Bundesgerichtshof Urteil, 27. Sept. 2012 - 4 StR 197/12

bei uns veröffentlicht am27.09.2012

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
4 StR 197/12
vom
27. September 2012
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 27. September
2012, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Mutzbauer
als Vorsitzender,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Cierniak,
Dr. Franke,
Dr. Quentin
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof und
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Nebenklägervertreterin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 27. Januar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht Halle hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Seine Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.


2
Nach den Feststellungen traf der alkoholisierte Angeklagte (maximale Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit: 1,68 Promille) zusammen mit dem Zeugen V. am 15. April 2011 nach 22.00 Uhr im Stadtgebiet von Z. auf den ihm bis dahin unbekannten Geschädigten Z. und dessen Freund, den Zeugen D. . Z. und D. führten einen kleinen Terrier und einen 50 cm großen Labrador-Pitbull-Mischling mit sich. Beide Hunde waren angeleint und bellten. Der Abstand zwischen Z. und D. einerseits und dem Angeklagten und V. andererseits betrug 25 bis 30 Meter.
3
Aus nicht mehr aufklärbaren Gründen entwickelte sich zwischen dem Angeklagten auf der einen und Z. und D. auf der anderen Seite eine verbale Auseinandersetzung, bei der es auch zu beleidigenden Äußerungen („Wichser“) des Angeklagten kam. Als der Angeklagte und der sich an dem Wortwechsel nicht beteiligende V. ihren Weg fortsetzten, folgten ihnen Z. und D. nach, wobei sich der Abstand zwischen beiden Gruppen ständig verringerte, weil Z. und D. ihr Gehtempo erhöhten. Die verbale Auseinandersetzung wurde dabei fortgeführt. Einer Aufforderung von Z. stehen zu bleiben, kamen der Angeklagte und V. nicht nach. Als D. dem Angeklagten und V. ankündigte, dass man ihnen „beim nächsten dummen Wort hinterherkommen“ werde, reagierte der Angeklagte hierauf mit den Worten: „Na dann kommt doch her“. Der Wortwechsel wurde nun zunehmend aggressiver, wobei der Angeklagte seinen Kontrahenten Z. und D. zurief: „Passt auf, wenn ich euch auf offener Straße abschießen lasse“. Die Aufforderung einer Anwohnerin, „mit dem Krach aufzuhören“, blieb beiallen Beteiligten ohne Wirkung. Z. und D. erhöhten nun nochmals ihre Geschwindigkeit , sodass der Abstand zu dem Angeklagten und V. immer kürzer wurde. Dabei lief Z. voraus, während D. mit den beiden an der Leine geführten Hunden nachfolgte. V. , der die Annäherung bemerkte, befürchtete nun eine alsbaldige Konfrontation und redete auf den Angeklagten ein, dass sie beide dies besser lassen und nach Hause gehen sollten. Der Angeklagte ging hierauf nicht ein und führte stattdessen die verbale Auseinandersetzung mit Z. und D. lautstark fort.
4
Als der Abstand zu Z. und D. nur noch 10 bis 20 Meter betrug, nahm der Angeklagte ein von ihm ständig mitgeführtes Klappmesser mit einer Klingenlänge von 10 cm aus seiner Bauchtasche. Die Tasche mit dem übrigen Inhalt übergab er V. , um sie vor seinen Verfolgern zu sichern. V. bekam Angst vor den ihnen folgenden Personen und den bellenden Hunden, er wollte keinen Ärger und rannte davon. Z. lief nun auf den Angeklagten zu, der sich mit dem Rücken zu ihm befand und stehen blieb. Als Z. den Angeklagten erreichte, versuchte er, ihm einen Faustschlag gegen den Kopf zu versetzen. Der Schlag verfehlte den Angeklagten, weil sich dieser genau in dem Moment des Schlags erst zur Seite und dann umdrehte. Unmittelbar nach der Drehbewegung führte der Angeklagte mit dem zwischenzeitlich geöffneten Messer ohne weiteres Zögern einen wuchtigen Stich gegen den Oberkörper von Z. aus. Die Klinge drang 15 cm tief in den linken Unterbauch von Z. ein, führte zu einer dreifachen Durchsetzung des Dünndarms, einem Durchstich der unteren Hohlvene und einem Stichdefekt an der gemeinsamen rechten Beckenschlagader. Beide standen sich nun unmittelbar gegenüber. Der Angeklagte zog sein Messer wieder aus dem Körper von Z. heraus und behielt es in der Hand. Z. schlug nun ein zweites Mal mit der Faust nach dem Angeklagten , wobei er ihn im Gesicht traf. Der Angeklagte fiel zu Boden, blieb liegen und versuchte seinen Kopf mit den Händen zu schützen. Z. trat mindestens einmal gegen den Oberkörper des am Boden liegenden Angeklagten und lief dann zu dem in einer Entfernung von etwa 10 Metern mit den Hunden wartenden D. . Kurz darauf brach er zusammen; er verstarb trotz einer sofortigen Notoperation am frühen Morgen des Folgetags in einem Krankenhaus.
5
Bei der Ausführung des Stiches nahm der Angeklagte eine als möglich erkannte tödliche Verletzung von Z. billigend in Kauf. Dabei stand er unter dem Eindruck, von zwei Personen und deren bellenden Hunden verfolgt zu werden, wobei ihn ein Verfolger bereits eingeholt hatte. Aufgrund des zuvor genossenen Alkohols fühlte er sich „etwas enthemmt“, ohne dass es zu einer relevanten Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit gekommen wäre.

II.


6
Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Rechtfertigung durch Notwehr abgelehnt hat, halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
7
1. Das Landgericht ist der Ansicht, der Angeklagte habe rechtswidrig gehandelt , weil ihm in der konkreten Situation andere Möglichkeiten für eine Abwehr des Angriffs zur Verfügung standen und der tödliche Messerstich deshalb nicht das nach § 32 Abs. 2 StGB erforderliche Verteidigungsmittel war (UA 33). So habe der Angeklagte während des Wortwechsels und der Verlagerung des Geschehens bis zum Tatort genügend Zeit gehabt, um auf den Besitz des Messers hinzuweisen und dessen Einsatz anzudrohen. Zu diesem Zeitpunkt sei Z. lediglich hinter ihm hergelaufen und habe noch nicht damit begonnen , auf den Angeklagten einzuschlagen. Ebenso hätte der Angeklagte versuchen können, mit Worten deeskalierend auf die ihn verfolgende Gruppe einzuwirken. Auch wäre es ihm in der konkreten Verteidigungssituation möglich gewesen, das Messer als Schlagwerkzeug zu benutzen oder seine Fäuste einzusetzen. Dabei hätte der Angeklagte gute Erfolgsaussichten gehabt, weil er aufgrund seiner Körperlänge von 187 cm dem nur 160 cm großen Z. überlegen gewesen sei und eine situationsbedingte körperliche Schwächung nicht vorgelegen habe. Zudem hätte der Angeklagte nicht mit einer derartigen Wucht auf eine so sensible Körperregion einstechen müssen (UA 10 und 34). Schließlich dürfe auch nicht unbeachtet bleiben, dass der Angeklagte wegen seiner aggressiven Äußerungen im Vorfeld eine Mitschuld an der Gemütsver- fassung des Geschädigten trage, auch wenn die Voraussetzungen einer Notwehrprovokation dadurch noch nicht erfüllt seien (UA 34 f.).
8
2. Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 21. März 1996 – 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97, 100 mwN). Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung entschieden werden (BGH, Urteil vom 24. Juni 1998 – 3 StR 186/98, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 14). Dabei kommt es auf die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung an (BGH, Urteil vom 28. Februar 1989 – 1 StR 741/88, NJW 1989, 3027; Beschluss vom 5. November 1982 – 3 StR 375/82, NStZ 1983, 117). Auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel muss der Angegriffene nur dann zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unter den gegebenen Umständen unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht (BGH, Urteil vom 2. November 2011 – 2 StR 375/11, NStZ 2012, 272, 274; Urteil vom 14. Juni 1972 – 2 StR 679/71, BGHSt 24, 356, 358). Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz einer Waffe kann danach durch Notwehr gerechtfertigt sein. Zwar geht die Rechtsprechung davon aus, dass gegenüber einem unbewaffneten Angreifer der Gebrauch eines bis dahin noch nicht in Erscheinung getretenen Messers in der Regel anzudrohen ist (BGH, Urteil vom 11. September 1995 – 4 StR 294/95, NStZ 1996, 29 f.; Beschluss vom 12. Dezember 1975 – 2 StR 451/75, BGHSt 26, 256, 258) und, sofern dies nicht ausreicht, der Versuch unternommen werden muss, auf weniger sensible Körperpartien einzustechen (BGH, Beschluss vom 24. Juli 2001 – 4 StR 256/01), doch stehen diese Einschränkungen unter dem Vorbehalt, dass beide Einsatzformen im konkreten Fall eine so hohe Erfolgsaussicht haben, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 13. März 2003 – 3 StR 458/02, NStZ 2004, 615, 616; Beschluss vom 21. März 2001 – 1 StR 48/01, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 15; Urteil vom 24. Juni 1998 – 3 StR 186/98, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 14). Dies ist auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen im Einzelnen darzulegen. Angesichts der schweren Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die regelmäßig in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine vorherige Androhung des Messereinsatzes oder eine weniger gefährliche Stichführung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (vgl. BGH, Urteil vom 2. November 2011 – 2 StR 375/11, NStZ 2012, 272, 274). Können keine sicheren Feststellungen zu Einzelheiten des Geschehens getroffen werden, darf sich das nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken (BGH, Beschluss vom 15. November 1994 – 3 StR 393/94, NJW 1995, 973).
9
3. Diesen Grundsätzen werden die Erwägungen des Landgerichts zur Erforderlichkeit des Messerstichs nicht gerecht.
10
a) Soweit dem Angeklagten entgegenhalten wird, den Einsatz des Messers während des Wortwechsels und der Verlagerung des Geschehens bis zum Tatort nicht angedroht und es in diesem Zeitraum auch versäumt zu haben, durch Worte deeskalierend auf seine Kontrahenten einzuwirken, handelt es sich um mögliche Verhaltensweisen im Vorfeld und nicht um im Zeitpunkt des Messereinsatzes noch verfügbare alternative Abwehrmittel.
11
b) Für die Annahme, dass es dem Angeklagten möglich war, den Angriff von Z. mit den bloßen Fäusten abzuwehren, ohne dabei ein unvertretbar hohes Fehlschlagrisiko oder eine Eigengefährdung in Kauf nehmen zu müssen, fehlt es an einer tragfähigen Grundlage. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang lediglich auf die Größenverhältnisse zwischen den Kontrahenten abgehoben und daraus eine körperliche Überlegenheit des Angeklagten abgeleitet. Dies reicht nicht aus, um einen sicheren Erfolg des Angeklagten bei einem Faustkampf mit Z. zu belegen. Ob eine körperliche Auseinandersetzung ohne eigene Verletzungen mit Erfolg bestanden werden kann, hängt nur zu einem geringen Teil von der Statur der Kontrahenten ab. Weitere Feststellungen – etwa zu möglichen Erfahrungen des Angeklagten mit derartigen Auseinandersetzungen oder besonderen Fertigkeiten in diesem Bereich – die eine derartige Aussage gestatten könnten, sind dem Urteil nicht zu entnehmen. Den Vorstrafen wegen Körperverletzung aus dem Jahr 2008 zum Nachteil deutlich jüngerer Kinder hat der Tatrichter in diesem Zusammenhang keine Bedeutung beigemessen und sie nur bei der Ahndung berücksichtigt.
12
c) Das Landgericht hat auch nicht hinreichend dargelegt, warum der Angeklagte gehalten gewesen sein sollte, das Messer als Schlagwerkzeug einzusetzen. Bei dem Tatmesser handelte es sich um ein Klappmesser mit einer feststehenden 10 cm langen Klinge. Wie ein solches Messer in einer effektiven Weise als Schlagwerkzeug eingesetzt werden kann, erschließt sich nicht von selbst.
13
d) Schließlich hat das Landgericht auch nicht mit Tatsachen belegt, dass es dem Angeklagten möglich war, den Angriff von Z. durch einen weniger wuchtigen Stich gegen eine nicht so sensible Körperregion endgültig abzuwehren. Die hierzu gemachten Ausführungen beschränken sich auf die bloße Behauptung, dass ihm diese Handlungsmöglichkeit zur Verfügungstand (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2001 – 4 StR 256/01).

