Bundesgerichtshof Urteil, 24. Jan. 2006 - 1 StR 362/05

24.01.2006

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 362/05
vom
24. Januar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
24. Januar 2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Boetticher,
Dr. Kolz,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Nebenklägervertreterin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 17. März 2005
a) im Schuldspruch hinsichtlich des Falls B. 1. der Urteilsgründe aufgehoben; die Feststellungen bleiben aufrechterhalten mit Ausnahme der Feststellungen zur Tatzeit,
b) im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen. 3. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin werden verworfen. 4. Die Staatskasse trägt die durch das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft entstandenen Kosten und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen. 5. Die Nebenklägerin trägt ihre notwendigen Auslagen. 6. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels des Angeklagten, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen (B. 1. und 2. der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Soweit dem Angeklagten im Fall B. 1. tateinheitlich eine Vergewaltigung zur Last gelegt worden war, hat die Jugendkammer die hierfür erforderliche Gewaltanwendung nicht für nachgewiesen erachtet. Von dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in elf Fällen, davon in vier Fällen in Tateinheit mit Vergewaltigung (Fälle C. 1. und 2. sowie im Fall C. 3. der Urteilsgründe), hat die Jugendkammer den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
2
Der Angeklagte wendet sich mit seiner auf eine Verfahrensrüge und die Sachrüge gestützten Revision gegen seine Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen. Mit ihrer auf die Fälle B. 1. und C. 3. der Urteilsgründe beschränkten Revision, die sie auf die Sachrüge stützt, wendet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, dass der Angeklagte im Fall B. 1. nicht auch wegen Vergewaltigung verurteilt wurde. Außerdem greift sie den Freispruch vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in vier Fällen jeweils in Tateinheit der Vergewaltigung im Fall C. 3. (Tatzeiten: Sommer 1997) an. Die Revision der Nebenklägerin richtet sich gegen das Urteil, soweit der Angeklagte freigesprochen wurde. Die Revision des Angeklagten führt im Fall B. 1. zur Aufhebung des Schuldspruchs und des Strafausspruchs; im Übrigen ist sie unbegründet. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin sind nicht begründet.

A.

3
Revision des Angeklagten
4
I. Die Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte im Fall B. 1. die Verletzung der Hinweispflicht nach § 265 StPO rügt, ist aus den Gründen, die der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift angeführt hat, unbegründet.
5
II. Die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge führt im Fall B. 1. der Urteilsgründe zur Aufhebung des Schuldspruchs; im Übrigen hat sie keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
6
1. Im Fall B. 1. hat sich die Jugendkammer nicht davon überzeugen können , dass der Angeklagte mit der Geschädigten im Jahr 1998 nicht nur den Geschlechtsverkehr durchgeführt, sondern dabei Gewalt angewendet hat, indem er die Hände der Geschädigten seitlich am Kopf festhielt und aufs Bett drückte. Das ist hinzunehmen. Der Senat hebt jedoch den Schuldspruch wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen auf, weil die Strafkammer bisher keine näheren Feststellungen zum genauen Tatzeitpunkt getroffen hat. Das ist geboten , weil auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen in Betracht kommt, dass der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen verjährt ist. Die Jugendkammer hat als Tatzeit einen Tag "im November bzw. Dezember 1998" angenommen. Die erste die Verjährung unterbrechende Maßnahme war die Bekanntgabe der Tatvorwürfe durch die am 3. November 2003 verfügte Gewährung von Akteneinsicht. Das Gesuch des Verteidigers um Akteneinsicht vom 26. Juni 2003 (GA Band I S. 73) reicht demgegenüber nicht aus.
7
Der Senat kann über die Frage der Verjährung jedoch nicht abschließend entscheiden. Ausgehend von ihrem Standpunkt hatte die Strafkammer keinen Anlass, die Tatzeit näher einzugrenzen. Es erscheint aber möglich, dass die neu zur Entscheidung berufene Kammer die Tatzeit genauer bestimmen kann, so dass die Verjährung doch rechtzeitig unterbrochen wurde. Deshalb hat der Senat die Sache insoweit zurückverwiesen mit der Maßgabe, dass die im Fall B. 1. getroffenen Feststellungen aufrechterhalten bleiben mit der Ausnahme der Feststellungen zum genauen Tatzeitpunkt. Ist eine weitere Aufklärung nicht möglich, wird die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer zu Gunsten des Angeklagten davon ausgehen müssen, dass die Tat auch am 1. oder am 2. November 1998 - beide Tage liegen innerhalb des vom Landgericht bisher angenommenen Tatzeitraums - begangen worden sein kann und damit verjährt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2005 - 4 StR 82/05). § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB findet auf Taten keine Anwendung, die bereits vor Inkrafttreten dieser Vorschrift am 1. April 2004 verjährt waren (BGH NStZ 2005, 89).
8
2. Die Feststellungen tragen im Fall B. 2. (Vorfall vom 28. Februar 1999) die Verurteilung des Angeklagten und die Annahme eines zwischen dem Angeklagten und dem Tatopfer C. F. bestehenden Obhutsverhältnisses im Sinne des § 174 StGB. Zwar lässt sich nicht von jeder häuslichen Gemeinschaft darauf schließen, dass regelmäßig auch ein Verantwortungsverhältnis gegenüber Minderjährigen vorliegt. Den Urteilsgründen ist jedoch hinreichend zu entnehmen , dass dem Angeklagten im Rahmen des Zusammenlebens die Mitverantwortung bei der Erziehung der Töchter C. und Ch. seiner Lebensgefährtin eingeräumt war, er Verbote und Erlaubnisse erteilen und Strafen verhängen konnte. Dies reicht aus, um anzunehmen, dass C. F. dem Angeklagten zur Erziehung und Betreuung in der Lebensführung anvertraut war.

