rn. 20).

Die vom Senat vorgenommene Auslegung von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG steht dazu nicht in Widerspruch, zumal der auch in Art. 40 Abs. 1 KRK anerkannte erzieherische Zweck – wie dargelegt – bereits bei der Bestimmung der Schwere der Schuld zu berücksichtigen ist und in aller Regel mit dem Schuldausgleich in Einklang steht (vgl. dazu auch BGH, Urteil vom 13. Dezember 2021 – 5 StR 115/21, NStZ 2022, 749, 750 mwN).

7. Im Ergebnis ist deshalb, wenn die – jugendspezifische – Prüfung der Schuldschwere im Sinne von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG deren Vorliegen erbracht hat (zum Prüfungsmaßstab siehe oben unter 1.), Jugendstrafe zu verhängen, ohne dass festgestellt werden muss, dass bei dem Angeklagten eine Erziehungsbedürftigkeit oder -fähigkeit vorliegt. Bei der Bestimmung der Strafhöhe ist sodann wiederum dem Erziehungsgedanken Rechnung zu tragen (§ 18 Abs. 2 JGG), eine positive Entwicklung bis zur Urteilsverkündung kann insbesondere in diesem Rahmen und für die Frage einer etwaigen Aussetzung der Strafe zur Bewährung von Bedeutung sein.

8. Der Senat ist an dieser Entscheidung nicht durch frühere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs gehindert. Auf Anfrage (§ 132 Abs. 3 Satz 1 GVG; Beschluss vom 13. September 2023 – 5 StR 205/23, NStZ 2024, 106; zustimmend Petersen, NStZ 2024, 209; Kaspar, JR 2024, 201; ablehnend Eisenberg/Kölbel, NStZ 2024, 79; kritisch Höynck, StV 2024, 127; Schneider/Kleimann/Pieplow ZJJ 2023, 354), hat der 6. Strafsenat erklärt, dass seine Rechtsprechung der beabsichtigten Entscheidung des Senats nicht entgegenstehe (BGH, Beschluss vom 28. November 2023 – 6 ARs 10/23); die anderen Strafsenate haben erklärt, der Rechtsauffassung des Senats zuzustimmen und ihre insoweit entgegenstehende frühere Rechtsprechung aufzugeben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. November 2023 – 1 ARs 11/23; vom 20. Februar 2024 – 2 ARs 465/23; vom 19. Dezember 2023 – 3 ARs 15/23; vom 14. März 2024 – 4 ARs 10/23).

9. Das Urteil beruht auf der unzutreffenden Rechtsanwendung durch die Strafkammer (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Jugendkammer hat – für sich genommen rechtsfehlerfrei und unter Anwendung der zutreffenden Maßstäbe (vgl. oben unter 1.) – die Schwere der Schuld im Sinne von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG bejaht und die Verhängung einer Jugendstrafe nur deshalb abgelehnt, weil die Angeklagten (noch) erziehungsbedürftig sein müssten und sie dies verneint hat. Ohne das kumulative Erfordernis der Erziehungsbedürftigkeit oder -fähigkeit hätten deshalb jeweils Jugendstrafen verhängt werden müssen.

Der Senat hat die Feststellungen zu den Rechtsfolgenaussprüchen zur Vermeidung jeglicher Beschwer der Angeklagten ebenfalls aufgehoben (§ 353 Abs. 2 StPO). Denn der Senat kann letztlich nicht ausschließen, dass sich die unzutreffende Rechtsauffassung der Jugendkammer auf die – für sich genommen rechtsfehlerfrei getroffenen – Feststellungen ausgewirkt hat.

10. Rechtsfehler zu Lasten der Angeklagten (§ 301 StPO) hat die Überprüfung des Urteils im Anfechtungsumfang nicht ergeben.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 4. Juni 2024 - 5 StR 205/23

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