III.


14
Der Senat kann nicht nach § 354 Abs. 1 StPO durch Freispruch in der Sache selbst entscheiden, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine neue Verhandlung noch weitere Feststellungen zu erbringen vermag, die einen Schuldspruch rechtfertigen (BGH, Urteil vom 22. April 2004 – 5 StR 534/02, NStZ-RR 2004, 270, 271). Dabei wird auch zu erörtern sein, ob die Notwehrbefugnisse des Angeklagten wegen einer ihm zuzurechnenden Angriffsprovokation beschränkt waren. Auch kommt gegebenenfalls die Annahme eines Erlaubnistatbestandsirrtums in Betracht.
15
1. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass sich nicht auf ein Notwehrrecht berufen kann, wer den gegen ihn geführten Angriff herausgefordert hat, um den Angreifer unter dem Deckmantel einer äußerlich gegebenen Notwehrlage an seinen Rechtsgütern zu verletzen (BGH, Urteil vom 22. November 2000 – 3 StR 331/00, NStZ 2001, 143; Urteil vom 7. Juni 1983 – 4 StR 703/82, NJW 1983, 2267). Einschränkungen der Notwehrbefugnis können sich aber auch dann ergeben, wenn der Täter den Angriff durch ein rechtswidriges Verhalten im Vorfeld (z.B. Beleidigungen des Angreifers) mindestens leichtfertig provoziert hat. In einem solchen Fall ist es dem Täter zuzumuten, dem Angriff nach Möglichkeit auszuweichen (BGH, Beschluss vom 14. Februar 1992 – 2 StR 28/92, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 9; Beschluss vom 17. Januar 1989 – 4 StR 2/89, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 4; Urteil vom 14. Juni 1972 – 2 StR 679/71, BGHSt 24, 356, 359). Vermag er dies nicht, kann er – je nach der Stärke der ihm anzulastenden Provokation und dem Gewicht des beein- trächtigten Rechtsguts – auch Beschränkungen bei der Auswahl der Abwehrmittel unterliegen (BGH, Urteil vom 2. November 2005 – 2 StR 237/05, NStZ 2006, 332, 333). War die Provokation besonders stark, muss der Verteidiger unter Umständen auf eine einen sicheren Erfolg versprechende Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen, dass ein milderes Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen bietet (BGH, Urteil vom 22. November 2000 – 3 StR 331/00, NStZ 2001, 143, 144; Urteil vom 26. Oktober 1993 – 5 StR 493/93, BGHSt 39, 374, 379). Regelmäßig wird er zu einer Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst dann übergehen können, wenn er alle sich ihm bietenden Möglichkeiten zur Schutzwehr ausgeschöpft hat (BGH, Urteil vom 11. Juni 1991 – 1 StR 242/91, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 8; Urteil vom 18. August 1988 – 4 StR 297/88, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 3; Urteil vom 14. Juni 1972 – 2 StR 679/71, BGHSt 24, 356, 359; vgl. Beschluss vom 12. Dezember 1975 – 2 StR 451/75, BGHSt 26, 256). Kann der Verteidiger dem von ihm leichtfertig provozierten Angriff nicht ausweichen und stehen ihm auch keine milderen Abwehrmittel zur Verfügung, ist ein Einsatz von lebensgefährlichen Verteidigungsmitteln gerechtfertigt (BGH, Beschluss vom 17. Januar 1989 – 4 StR 2/89, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 4).
16
Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte den später getöteten Z. und den Zeugen D. im Vorfeld des Angriffs unter anderem als „Wichser“ bezeichnet und dadurch beleidigt. Konkrete Feststellungen dazu, ob und inwieweit diese und weitere Äußerungen („na dann kommt doch her“) dazu beigetragen haben, dass Z. und D. die Verfolgung des Angeklagten und des Zeugen V. aufnahmen und inwieweit eine solche Entwicklung vorhersehbar war, hat das Landgericht nicht getroffen. Das Gesamtgeschehen legt einen derartigen motivationalen Zusammenhang nahe. Für den Fall, dass eine leichtfertige Angriffsprovokation festge- stellt werden kann, wird der neue Tatrichter zu prüfen haben, inwieweit es dem Angeklagten möglich war, dem Angriff auszuweichen und inwieweit er wegen der vorausgegangenen Provokation Einschränkungen bei der Notwehrausübung hinnehmen musste.
17
2. Ein analog § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zum Vorsatzausschluss führender Erlaubnistatbestandsirrtum kann gegeben sein, wenn der rechtswidrig Angegriffene zu einem objektiv nicht erforderlichen Verteidigungsmittel greift, weil er irrig annimmt, der bereits laufende Angriff werde in Kürze durch das Hinzutreten eines weiteren Angreifers verstärkt werden; das gewählte Verteidigungsmittel aber in der von ihm angenommenen Situation zur endgültigen Abwehr des Angriffs erforderlich gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 1. März 2011 – 3 StR 450/10, NStZ 2011, 630). Konnte der Angegriffene den Irrtum vermeiden , kommt nach § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB eine Bestrafung wegen einer Fahrlässigkeitstat in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 9. Mai 2001 – 3 StR 542/00, NStZ 2001, 530 f.).
18
Nach den Feststellungen des Landgerichts sah sich der Angeklagte von zwei Personen mit bellenden Hunden verfolgt, von denen ihn eine ( Z. ) bereits eingeholt hatte. Diese Annahme entsprach jedenfalls insoweit nicht den Tatsachen, als D. „eher an einer Deeskalation“ interessiert war und – so seine für „plausibel“ erachtete Aussage in der Hauptverhandlung – Z. sogar an dem Faustschlag gehindert hätte, wenn er zeitgleich mit ihm auf den Angeklagten getroffen wäre. Ob der Angeklagte bei der Ausführung des Stiches irrig davon ausging, dass der laufende Angriff von Z. in Kürze eine Verstärkung durch D. erfahren würde, lässt sich anhand dieser Feststellungen nicht abschließend beurteilen. Sollte der neue Tatrichter zu entsprechenden Feststellungen gelangen, wird er zu erörtern haben, ob der tödliche Messerstich erforderlich gewesen wäre, um einen Angriff abzuwehren, wie ihn der Angeklagte befürchtete.
Mutzbauer Roggenbuck Cierniak
Franke Quentin

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Strafgesetzbuch - StGB | § 16 Irrtum über Tatumstände


(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt. (2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den

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13. März 2003
in der Strafsache
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wegen Körperverletzung u. a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 13. März
2003, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Winkler
als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Miebach,
von Lienen,
Becker,
Hubert
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof in der Verhandlung,
Bundesanwalt bei der Verkündung
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizamtsinspektorin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Nebenkläger gegen das Urteil des Landgerichts Kiel vom 7. Juni 2002 wird verworfen. Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im übrigen wegen Bedrohung sowie wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beteiligung an einer Schlägerei zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Mit der auf die Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützten Revision erstreben die Nebenkläger eine Verurteilung des Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Das Landgericht hat im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen: Der Angeklagte, die Zeugin M. , die sich kurz zuvor in das Fahrzeug des Angeklagten gesetzt hatte, und der Zeuge G. unterhielten sich in des-
sen Pkw als unvermittelt der Zeuge B. d. Jüngere (im folgenden: d. J.) die Pkw-Türe öffnete und versuchte, die Zeugin M. zum Aussteigen zu überreden. Als diese ablehnte, schlug er die Türe kräftig zu. Dieser Vorgang wiederholte sich noch mindestens einmal. Der Angeklagte fühlte sich dadurch provoziert und stieg aus seinem Pkw aus; es entwickelte sich ein Streitgespräch, in dessen Verlauf der Zeuge B. d. J. den Angeklagten aufforderte, beiseite zu gehen und sich mit ihm zu prügeln. Daraufhin versetzte der Angeklagte dem Zeugen einen Faustschlag ins Gesicht. Der nun hinzutretende, später getötete B. d. Ältere (im folgenden: d. Ä.), der Zeuge B. d. J. sowie mindestens eine weitere Person schlugen und traten gemeinsam auf den Körper und den Kopf des Angeklagten ein, der noch weitere Tritte erhielt, als er zu Boden fiel. Schließlich ließen sie von ihm ab, gingen dann aber erneut mindestens ein weiteres Mal auf den Angeklagten los und schlugen ihn wieder zusammen. Um B. d. Ä. von weiteren Angriffen abzuhalten, hielt der Angeklagte diesem ein rotes Messer an den Hals oder vor die Brust, welches er schließlich verlor. Als der Angeklagte zu seinem Auto zurückging, nahm B. d. Ä. eine Wodkaflasche und schritt auf den Angeklagten zu, um ihn mit der Flasche zu schlagen. B. d. J. folgte ihm. Der Angeklagte stand nun so, daß er nicht in sein Auto einsteigen konnte, möglicherweise wurde er auch von Umstehenden daran gehindert. Von dem Zeugen G. ließ er sich in dieser Situation ein Butterflymesser geben. B. d. Ä. schlug zweimal mit der Wodkaflasche nach dem Kopf des Angeklagten, er traf einmal die Schulter, der zweite Schlag verfehlte den Angeklagten; die Flasche zerbrach am Auto. Etwa zur gleichen Zeit rief B. d. J., der neben B. d. Ä. stand, und der möglicherweise dabei ein Messer in der Hand hielt: "Burschen, ihr werdet hier mit durchgeschnittener Kehle weggehen". Während B. d. Ä. mit der Flasche auf den Angeklagten einschlug, versetzte ihm der Angeklagte mit dem Butterflymesser innerhalb
kürzester Zeit 13 ungezielte Messerstiche, um den Angriff abzuwehren. Fünf davon trafen in Bauch und Brust, zwei in das Gesicht und jeweils drei Stiche in den Rücken und den linken Arm. Aufgrund der Aussage des Zeugen Mi. hält der Tatrichter für möglich, daß sich B. d. Ä., als ihn die Stiche trafen, tief nach unten beugte, um die Flasche aufzuheben, die ihm aus der Hand gefallen war, und dabei von dem weiter zustechenden Angeklagten an seiner Schulter festgehalten wurde. Zeitgleich setzte der Angeklagte das Messer auch gegen B. d. J. ein, um dessen Angriff gegen sich abzuwehren, und fügte ihm dabei eine leichte Schnittverletzung zu. Beide B. s ließen zunächst nicht von dem Angeklagten ab; entfernten sich aber schließlich oder wurden weggezogen. B. d. Ä. verstarb kurze Zeit später an einem durch eine Herztamponade hervorgerufenen Herzstillstand, da einer der Messerstiche die Herzspitze getroffen hatte.

