Bundesgerichtshof Beschluss, 02. Mai 2012 - V ZB 79/12
Bundesgerichtshof
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Die Betroffene, nach eigenen Angaben ghanaische Staatsangehörige, reiste am 5. März 2012 aus Athen kommend in das Bundesgebiet ein. Sie war im Besitz eines deutschen Reisepasses, der für eine andere Person ausgestellt war. Einen gültigen Reisepass oder einen eigenen gültigen Aufenthaltstitel konnte sie nicht vorlegen. Die Beteiligte zu 2 beabsichtigt die Abschiebung der Betroffenen nach Ghana.
- 2
- Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 5. März 2012 auf Antrag der Beteiligten zu 2 gegen die Betroffene Haft zur Sicherung der Abschiebung längstens bis zum Ablauf des 4. Juni 2012 angeordnet. Während des Beschwerdeverfahrens stellte die Betroffene einen Asylantrag, der durch Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Dagegen erhob sie Klage vor dem Verwaltungsgericht, verbunden mit einem Eilantrag. Die Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen , ohne sie erneut anzuhören. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde , mit der sie zugleich im Wege der einstweiligen Anordnung die einstweilige Aussetzung der Vollziehung der aufrechterhaltenen Haft erreichen will.
II.
- 3
- Das Beschwerdegericht meint, die Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Der Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG sei gegeben. Im Hinblick auf die kurze Zeit zurückliegende richterliche Anhörung habe das Beschwerdegericht von einer erneuten Anhörung der Betroffenen Abstand genommen , da eine weitere Aufklärung nicht zu erwarten gewesen sei.
III.
- 4
- Der zulässige Aussetzungsantrag ist begründet.
- 5
- Das Rechtsbeschwerdegericht hat über die beantragte einstweilige Anordnung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Die Aussetzung der Vollziehung einer Freiheitsentziehung, die durch das Beschwerdegericht bestätigt worden ist, kommt regelmäßig nur in Betracht, wenn das Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat oder die Rechtslage zumindest zweifelhaft ist (Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010 - V ZB 261/10, InfAuslR 2011, 26 Rn. 10; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 211/10, InfAuslR 2010, 440). So verhält es sich hier.
- 6
- 1. Mit Recht rügt die Betroffene, dass sie in der Beschwerdeinstanz nicht erneut angehört worden ist. Die persönliche Anhörung ist nach § 68 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG und Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 GG auch im Beschwerdeverfahren grundsätzlich zwingend vorgeschrieben (Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11, FGPrax 2011, 254, 255 Rn. 14). Hiervon darf das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG nur absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung in erster Instanz stattgefunden hat und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 3/10, FGPrax 2010, 261 Rn. 8; Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329 Rn. 13; Beschluss vom 28. Januar 2010 - V ZB 2/10, FGPrax 2010, 163). Diese Voraussetzungen lagen hier nicht vor.
- 7
- a) Die Betroffene hat im Beschwerdeverfahren erstmals geltend gemacht , es könne nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich der Abschiebung entziehen wolle, zumal sie schon am Flughafen um Asyl nachgesucht habe. Zudem hat sie nach der Haftanordnung einen Asylantrag gestellt. Damit hatten sich seit dem Erlass der Haftanordnung neue entscheidungserhebliche Umstände ergeben, die einem Absehen von der persönlichen Anhörung entgegenstanden. Denn der ernsthafte Wille eines Betroffenen, ein Asylverfahren durchzuführen, ist in die Beurteilung, ob er ohne die Freiheitsentziehung untertauchen wird, grundsätzlich einzustellen (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 176/10, juris Rn. 11). Die Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens und die Glaubwürdigkeit der Betroffenen konnte nur durch eine persönliche Anhörung durch das Beschwerdegericht beurteilt werden (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juni 2011 - V ZB 40/11, juris Rn. 8; Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153).
- 8
- b) Die erneute persönliche Anhörung war nicht deswegen entbehrlich, weil im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen hatte. Denn gegen diese Entscheidung hat die Betroffene um Rechtsschutz durch eine Klage und einen Eilantrag bei dem Verwaltungsgericht nachgesucht.
- 9
- 2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen. Krüger Lemke Schmidt-Räntsch Stresemann Czub
AG Erding, Entscheidung vom 05.03.2012 - 6 XIV 17/12 (B) -
LG Landshut, Entscheidung vom 13.04.2012 - 63 T 967/12 -
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(1) Die Abschiebungshaft ist unzulässig, wenn der Zweck der Haft durch ein milderes Mittel erreicht werden kann. Die Inhaftnahme ist auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken. Minderjährige und Familien mit Minderjährigen dürfen nur in besonderen Ausnahmefällen und nur so lange in Abschiebungshaft genommen werden, wie es unter Berücksichtigung des Kindeswohls angemessen ist.