B.

9
Revision der Staatsanwaltschaft
10
Die Überprüfung des Urteils in den Fällen B. 1. und C. 3. der Urteilsgründe , auf die die Staatsanwaltschaft ihr Rechtmittel beschränkt hat, hat nicht ergeben , dass das Landgericht überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat.
11
I. Fall B. 1.: Vorfall November/Dezember 1998
12
Die Jugendkammer hat sich nicht davon überzeugen können, dass der als Missbrauch von Schutzbefohlenen abgeurteilte Geschlechtsverkehr im November /Dezember 1998 auch unter der Anwendung von Gewalt erfolgte. Das ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie hat insoweit nicht übersehen, dass die Zeugin C. F. bei der Vernehmung beim Landgericht schilderte , sich gewehrt zu haben, weshalb der Anklagte gewaltsam in sie eingedrungen sei. Demgegenüber hatte aber die Zeugin, als sie sich erstmals offenbarte und der Zeugin Sch. im Frauenhaus anvertraute, bei der Schilderung der "Vergewaltigung" eine Gewaltanwendung durch den Angeklagten nicht nur nicht erwähnt, sondern ausdrücklich verneint. Insoweit greift die Argumentation der Staatsanwaltschaft, es habe sich damals nicht um polizeiliche Vernehmungen gehandelt, weshalb für eine detaillierte Aufklärung des Sachverhalts kein Anlass bestanden habe, nicht durch. Wenn die Jugendkammer aufgrund dieser Widersprüche sich nicht von einem gewaltsam erzwungenen Geschlechtsverkehr überzeugen konnte, musste dies vom Senat hingenommen werden. Dies gilt umso mehr, als die Zeugin von der Kammer mit noch vertretbarer Begründung als insgesamt problematisch bewertet wurde, weil sie gegenüber dem Angeklagten ein erhebliches Verfolgungsinteresse zeigte.
13
II. Fall C. 3.: Vorfall in den Sommerferien 1997
14
Die Beweiswürdigung enthält auch insoweit keinen Rechtsfehler, als die Kammer den Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Vergewaltigung in vier Fällen in den Sommerferien 1997 freigesprochen hat.
15
1. Allerdings geht die Revision im Ansatz zu Recht davon aus, dass ein freisprechendes Urteil grundsätzlich neben den dem Angeklagten vorgeworfenen Taten auch eine geschlossene Darstellung derjenigen Tatsachen zu enthalten hat, die das Gericht in Bezug auf den erhobenen Schuldvorwurf als erwiesen erachtet (BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 2, 7, 10).
16
Diese Anforderungen können jedoch nicht schematisch angewendet werden (BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 12). Aus der Gesamtheit der Urteilsgründe kann der Senat herleiten, dass die Jugendkammer davon ausgegangen ist, der Angeklagte und die Zeugin C. F. hätten tatsächlich während der Sommerferien 1997 in der Werkstatt des Zeugen E. gearbeitet. Ferner ist den Feststellungen zu entnehmen, das Landgericht habe die von der Zeugin erhobenen Vergewaltigungsvorwürfe zwar durchaus für möglich gehalten, es habe aber Zweifel nicht überwinden können.
17