II.

1. Die Aufklärungsrüge ist jedenfalls unbegründet. Die Kammer mußte sich nicht zu einer nochmaligen Anhörung des Sachverständigen gedrängt sehen. Sie ist von dem Bewegungsablauf ausgegangen, den die Nebenklage vorträgt und dabei unter eingehender Erörterung der Anknüpfungstatsachen aufgrund der Einstichsbreite und -tiefe sowie des Verlaufs der Stichkanäle in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, daß jeder Einstich nur sehr kurz gewesen sein kann und die Messerstiche innerhalb kürzester Frist (5 bis 10 Sekunden) erfolgt sein müssen. Der durch den Zeugen Mi. möglicherweise erst in der Hauptverhandlung neu eingeführte Bewegungsablauf berührte die dem Sachverständigengutachten zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen nicht; diese standen - unabhängig von möglicherweise
verschiedenen zu ihnen führenden Handlungsabläufen - aufgrund der vorgenommenen Sektion fest. Das Landgericht durfte daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß der Angeklagte bei jedem Stich - also auch denen in den Rücken - ungezielt zugestoßen hat. Die von Nebenklage und Generalbundesanwalt zitierte Entscheidung BGH NStZ 1995, 201 betrifft einen ganz anderen Sachverhalt - Erstattung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens. 2. Auch der Sachrüge bleibt der Erfolg versagt. Die Annahme des Landgerichts , der Angeklagte habe sich nicht der Körperverletzung mit Todesfolge schuldig gemacht, weil der zum Tode B. d. Ä. führende Messereinsatz des Angeklagten durch Notwehr gerechtfertigt war, weist keinen Rechtsfehler auf.
a) Das Notwehrrecht des Angeklagten war nicht eingeschränkt. Der Senat kann offen lassen, ob in dem gegen B. d. J. geführten Faustschlag des Angeklagten eine Provokation gelegen hat. Jedenfalls hätte sich eine solche angesichts des zwischen ihr und dem bis zum letzten Angriff anhaltenden vielaktigen gewalttätigen Geschehens, bei dem der Angeklagte mehrfach zusammengeschlagen worden war und nun erneut von B. d. Ä., den er im übrigen nicht provoziert hatte, und B. d. J. angegriffen wurde, im Zeitpunkt der tödlichen Stiche nicht mehr ausgewirkt (vgl. BGHSt 26, 256, 257).
b) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht angenommen, daß die Messerstiche auch zur Verteidigung erforderlich waren. Der Angegriffene darf sich grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, das er zur Hand hat und dessen Einsatz eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten läßt (Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. § 32 Rdn. 16 d). Allerdings muß vom Verteidiger regelmäßig verlangt werden, daß er die Verwendung der Waffe androht, ehe er sie lebensgefährlich einsetzt (BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 15 m. w. N.), wenn ihm dies nach Kampflage möglich ist (Tröndle/Fischer aaO).
Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts lassen die Urteils- gründe nicht besorgen, daß das Landgericht nicht ausreichend geprüft und erörtert hat, ob der Angeklagte nicht vor dem Zustechen den Messereinsatz hätte androhen müssen. Die getroffenen Feststellungen belegen, daß der Tatrichter ohne Rechtsfehler davon ausgegangen ist, daß dem Angeklagten in der konkreten Situation eine Androhung des Messereinsatzes nicht mehr möglich war, ohne seine Verteidigungsmöglichkeiten zu beeinträchtigen. Er war unmittelbar zuvor mehrmals von mehreren, unter anderem den beiden Angreifern zusammengeschlagen worden, hatte bereits kurz zuvor ein Messer erfolglos zur Drohung eingesetzt, um die anhaltenden und schwerwiegenden Angriffe abzuwehren , und sah sich nun erneut den beiden auf ihn zukommenden Angreifern gegenüber , deren einer - nicht widerlegbar - ein Messer in der Hand hielt und rief "Burschen, ihr werdet hier mit durchgeschnittener Kehle weggehen", während der andere bereits die Hand zum Schlag mit der Wodkaflasche gegen den Kopf des Angeklagten erhoben hatte.
c) Ohne Rechtsfehler ist das Landgericht davon ausgegangen, daß auch die Stiche in den Rücken zur Verteidigung erforderlich waren. Der Tatrichter vermochte nicht auszuschließen, daß sich das spätere Tatopfer nach unten beugte, um die Flasche (oder gegebenenfalls den noch als Stichwaffe verwendbaren Flaschenhals) aufzuheben, damit er den Angriff wirkungsvoll fortsetzen konnte. Damit dauerte aber der rechtswidrige Angriff gegen den Angeklagten auch in dieser Situation noch an, insbesondere hat sich dadurch die
von beiden Angreifern ausgehende unmittelbare Lebensgefahr für den Angeklagten nicht entscheidend verringert. An dieser Beurteilung ändert sich auch nichts dadurch, daß der Angeklagte dabei B. d. Ä. an der Schulter festgehalten hat. Winkler Miebach von Lienen Becker Hubert
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: nein
Veröffentlichung: ja
_________________
1. Kommt bei objektiv gegebener Notwehrlage der Angreifer durch Fahrlässigkeit
des Abwehrenden zu Schaden, so ist in den Grenzen dessen, was als
Abwehrhandlung objektiv erforderlich gewesen wäre, die Herbeiführung eines
deliktischen Erfolges auch dann gerechtfertigt, wenn er konkret vom
Abwehrenden nicht gewollt war und bei Anwendung der ihm möglichen
Sorgfalt hätte vermieden werden können.
2. Zu den Grenzen der Notwehr und der strafbefreienden Notwehrüberschreitung
bei einem Angriff auf die Person nach gewaltsamem nächtlichem Eindringen
in die Wohnung des Verteidigers und beim Einsatz einer lediglich
mit einer Patrone geladenen Schußwaffe als Abwehrmittel.
BGH, Beschl. vom 21. März 2001 - 1 StR 48/01 - LG Ellwangen

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 48/01
vom
21. März 2001
in der Strafsache
gegen
wegen fahrlässiger Tötung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. März 2001 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 18. Oktober 2000 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit vorsätzlichem Ausüben der tatsächlichen Gewalt über eine halbautomatische Selbstladewaffe in zwei Fällen zur Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und einen Revolver sowie eine Selbstladepistole eingezogen. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten rügt die Verletzung sachlichen Rechts; sie hat Erfolg.

I.

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen verfügte der Angeklagte über eine Waffenbesitzkarte für sogenannte Langwaffen, nicht aber für einen Revolver und eine Pistole, die er im Jahr 1991 erworben hatte. Den Revolver setzte er am 27. Februar 2000 in einer Nothilfelage ein:
In der Tatnacht schliefen der 66jährige Angeklagte und seine Lebensgefährtin , die Zeugin P. , in ihrer Wohnung. Der Angeklagte, der wegen eines Bandscheibenleidens und einer chronischen Handgelenksarthrose bereits 1996 berentet wurde, hatte vor dem Zubettgehen Medikamente, darunter ein Schmerzmittel eingenommen. Gegen 0.45 Uhr läutete der betrunkene Schwiegersohn der Lebensgefährtin, V. , an der Haustür, stürmte nach deren Öffnung bis zur Wohnungstür des Angeklagten im zweiten Stock und trat diese gewaltsam ein. V. hatte eine Blutalkoholkonzentration von etwa 2,2 Promille; er neigte im alkoholisierten Zustand zu Gewalttätigkeiten und hatte zuvor anderenorts eine Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau gehabt. Er hatte diese zu Boden geschlagen, nachdem sie sich geweigert hatte, mit den gemeinsamen drei kleinen Kindern in dem von V. gesteuerten Pkw nach Hause zu fahren. Es war ihr gelungen, mit einem der Kinder vor V. zu flüchten und sich zu verstecken. Nachdem V. in die Wohnung des Angeklagten und s einer Schwiegermutter, der Zeugin P. , eingedrungen war, packte er die Zeugin, beschimpfte sie und versuchte, sie aus der Wohnung zu ziehen. Der Angeklagte versuchte beruhigend auf V. einzuwirken; dieser schubste ihn jedoch zurück, worauf der Angeklagte zu Boden fiel. Unter weiteren Beschimpfungen und der Drohung, sie umzubringen, gelang es V. , die sich heftig wehrende und laut schreiende Zeugin P. am Nachthemd und an den Haaren in das Treppenhaus zu ziehen. Dort ging sie zu Boden. Er zerrte sie nun nach und nach die Treppe hinunter. Daraufhin lief der Angeklagte in sein Schlafzimmer und nahm dort aus dem Nachttischchen den Revolver der Marke "Sturm-Ruger", der mit einer scharfen Patrone geladen war. Er war noch "ganz leicht benommen", da er kurz zuvor aus dem Schlaf gerissen worden war und die eingenommenen Medikamente (Valoron und Voltaren) "noch leicht
wirkten". Obwohl er selbst die Patrone in den Revolver geladen hatte, war ihm diese Tatsache in der konkreten Situation nicht bewußt; denn der Vorgang lag bereits mehrere Jahre zurück. Er ging daher fälschlicherweise davon aus, der Revolver sei nicht geladen. Im Treppenhaus hatte V. die Zeugin P. , die sich immer wieder am Geländer festzuhalten versuchte, inzwischen drei Treppenabsätze nach unten gezogen. Beim Eintreffen des Angeklagten lag sie gerade mit dem Rücken auf dem Podest zwischen Erdgeschoß und erstem Stock, wobei sich ihre Füße noch auf den untersten Stufen in Richtung des ersten Obergeschosses befanden. V. hielt sie an den Haaren und zog daran. Er beschimpfte sie, bedrohte sie weiter und trat mehrfach mit den Füßen auf sie ein. Um weitere Körperverletzungshandlungendes V. gegen sie zu verhindern, richtete der Angeklagte aus einer Entfernung von weniger als zwei Metern den Revolver auf dessen Gesichtsbereich und zog den Abzug schnell hintereinander drei- oder viermal durch. Er hoffte, V. werde erschrekken und von der Zeugin P. ablassen. Bei der wiederholten Betätigung des Abzuges löste sich ein Schuß, der V. unmittelbar unterhalb der Nase traf, im dritten Halswirbel stecken blieb und binnen kurzer Zeit zu dessen Tod führte. 2. Das Landgericht nimmt an, der Angeklagte habe in einer Nothilfelage mit Verteidigungswillen gehandelt, jedoch fahrlässig das Maß des zur Abwehr des Angriffs Erforderlichen überschritten; er habe Drohen, nicht Schießen wollen. Auch sei dem Angeklagten vor dem Schußwaffengebrauch eine deutliche Ankündigung und Warnung abzuverlangen gewesen. Sein Irrtum über den Ladezustand des Revolvers sei für ihn leicht erkennbar und vermeidbar gewesen. Er habe sich durch einfaches Aufklappen der Revolvertrommel vom Ladezu-
stand der Waffe überzeugen können. Sein Handeln sei auch nicht entschuldigt (nach § 33 StGB), weil er nicht aus Verwirrung, "gesteigerter Furcht" oder Schrecken das Maß des durch Nothilfe Gerechtfertigten überschritten habe.