(2) Ein Ausländer ist zur Vorbereitung der Ausweisung oder der Abschiebungsanordnung nach § 58a auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen, wenn über die Ausweisung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a nicht sofort entschieden werden kann und die Abschiebung ohne die Inhaftnahme wesentlich erschwert oder vereitelt würde (Vorbereitungshaft). Die Dauer der Vorbereitungshaft soll sechs Wochen nicht überschreiten. Im Falle der Ausweisung bedarf es für die Fortdauer der Haft bis zum Ablauf der angeordneten Haftdauer keiner erneuten richterlichen Anordnung.
(3) Ein Ausländer ist zur Sicherung der Abschiebung auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen (Sicherungshaft), wenn
- 1.
Fluchtgefahr besteht, - 2.
der Ausländer auf Grund einer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig ist oder - 3.
eine Abschiebungsanordnung nach § 58a ergangen ist, diese aber nicht unmittelbar vollzogen werden kann.
(3a) Fluchtgefahr im Sinne von Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 wird widerleglich vermutet, wenn
- 1.
der Ausländer gegenüber den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden über seine Identität täuscht oder in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise und in zeitlichem Zusammenhang mit der Abschiebung getäuscht hat und die Angabe nicht selbst berichtigt hat, insbesondere durch Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität, - 2.
der Ausländer unentschuldigt zur Durchführung einer Anhörung oder ärztlichen Untersuchung nach § 82 Absatz 4 Satz 1 nicht an dem von der Ausländerbehörde angegebenen Ort angetroffen wurde, sofern der Ausländer bei der Ankündigung des Termins auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle des Nichtantreffens hingewiesen wurde, - 3.
die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist, - 4.
der Ausländer sich entgegen § 11 Absatz 1 Satz 2 im Bundesgebiet aufhält und er keine Betretenserlaubnis nach § 11 Absatz 8 besitzt, - 5.
der Ausländer sich bereits in der Vergangenheit der Abschiebung entzogen hat oder - 6.
der Ausländer ausdrücklich erklärt hat, dass er sich der Abschiebung entziehen will.
(3b) Konkrete Anhaltspunkte für Fluchtgefahr im Sinne von Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 können sein:
- 1.
der Ausländer hat gegenüber den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden über seine Identität in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise getäuscht und hat die Angabe nicht selbst berichtigt, insbesondere durch Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität, - 2.
der Ausländer hat zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge, insbesondere an einen Dritten für dessen Handlung nach § 96, aufgewandt, die nach den Umständen derart maßgeblich sind, dass daraus geschlossen werden kann, dass er die Abschiebung verhindern wird, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren, - 3.
von dem Ausländer geht eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus, - 4.
der Ausländer ist wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, - 5.
der Ausländer hat die Passbeschaffungspflicht nach § 60b Absatz 3 Satz 1 Nummer 1, 2 und 6 nicht erfüllt oder der Ausländer hat andere als die in Absatz 3a Nummer 2 genannten gesetzlichen Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität, insbesondere die ihm nach § 48 Absatz 3 Satz 1 obliegenden Mitwirkungshandlungen, verweigert oder unterlassen und wurde vorher auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle der Nichterfüllung der Passersatzbeschaffungspflicht nach § 60b Absatz 3 Satz 1 Nummer 1, 2 und 6 oder der Verweigerung oder Unterlassung der Mitwirkungshandlung hingewiesen, - 6.
der Ausländer hat nach Ablauf der Ausreisefrist wiederholt gegen eine Pflicht nach § 61 Absatz 1 Satz 1, Absatz 1a, 1c Satz 1 Nummer 3 oder Satz 2 verstoßen oder eine zur Sicherung und Durchsetzung der Ausreisepflicht verhängte Auflage nach § 61 Absatz 1e nicht erfüllt, - 7.
der Ausländer, der erlaubt eingereist und vollziehbar ausreisepflichtig geworden ist, ist dem behördlichen Zugriff entzogen, weil er keinen Aufenthaltsort hat, an dem er sich überwiegend aufhält.
(4) Die Sicherungshaft kann bis zu sechs Monaten angeordnet werden. Sie kann in Fällen, in denen die Abschiebung aus von dem Ausländer zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, um höchstens zwölf Monate verlängert werden. Eine Verlängerung um höchstens zwölf Monate ist auch möglich, soweit die Haft auf der Grundlage des Absatzes 3 Satz 1 Nummer 3 angeordnet worden ist und sich die Übermittlung der für die Abschiebung erforderlichen Unterlagen oder Dokumente durch den zur Aufnahme verpflichteten oder bereiten Drittstaat verzögert. Die Gesamtdauer der Sicherungshaft darf 18 Monate nicht überschreiten. Eine Vorbereitungshaft ist auf die Gesamtdauer der Sicherungshaft anzurechnen.
(4a) Ist die Abschiebung gescheitert, bleibt die Anordnung bis zum Ablauf der Anordnungsfrist unberührt, sofern die Voraussetzungen für die Haftanordnung unverändert fortbestehen.
(5) Die für den Haftantrag zuständige Behörde kann einen Ausländer ohne vorherige richterliche Anordnung festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen, wenn
- 1.
der dringende Verdacht für das Vorliegen der Voraussetzungen nach Absatz 3 Satz 1 besteht, - 2.
die richterliche Entscheidung über die Anordnung der Sicherungshaft nicht vorher eingeholt werden kann und - 3.
der begründete Verdacht vorliegt, dass sich der Ausländer der Anordnung der Sicherungshaft entziehen will.