2. Der von der Staatsanwaltschaft angeführte Widerspruch über die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage im Hinblick auf einen länger andauernden Missbrauch besteht ebenfalls nicht. Denn soweit die Jugendkammer die bereits 1999 gemachten Angaben für glaubhaft gehalten hat, betrafen diese nur allgemein den sexuellen Missbrauch durch den Angeklagten in dem Zeitraum ab Herbst 1997. Auch bei Erwägung eines bei C. F. möglicherweise vorliegenden Irrtums über den Tatzeitraum und Einbeziehung der Möglichkeit, dass der Missbrauch bereits im Sommer 1997 begonnen haben könnte, darf nicht verkannt werden, dass die Geschädigte 1999 über die Tatsache des sexuellen Missbrauchs hinaus ein konkretes Tatgeschehen nicht geschildert hat. Der Schluss der Jugendkammer, die "Vergewaltigungen" im Sommer 1997 könnten erfunden sein, steht daher nicht in Widerspruch dazu, dass die Jugendkammer der Zeugin geglaubt hat, schon seit längerem vom Angeklagten sexuell missbraucht worden zu sein.
18
Aus dem gleichen Grund dringen auch die weiteren Erwägungen der Revision , die einen länger andauernden sexuellen Missbrauch betreffen, (RB S. 9), nicht durch. Sowohl der Umstand, dass nach Auffassung der Jugendkammer der Angeklagte auch die Schwester von C. F. , die Zeugin Ch. F. , missbraucht habe, wie auch die auf eine zweifelhafte Lebenserfahrung gestützte Erwägung, dass im Falle des Missbrauchs dem Geschlechtsverkehr regelmäßig sexuelle Handlungen von geringerem Gewicht vorausgehen würden, deuten nur allgemein auf einen sexuellen Missbrauch vor den zur Verurteilung führenden Taten hin. Einen höheren Beweiswert und ein Indiz für einen direkten Zusammenhang mit den konkreten, erstmals im Jahre 2003 geschilderten , den Sommer 1997 betreffenden Vorwürfen mehrerer Vergewaltigungen lässt sich daraus nicht herleiten.

C.

19
Revision der Nebenklägerin
20
Die Revision, mit der die Nebenklage über die Beanstandungen der Staatsanwaltschaft hinaus eine Verurteilung auch wegen der Taten erstrebt, wegen derer der Angeklagte freigesprochen wurde, hat keinen Erfolg. Hinsichtlich der Vorwürfe C. 1. und C. 2. ist Verfolgungsverjährung eingetreten. Soweit die Nichtverurteilung im Fall C. 3. beanstandet wird, dringen die Verfahrensrüge und die Sachrüge nicht durch.
21
I. Soweit die Nebenklägerin die fehlende Belehrung der Mutter der Geschädigten nach § 52 StPO rügt, M. F. ist die Verlobte des Angeklagten , hat die Verfahrensrüge keinen Erfolg. Die Verletzung der Belehrungspflicht nach § 52 Abs. 3 StPO kann die Nebenklägerin nicht rügen. Die Vorschrift des § 52 StPO trägt ihrem Normzweck nach der besonderen Lage eines Zeugen Rechnung, der als Angehöriger des Beschuldigten der Zwangslage ausgesetzt sein kann, seinen Angehörigen belasten oder die Unwahrheit sagen zu müssen (KK-Senge, StPO 5. Aufl. § 52 Rdn. 1).
22
II. Die im Wege der Sachrüge geführten Angriffe auf die Beweiswürdigung bleiben ebenfalls ohne Erfolg. Insoweit verweist der Senat auf die Ausführungen zur Revision der Staatsanwaltschaft.