II.

Die Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Urteilsgründe lassen besorgen, daß das Landgericht die Grenzen des Notwehrrechts nicht zutreffend bestimmt hat; zudem sind die zugrundeliegenden Feststellungen ebenso wie die tatsächliche Würdigung lückenhaft. Darüber hinaus leiden die Ausführungen zur Frage einer strafbefreienden Überschreitung der Grenzen der Notwehr an einem Erörterungsmangel. Hinsichtlich des Ausübens der tatsächlichen Gewalt über den in der Notwehrlage eingesetzten Revolver ist die Strafkammer von einem zu weitgehenden Schuldumfang ausgegangen. Schließlich ist die Annahme von Tateinheit zwischen den Waffendelikten und dem etwaigen Tötungsdelikt rechtsfehlerhaft. 1. Die nur fahrlässige, aber letztlich ebenfalls vom Verteidigungswillen des Angeklagten getragene Herbeiführung der Todesfolge beim Einsatz der Schußwaffe als Drohmittel wäre gerechtfertigt (§ 32 StGB), wenn der Angeklagte in der gegebenen besonderen Lage, in der seine Schußwaffe mit nur einer Patrone geladen war, unter der Voraussetzung einer angemessenen Androhung auch einen gezielten, möglicherweise tödlichen Schuß auf den Angreifer hätte abgeben dürfen. Kommt bei objektiv gegebener Notwehrlage der Angreifer durch Fahrlässigkeit des Abwehrenden zu Schaden, so ist in den Grenzen dessen, was als Abwehrhandlung objektiv erforderlich gewesen wäre, die Herbeiführung eines deliktischen Erfolges auch dann gerechtfertigt, wenn er konkret vom Abwehrenden nicht gewollt war und bei Anwendung der ihm
möglichen Sorgfalt hätte vermieden werden können (Lenckner in Schönke /Schröder StGB 26. Aufl. § 32 Rdn. 65; Tröndle/Fischer StGB 50. Aufl. § 32 Rdn. 14; vgl. auch BGH bei Dallinger MDR 1958, 12,13; OLG Hamm NJW 1962, 1169). Wäre der Abwehrende also bei gewollter Abgabe eines gezielten Schusses auf den Angreifer gerechtfertigt gewesen, dann muß diese Rechtfertigung erst recht und zur Vermeidung eines Wertungswiderspruches auch dann greifen, wenn er sich bei seiner Abwehr für ein milderes Mittel entscheidet und der Angreifer - wie hier - bei einer beabsichtigten Drohung mit der Schußwaffe zu Tode kommt, weil sich – vom Nothilfeleistenden nicht gewollt - ein Schuß löst. Mithin kommt es im vorliegenden Falle darauf an, ob der Angeklagte bei bewußter Abgabe eines gezielten Schusses durch Notwehr gerechtfertigt gewesen wäre. 2. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, daß der lebensgefährliche Einsatz einer Schußwaffe nur das letzte Mittel der Verteidigung sein kann. Grundsätzlich muß der Verteidiger - wenn eine bloß verbale Androhung von vornherein aussichtslos erscheint - vor dem tödlichen Schuß einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz wie etwa einen ungezielten Warnschuß versuchen. Jedoch gilt auch für die Verwendung einer Schußwaffe, selbst einer solchen, die wie vom Angeklagten ohne waffenrechtliche Erlaubnis eingesetzt wird, der allgemeine notwehrrechtliche Grundsatz, daß der Verteidiger berechtigt ist, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; unter mehreren Abwehrmöglichkeiten ist er auf die für den Angreifer minder einschneidenden nur dann verwiesen, wenn ihm Zeit zur Auswahl sowie zur Abschätzung der Gefährlichkeit zur Verfügung steht und die für den Angreifer weniger gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig auszuräumen. Ein nicht bloß geringes Risiko, daß das mildere Mittel
fehlschlägt und dann keine Gelegenheit für den Einsatz des stärkeren bleibt, braucht der Verteidiger zur Schonung des rechtswidrig Angreifenden nicht einzugehen. Dabei sind Stärke und Gefährlichkeit des Angriffs gegen die Verteidigungsmöglichkeiten abzuwägen. Ist dem Angreifer die Existenz einer dem Verteidiger zur Verfügung stehenden Waffe unbekannt, muß je nach Lage vom Verteidiger regelmäßig verlangt werden, daß er die Verwendung der Waffe androht , ehe er sie lebensgefährlich einsetzt (vgl. nur BGHSt 26, 143, 146; 26, 256, 258; BGH NStZ 1996, 29; StV 1999, 143 = BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 14 m.w.Nachw.). 3. Die Ausführungen des Landgerichts werden diesen Maßstäben nicht in jeder Hinsicht gerecht. Die bisherigen Feststellungen reichen nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob die Abgabe des Schusses auf den Kopf des angreifenden V. mit naheliegender tödlicher Wirkung durch Notwehr gerechtfertigt gewesen wäre oder ob der Angeklagte jedenfalls nach § 33 StGB straffrei bleiben muß.
a) Die getroffenen Feststellungen legen allerdings nahe, daß der Einsatz der Schußwaffe hier erforderlich war. Der Angeklagte, ein zur Tatzeit 66jähriger Rentner mit einem Bandscheibenleiden und einer Handgelenksarthrose, war mit seiner Lebensgefährtin in seiner eigenen Wohnung angegriffen worden; beide befanden sich in einem auch grundrechtlich besonders geschützten Bereich (vgl. Art. 13 Abs. 1 GG). Zu diesem hatte sich der angreifende V. durch Eintreten der Tür Zugang verschafft. Am Zustandekommen der Trunkenheit und des Aggressionsausbruchs des Angreifers war der Angeklagte nicht beteiligt; hinsichtlich seiner Lebensgefährtin ergibt sich aus den Feststellungen nichts anderes. Er hatte zunächst versucht, V. zu beschwichtigen. Dies war fehlgeschlagen; er war selbst zu Boden gegangen. Bei V.
handelte es sich - wie der Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt - ersichtlich um einen durchaus kräftigen jungen Mann. Aufgrund seiner alkoholbedingten Enthemmung und seiner zustandsbedingten Neigung zu Gewalttätigkeiten war er erkennbar durch Zureden nicht zu bremsen. Eine körperliche Auseinandersetzung mit ihm konnte naheliegender Weise für den Angeklagten nicht ernstlich in Betracht kommen. V. drohte, die Zeugin P. umzubringen und zerrte die schreiende, sich am Treppengeländer festhaltende, zu Boden gebrachte Frau, die sich heftig wehrte, nach und nach die Treppe hinunter. Dabei trat er mehrfach auf sie ein. Bei dieser festgestellten "Auseinandersetzungslage" drängte es sich auf, daß augenblicklich auch schwerwiegende und lebensgefährliche Verletzungen der Zeugin P. eintreten konnten. Es liegt auf der Hand, daß etwa ein Aufschlagen des Kopfes der Zeugin auf die Treppenstufen ebenso in Betracht kam wie eine schwerwiegende Rücken- oder gar Rückgratverletzung. Das ergibt sich schon aus der vom Landgericht beschriebenen Vorgehensweise des Angeklagten und den Feststellungen zur Lage der Zeugin bei Rückkehr des nunmehr bewaffneten Angeklagten in das Treppenhaus. Wenn das Landgericht dennoch ohne nähere Angaben ausführt, die unmittelbare Gefahr einer schweren Verletzung oder der Tötung der Zeugin P. habe zu diesem Zeitpunkt nicht bestanden, so steht das nicht ohne weiteres im Einklang mit dem festgestellten Verlauf. Es hätte der Darlegung besonderer Umstände bedurft, die diese Bewertung hätten tragen können. Das gilt zumal deshalb, weil der Angeklagte sich ausdrücklich dahin eingelassen hatte, er habe tödliche Verletzungen seiner Lebensgefährtin befürchtet (UA S. 14). Das Landgericht meint indessen, "akute Anzeichen dafür" habe der Angeklagte nicht zu schildern vermocht. Das ist schon deswegen rechtsfehlerhaft, weil die Einlassung des Angeklagten im Einklang mit den im übrigen getroffenen Feststellungen steht. Diese ergeben ohne weiteres eine beträchtliche Gefahr für
Leib und Leben der Zeugin P. , zumal der äußerst aggressiv auftretende, enthemmte V. gedroht hatte, diese umzubringen. Wollte die Strafkammer bei dieser Sachlage dennoch eine erhebliche Leibes- oder Lebensgefahr verneinen, so hätte sie das näher begründen müssen. Es konnte nicht Sache des Angeklagten sein, weitere Gründe für seine Befürchtung erheblicher Verletzungen oder gar des Todes der Zeugin P. v orzubringen. Das diese nicht unbegründet war, ergibt sich aus dem vom Landgericht festgestellten Geschehensablauf.
b) War der Einsatz der Schußwaffe durch den Angeklagten - da andere schnell wirksame Mittel zur Abwehr des massiven Angriffs auf seine Lebensgefährtin ersichtlich nicht zur Verfügung standen - erforderlich, so wäre zu erwägen gewesen, daß ihm - hätte er die Situation richtig erfaßt - für die Abgabe eines Schusses nur eine einzige Patrone zur Verfügung stand (vgl. zu ähnlichen Fallgestaltungen BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 4, 6 “letzte Patrone” ). Diese Besonderheit des Falles führt angesichts der Erregung des Angeklagten sowie der naheliegenden Gefahr des Eintretens auch schwerster Verletzungen beim Hinunterzerren der zu Boden gebrachten, auf dem Rücken liegenden Lebensgefährtin, der ausgesprochenen Todesdrohung und dem Eintreten des Angreifers auf das Opfer dazu, daß der Angeklagte sich nicht auf die Abgabe eines Schusses etwa auf die Beine des Angreifers beschränken mußte. Dies wäre - zumal in Rücksicht auf die Aggressivität des Angreifers - eine mit hohem Fehlschlagsrisiko behaftete Abwehr gewesen, bei der ihm anschließend kein weiterer Schuß für eine erfolgreiche Verteidigung mehr zur Verfügung gestanden hätte. Die Abgabe eines Warnschusses kam aus demselben Grund nicht in Betracht, wäre im übrigen im Treppenhaus ohnehin in hohem Maße gefährlich für alle Beteiligten gewesen. Schließlich wäre weiter zu bedenken gewesen, daß dem Angeklagten wegen des dynamischen Gesche-
hensablaufes kaum Zeit zum Überlegen verblieb und er durch den Angriff in seiner eigenen Wohnung aus dem Schlaf gerissen worden war. Bei dieser Lage , der Stärke und Gefährlichkeit des Angriffs und den gegebenen, stark eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten lag es nahe, auch die Abgabe eines gezielten, den Angriff sicher sofort beendenden Schusses für objektiv erforderlich zu erachten. Die Erwägungen des Landgerichts gehen auf die Besonderheiten des Falles nicht hinreichend ein; sie lassen nicht erkennen, daß es die Grundsätze der Rechtsprechung zur Auslegung der Notwehrvorschrift genügend bedacht hat.