(6) Ein Ausländer kann auf richterliche Anordnung zum Zwecke der Abschiebung für die Dauer von längstens 14 Tagen zur Durchführung einer Anordnung nach § 82 Absatz 4 Satz 1, bei den Vertretungen oder ermächtigten Bediensteten des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutlich besitzt, persönlich zu erscheinen, oder eine ärztliche Untersuchung zur Feststellung seiner Reisefähigkeit durchführen zu lassen, in Haft genommen werden, wenn er
- 1.
einer solchen erstmaligen Anordnung oder - 2.
einer Anordnung nach § 82 Absatz 4 Satz 1, zu einem Termin bei der zuständigen Behörde persönlich zu erscheinen,
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Der Betroffene, der Staatsangehöriger von Montenegro ist und bereits in den Jahren 2004 und 2009 abgeschoben worden war, reiste nach eigenen Angaben am 6. Mai 2010 erneut in das Bundesgebiet ein und wurde am 17. Juni 2010 vorläufig festgenommen.
- 2
- Eine am 1. Juli 2010 beabsichtigte Rückführung des Betroffenen scheiterte , weil er im Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zwischenzeitlich in Untersuchungshaft genommen worden war. Das Strafverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Die Zustimmung zu einer Zurückschiebung des Betroffenen ist von der Staatsanwaltschaft bislang nicht erteilt worden.
- 3
- Mit Beschluss vom 18. Juni 2010 hat das Amtsgericht auf Antrag der Beteiligten zu 2 gegenüber dem Betroffenen die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis zum 16. Juli 2010 und die sofortige Wirksamkeit seiner Entschei- dung angeordnet. Mit Beschluss vom 1. Juli 2010 hat es die Haft bis längstens vier Wochen nach Ende der Untersuchungshaft verlängert.
- 4
- Die gegen die Haftanordnungen des Amtsgerichts gerichteten Beschwerden sind von dem Landgericht zurückgewiesen worden. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der zugleich die vorläufige Aussetzung des Vollzugs der Haftentscheidung beantragt worden ist.
II.
- 5
- Das Beschwerdegericht meint, der Betroffene sei aufgrund unerlaubter Einreise vollziehbar ausreisepflichtig. Da er nicht glaubhaft gemacht habe, dass er sich der Zurückschiebung nicht entziehen werde, sei die Haft anzuordnen gewesen. Gründe, die gegen die Möglichkeit der Zurückschiebung binnen drei Monaten sprächen, lägen nicht vor. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass sich das gegen den Betroffenen geführte Strafverfahren länger hinauszögern werde. Die Staatsanwaltschaft werde dann gegebenenfalls einer Abschiebung zustimmen.
III.
- 6
- 1. Der Aussetzungsantrag ist in entsprechender Anwendung von § 64 Abs. 3 FamFG statthaft (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Mai 2010 - V ZB 121/10, juris, Rn. 5; Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97, Rn. 3; Senat, Beschluss vom 30. März 2010 - V ZB 79/10, FGPrax 2010, 158, Rn. 3).
- 7
- 2. Er ist auch begründet.
- 8
- a) Das Rechtsbeschwerdegericht hat über die beantragte einstweilige Anordnung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und die drohenden Nachteile für den Betroffenen gegeneinander abzuwägen. Die Aussetzung der Vollziehung einer Freiheitsentziehung , die durch das Beschwerdegericht bestätigt worden ist, wird danach regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn das Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat oder die Rechtslage zumindest zweifelhaft ist (Senat, Beschluss vom 7. Mai 2010 - V ZB 121/10, juris Rn. 7; Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97, Rn. 5; Senat, Beschluss vom 30. März 2010 - V ZB 79/10, FGPrax 2010, 158 Rn. 5). So liegt es hier. Die Rechtsbeschwerde bietet jedenfalls insoweit hinreichende Aussicht auf Erfolg, als sie sich gegen die Verlängerung der Sicherungshaft richtet, die ausweislich des Vollstreckungsblattes der Untersuchungshaftanstalt Hamburg vom 2. August 2010 seit diesem Tag gegen den Betroffenen vollstreckt wird.
- 9
- b) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts begegnet angesichts der fehlenden Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu einer Rückschiebung des Betroffenen gemäß § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erheblichen rechtlichen Bedenken.
- 10
- aa) Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden. Fehlt dieses Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus; dass das Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft zu einem späteren Zeitpunkt hergestellt werden könnte, ist unerheblich (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010, V ZB 93/10 - juris Rn. 8 für die Abschiebung).
- 11
- bb) Die Beteiligte zu 2 betreibt hier zwar nicht die Abschiebung (§ 58 AufenthG) oder die Ausweisung (§§ 53 ff. AufenthG), sondern die - in § 72 Abs. 4 AufenthG nicht angeführte - Zurückschiebung des Betroffenen nach § 57 AufenthG. Sinn und Zweck des Zustimmungserfordernisses begründen aber ernsthafte Zweifel an der Annahme, eine Zurückweisung des Betroffenen könne deshalb auch ohne Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft erfolgen.
