Bundesgerichtshof Urteil, 11. Dez. 2001 - 1 StR 408/01
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Gründe:
Der Angeklagte wurde wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Seine auf die Sachrüge und eine Verfahrensrüge gestützte Revision bleibt erfolglos.
1. Folgendes ist festgestellt:
Der Angeklagte hielt sich häufig im Obdachlosenmilieu auf, wo er als spendabel geschätzt wurde. Auch am 5. September 2000 hatte er mit G. V. , E. D. und anderen Bekannten den ganzen Tag im Freien gezecht, wobei er die Getränke bezahlt hatte. Am Spätnachmittag forderte er E. D. mit den Worten: "Du Schlampe gehst jetzt einkaufen !" auf, weitere Getränke zu besorgen und schwenkte dabei vor ihrem Gesicht ein "Bowie-Messer" (Klingenlänge 15,5 cm). V. trat an ihn heran,
und erklärte ihm, daß er - der Angeklagte - seine - V. s - Verlobte nicht als Schlampe zu bezeichnen habe und gab ihm dabei einen leichten Schlag ins Gesicht. Daraufhin beschwichtigte der Angeklagte, es sei schon alles in Ordnung. Für kurze Zeit kehrte darauf Ruhe ein; E. D. entfernte sich, während V. beim Angeklagten stehen blieb.
Plötzlich und unerwartet stieß der Angeklagte das Messer, das er immer noch in der Hand gehalten hatte, V. in horizontaler Stichführung mit einem kräftigen und gezielten Stich in die linke Brust. V. brach sofort zusammen. Mit den Worten: "Ich kann noch mehr!" stach der Angeklagte noch zweimal auf den zusammenbrechenden V. ein und fügte ihm zwei weitere (oberflächliche ) Verletzungen im Bereich des Schulterblatts und des Oberarms zu. Als die völlig überraschte E. D. laut um Hilfe rief, trat der Angeklagte beiseite. Kurz darauf wurde er noch am Tatort festgenommen. Bei seiner Festnahme erklärte er gegenüber den Polizeibeamten, mehrfach auf V. eingestochen zu haben; wörtlich sagte er unter anderem: "Wenn er verreckt, hat er Pech gehabt. .... Die Alte ist schuld, der G. kann nichts dafür."
V. , der eine Herzmuskelverletzung im Bereich des rechten Ventrikels erlitten hatte, konnte nur durch eine Notoperation gerettet werden.
2. Der Generalbundesanwalt und die Revision meinen im wesentlichen übereinstimmend, die Strafkammer habe den Tötungsvorsatz allein aus dem äußeren Tatgeschehen geschlossen und damit nicht rechtsfehlerfrei festgestellt. Zwar liege es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. hierzu zusammenfassend nur Eser in Schönke/Schröder StGB, 26. Aufl. § 212 Rdn. 5 m.w.N.) bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen nahe, daß der Tä-
ter mit der Möglichkeit des Todes seines Opfers rechne und diesen Erfolg auch billigend in Kauf nehme, wenn er sein Verhalten gleichwohl fortsetze. Im Hinblick auf die hohe Hemmschwelle gegenüber einer Tötung könne es aber im Einzelfall auch so sein, daû der Täter die Gefahr des Todes entweder nicht erkenne, oder zumindest ernsthaft - nicht nur vage - darauf vertraue, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten. Die für die Bejahung eines Tötungsvorsatzes erforderliche Gesamtwürdigung aller Umstände sei nicht vorgenommen, insbesondere habe sich die Strafkammer nicht mit dem Fehlen eines nachvollziehbaren Motivs für eine so schwer wiegende Straftat auseinandergesetzt, und auch nicht geprüft, ob der Angeklagte trotz seiner erheblichen Alkoholisierung (die zur Bejahung der Voraussetzungen von § 21 StGB führte) erkennen konnte, daû er einen möglicherweise tödlichen Stich setzte.
3. Der Senat sieht keinen durchgreifenden Rechtsfehler.
Angesichts der Feststellungen nicht nur zum Tat-, sondern auch zum Nachtatgeschehen (zu deren Bedeutung vgl. Eser aaO) waren weitere Ausführungen zu Erkenntnisfähigkeit, Hemmschwelle und dem voluntativen Element des Vorsatzes jedenfalls nicht zwingend geboten.