c) In diesem Zusammenhang begegnet es weiter rechtlichen Bedenken, daß das Landgericht bei seiner rechtlichen Bewertung die Auseinandersetzung als “innerfamiliäre Streitigkeit” bezeichnet. Das könnte darauf hindeuten, daß es von einer Einschränkung des Notwehrrechts ausgeht. Dies wäre in zweifacher Hinsicht rechtsfehlerhaft: Die Urteilsfeststellungen ergeben, daß dem Angriff des V. gerade kein Streit vorausgegangen ist, an dem die Zeugin P. oder der Angeklagte beteiligt war. Der Angriff erfolgte vielmehr unvermittelt und ohne erkennbaren äußeren Grund. Das Notwehrrecht war schließlich nicht deshalb eingeschränkt, weil der Angreifer mit der Tochter der Zeugin P. verheiratet war. Dies geht auf die Willensentschließung der Tochter zurück, die mit V. in einer anderen Wohnung lebte. Ein irgendwie geartetes sonstiges, zu erhöhter Rücksichtnahme in der gegebenen Lage verpflichtendes persönliches Näheverhältnis zwischen dem Angreifer und der Zeugin P. oder dem Angeklagten ist nicht ersichtlich. Es wäre hier für die Frage einer etwaigen Begrenzung des Notwehrrechts auch deshalb unerheblich, weil der Angriff nach gewaltsamem Eindringen in die Wohnung der Zeugin P. und des Angeklagten, einem besonders schutzwürdigen Bereich, erfolgte. Etwas anderes ergibt sich auch nicht im Blick auf die Alkoholisierung des V. .
Dieser neigte in einem solchen Zustand gerade zu Gewalttätigkeiten. Das kann unter den vorliegenden Umständen indessen nicht dazu führen, daß der Verteidigende ein hohes Maß an Leibes- und gar an Lebensgefahr ohne Aussicht auf erfolgversprechende Abwehr hinnehmen muß.
d) Danach hängt die Annahme des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr weiter davon ab, ob und wie der Angeklagte den Schußwaffengebrauch androhen mußte und ob dies geschehen ist (vgl. dazu auch BGH StV 1999, 145, 146). Das Landgericht hält hier eine “deutliche” Ankündigung des Waffeneinsatzes und eine vorherige Warnung für geboten, die es im Ergebnis vermißt. Die Würdigung hierzu ist indessen lückenhaft; sie läßt zudem besorgen, daß die Strafkammer die Anforderungen an eine solche Androhung überspannt hat. Die Androhung hat den Sinn, dem Angreifer vor einem lebensgefährlichen Einsatz der Waffe davon Kenntnis zu geben, daß der Verteidigende über eine solche verfügt. Je nach “Auseinandersetzungslage” ist auch die ins Auge gefaßte Verwendung, also der konkrete Einsatz anzudrohen. Wie dies zu geschehen hat, ist nicht zwingend vorgegeben. Anders als etwa bei einem für solche Konfliktlagen Ausgebildeten, der auch für extreme Belastungssituationen richtige Verhaltensweisen eingeübt hat, kann von einem aus dem Schlaf gerissenen, auf einen Angriff nicht gefaßten Menschen nicht ohne weiteres ein in jeder Hinsicht überlegtes Verhalten erwartet werden. Entscheidend ist, daß der Angreifer in den Stand gesetzt wird, die Bewaffnung des Verteidigers wahrzunehmen und zu erkennen, daß dieser bereit ist, die Waffe gegen ihn einzusetzen, falls er mit seinem Angriff fortfährt. Dazu ist nicht stets ein mündlicher Anruf oder Hinweis erforderlich; vielmehr hängt die Art und Weise der Androhung ebenfalls von den jeweiligen Umständen des Falles ab. Je nach der Intensität und Gefährlichkeit des Angriffs in dem beim Einsatz der Schußwaffe gegebenen Stadium kann deshalb möglicherweise schon eine Drohwirkung genügen, die
von dem bloßen Vorzeigen der Schußwaffe und einem etwaigen Zielen auf den Angreifer ausgeht. Hierauf geht das Urteil nicht näher ein. Das Landgericht führt lediglich aus, der Angeklagte habe "weder mit Worten auf die Waffe aufmerksam gemacht noch deren Einsatz für den Fall angedroht, daß er nicht von der Zeugin P. ablasse” (UA S. 9). Was mit Letzterem gemeint ist, bleibt unklar. Da der angreifende V. s ich treppabwärts vor der Zeugin P. befand und dabei war, diese weiter auf der Treppe herabzuzerren, während der Angeklagte von oben aus seiner Wohnung herbeieilte, liegt nahe, daß V. die Schußwaffe in der Hand des Angeklagten vor deren Einsatz erkannt hatte, aber seinen Angriff dennoch fortsetzte. Möglicherweise konnte er zuvor auch wahrnehmen, daß der Angeklagte die Waffe auf ihn gerichtet hatte. Das hätte der Erörterung bedurft, weil eine solche konkludente Drohung angesichts des Maßes der Gefahr für die Zeugin P. hier ausreichend sein konnte. Das Landgericht meint zwar im Rahmen seiner rechtlichen Würdigung, dem angreifenden V. sei keine Zeit zur Reaktion verblieben. Wie es zu dieser Annahme kommt, wird aber durch die Beweiswürdigung nicht erhellt. Bei der erforderlichen Würdigung der Beweise ist zu bedenken, daß nach dem Zweifelssatz zu Gunsten des Angeklagten als Verteidiger von der ihm günstigeren Sachverhaltsannahme auszugehen ist, wenn sich bestimmte, nicht fernliegende Möglichkeiten des Tatverlaufs nicht zur Überzeugung des Tatrichters ausschließen lassen. Danach bedarf die Frage der Notwehr insgesamt der erneuten Prüfung. 4. Auf all das käme es indessen nicht an, wenn der Angeklagte - was hier nahe liegen dürfte - jedenfalls wegen Notwehrüberschreitung straffrei zu bleiben hätte. Nach § 33 StGB wird nicht bestraft, wer als Verteidiger die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreitet. Die Strafkammer hat dies geprüft und verneint. Das begegnet durchgreifenden
rechtlichen Bedenken. Der Angeklagte hatte sich auf Furcht vor schwerwiegenden Verletzungen seiner Lebensgefährtin berufen. Die Kammer führt aus, er habe sich zwar in verständlicher Erregung befunden, keinesfalls aber in Panik. Die Notwehrüberschreitung sei nicht aus "gesteigerter Furcht" erfolgt (UA S. 14/15). Eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit habe nicht vorgelegen. Das läßt besorgen, daß die Strafkammer auch zu hohe Anforderungen an die Annahme einer strafbefreienden Notwehrüberschreitung gestellt hat. Zwar ist nicht schon jedes Angstgefühl als Furcht im Sinne des § 33 StGB zu beurteilen; vielmehr muß durch das Gefühl des Bedrohtseins die Fähigkeit, das Geschehen zu verarbeiten und ihm angemessen zu begegnen erheblich reduziert sein (vgl. BGHR StGB § 33 Furcht 2, 4; BGH NStZ-RR 1997, 65). Der Affekt muß nicht die alleinige oder auch nur überwiegende Ursache für die etwaige Überschreitung der Notwehrgrenzen gewesen sein; es genügt, daß er – neben anderen gefühlsmäßigen Regungen – für die Notwehrüberschreitung mitursächlich war. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, daß der Angreifer die ihn treffenden Folgen einer überzogenen Abwehr selbst und allein verantworten muß, wenn er durch sein Handeln einen jener Affekte ausgelöst hat (Verwirrung, Furcht oder Schrecken), die den Angegriffenen über die Grenzen der Notwehr hinausgehen ließen (BGH StV 1999, 145, 146/147). Auf dieser rechtlichen Grundlage hätte die Strafkammer alle Tatumstände berücksichtigen müssen und das Geschehen nicht nur unter dem Gesichtspunkt der vorherigen Medikamenteneinnahme und des Überraschtwerdens im Schlafe würdigen dürfen; sie hätte auch die Wirkungen erwägen und darstellen müssen, die für den Angeklagten von dem überraschenden und massiven nächtlichen Angriff auf seine Lebensgefährtin gerade in der eigenen Wohnung ausgingen. Für eine erhebliche Verringerung der Fähigkeit zu einer angemes-
senen Reaktion konnte hier auch sprechen, daß der Angeklagte in seiner - auch vom Landgericht angenommenen - Erregung den Ladezustand seiner Waffe nicht bedachte. 5. Darüber hinaus ist im Auge zu behalten, daß die genannten Umstände selbst unter der Annahme fahrlässiger Tötung auch Bedeutung für die Frage der Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung haben und deshalb auch in diesem Punkt tragfähiger Bewertung bedurft hätten. Der bloße Hinweis darauf, der Angeklagte, der annahm, seine Waffe sei ungeladen, hätte sich durch einfaches Aufklappen der Revolvertrommel vom Ladezustand der Waffe überzeugen können, sein Irrtum sei deshalb vermeidbar gewesen (UA S. 8), genügte dazu nicht. Er wird in seiner bündigen Kürze der Befindlichkeit des Angeklagten und der Angriffslage nicht vollends gerecht. 6. Die Verurteilung des Angeklagten kann schließlich schon deshalb keinen Bestand haben, weil auch der Schuldspruch wegen des tateinheitlichen Ausübens der tatsächlichen Gewalt über den vom Angeklagten eingesetzten Revolver mit einem Rechtsfehler behaftet ist und das Landgericht das Konkurrenzverhältnis zu dem Tötungsdelikt nicht zutreffend beurteilt hat. Da der Angeklagte sich auch nach Auffassung des Landgerichts in einer Nothilfesituation befand, durfte er den Revolver in dieser Lage - wenigstens als Drohmittel - verwenden. Damit entfällt zugleich die Strafbarkeit wegen des damit einhergehenden Ausübens der tatsächlichen Gewalt über diese Waffe (BGH NStZ 1981, 299; BGHR StGB § 32 Abs. 1 Rechtfertigung 1). Die Strafkammer hat die damit teilweise gegebene Straflosigkeit des Waffendelikts nicht berücksichtigt und ist daher von einem zu weitgehenden Schuldumfang ausgegangen. Sie hat ausdrücklich den langandauernden Besitz gleich zweier Schußwaffen straferschwerend gewertet (UA S. 16). Die in der Nothilfesituation gerechtfertigte
Verwendung des Revolvers begründet überdies eine Zäsur. Das strafbare unerlaubte Ausüben der tatsächlichen Gewalt und der anschließende Einsatz der Waffe - auch dann, wenn ihn der neue Tatrichter wiederum als strafbar erachten sollte - würden sich vielmehr als mehrere Taten erweisen (§ 53 StGB; BGHR StGB § 32 Abs. 1 Rechtfertigung 1; vgl. für diesen Fall zum Verschlechterungsverbot Kuckein in KK 4. Aufl. § 358 Rdn. 30 m.w.Nachw.). Nack RiBGH Dr. Wahl befindet sich Boetticher im Urlaub und ist deshalb an der Unterschriftsleistung verhindert. Nack Schluckebier Schaal

(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.