- 12
- Der Wortlaut des § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG lässt ebenso wenig einen zweifelsfreien Rückschluss darauf zu, dass die Norm in der Aufzählung aufenthaltsbeendender Maßnahmen abschließend ist (so aber wohl Hailbronner, Ausländerrecht , 59. Aktualisierung zu § 72 AufenthG Rn. 17 und 62. Aktualisierung zu § 57 Rn. 4; Gutmann in GK-AufenthG, Stand September 2007, § 72 Rn. 34), wie die Gesetzesbegründung zu § 64 Abs. 3 AuslG, bei der es sich um die inhaltsgleiche Vorgängerregelung von § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG handelt (vgl. Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drucks. 11/6321 [vom 27. Januar 1990], S. 78 f.).
- 13
- Vielmehr dürfte ein allein an dem Wortlaut orientiertes Verständnis der Norm deren Sinn und Zweck nicht gerecht werden. § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG soll verhindern, dass die Strafverfolgung durch ausländerrechtliche Maßnahmen erschwert oder vereitelt wird (OLG München, OLGR 2009, 291; Gutmann in GK-AufenthG, Stand September 2007, § 72 Rn. 29 f.; Hailbronner, Ausländerrecht, 59. Aktualisierung zu § 72 Rn. 14). Aus diesem Grund hängen die Ausweisung und die Abschiebung von der Zustimmung der Staatsanwaltschaft ab. Allein ihr obliegt die Abwägung, ob das Strafverfolgungsinteresse das Interesse an der Abschiebung des Ausländers überwiegt.
- 14
- Ein überwiegendes Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gegenüber einem sich illegal im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländer kann aber nicht nur im Falle der Abschiebung und Ausweisung, sondern ebenso bei einer Zurückschiebung bestehen (vgl. OLG München, OLGR 2009, 291). Vor diesem Hintergrund überzeugt auch die Annahme, die Vorschrift des § 72 Abs. 4 AufenthG lasse die Absicht des Gesetzgebers erkennen, unerlaubte Einreisen vorrangig mit dem Mittel der Zurückschiebung zu bekämpfen und in Fällen, in denen die Zurückweisung möglich ist, den staatlichen Strafanspruch zurücktreten lassen (so Hailbronner, Ausländerrecht, 62. Aktualisierung zu § 57 AufenthG Rn. 4), nicht ohne Weiteres.
- 15
- c) Bei dieser Sachlage überwiegen die Nachteile, die für den Betroffenen mit der fortgesetzten Vollziehung der Haft verbunden wären, das staatliche Interesse an deren Aufrechterhaltung. Krüger Lemke Schmidt-Räntsch Stresemann Czub
AG Hamburg, Entscheidung vom 01.07.2010 - 219i XIV 41063/09 -
LG Hamburg, Entscheidung vom 21.07.2010 - 329 T 66/10 + 329 T 67/10 -
(1) Das Gericht hat den Betroffenen vor der Anordnung der Freiheitsentziehung persönlich anzuhören. Erscheint er zu dem Anhörungstermin nicht, kann abweichend von § 33 Abs. 3 seine sofortige Vorführung angeordnet werden. Das Gericht entscheidet hierüber durch nicht anfechtbaren Beschluss.
(2) Die persönliche Anhörung des Betroffenen kann unterbleiben, wenn nach ärztlichem Gutachten hiervon erhebliche Nachteile für seine Gesundheit zu besorgen sind oder wenn er an einer übertragbaren Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes leidet.
(3) Das Gericht hat die sonstigen Beteiligten anzuhören. Die Anhörung kann unterbleiben, wenn sie nicht ohne erhebliche Verzögerung oder nicht ohne unverhältnismäßige Kosten möglich ist.
(4) Die Freiheitsentziehung in einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses darf nur nach Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen angeordnet werden. Die Verwaltungsbehörde, die den Antrag auf Freiheitsentziehung gestellt hat, soll ihrem Antrag ein ärztliches Gutachten beifügen.
(1) Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden.
(2) Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden. Bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Die Polizei darf aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten. Das Nähere ist gesetzlich zu regeln.
(3) Jeder wegen des Verdachtes einer strafbaren Handlung vorläufig Festgenommene ist spätestens am Tage nach der Festnahme dem Richter vorzuführen, der ihm die Gründe der Festnahme mitzuteilen, ihn zu vernehmen und ihm Gelegenheit zu Einwendungen zu geben hat. Der Richter hat unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen.
(4) Von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung ist unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen.
(1) Hält das Gericht, dessen Beschluss angefochten wird, die Beschwerde für begründet, hat es ihr abzuhelfen; anderenfalls ist die Beschwerde unverzüglich dem Beschwerdegericht vorzulegen. Das Gericht ist zur Abhilfe nicht befugt, wenn die Beschwerde sich gegen eine Endentscheidung in einer Familiensache richtet.