Es mag dahinstehen, unter welchen konkreten Umständen trotz eines aus nächster Nähe geführten kräftigen Messerstichs in die Herzregion von einem mehr als allenfalls vagen Vertrauen auf das Ausbleiben eines tödlichen Erfolgs ausgegangen werden kann oder sonst Zweifel am Tötungsvorsatz bestehen können (vgl. BGH NStZ 1999, 507; vgl. zusammenfassend auch Altvater , Rechtsprechung des BGH zu den Tötungsdelikten, NStZ 2001, 19, NStZ 2000, 18, 19 ). Hier hat der Angeklagte mit einem Messerstich in den Oberkör-
per nicht nur eine generell äuûerst gefährliche Handlung vorgenommen, sondern er hat auf die Herzregion gezielt, also willentlich gerade dorthin gestochen. Dies spricht für einen zumindest bedingten Tötungsvorsatz (vgl. BGHSt 39, 168, 181), dem der Umstand, daû er auf den zusammenbrechenden V. nach dem ersten Stich noch weiter eingestochen hat, nicht entgegensteht.
Die schon genannte Äuûerung, es sei Pech für V. , wenn er "verrekke" , spricht in ihrem Zusammenhang auch nicht etwa dafür, daû der Angeklagte den Tod V. s als unglückliche und von ihm eigentlich ungewollte Folge seines Verhaltens angesehen hätte. Vielmehr zeigt seine Äuûerung, daû V. nichts "dafür" könne und über die "Schuld" der "Alten", daû das "Pech" V. s darin liege, daû er wegen des Stichs möglicherweise sterben müsse, obwohl er selbst aus der Sicht des Angeklagten keinen Anlaû zu dem Stich gegeben hatte. Unter diesen Umständen waren auch Erwägungen dazu, daû sich aus dem Verhältnis zwischen V. und dem Angeklagten kein Grund für ein Tötungsdelikt erkennen läût, nicht geboten.
4. Hinsichtlich des Vorsatzes macht die Revision darüber hinaus mit einer Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) geltend, der gehörte Sachverständige sei nicht zur Auswirkung des Alkohols auf die Willensbildung befragt worden. Wäre dies geschehen, wäre ein Schuldspruch allein wegen gefährlicher Körperverletzung zumindest nicht auszuschlieûen gewesen. Auch unbeschadet der Fragen, unter welchen Voraussetzungen eine Aufklärungsrüge auf die Nichtausschöpfung eines Beweismittels gestützt werden kann (vgl. hierzu Kukkein in KK 4. Aufl. § 344 Rdn. 53 m.w.N.) und ob das nach Auffassung der Revision von der unterbliebenen Beweiserhebung zu erwartende Beweisergebnis hinreichend bestimmt mitgeteilt ist (vgl. hierzu Kuckein aaO Rdn. 51 m.w.N.),
geht diese Rüge ins Leere. Angesichts der gesamten Feststellungen zu dem Verhalten des Angeklagten brauchte sich die Strafkammer zu weiteren Beweiserhebungen über die Auswirkungen des Alkohols auf den Vorsatz des (zwar stark alkoholisierten, aber auch in hohem Maûe alkoholgewohnten) Angeklagten nicht gedrängt zu sehen.
5. Auch im übrigen hat die auf Grund der Revisionsrechtfertigung gebotene Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Ergänzend ist lediglich zu bemerken, daû die von der Revision vermiûte nähere Erörterung einer Unterbringung gemäû § 64 StGB nicht geboten war. Der Angeklagte neigt zwar zu Alkoholmiûbrauch - von dem er sich, anders als weitgehend von seinem früheren Drogenkonsum - auch nicht gelöst hat und er ist häufig vorbestraft. Seit 1996 wurde er jedoch nur mit Geldstrafen belegt, neben Drogendelikten vor allem wegen Beförderungserschleichung und Diebstahl. Ein Zusammenhang mit seiner Neigung zum Alkoholmiûbrauch ist hier jedoch ebenso wenig zu erkennen, wie bei seinen früheren, in den Urteilsgründen näher geschilderten, inzwischen mehr als zehn Jahre zurückliegenden
schwerwiegenderen Straftaten. § 64 StGB eröffnet nicht allgemein die Unterbringung behandlungsbedürftiger Täter; die Maûnahme ist vielmehr abhängig von der künftigen Entwicklung des Angeklagten als Straftäter (BGH StV 1996, 538 m.w.N.). Anhaltspunkte für die Gefahr weiterer hangbedingter erheblicher Straftaten sind jedoch weder aus den Urteilsgründen noch sonst erkennbar.
Schäfer Wahl Boetticher Schluckebier Kolz
Annotations
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.
(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.
(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn
- 1.
eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist, - 2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist, - 3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist, - 4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist, - 5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder - 6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.
(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.
(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.
(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.
Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.