(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet.

(1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.

(1b) Hebt das Revisionsgericht das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 des Strafgesetzbuches) auf, kann dies mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 zu treffen ist. Entscheidet das Revisionsgericht nach Absatz 1 oder Absatz 1a hinsichtlich einer Einzelstrafe selbst, gilt Satz 1 entsprechend. Die Absätze 1 und 1a bleiben im Übrigen unberührt.

(2) In anderen Fällen ist die Sache an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen. In Verfahren, in denen ein Oberlandesgericht im ersten Rechtszug entschieden hat, ist die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen.

(3) Die Zurückverweisung kann an ein Gericht niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört.

5 StR 534/02
(alt: 5 StR 469/97
und 5 StR 456/99)

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 22. April 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung
vom 20. und 22. April 2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Häger,
Richter Basdorf,
Richterin Dr. Gerhardt,
Richter Dr. Raum
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt B ,
Rechtsanwalt G
als Verteidiger,
Rechtsanwalt D
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
am 22. April 2004 für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 30. Januar 2002 aufgehoben, soweit der Angeklagte wegen Mordes und versuchten Mordes verurteilt worden ist. Damit entfällt die lebenslange Gesamtfreiheitsstrafe.
Der Angeklagte wird vom Vorwurf des Mordes und des versuchten Mordes freigesprochen.
Im Umfang des Freispruchs fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last.
Die Entscheidung über die Entschädigung des Angeklagten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e Das Landgericht hat den Angeklagten zunächst wegen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Dieses Erkenntnis hat der Senat durch Urteil vom 21. Januar 1998 (BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 30) aufgehoben. Daraufhin hat das Landgericht den Angeklagten am 8. Februar 1999 freigesprochen (und ihn wegen – anderweitiger – vorsätzlicher Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt). Den Freispruch hat der Senat durch Urteil vom 5. Juli 2000 (NStZ-RR 2000, 334) aufgehoben. Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten wegen Mordes, versuchten Mordes (und einer inzwischen begangenen vorsätzlichen Körperverletzung, deretwegen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt worden ist) zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Die allein gegen die Verurteilung wegen Mordes und versuchten Mordes gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg, so daß es auf die Verfahrensrügen nicht ankommt.

I.


Das Landgericht hat zum Vorwurf des Mordes und des versuchten Mordes im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte und die Nebenklägerin waren einander intim verbunden und seit dem Sommer 1993 verlobt. Im Sommer 1995 war das Verhältnis jedoch weitgehend zerrüttet, zumal da der Angeklagte jedes sexuelle Interesse an der Nebenklägerin verloren hatte und Beziehungen zu anderen Frauen unterhielt. Der Angeklagte zeigte sich andererseits übertrieben eifersüchtig und wurde mehrfach handgreiflich. Die Nebenklägerin trug sich deshalb im Sommer 1995 intensiv mit dem Gedanken einer Trennung von dem Angeklagten. Am Nachmittag des 24. August 1995 beobachtete die Nebenklägerin den Angeklagten dabei, wie er sich von einer unbekannt gebliebenen Frau mit einem Kuß verabschiedete. Diese Beobachtung veranlaßte die Nebenklägerin endgültig, den Angeklagten aus der gemeinsamen Wohnung zu weisen und die Verlobung zu lösen. Sie packte seine Habseligkeiten in Plastiksäcke und stellte sie an die Tür. Als der Angeklagte sich abends, nachts oder in den ersten Morgenstunden des 25. August 1995 einfand, eröffnete die Nebenklägerin ihm, daß sie sich unwiderruflich von ihm trenne, und verwies ihn der Wohnung. Der Angeklagte wollte eine Trennung zwar
nicht akzeptieren, verließ aber nach einem lauten Streit unter Mitnahme seiner Kleidung die Wohnung.
Die Nebenklägerin war Schülerin einer Krankengymnastik-Schule und arbeitete abends und am Wochenende für den später Getöteten M . Dieser 69jährige, wohlhabende und an mehreren Krankheiten leidende Mann ließ sich in seiner zweietagigen Wohnung „rund um die Uhr“ durch eine organisierte Gruppe von Pflegekräften betreuen, zu der die Nebenklägerin gehörte. Am 26. August 1995 trat die Nebenklägerin ihren Tagesdienst in der Wohnung M s frühmorgens an. Alsbald danach erschien dort der Angeklagte. „Überrumpelt“ durch das unerwartete Auftauchen des Angeklagten, ließ die Nebenklägerin ihn ein. Der Angeklagte, der die Erklärung der Nebenklägerin, sich von ihm zu trennen, nicht akzeptieren wollte, verlangte zunächst Geld von ihr und sprach ihr das Recht ab, die Beziehung einseitig zu beenden. Die Nebenklägerin erwiderte dem erregt brüllenden Angeklagten, es sei „Schluß“, er solle zu seinen anderen Frauen gehen. Der im Erdgeschoß geführte Disput war so laut, daß der im Obergeschoß im Bett liegende M ihn vernahm und nach der Nebenklägerin rief. Diese versuchte, den Angeklagten zum Verlassen der Wohnung zu bewegen , und wandte sich kurz ab, um M nach oben zuzurufen, sie werde sogleich kommen. In dieser Situation schlug der Angeklagte mit einem „länglich-runden und festen Tatwerkzeug“ vier- bis fünfmal heftig auf den Kopf der Nebenklägerin ein. Dabei nahm der Angeklagte ihren Tod billigend in Kauf. Er handelte in verletztem Selbstwertgefühl aus Rache für die Entscheidung der Nebenklägerin, die Beziehung zu ihm zu lösen. Von seinem Opfer ließ er erst ab, als sie blutüberströmt regungslos liegenblieb. Er ging nun davon aus, daß sie an den zugefügten Verletzungen entweder bereits gestorben war oder binnen kurzem sterben werde. Angesichts dessen, daß M auf den Streit und somit die Anwesenheit einer fremden Person, die noch dazu offensichtlich mit der Nebenklägerin bekannt war, aufmerksam geworden war, entschloß sich der Angeklagte, ihn als unliebsamen Zeugen auszuschalten. Er begab sich in das obere Geschoß und schlug mit dem ge-
nannten Gegenstand mehrfach so kräftig auf den Kopf M s ein, daß dieser zu keiner Abwehr mehr fähig war und mehrfache Schädelfrakturen erlitt, an denen er, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, einige Wochen später verstarb.

II.