D.


23
Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall B. 1. führt zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs. Der Senat hebt auch die Einzelstrafe im Fall B. 2. auf, weil nicht auszuschließen ist, dass der Schuldumfang bei dieser Tat geringer zu gewichten ist, wenn der neue Tatrichter nur noch zu einer Verurteilung in diesem Fall gelangt, falls die Tat im Fall B. 1. verjährt sein sollte, auch wenn die verjährte Tat strafschärfend herangezogen werden darf.
Nack Wahl Boetticher Kolz Elf

ra.de-Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 24. Jan. 2006 - 1 StR 362/05

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Urteil, 24. Jan. 2006 - 1 StR 362/05

Referenzen - Gesetze

Bundesgerichtshof Urteil, 24. Jan. 2006 - 1 StR 362/05 zitiert 6 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 265 Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder der Sachlage


(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gel

Strafprozeßordnung - StPO | § 267 Urteilsgründe


(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese

Strafgesetzbuch - StGB | § 174 Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen


(1) Wer sexuelle Handlungen 1. an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist,2. an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm im Rahmen eines Ausbildungs-, Dienst- oder Arbeitsver

Strafprozeßordnung - StPO | § 52 Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen des Beschuldigten


(1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt 1. der Verlobte des Beschuldigten;2. der Ehegatte des Beschuldigten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht;2a. der Lebenspartner des Beschuldigten, auch wenn die Lebenspartnerschaft nicht mehr besteh

Strafgesetzbuch - StGB | § 78b Ruhen


(1) Die Verjährung ruht 1. bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,2. solange nach dem Gesetz d

Referenzen

(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist.

(2) Ebenso ist zu verfahren, wenn

1.
sich erst in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben, welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung einer Maßnahme oder die Verhängung einer Nebenstrafe oder Nebenfolge rechtfertigen,
2.
das Gericht von einer in der Verhandlung mitgeteilten vorläufigen Bewertung der Sach- oder Rechtslage abweichen will oder
3.
der Hinweis auf eine veränderte Sachlage zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich ist.

(3) Bestreitet der Angeklagte unter der Behauptung, auf die Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu hervorgetretene Umstände, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen den Angeklagten zulassen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten oder die zu den in Absatz 2 Nummer 1 bezeichneten gehören, so ist auf seinen Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen.

(4) Auch sonst hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Hauptverhandlung auszusetzen, falls dies infolge der veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung der Anklage oder der Verteidigung angemessen erscheint.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

(1) Wer sexuelle Handlungen

1.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist,
2.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm im Rahmen eines Ausbildungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter Missbrauch einer mit dem Ausbildungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnis verbundenen Abhängigkeit oder
3.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling ist oder der seines Ehegatten, seines Lebenspartners oder einer Person, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt,
vornimmt oder an sich von dem Schutzbefohlenen vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Ebenso wird bestraft, wer unter den Voraussetzungen des Satzes 1 den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, dass er sexuelle Handlungen an oder vor einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt.

(2) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird eine Person bestraft, der in einer dazu bestimmten Einrichtung die Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung von Personen unter achtzehn Jahren anvertraut ist, und die sexuelle Handlungen

1.
an einer Person unter sechzehn Jahren, die zu dieser Einrichtung in einem Rechtsverhältnis steht, das ihrer Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung dient, vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder
2.
unter Ausnutzung ihrer Stellung an einer Person unter achtzehn Jahren, die zu dieser Einrichtung in einem Rechtsverhältnis steht, das ihrer Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung dient, vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt.
Ebenso wird bestraft, wer unter den Voraussetzungen des Satzes 1 den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, dass er sexuelle Handlungen an oder vor einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt.