(2) Das Beschwerdegericht hat zu prüfen, ob die Beschwerde an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, ist die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.
(3) Das Beschwerdeverfahren bestimmt sich im Übrigen nach den Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug. Das Beschwerdegericht kann von der Durchführung eines Termins, einer mündlichen Verhandlung oder einzelner Verfahrenshandlungen absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurden und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.
(4) Das Beschwerdegericht kann die Beschwerde durch Beschluss einem seiner Mitglieder zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen; § 526 der Zivilprozessordnung gilt mit der Maßgabe entsprechend, dass eine Übertragung auf einen Richter auf Probe ausgeschlossen ist. Zudem kann das Beschwerdegericht die persönliche Anhörung des Kindes durch Beschluss einem seiner Mitglieder als beauftragtem Richter übertragen, wenn es dies aus Gründen des Kindeswohls für sachgerecht hält oder das Kind offensichtlich nicht in der Lage ist, seine Neigungen und seinen Willen kundzutun. Gleiches gilt für die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von dem Kind.
(5) Absatz 3 Satz 2 und Absatz 4 Satz 1 finden keine Anwendung, wenn die Beschwerde ein Hauptsacheverfahren betrifft, in dem eine der folgenden Entscheidungen in Betracht kommt:
- 1.
die teilweise oder vollständige Entziehung der Personensorge nach den §§ 1666 und 1666a des Bürgerlichen Gesetzbuchs, - 2.
der Ausschluss des Umgangsrechts nach § 1684 des Bürgerlichen Gesetzbuchs oder - 3.
eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Absatz 4 oder § 1682 des Bürgerlichen Gesetzbuchs.
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Der Betroffene ist algerischer Staatsangehöriger. Nach seiner Einreise nach Deutschland am 31. März 2008 beantragte er die Anerkennung als Asylberechtigter. Der Antrag wurde von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 24. April 2009 abgelehnt. Der Betroffene war seit dem 15. Mai 2009 vollziehbar zur Ausreise aus dem Bundesgebiet verpflichtet. Hiergegen gerichtete Rechtsmittel sind erfolglos geblieben.
- 2
- Nachdem der Betroffene am 29. September 2009 und am 30. September 2009 jeweils nicht in seiner Wohnung angetroffen wurde, hat das Amtsgericht nach Anhörung des Betroffenen die Sicherungshaft bis längstens 5. Oktober 2009 und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Die dagegen erhobene Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen.
- 3
- Hiergegen will sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde wenden. Für die Durchführung des Verfahrens beantragt er die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe.
- 4
- Am 5. Oktober 2009 ist der Betroffene nach Algerien abgeschoben worden.
II.
- 5
- Das Beschwerdegericht meint, die Entscheidung des Amtsgerichts sei rechtmäßig. Es habe der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG bestanden , Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Eine Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren sei nicht erforderlich.
III.
- 6
- Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hat keine Aussicht auf Erfolg.
- 7
- 1. Das Beschwerdegericht war nicht zu einer Anhörung des Betroffenen verpflichtet (§ 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG). Sie ist zwar auch im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich erforderlich. Davon kann aber - auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 EMRK - abgesehen werden, wenn der Betroffene in erster Instanz persönlich angehört worden ist, der Sachverhalt einfach gelagert ist und das Rechtsmittelgericht nach Aktenlage entscheiden kann (EGMR NJW 1992, 1813, 1814 Tz. 31 ff. - Helmers gegen Schweden; Senat, Beschl. v. 11. Mai 1995, V ZB 13/95, NJW 1995, 2226 - insoweit in BGHZ 129, 383 nicht abgedruckt; KG InfAuslR 2009, 356, 357; Hoppe ZAR 2009, 209, 213). Diese Voraussetzungen lagen hier vor. Der Betroffene war am 1. Oktober 2009 durch das Amtsgericht angehört worden. Der Sachverhalt war einfach gelagert. Die Beteiligten hatten keine neuen Tatsachen vorgetragen. Der bekannte Sachverhalt war lediglich erneut zu würdigen.
- 8
- 2. Das Beschwerdegericht musste dem Betroffenen keine Akteneinsicht gewähren. Denn er wollte keine Einsicht in die diesem Verfahren zugrunde liegenden Akten, sondern allein in die dem Verwaltungsverfahren vor der Ausländerbehörde zugrunde liegenden Akten nehmen. Für die Gewährung von Einsicht in Verwaltungsakten sind jedoch die jeweiligen Verwaltungsbehörden zuständig.
- 9
- 3. Weder das Amtsgericht noch das Landgericht mussten die Rechtmäßigkeit der durch die Verwaltungsbehörde angeordneten Abschiebung prüfen, weil sich die Ausreisepflicht des Betroffenen aus einer bestandskräftigen Abschiebungsverfügung ergab (vgl. Senat, Beschl. v. 16. Dezember 2009, V ZB 148/09 Rz. 7 - zur Veröffentlichung bestimmt). Krüger Lemke Schmidt-Räntsch Stresemann Czub
AG Westerburg, Entscheidung vom 01.10.2009 - 7 XIV 11/09 B -
LG Koblenz, Entscheidung vom 30.11.2009 - 2 T 763/09 -
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zweckentsprechenden notwendigen Auslagen des Betroffenen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.
Gründe:
I.
- 1
- Der Betroffene, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste am 9. Oktober 2009 ohne gültige Ausweispapiere aus Schweden in die Bundesrepublik Deutschland ein. Auf Antrag der Bundespolizeiinspektion Flensburg ordnete das Amtsgericht Flensburg am 10. Oktober 2009 die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis längstens 8. Dezember 2009 und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung an. Die dagegen gerichtete Beschwerde, mit der der Betroffene u.a. geltend gemacht hat, er wolle sich der Zurückschiebung nicht entziehen, hat das Beschwerdegericht mit Beschluss vom 19. Oktober 2009 ohne vorherige Anhörung des Betroffenen zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde, mit der der Betroffene die Feststellung erreichen will, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts ihn in seinen Rechten verletzt haben.
II.
- 2
- Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung auf den in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG genannten Haftgrund gestützt und ausgeführt, der Betroffene habe nicht glaubhaft gemacht, dass er sich der Zurückschiebung nicht habe entziehen wollen. Er habe sich bereits einer Abschiebung durch die schwedischen Behörden entzogen. Sein Vorbringen, er habe den von dem Amtsgericht hinzugezogenen Dolmetscher nicht verstanden und sei deshalb von dem Amtsgericht nicht ordnungsgemäß angehört worden, sei als Schutzbehauptung durch die von dem Amtsgericht eingeholte Stellungnahme widerlegt. Nach Einschätzung der Haftrichterin habe eine Kommunikation zwischen Dolmetscher und Betroffenem stattgefunden. Es könne überdies davon ausgegangen werden, dass der Dolmetscher Verständigungsprobleme dem Gericht mitgeteilt hätte.
III.
- 3
- Die nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG, § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 71 FamFG) Rechtsbeschwerde ist begründet.
- 4
- 1. An der Statthaftigkeit des Rechtsmittels ändert der im Laufe des Rechtsbeschwerdeverfahrens eingetretene Ablauf der Haftdauer nichts. Zwar hat sich dadurch die Hauptsache erledigt. Aber die Regelung in § 62 FamFG, nach der in einem solchen Fall das Beschwerdegericht auf Antrag ausspricht, dass die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn er an der Feststellung ein berechtigtes Interesse hat, gilt im Rechtsbeschwerdeverfahren entsprechend (Senat, Beschl. v. 25. Februar 2010, V ZB 172/09 - zur Veröffentlichung bestimmt). Das berechtigte Interesse des Betroffenen an dieser Feststellung ergibt sich daraus, dass die Freiheitsentziehung ein schwerwiegender Grundrechtseingriff im Sinne von § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG ist.
- 5
- 2. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
- 6
- a) Fehlerhaft hat es festgestellt, der Betroffene habe nicht glaubhaft gemacht , dass er sich der Zurückschiebung nicht entziehen werde (vgl. § 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG).
- 7
- aa) Zutreffend macht der Betroffene geltend, das Beschwerdegericht habe ihn nach Art. 103 Abs. 1 GG, §§ 68 Abs. 3 Satz 1, 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG anhören müssen. Zwar kann nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG im Beschwerdeverfahren von der Anhörung abgesehen werden, wenn diese bereits im ersten Rechtszug durchgeführt wurde und von einer erneuten Anhörung keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind. Aber an der zuletzt genannten Voraussetzung fehlt es, wenn das Beschwerdevorbringen eine weitere Sachaufklärung erwarten lässt (Senat, Beschl. v. 11. Mai 1995, V ZB 13/95, NJW 1995, 2226, insoweit nicht in BGHZ 129, 383 abgedruckt); auch darf das Beschwerdegericht die Glaubwürdigkeit des Betroffenen nur beurteilen, wenn es sich von ihm bei einer Anhörung einen persönlichen Eindruck verschafft hat (BayObLG NVwZ 1992, 814, 815). Danach musste das Beschwerdegericht den Betroffenen erneut anhören.
- 8
- (1) Dessen Einwand, es habe trotz Einschaltung eines Dolmetschers eine ordnungsgemäße erstinstanzliche Anhörung nicht stattgefunden, durfte es nicht ohne weitere Sachaufklärung als Schutzbehauptung abtun. Es hätte sich vielmehr durch eine persönliche Anhörung unter Hinzuziehung eines Dolmetschers , der die Muttersprache des Betroffenen spricht, ein eigenes Bild von der Kommunikationswilligkeit und -fähigkeit des Betroffenen machen müssen. Denn aus dem Vermerk des Amtsrichters, auf den das Beschwerdegericht seine Entscheidung gestützt hat, geht lediglich die auf ihrem persönlichen Eindruck beruhende Einschätzung der Haftrichterin hervor, dass zwischen dem Dolmetscher und dem Betroffenen eine Kommunikation stattgefunden habe. Abgesehen davon, dass ihr Inhalt weder festgestellt noch sonst ersichtlich ist, besagt dies nichts zu der maßgeblichen Frage, ob zwischen der Haftrichterin und dem Betroffenen eine Verständigung möglich gewesen is t.
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- (2) Darüber hinaus hätte das Beschwerdegericht den der Entziehungsabsicht und damit dem Haftgrund entgegenstehenden (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13. Juni 2006, I-3 Wx 140/06, juris, Tz. 18; OLG Schleswig OLGR 2006, 142, 143; vgl. auch BVerfG InfAuslR 1994, 342, 344), erstmals in der Beschwerdeinstanz erhobenen Vortrag, sich für die Zurückschiebung bereithalten zu wollen, durch die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von dem Betroffenen würdigen müssen .
- 10
- (3) Ob das Beschwerdevorbringen glaubhaft ist, kann nur aufgrund einer persönlichen Anhörung des Betroffenen hinreichend sicher beantwortet werden. Es ist eine unverzichtbare Voraussetzung des rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer hinreichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660 m.w.N.). Zwar hat das Beschwerdegericht - unangegriffen und damit für den Senat bindend (§ 74 Abs. 3 Satz 4 FamFG, § 559 Abs. 2 ZPO) - festgestellt, der Betroffene habe sich der drohenden Abschiebung durch die schwedischen Behörden entzogen. Dieses Verhalten rechtfertigte jedoch nicht ohne weiteres den Schluss, er werde sich auch der Zurückschiebung entziehen. Vielmehr ist es nicht ausgeschlossen, dass der Betroffene bei der Anhörung durch das Beschwerdegericht die sich aus der unerlaubten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ergebende Vermutung, er werde seiner Ausreisepflicht nicht freiwillig nachkommen (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 65. Aktual. 2009, § 62 AufenthG Rdn. 39; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. § 62 AufenthG Rdn. 15), hätte widerlegen können (§ 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Dabei wäre zu prüfen gewesen, ob der Betroffene wegen Verständigungsproblemen mit dem Dolmetscher der erstinstanzlichen Anhörung wirklich nicht hat folgen und daher seine Absicht, sich der Zurückschiebung nicht entziehen zu wollen, erst im Beschwerdeverfahren hat vorbringen können. Die Ermittlung der hinreichenden Tatsachengrundlage war somit ohne Verschaffung eines persönlichen Eindrucks durch das Beschwerdegericht unzureichend.
- 11
- bb) Mit Erfolg rügt der Betroffene einen weiteren Verstoß des Beschwerdegerichts gegen das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn es hat sich mit seinem Vorbringen, er wolle sich für die Zurückschiebung in einer entsprechenden Einrichtung bereithalten, nicht auseinandergesetzt. Art. 103 Abs. 1 GG ist zwar erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht seiner Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs nicht nachgekommen ist. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Sie sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Deshalb müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen oder Rechtsausführungen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden sind (siehe nur BVerfG NJW-RR 1995, 1033, 1034; Senat, BGHZ 154, 288, 300). So liegt es hier. Dass das Beschwerdegericht das wesentliche Beschwerdevorbringen im Rahmen der nach § 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG gebotenen Prüfung berücksichtigt hat, lässt sich der angefochtenen Entscheidung nicht entnehmen. Da das Beschwerdegericht bereits den Einwand des Betroffenen, er habe den Dolmetscher in dem erstinstanzlichen Verfahren nicht verstanden, als bloße Schutzbehauptung angesehen hat, spricht alles dafür, dass es den weiteren Einwand unberücksichtigt gelassen hat.
- 12
- cc) Wegen der Verstöße gegen das Gebot rechtlichen Gehörs hat die Entscheidung des Beschwerdegerichts den Betroffenen in seinen Rechten verletzt (vgl. § 62 Abs. 1 FamFG). Denn das Unterlassen der mündlichen Anhörung drückt wegen deren grundlegender Bedeutung der gleichwohl angeordneten Haft zur Sicherung der Zurückschiebung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der durch die Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist; dementsprechend verbietet sich bei der nachträglichen gerichtlichen Überprüfung einer Freiheitsentziehung die Untersuchung, ob diese auf dem Unterbleiben der mündlichen Anhörung beruht (BVerfG InfAuslR 2006, 462, 464).
- 13
- b) Die Haftanordnung durch das Amtsgericht vom 10. Oktober 2009 hat den Betroffenen ebenfalls in seinen Rechten verletzt.
- 14
- aa) Entsprechend dem Feststellungsantrag ist neben der Beschwerdeentscheidung auch die Entscheidung über die Haftanordnung Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens. Denn die Gewährung von Rechtsschutz bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Inhaftierung nach der Erledigung der Maßnahme hängt weder von dem konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon ab, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor der Beendigung der Haft erlangt werden kann (BVerfGE 104, 220, 235 f.); deshalb muss das Rechtsschutzinteresse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung auch für einen Zeitraum vor der Einlegung der Rechtsbeschwerde bejaht werden (vgl. BVerfGK 6, 303, 311; Keidel/Budde, FamFG, 16. Aufl., § 62 Rdn. 32). Überdies hat der Betroffene bereits mit seinem Beschwerdevorbringen über die Frage der Haftfortdauer hinaus auch die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Haftanordnung und die darauf beruhende Vollziehung der Haft zum Beschwerdegegenstand erhoben.
- 15
- bb) Die amtsgerichtliche Entscheidung ist verfahrensfehlerhaft ergangen, denn es hat keine ordnungsgemäße Anhörung stattgefunden. Aus dem Inhalt des der Beschwerdeentscheidung zugrunde liegenden Vermerks des Amtsrichters folgt, dass die Haftrichterin in dem Anhörungstermin keine eigenen Erkenntnisse davon gewonnen hat, dass zwischen ihr und dem Betroffenen unter Mitwirkung des Dolmetschers eine Verständigung möglich gewesen ist. Vielmehr hat sie sich mit ihrem persönlichen Eindruck begnügt, zwischen dem Betroffenen und dem Dolmetscher habe eine Kommunikation stattgefunden. Das reicht für eine ordnungsgemäße Anhörung (§ 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG) nicht aus. Ihr Zweck besteht darin, dem Betroffenen den Sachverhalt und die sich daraus ergebende Rechtsfolge bekannt zu geben und ihm die Möglichkeit zu eröffnen, dazu Stellung zu nehmen und seine Sichtweise bestimmter Vorgänge darzustellen. Der Richter soll sich einen unmittelbaren Eindruck von dem Be- troffenen verschaffen, um seine Kontrollfunktion im Hinblick auf das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung wahrnehmen zu können (vgl. BVerfG NJW 1990, 2309, 2310). Dem kommt in Abschiebungshaftsachen eine besondere Bedeutung zu, weil derHaftrichter u.a. klären muss, ob der begründete Verdacht besteht, der Betroffene wolle sich der Abschiebung entziehen (§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG), und ob er glaubhaft macht, diesen Willen nicht zu haben (§ 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Die Klärung kann regelmäßig nur durch ein Gespräch zwischen Richter und Betroffenem erfolgen. Ist dieser der deutschen Sprache nicht mächtig, muss ein Dolmetscher hinzugezogen werden. Seine Aufgabe besteht darin, das Gespräch zwischen Richter und Betroffenem zu ermöglichen. Dazu ist er von dem Richter anzuhalten. Dieser muss sich vergewissern, dass Dolmetscher und Betroffener in derselben Sprache miteinander kommunizieren. Keinesfalls darf er sich damit begnügen, Zuhörer eines Gesprächs zwischen Betroffenem und Dolmetscher zu sein. In diese Rolle hat sich die Haftrichterin jedoch nach dem Vermerk des Amtsrichters begeben.
- 16
- cc) Wie bereits vorstehend unter 2. a) cc) ausgeführt, drückt das Unterlassen der mündlichen Anhörung der gleichwohl angeordneten Haft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf. Dasselbe gilt, wenn - wie hier - zwar ein Anhörungstermin, nicht aber eine Kommunikation zwischen Richter und Betroffenem stattgefunden hat.
IV.
- 17
- Die Kostenentscheidung beruht auf § 128c KostO und § 430 FamFG.
Stresemann Czub Vorinstanzen:
AG Flensburg, Entscheidung vom 10.10.2009 - 48 XIV 2730 B -
LG Flensburg, Entscheidung vom 19.10.2009 - 5 T 268/09 -
(1) Das Rechtsbeschwerdegericht hat zu prüfen, ob die Rechtsbeschwerde an sich statthaft ist und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, ist die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.
(2) Ergibt die Begründung des angefochtenen Beschlusses zwar eine Rechtsverletzung, stellt sich die Entscheidung aber aus anderen Gründen als richtig dar, ist die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.
(3) Der Prüfung des Rechtsbeschwerdegerichts unterliegen nur die von den Beteiligten gestellten Anträge. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die geltend gemachten Rechtsbeschwerdegründe nicht gebunden. Auf Verfahrensmängel, die nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind, darf die angefochtene Entscheidung nur geprüft werden, wenn die Mängel nach § 71 Abs. 3 und § 73 Satz 2 gerügt worden sind. Die §§ 559, 564 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend.
(4) Auf das weitere Verfahren sind, soweit sich nicht Abweichungen aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts ergeben, die im ersten Rechtszug geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden.
(5) Soweit die Rechtsbeschwerde begründet ist, ist der angefochtene Beschluss aufzuheben.
(6) Das Rechtsbeschwerdegericht entscheidet in der Sache selbst, wenn diese zur Endentscheidung reif ist. Andernfalls verweist es die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des Verfahrens zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung an das Beschwerdegericht oder, wenn dies aus besonderen Gründen geboten erscheint, an das Gericht des ersten Rechtszugs zurück. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Gerichts erfolgen, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde liegt, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
(7) Von einer Begründung der Entscheidung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.