Die Beweiswürdigung hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.
Der Angeklagte hat zum Tatvorwurf in der Hauptverhandlung geschwiegen und in einem früheren Verfahrensstadium seine Täterschaft bestritten. Zentrales Beweismittel zur Überführung des Angeklagten, das nur durch weniger gewichtige andere Beweismittel ergänzt wird, ist die Aussage der Nebenklägerin, die den Angeklagten als den Täter bezeichnet hat. Das Landgericht hat zur Entwicklung der Angaben der Nebenklägerin folgendes festgestellt: Die Nebenklägerin erlitt eine schwere Schädelfraktur und infolge von Kontusions- und hinzutretenden diffusen Hirndruckschäden eine noch heute vorliegende schwere Hirnschädigung. Sie lag lange im künstlichen Koma und konnte auch nach dessen Beendigung wegen eines künstlichen Luftröhrenausgangs zunächst nicht sprechen. In der ersten Dezemberwoche 1995 sagte die Nebenklägerin zu einer Zimmergenossin im Krankenhaus , ihr Vater meine, „T “ sei es gewesen, sie selbst könne sich aber nicht daran erinnern. Etwa zu dieser Zeit, in der sich ihr Zustand deutlich verbesserte, berichtete die Nebenklägerin gegenüber dem sie behandelnden Arzt Dr. R , sie erinnere sich allmählich an den Vorfall. Sie erzählte davon, es sei bei M gewesen. „Er“ sei gekommen. „Er“ habe oben mit M gestritten, sie sei dazwischengegangen und sei dann selbst von „ihm“ mit einer Art Schlagstock geschlagen worden. Sie beschrieb den Täter als kräftigen jungen Mann. Diese Darstellung wiederholte sie mehrfach, bis sie schließlich kurz vor dem 13. Dezember 1995 zu Dr. R sagte, der, der sie geliebt habe, sei der Täter gewesen. Er habe Geld von M gewollt. Diese Angaben wiederholte sie sinngemäß in Gegenwart des Krimi-
nalbeamten L . Erst nach der Verhaftung des Angeklagten am 13. Dezember 1995 sprach sie auch ihren Eltern gegenüber davon, daß dieser sie ü- berfallen habe. In der Hauptverhandlung hat die Nebenklägerin die gegen sie begangene Tat so geschildert, wie das Schwurgericht diese festgestellt hat.
Das Landgericht hat sich zunächst – was fern jeder Beanstandung ist – von der „Aufrichtigkeit“ der Nebenklägerin überzeugt. Es hat sodann geprüft, ob die Nebenklägerin etwa – bedingt durch ihre schwere Hirnverletzung – lediglich subjektiv davon überzeugt ist, daß ihre (letzte) Tatschilderung auf selbst Erlebtem beruht, objektiv aber irrt. Es hat hierzu vier Sachverständige aus den Bereichen Psychiatrie, Neurologie, Neurobiologie und Neuropsychologie gehört, darunter Spezialisten für Gedächtnisforschung und Hirnschäden. Es ist in der Würdigung der Gesamtheit der Angaben dieser Sachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, daß die Nebenklägerin aufgrund realer Erinnerung den Angeklagten als Täter bezeichnet habe. Dabei hat das Landgericht auch umfangreich erwogen, daß sich die Angaben , die die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung gemacht hat, erheblich von der ersten Version ihrer Tatschilderung unterscheiden. Nach der ersten Version hat der Täter „oben“, also im Obergeschoß, wo M im Bett lag, mit diesem gestritten; die Nebenklägerin sei „dazwischengegangen“ – das kann nur heißen: im Obergeschoß – und dann selbst von dem Täter mit einer Art Schlagstock geschlagen worden. Indes ergibt das Bild der massiven Blutspuren , daß der Angriff auf die Nebenklägerin im Erdgeschoß erfolgte. Daraus ergeben sich zwei Probleme, die vom Landgericht – trotz aller Umsicht im übrigen – nicht hinreichend erörtert werden:
Das Phänomen, daß die Nebenklägerin zunächst wesentlich andere Angaben zum Tatgeschehen gemacht hat als die spätere Tatschilderung, auf der die Feststellungen fußen, hat das Landgericht zwar erörtert. Es hat zur Erklärung dieser „Diskontinuität im Aussageinhalt zur Tat“ auf äußere Umstände abgestellt, die beiden von der Nebenklägerin geschilderten Versionen eigen sind, jedoch schwerlich ergeben, daß die Aussagen im „Kern doch
konstant“ seien. An dieser Stelle ist vielmehr die Erörterung zu vermissen, ob und mit welchem Ergebnis die Sachverständigen sich zu der – nach alledem zentralen – Frage geäußert haben, ob es wenigstens möglich, etwa plausibel erklärbar oder gar naheliegend ist, daß die Nebenklägerin im Zuge der Entwicklung ihrer Aussagen zunächst eine objektiv unwahre und später eine wahre Schilderung des Tatgeschehens abgegeben hat.
Es kommt hinzu, daß es ausgeschlossen erscheint, die Nebenklägerin hätte, als sie nach den erlittenen Schlägen blutüberströmt regungslos liegenblieb , den anschließenden Angriff des Täters auf M im Obergeschoß wahrgenommen. Deshalb kann – auf der Basis der Feststellungen – die erste von der Nebenklägerin gegebene Schilderung nicht zutreffen. Es bestehen hierfür nur die Erklärungsmöglichkeiten, daß diese erste Tatschilderung der Nebenklägerin auf einer Suggestion durch Dritte, auf einer von der Nebenklägerin – etwa aufgrund von Andeutungen Dritter – selbst vorgenommenen Schlußfolgerung oder sonst auf einer „Konfabulation“ beruht. Danach bleibt die – im angefochtenen Urteil unerörterte – Frage offen, ob etwa – oder warum nicht auch – die letzte von der Nebenklägerin abgegebene Tatschilderung gleichermaßen auf Suggestion, Schlußfolgerung oder Konfabulation beruhen kann. Auch in diesem Punkt ist die Mitteilung zu vermissen, ob und gegebenenfalls wie die Sachverständigen sich hierzu geäußert haben. Dies gilt namentlich angesichts dessen, daß die Bekundungen der Zeugin W , einer Mitpatientin der Nebenklägerin, eine Diskussion der Frage nahelegten, ob etwa eine Suggestion – auch durch insoweit ungezielt handelnde Dritte – stattgefunden hat.

III.


Der Senat sieht sich daher genötigt, auch das dritte in dieser Sache ergangene Urteil des Landgerichts aufzuheben. Eine Zurückverweisung der Sache zu erneuter tatgerichtlicher Prüfung ist nicht erforderlich. Vielmehr kann der Senat durch Freispruch in der Sache selbst entscheiden (§ 354
Abs. 1 StPO; vgl. BGHSt 36, 316, 319; BGH NJW 1999, 1562, 1564). Der Senat schließt aus, daß im Falle einer Zurückverweisung der Sache in einer erneuten (vierten) Hauptverhandlung die Schuld des Angeklagten festgestellt werden könnte. Dies ergibt sich aus der bestehenden Beweislage.
Das zentrale Beweismittel zur etwaigen Überführung des Angeklagten ist die Aussage der Nebenklägerin. Dieses Beweismittel ist mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Namentlich zur Bedeutung dessen im Rahmen der vom Senat an dieser Stelle zu treffenden Entscheidung hat der Senat den Sachverständigen Professor Dr. von C angehört. Danach ist insbesondere von folgendem auszugehen: Zwar können nach dem Abklingen einer posttraumatischen Amnesie und der mit ihr verbundenen Konfabulationsneigung (nebst „Fehlvorstellungen“) und nach Schrumpfung der prätraumatischen Amnesie auf die letztlich verlorene („vergessene“) Zeitspanne vor der Hirnschädigung sichere Erinnerungen grundsätzlich wiedergewonnen werden. Über deren Qualität lassen sich aber angesichts der sehr eingeschränkten Möglichkeiten, sie objektiv zu überprüfen, nur Vermutungen anstellen. Allerdings werden in der spezialmedizinischen Literatur auch Einzelfälle einer „Erinnerung an alles“ bis zum Zeitpunkt der dauerhaften Amnesie berichtet. Dennoch muß berücksichtigt werden, daß – im Vergleich zu Hirngesunden – bei Personen mit einer anterograden Amnesie wie der Nebenklägerin eine höhere Wahrscheinlichkeit für Gedächtnisfehler, -entstellungen und -illusionen besteht. Eine Schrumpfung der prätraumatischen Amnesie auf weniger als eine Minute ist nach den Ausführungen des Sachverständigen prinzipiell wohl möglich, jedoch sehr unwahrscheinlich. Hier lagen die von der Nebenklägerin bekundeten Tatrahmengeschehnisse im Bereich weniger Minuten, die gegen sie gerichtete Gewalthandlung im Bereich von Sekunden vor ihrer Gehirnverletzung. Hinzu kommt folgendes: Diejenige Tatversion der Nebenklägerin, welche – im Einklang mit dem Spurenbild am Tatort – der Verurteilung entspricht, wurde erstmals in einer Phase näher ausgeführt, in der nach den überzeugenden Bekundungen des vom Senat gehörten Sachverständigen noch eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für
eine verletzungsbedingte Konfabulationsneigung der Zeugin bestand. Nach den Gegebenheiten des Falles sind zudem Möglichkeiten für die Entstehung eines stabilisierten Scheinerinnerungsbildes nicht von der Hand zu weisen.
Eine tragfähige Stützung der Angaben des Opfers existiert nicht. Die zweifellos teils in hohem Grade parallelen Gewalttaten des Angeklagten gegen andere Partnerinnen in der Trennungssituation und gar das Verhalten des Angeklagten am Abend des Tattages im Krankenhaus stellen nur relativ schwache Indizien dar. Eine Verbesserung der Beweislage ist nicht in Aussicht. Eine weitere Vernehmung oder sachverständige Begutachtung der Nebenklägerin über die zahlreichen erfolgten Bemühungen dieser Art hinaus verspricht, wie der Sachverständige Professor Dr. von C ausgeführt hat, einen weiteren Aufklärungsgewinn nicht. Bisher ungenutzte Beweismittel stehen ersichtlich nicht zur Verfügung.

IV.


Die Entscheidung über eine Entschädigung des Angeklagten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen muß dem Landgericht überlassen bleiben. Die Prüfung, in welchem Umfang eine Entschädigung zu gewähren
ist, hat sich auf den gesamten Sachverhalt zu erstrecken, der die Strafverfol- gungsmaßnahmen ausgelöst hat. Dazu gehören auch diejenigen Verfahrensabschnitte , die nicht Gegenstand des erneuten Revisionsverfahrens waren (vgl. BGH NJW 1999, 1562, 1564).
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(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.

(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt.