(3) Wer unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 oder 2

1.
sexuelle Handlungen vor dem Schutzbefohlenen vornimmt, um sich oder den Schutzbefohlenen hierdurch sexuell zu erregen, oder
2.
den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, daß er sexuelle Handlungen vor ihm vornimmt,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(4) Der Versuch ist strafbar.

(5) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1, des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 oder des Absatzes 3 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 oder mit Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn das Unrecht der Tat gering ist.

(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden.

(2) Waren in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände behauptet worden, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, so müssen die Urteilsgründe sich darüber aussprechen, ob diese Umstände für festgestellt oder für nicht festgestellt erachtet werden.

(3) Die Gründe des Strafurteils müssen ferner das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und die Umstände anführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. Macht das Strafgesetz Milderungen von dem Vorliegen minder schwerer Fälle abhängig, so müssen die Urteilsgründe ergeben, weshalb diese Umstände angenommen oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen verneint werden; dies gilt entsprechend für die Verhängung einer Freiheitsstrafe in den Fällen des § 47 des Strafgesetzbuches. Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb ein besonders schwerer Fall nicht angenommen wird, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen nach dem Strafgesetz in der Regel ein solcher Fall vorliegt; liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird aber gleichwohl ein besonders schwerer Fall angenommen, so gilt Satz 2 entsprechend. Die Urteilsgründe müssen ferner ergeben, weshalb die Strafe zur Bewährung ausgesetzt oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht ausgesetzt worden ist; dies gilt entsprechend für die Verwarnung mit Strafvorbehalt und das Absehen von Strafe. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist auch dies in den Urteilsgründen anzugeben.

(4) Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz angegeben werden; bei Urteilen, die nur auf Geldstrafe lauten oder neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit zusammen die Einziehung des Führerscheins anordnen, oder bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt kann hierbei auf den zugelassenen Anklagesatz, auf die Anklage gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 oder den Strafbefehl sowie den Strafbefehlsantrag verwiesen werden. Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. Die Urteilsgründe können innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird.

(5) Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so braucht nur angegeben zu werden, ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. Absatz 4 Satz 4 ist anzuwenden.

(6) Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet, eine Entscheidung über die Sicherungsverwahrung vorbehalten oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht angeordnet oder nicht vorbehalten worden ist. Ist die Fahrerlaubnis nicht entzogen oder eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet worden, obwohl dies nach der Art der Straftat in Betracht kam, so müssen die Urteilsgründe stets ergeben, weshalb die Maßregel nicht angeordnet worden ist.

(1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt

1.
der Verlobte des Beschuldigten;
2.
der Ehegatte des Beschuldigten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht;
2a.
der Lebenspartner des Beschuldigten, auch wenn die Lebenspartnerschaft nicht mehr besteht;
3.
wer mit dem Beschuldigten in gerader Linie verwandt oder verschwägert, in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert ist oder war.

(2) Haben Minderjährige wegen mangelnder Verstandesreife oder haben Minderjährige oder Betreute wegen einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung von der Bedeutung des Zeugnisverweigerungsrechts keine genügende Vorstellung, so dürfen sie nur vernommen werden, wenn sie zur Aussage bereit sind und auch ihr gesetzlicher Vertreter der Vernehmung zustimmt. Ist der gesetzliche Vertreter selbst Beschuldigter, so kann er über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts nicht entscheiden; das gleiche gilt für den nicht beschuldigten Elternteil, wenn die gesetzliche Vertretung beiden Eltern zusteht.

(3) Die zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigten Personen, in den Fällen des Absatzes 2 auch deren zur Entscheidung über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts befugte Vertreter, sind vor jeder Vernehmung über ihr Recht zu belehren. Sie können den Verzicht auf dieses Recht auch während der Vernehmung widerrufen.