Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Aug. 2019 - V ZB 146/17
vorgehend
Bundesgerichtshof
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Stresemann Schmidt-Räntsch Kazele Haberkamp Hamdorf
AG Düsseldorf, Entscheidung vom 07.07.2016 - 150A XIV 44/16 (B) -
LG Düsseldorf, Entscheidung vom 29.05.2017 - 25 T 542/16 -
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(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.
(2) Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bleibt hiervon unberührt.
BUNDESGERICHTSHOF
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. August 2019 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, den Richter Dr. Kazele, die Richterin Haberkamp und den Richter Dr. Hamdorf
beschlossen:
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Kulmbach vom 11. November 2016 den Betroffenen im Zeitraum vom 6. bis zum 10. Januar 2017 in seinen Rechten verletzt hat.
Der Betroffene trägt 90% der Gerichtskosten in allen Instanzen; weitere Gerichtskosten sowie die Dolmetscherkosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung des Betroffenen in allen Instanzen erforderlichen außergerichtlichen Kosten trägt dieser zu 90% selbst und im Übrigen der Freistaat Bayern.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
I.
- 1
- Der Betroffene, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben erstmals im April 2015 unerlaubt nach Deutschland ein und stellte am 29. Mai 2015 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag , den dieses mit Bescheid vom 22. September 2015 unter Anordnung der Überstellung des Betroffenen nach Ungarn und unter Anordnung eines Einreise - und Aufenthaltsverbots bis zum 3. November 2017 als unzulässig ablehnte. Nach seiner Rücküberstellung am 2. November 2016 reiste der Betroffene erneut unerlaubt nach Deutschland ein, meldete sich am 10. November 2016 bei der Ausländerbehörde und wurde dort in Polizeigewahrsam genommen.
- 2
- Auf Antrag der beteiligten Behörde, gegen den Betroffenen Haft von acht Wochen Dauer anzuordnen, hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 11. November 2016 Haft zur Sicherung der Rücküberstellung des Betroffenen nach Ungarn bis zum 10. Januar 2017 angeordnet. Das Bundesamt hat am 6. Dezember 2016 die Abschiebung des Betroffenen nach Ungarn angeordnet. Den dagegen gerichteten Eilantrag des Betroffenen hat das Verwaltungsgericht am 28. Dezember 2016 zurückgewiesen. Die Beschwerde des Betroffenen, mit der zugleich beantragt worden ist festzustellen, dass die Haftanordnung den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat, hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.
II.
- 3
- Nach Auffassung des Beschwerdegerichts ist die Haftanordnung des Amtsgerichts zu Recht erlassen worden. Die Voraussetzungen für die Anordnung von Haft zur Sicherung der Rücküberstellung ergäben sich entgegen der Auffassung des Amtsgerichts zwar nicht mehr aus § 62 Abs. 3 AufenthG, sondern allein und unmittelbar aus Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 AufenthG [in der hier noch maßgeblichen, bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung; fortan: aF]. Die darin bestimmten Anhaltspunkte für eine erhebliche Fluchtgefahr lägen aber vor. Der Betroffene sei innerhalb weniger Tage nach seiner ersten Rücküberstellung nach Ungarn erneut und in Kenntnis des gegen ihn bestehenden Einreiseverbots unerlaubt nach Deutschland eingereist, ohne den Ausgang des Verfahrens über seinen Asylantrag in Ungarn abzuwarten. Er habe erklärt, keinesfalls nach Ungarn zurückkehren zu wollen und sogar angedroht , sich im Falle seiner erneuten Rücküberstellung das Leben zu nehmen. Die Klage des Betroffenen gegen die erneute Abschiebungsanordnung stehe aufgrund der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht einer Rücküberstellung nach Ungarn nicht mehr entgegen.
III.
- 4
- Das Rechtsmittel des Betroffenen hat nur zu einem kleinen Teil Erfolg.
- 5
- 1. Für den Zeitraum vom 6. bis zum 10. Januar 2017 durfte Sicherungshaft nicht angeordnet werden, weil es insoweit an dem nach § 417 Abs. 1 FamFG zwingend vorgeschriebenen Antrag der beteiligten Behörde fehlt. Das Amtsgericht hat übersehen, dass die beantragte Haft von acht Wochen fünf Tage kürzer war als die angeordnete Haft von zwei Monaten.
- 6
- 2. Im Übrigen ist die Haftanordnung aber nicht zu beanstanden.
- 7
- a) Entgegen der Annahme des Betroffenen fehlt es weder an der Abschiebungsandrohung noch an einer Rückkehrentscheidung. Der Haftantrag erfasst die Rechtslage zutreffend und enthält die nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG vorgeschriebenen Angaben.
- 8
- aa) Es trifft zwar zu, dass das Vorliegen einer Abschiebungsandrohung zu den von dem Haftrichter zu prüfenden Vollstreckungsvoraussetzungen gehört (Senat, Beschluss vom 7. Februar 2019 - V ZB 216/17, InfAuslR 2019, 228 Rn. 11). Fehlt es an einer für die Vollstreckung erforderlichen Voraussetzung, darf eine kraft Gesetzes (§ 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) oder Verwaltungsakts (§ 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) vollziehbare Ausreisepflicht nicht durch Abschiebung durchgesetzt und Haft zur Sicherung der Abschiebung bzw. Rücküberstellung nicht angeordnet werden (Senat, Beschlüsse vom 28. April 2011 - V ZB 252/10, juris Rn. 16 und vom 27. September 2012 - V ZB 31/12, InfAuslR 2013, 38 Rn. 6). Hier hat das Bundesamt aber gegen den Betroffenen eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG erlassen, bei der es nach § 34a Abs. 1 Satz 3 AsylG weder einer Abschiebungsandrohung noch einer Fristsetzung bedarf.
- 9
- bb) Eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG muss im Gegensatz zur Abschiebungsandrohung nach § 59 Abs. 1 AufenthG nicht vor der Anordnung von Sicherungshaft erlassen worden sein; es genügt, wenn - wie hier - zu erwarten ist, dass sie rechtzeitig vor Durchführung der Abschie- bung bzw. Rücküberstellung und in dem angeordneten Haftzeitraum erlassen wird.
- 10
- (1) Die Abschiebung oder Rücküberstellung, die durch die Anordnung von Abschiebungs- oder Rücküberstellungshaft gesichert werden soll, ist ein Zwangsmittel zur Durchsetzung der Ausreisepflicht. Es tritt neben die allgemein in § 9 VwVG bestimmten Zwangsmittel zur Durchsetzung der in § 6 Abs. 1 VwVG bezeichneten unanfechtbaren oder schon vorher vollziehbaren Verwaltungsakte , die auf die Vornahme einer Handlung gerichtet sind. Die durchzusetzende Handlung ist bei der Abschiebung oder Rücküberstellung die Ausreise des Ausländers, wobei die Verpflichtung zur Ausreise im Unterschied zu anderen öffentlich-rechtlichen Pflichten zur Vornahme einer Handlung allerdings auch kraft Gesetzes entstehen kann. Die Ausreisepflicht ist deshalb Voraussetzung für die Abschiebung und die zur ihrer Sicherung anzuordnenden Haft; sie muss deshalb vor einer Haftanordnung vorliegen. Entsteht sie durch Ausweisung , muss die Ausweisungsverfügung vorliegen. Liegt eine solche Verfügung nicht vor, darf nur Vorbereitungshaft nach § 62 Abs. 2 AufenthG aF, Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG aF oder Sicherungshaft im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 427 FamFG erlassen werden, aber keine Sicherungshaft in der Hauptsache nach § 62 AufenthG oder - wie hier - nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO.
- 11
- (2) Wie jedes Zwangsmittel darf auch die Abschiebung als Sonderform des Verwaltungszwangs nach § 12 VwVG gemäß einem in § 13 Abs. 1 VwVG geregelten allgemeinen Prinzip nur angewandt werden, wenn sie schriftlich unter Setzung einer Erfüllungsfrist angedroht wird. Dies folgt bei der Abschiebung und der Rücküberstellung aus § 58 Abs. 1 und § 59 Abs. 1 AufenthG. Ohne Einhaltung dieser Vollstreckungsvoraussetzung darf die Vollstreckung und im Ausländerrecht die Abschiebung oder Rücküberstellung nicht beginnen. Ohne sie darf deshalb auch Haft zur Sicherung ihrer Durchführung nicht angeordnet werden.
- 12
- (3) Dieses System gilt aber nach der mit § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG getroffenen Sonderregelung nicht, wenn ein Ausländer vor Abschluss eines in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem SchengenVertragsstaat eingeleiteten Asylverfahrens nach Deutschland einreist, einen unzulässigen Asylantrag stellt und nach dessen Zurückweisung ausreisepflichtig wird oder wenn er - wie der Betroffene hier - trotz Rücküberstellung in den Erstaufnahmestaat und Verhängung eines Einreiseverbots wieder unerlaubt nach Deutschland einreist. Hier kann die Rücküberstellung des Ausländers ohne weiteres beginnen. Dem Ausländer muss nach § 34a Abs. 1 Satz 3 AsylG in Abweichung von dem Grundprinzip des § 13 Abs. 1 VwVG und abweichend von der diesem Prinzip entsprechenden ausländerrechtlichen Regelung in § 58 Abs. 1, § 59 Abs. 1 AufenthG weder die Anwendung unmittelbaren Zwangs - hier die Abschiebung bzw. Rücküberstellung gegen seinen Willen - angekündigt oder angedroht noch eine Erfüllungs- bzw. hier Ausreisefrist gesetzt werden. Stattdessen sieht § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG vor, dass der unmittelbare Zwang vor seiner Anwendung mit einer Abschiebungsanordnung förmlich angeordnet wird. Diese Anordnung dient aber nicht dazu, dem Ausländer im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip Gelegenheit zur freiwilligen Ausreise zu geben. Sie ist nämlich nach § 34a Abs. 1 Sätze 1 und 2 AsylG zu erlassen, sobald die Abschiebung bzw. Rücküberstellung durchgeführt werden kann. Die Abschiebungsanordnung setzt den Vollzug der Abschiebung bzw. Rücküberstellung in Gang. Sie ist keine Vollstreckungsvoraussetzung, sondern Teil des Einsatzes von Vollstreckungsmitteln und muss deshalb, wie etwa die Beschaffung der erforderlichen Passersatzpapiere oder Absprachen mit den Behörden des Empfangsstaats, nicht schon erfolgt sein, wenn die Haftanordnung ergeht. Es genügt vielmehr, wenn sie während der angeordneten Haft erlassen wird.
- 13
- cc) Es fehlt auch nicht an der nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 (ABl. EU Nr. L 348 S. 98 - sog. Rückführungsrichtlinie ) vorgeschriebenen Rückkehrentscheidung. Diese Funktion übernimmt die Abschiebungsanordnung, die als Verwaltungsakt - wie hier auch geschehen - von dem Betroffenen vor den Verwaltungsgerichten angegriffen und zur gerichtlichen Überprüfung gestellt werden kann. Sie erfüllt damit den in Erwägungsgrund 6 der Richtlinie beschriebenen Zweck der Rückkehrentscheidung , den illegalen Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens zu beenden.
- 14
- b) Die Annahme des Beschwerdegerichts, das Amtsgericht habe den Haftgrund der Fluchtgefahr nach dem bei der Anordnung von Rücküberstellungshaft allein maßgeblichen Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 AufenthG aF im Ergebnis zutreffend festgestellt, ist nicht zu beanstanden.
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- 3. Von einer weitergehenden Begründung wird nach § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
Haberkamp Hamdorf
Vorinstanzen:
AG Kulmbach, Entscheidung vom 11.11.2016 - 402 XIV 1/16 -
LG Bayreuth, Entscheidung vom 02.02.2017 - 4 T 243/16 -
(1) Das Rechtsbeschwerdegericht hat zu prüfen, ob die Rechtsbeschwerde an sich statthaft ist und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, ist die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.
(2) Ergibt die Begründung des angefochtenen Beschlusses zwar eine Rechtsverletzung, stellt sich die Entscheidung aber aus anderen Gründen als richtig dar, ist die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.
(3) Der Prüfung des Rechtsbeschwerdegerichts unterliegen nur die von den Beteiligten gestellten Anträge. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die geltend gemachten Rechtsbeschwerdegründe nicht gebunden. Auf Verfahrensmängel, die nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind, darf die angefochtene Entscheidung nur geprüft werden, wenn die Mängel nach § 71 Abs. 3 und § 73 Satz 2 gerügt worden sind. Die §§ 559, 564 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend.
(4) Auf das weitere Verfahren sind, soweit sich nicht Abweichungen aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts ergeben, die im ersten Rechtszug geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden.
(5) Soweit die Rechtsbeschwerde begründet ist, ist der angefochtene Beschluss aufzuheben.
(6) Das Rechtsbeschwerdegericht entscheidet in der Sache selbst, wenn diese zur Endentscheidung reif ist. Andernfalls verweist es die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des Verfahrens zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung an das Beschwerdegericht oder, wenn dies aus besonderen Gründen geboten erscheint, an das Gericht des ersten Rechtszugs zurück. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Gerichts erfolgen, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde liegt, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
(7) Von einer Begründung der Entscheidung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.