(2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, kann wegen vorsätzlicher Begehung nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 450/10
vom
1. März 2011
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers
und des Generalbundesanwalts am 1. März 2011 gemäß § 349 Abs. 4
StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 12. Mai 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt , deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
1. Die lückenhaften Feststellungen tragen nicht den Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB).
3
a) Dem Angeklagten mussten im Jahre 2005 wegen arterieller Durchblutungsstörungen am rechten Bein ein Bypass gelegt und zwei Zehen amputiert werden. Seitdem ist er auf die Einnahme blutgerinnungshemmender Medikamente angewiesen. Gleichwohl wurden in der Folge an der Arteria fermoralis superficialis langstreckige Verschlüsse und ein teilthrombosiertes Aneurisma mit einem Durchmesser von ca. 5 cm diagnostiziert, die dringend der operativen Behandlung bedürfen.
4
Der als unauffällig und ruhig beschriebene Angeklagte wohnte in einem größeren Wohnkomplex in B. , in welchem es regelmäßig zu Ruhestörungen , Körperverletzungen, Drogendelikten und entsprechenden Polizeieinsätzen kam. Auf derselben Etage wohnte auch der als Hausmeister fungierende Zeuge W. , zu dem er ein von gegenseitigem Verständnis geprägtes Verhältnis hatte.
5
In der Tatnacht gegen 23.00 Uhr vernahm der nach dem Konsum von acht Flaschen Bier alkoholisierte Angeklagte erheblichen Lärm aus der Wohnung des Zeugen W. , in der sich mehrere Personen aufhielten, die bei offener Wohnungstür Alkohol und Drogen konsumierten, grölten und laute Musik spielten. Auf die Bitte des Angeklagten sorgte der Zeuge W. für Ruhe, worauf der Angeklagte sich schlafen legte. Gegen 0.45 Uhr erwachte der Angeklagte , weil erneut laute Musik aus der geöffneten Wohnungstür des Zeugen W. drang. Schlaftrunken und erheblich verärgert entschloss sich der Angeklagte , dessen Wohnung aufzusuchen, um für Ruhe zu sorgen und nötigenfalls den Stecker der Musikanlage zu ziehen. Die Einschaltung der Polizei hielt er nicht für angebracht, weil er mit dem Zeugen stets hatte reden können. Im Bewusstsein der erlebten Polizeieinsätze und aus Angst vor den unbekannten Gästen des Zeugen steckte er zu seinem Schutz ein zusammengeklapptes Taschenmesser mit einer 7 cm langen, spitz zulaufenden Klinge in die vordere Tasche der von ihm getragenen Jogginghose.
6
Der Zeuge W. war indes nach Alkoholkonsum zwischenzeitlich eingeschlafen. In dessen Wohnung fand der Angeklagte lediglich noch die Zeugen Br. und Bi. ansprechbar. Im Wohnungsflur stehend forderte er den Zeugen Br. auf, die Musik leiser zu stellen. Dieser trat auf den Angeklagten zu, verwickelte ihn zunächst in eine verbale Auseinandersetzung und versuchte schließlich, ihn aus der Wohnung zu drängen. Hieraus entwickelte sich "ein Handgemenge und ein Schubsen". Nun entschloss sich der im Wohnzimmer befindliche Zeuge Bi. , in das Geschehen "einzugreifen". Er stand auf und "schoss regelrecht" am Zeugen Br. vorbei in Richtung des Angeklagten, wobei er "mit den Armen gestikulierte". Obwohl die beiden Zeugen "zu keinem Zeitpunkt" beabsichtigten, den Angeklagten, der die Wohnung nicht freiwillig verlassen wollte, zu schlagen oder zu verletzen, fühlte dieser sich nun bedroht. Er fürchtete, gewaltsam aus der Wohnung des Zeugen W. "herauskatapultiert" zu werden und infolge dessen zu stürzen oder gegen die Wand des Etagenflurs zu prallen, was ihm wegen seines Gesundheitszustandes Angst bereitete. Er "meinte", einem solchen Angriff durch ungezielte Messerstiche in Richtung der Zeugen "begegnen zu dürfen". Deshalb zog er das Klappmesser hervor , öffnete es gleichzeitig und stach in unmittelbarer zeitlicher Abfolge zweimal ungezielt, aber heftig in Richtung der Zeugen. Der Zeuge Bi. wurde an der linken Halsseite getroffen und erlitt dort eine etwa 3 cm tiefe Stichwunde. Der Zeuge Br. erhielt einen Stich in den rechten Oberbauch, der zwischen den Leberlappen hindurchging.
7
b) Das Landgericht ist der Ansicht, der Angeklagte habe rechtswidrig gehandelt , weil er sich nicht auf eine Notwehrlage (§ 32 StGB) habe berufen könne. Die Zeugen hätten keinen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf ihn geführt , sondern nur versucht, ihn aus der Wohnung des Zeugen W. zu drängen. Hierzu seien sie berechtigt gewesen, weil sich der Angeklagte dort ohne Erlaubnis des Inhabers aufgehalten habe. Zwar habe der Angeklagte in Putativnotwehr gehandelt, weil er irrig angenommen habe, er werde nun - mit der möglichen Folge erheblicher Verletzungen - aus der Wohnung "herauskatapultiert". Putativnotwehr müsse sich jedoch im Rahmen dessen halten, was bei gegebener Notwehrlage gerechtfertigt wäre. Die Messerstiche seien aber bereits nicht das mildeste Mittel gewesen, um den (befürchteten) Angriff abzuwehren ; der Angeklagte hätte den unbewaffneten Zeugen den Einsatz des Messers zunächst androhen müssen. Jedenfalls seien sie aber nicht geboten gewesen, da sie in einem krassen Missverhältnis zu dem vom Angeklagten als gefährdet angesehenen Rechtsgut stünden. Auf eine Überschreitung der Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken könne sich der Angeklagte nicht berufen, da § 33 StGB im Falle bloßer Putativnotwehr keine Anwendung finde.
8
c) Diese Erwägungen sind nicht frei von Rechtsfehlern.
9
aa) Entgegen der Ansicht des Landgerichts befand sich der Angeklagte auch objektiv insoweit in einer Notwehrlage, als der Zeuge Br. versuchte, ihn mittels körperlicher Gewalt zum Verlassen der Wohnung des Zeugen W. zu zwingen, denn hierdurch hat er den Angeklagten rechtswidrig angegriffen (§ 240 StGB; § 32 Abs. 2 StGB). Das Handeln des Zeugen Br. war insbesondere nicht durch Nothilfe zugunsten des Zeugen W. gerechtfertigt, denn der Angeklagte ist weder widerrechtlich in dessen Wohnung eingedrungen noch hat er unberechtigt darin verweilt (§ 123 Abs. 1 StGB). Inhaber des Hausrechts war der Zeuge W. . Dass dessen Wille einem Betreten seiner Wohnung durch den Angeklagten aus gegebenem Anlass entgegenstand, hat das Landgericht nicht festgestellt. Angesichts des Verhaltens des Zeugen W. anlässlich der vorangegangenen Ruhestörung und seines sachlichen Verhältnisses zum Angeklagten liegt dies auch nicht nahe. Schon deshalb konnte die vom Zeugen Br. als Drittem (vgl. hierzu Fischer, StGB, 58. Aufl., § 123 Rn. 29) an den Angeklagten gerichtete Aufforderung, die Wohnung zu verlassen, rechtlich keine Wirkung entfalten.
10
In einer objektiven Notwehrlage befand sich der Angeklagte naheliegend aber auch gegenüber dem Zeugen Bi. . Zwar hat das Landgericht nicht ausdrücklich festgestellt, mit welchem Ziel sich dieser dazu entschloss, in das Geschehen "einzugreifen", jedoch geht es nach dem Gesamtzusammenhang des Urteils von der nahe liegenden Annahme aus, er habe den Zeugen Br. bei der Entfernung des Angeklagten aus der Wohnung körperlich unterstützen wollen (s. insbes. UA S. 13).
11
bb) Danach irrte der Angeklagte entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht über die tatsächlichen Voraussetzungen einer Notwehrlage. Vielmehr schloss er aus dem Eingreifen des Zeugen Bi. irrig auf eine unmittelbar bevorstehende Intensivierung des bereits in Gang befindlichen rechtswidrigen Angriffs , der er durch den bislang geleisteten bloßen körperlichen Widerstand nicht mehr begegnen zu können glaubte.
12
(1) Hält sich der Angegriffene in einem solchen Falle im Rahmen dessen, was in der von ihm angenommenen Situation zur Abwendung des Angriffs objektiv erforderlich und geboten gewesen wäre, so beurteilt sich sein Handeln zunächst allein nach den Grundsätzen des Erlaubnistatbestandsirrtums. Seine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung ist nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgeschlossen. Bei Vermeidbarkeit des Irrtums kommt gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB die Bestrafung wegen einer Fahrlässigkeitstat in Betracht (Fischer aaO § 16 Rn. 22; § 32 Rn. 51). Zu prüfen bleibt dann indes, ob der (vermeidbare ) Irrtum auf einem der in § 33 StGB genannten asthenischen Affekte - Verwirrung , Furcht oder Schrecken - beruht, denn hierdurch entfiele schuldhaftes Handeln. Anders als in dem Fall, dass der Täter die Fortsetzung eines bereits beendeten Angriffs annimmt (hierzu BGH, Urteil vom 24. Oktober 2001 - 3 StR 272/01, NStZ 2002, 141), ist die Anwendung dieser Vorschrift nicht ausgeschlossen , denn die objektive Notwehrlage dauert fort (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juli 1986 - 3 StR 269/86, NStZ 1987, 20).
13
Ist sich der Angegriffene demgegenüber bewusst, dass seine Verteidigungshandlung über das hinausgeht, was zur Abwehr des (angenommenen) Angriffs im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB erforderlich gewesen wäre, so bleibt es bei einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat. Indes kommt ihm auch in diesem Falle der Schuldausschließungsgrund des § 33 StGB dann zugute, wenn er aus den in der Vorschrift genannten Gründen zur Überschreitung der Grenzen der Notwehr hingerissen worden ist (BGH, Beschluss vom 21. Juni 1989 - 3 StR 203/89, NStZ 1989, 474; Fischer aaO § 33 Rn. 8).
14
(2) Welche der genannten Möglichkeiten vorliegend in Betracht kommt, lässt sich anhand der Feststellungen nicht abschließend beurteilen.
15
Ob die Messerstiche im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB erforderlich gewesen wären, um einen Angriff abzuwehren, wie der Angeklagte ihn befürchtete, kann der Senat mangels zureichender Darlegungen zur inneren Tatseite nicht überprüfen. Zwar geht das Landgericht zutreffend davon aus, dass der Einsatz einer lebensgefährlichen Waffe jedenfalls gegenüber einem unbewaffneten Angreifer grundsätzlich zunächst anzudrohen ist. Indes teilt es nicht mit, ob der Angeklagte überhaupt von einer Kampflage ausging, in der es noch möglich und Erfolg versprechend gewesen wäre, zunächst mit dem Messer zu drohen (hierzu Fischer aaO § 32 Rn. 33 mwN). Angesichts der Feststellung, der Zeuge Bi. sei regelrecht auf den Angeklagten zugeschossen, versteht sich dies nicht von selbst.
16
Der Auffassung des Landgerichts, die Messerstiche wären jedenfalls nicht im Sinne von § 32 Abs. 1 StGB geboten gewesen, kann sich der Senat nicht anschließen. Der Angegriffene muss von einer erforderlichen Verteidigungshandlung nicht bereits dann absehen, wenn zwischen der dem Angreifer dadurch drohenden Rechtsgutverletzung und dem angegriffenen eigenen Rechtsgut ein Ungleichgewicht besteht. Rechtsmissbräuchlich und damit nicht mehr geboten ist eine Verteidigungshandlung vielmehr erst dann, wenn die jeweils bedrohten Rechtsgüter zueinander in einem unerträglichen Missverhältnis stehen, etwa wenn die - wie hier - Leib oder Leben des Angreifers gefährdende Handlung der Abwehr eines evident bagatellhaften, bloßem Unfug nahe kommenden Angriffs dient (vgl. Fischer aaO § 32 Rn. 39). Bei dem vom Angeklagten befürchteten "Hinauskatapultieren" mit der Gefahr nicht unerheblicher Verletzungen infolge eines Sturzes oder eines Aufpralls auf der Wand kann davon keine Rede sein.
17
2. Unabhängig davon hat der Schuldspruch auch deshalb keinen Bestand , weil die Feststellungen nicht die Annahme des Landgerichts tragen, der Angeklagte sei bei der Begehung der ihm vorgeworfenen Tat schuldfähig gewesen (§ 20 StGB).
18
Sachverständig beraten hat das Landgericht festgestellt, dass der aus dem Schlaf gerissene Angeklagte zur Tatzeit infolge einer Blutalkoholkonzentration von 1,66 ‰ und eines beträchtlichen Erregungszustandes "in der Fähigkeit, das Unrecht seiner Handlungen einzusehen und nach der Einsicht zu handeln, erheblich eingeschränkt" war. Ist indes die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen, erheblich vermindert, so kommt es für die Beurteilung seiner Schuldfähigkeit entscheidend darauf an, ob ihm deswegen diese Einsicht fehlt oder ob er gleichwohl über sie verfügt. Hat der Täter nicht die Einsicht in das Unerlaubte seines Handelns und kann ihm dies auch nicht vorgeworfen werden, so handelt er nach § 17 Satz 1 StGB ohne Schuld (vgl. Fischer aaO § 21 Rn. 3 mwN). Dazu, ob der Angeklagte ungeachtet der festgestellten erheblichen Beeinträchtigung seiner Einsichtsfähigkeit das Unerlaubte seines Handelns erkannte, verhält sich das Urteil nicht.
19
3. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird - nötigenfalls unter Heranziehung des Zweifelssatzes - sowohl den objektiven Sachverhalt als auch die subjektiven Vorstellungen des Angeklagten genauer festzustellen haben, um eine ausreichende Grundlage für die Bewertung zu schaffen, ob die Tat des Angeklagten gerechtfertigt oder entschuldigt ist.
Becker Pfister Hubert Schäfer Mayer

(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt.

(2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, kann wegen vorsätzlicher Begehung nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden.