Bundesgerichtshof Beschluss, 09. März 2011 - IV ZR 130/09
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Nach § 544 Abs. 7 ZPO wird das vorbezeichnete Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens , an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 48.618,36 €
Gründe:
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- I. Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass der zwischen ihr und der Beklagten im Herbst 2005 abgeschlossene private Krankenversicherungsvertrag nicht durch den von der Beklagten erklärten Rücktritt beendet worden sei. Hilfsweise möchte sie feststellen lassen, dass die Beklagte wegen eines Beratungsfehlers, der sie zum Wechsel der Versicherung veranlasst habe, schadensersatzpflichtig sei.
- 2
- In dem von dem Versicherungsagenten der Beklagten ausgefüllten Antragsformular wurden in der Rubrik "Angaben zum Gesundheitszustand" die Frage nach in den letzten drei Jahren aufgetretenen "Beschwerden , Anomalien, Krankheiten/Unfallfolgen" und die Frage, ob in den letzten drei Jahren Behandlungen/Untersuchungen durchgeführt und/oder sonstige Gesundheitsstörungen/Anomalien festgestellt worden seien, verneint.
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- Im Rahmen der Beratungsgespräche teilte die Klägerin dem Versicherungsagenten mit, sie habe sich von Anfang 1999 bis Januar 2000 in kieferorthopädischer Behandlung befunden und ab Sommer 2000 unter Kieferhöhlenbeschwerden gelitten und sich deshalb in den Monaten Januar 2001 und Oktober 2001 zwei Kieferhöhlenoperationen unterzogen. Der die Klägerin seit 1984 behandelnde Internist wurde als "Hausarzt" eingetragen und erstellte auf einem Formularblatt der Beklagten ein ärztliches Zeugnis.
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- Im Oktober 2006 erklärte die Beklagte den Rücktritt vom Versicherungsvertrag wegen Verletzung vorvertraglicher Anzeigepflichten mit der Begründung, dass die Klägerin zahlreiche ärztliche Behandlungen, unter anderem wegen Erschöpfungszustandes und Hepatopathie, nicht vor Vertragsschluss angezeigt habe.
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- Die Klägerin behauptet, sie habe den Agenten der Beklagten darüber informiert, dass bei der Implantatversorgung durch den Kieferchirurgen der erforderliche Knochenaufbau nicht vorgenommen worden sei und infolgedessen die Implantate in die Kieferhöhle geragt hätten, weshalb sie an Fokaltoxikose, Sinusitis und Abwehrschwäche erkrankt sei.
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- Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Die Klägerin erstrebt die Zulassung der Revision , mit der sie ihre Klagebegehren weiter verfolgen will.
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- Die II. Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Dieses hat den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es ihren Vortrag zu der behaupteten Information des Versicherungsagenten als unsubstantiiert gewertet und von dessen Vernehmung als Zeuge abgesehen hat.
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- Im 1. Ansatz zutreffend ist das Berufungsgericht von der Augeund -Ohr-Rechtsprechung des Senats ausgegangen. Danach steht der empfangsbevollmächtigte Versicherungsagent bei Entgegennahme eines Antrags auf Abschluss eines Versicherungsvertrages dem Antragsteller bildlich gesprochen als das Auge und Ohr des Versicherers gegenüber. Was ihm mit Bezug auf die Antragstellung gesagt und vorgelegt wird, ist dem Versicherer gesagt und vorgelegt worden. Hat der Agent etwas, was ihm der Antragsteller auf Fragen wahrheitsgemäß geantwortet hat, nicht in das Formular aufgenommen, so hat der Antragsteller seine Anzeigeobliegenheit gleichwohl gegenüber dem Versicherer erfüllt (ständige Rechtsprechung, zuletzt Senatsurteil vom 24. November 2010 - IV ZR 252/08, VersR 2011, 337 Rn. 25 m.w.N.). Daher kann der Versicherer allein mit dem Inhalt des von seinem Agenten ausgefüllten Antragsformulars nicht den Beweis führen, dass der Versicherungsnehmer hinsichtlich seiner Vorerkrankungen falsche Angaben gemacht habe, soweit dieser seinerseits substantiiert behauptet, den Agenten mündlich zutreffend unterrichtet und damit seine vorvertragliche Anzeigeobliegenheit erfüllt zu haben. Dem Versicherer obliegt es in einem solchen Fall darzulegen und gegebenenfalls - im Regelfall durch die Zeugenaussage seines Agenten - zu beweisen, dass der Versicherungsnehmer diesen auch mündlich unzutreffend unterrichtet hat (Senatsurteile vom 24. November 2010 aaO Rn. 26; vom 27. Februar 2008 - IV ZR 270/06, VersR 2008, 765 Rn. 7; vom 5. März 2008 - IV ZR 119/06, VersR 2008, 668 Rn. 14; jeweils m.w.N.).
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- 2. Das Berufungsgericht hat die Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Klägerin verkannt.
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- a) Sie hat behauptet, sie habe den Agenten der Beklagten über die ihr bekannten Vorerkrankungen und Behandlungen umfassend informiert. In der Klageschrift hat sie vorgetragen, sie habe dem Agenten insbesondere ausführlich über eine kieferorthopädische Behandlung mit drei chirurgischen Eingriffen zwischen April 1999 und Januar 2000 sowie zwei Kieferhöhlenoperationen im Januar und Oktober 2001 berichtet. Sie habe ihm mitgeteilt, Ursache dieser Beschwerden sei eine fehlerhafte Implantatversorgung ohne den erforderlichen Knochenaufbau gewesen, infolgedessen hätten die Implantate direkt in die Kieferhöhle geragt, so dass sie an Fokaltoxikose, Sinusitis und Abwehrschwäche erkrankt sei. Schließlich habe sie sich einer aufwändigen operativen Behandlung in Z. unterzogen, seitdem sei sie beschwerdefrei. Auch darüber habe sie den Agenten unterrichtet. In der Replik hat die Klägerin ergänzend ausgeführt, die beiden letzten operativen Eingriffe hätten in einem Krankenhaus in Z. in den Jahren 2002 und 2003 stattgefunden. Sie habe auch im Rahmen der ihr als medizinischer Laie gegebenen Möglichkeiten den Agenten darüber aufgeklärt, dass es wegen der fehlerhaften kieferchirurgischen Behandlung zu einer bakteriellen Vergiftung (odontogenen Fokaltoxikose) und Kieferhöhlenvereiterungen gekommen sei. Die langjährige Folgewirkung dieser Vergiftung sei ein "schlechter Allgemeinzustand" gewesen, der über Jahre hinweg in den diversen Behandlungsrechnungen Niederschlag gefunden habe. Insoweit hat die Klägerin auf die vorgelegten Arztberichte und Atteste aus den Jahren 2001 bis 2006 verwiesen.
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- b) Dass sie den Versicherungsagenten im Einzelnen von den weiteren in der Rücktrittserklärung der Beklagten aufgeführten Erkrankungen - wie Erschöpfungszustand und Immundefizit, Hepatopathie, Cystitis, Dysthyreose, Nephropathie, Mikrohämaturie, Herpesinfektionen, Dysbiose des Darms und Alopezia/Haarausfall - in Kenntnis gesetzt habe, hat die Klägerin nicht behauptet. Ebenso wenig hat sie vorgetragen, dem Agenten die außer ihrem Hausarzt konsultierten Ärzte genannt zu haben.
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- Allerdings kann von dem Versicherungsnehmer nicht verlangt werden , den Versicherungsagenten über sämtliche im Verlauf einer längeren und umfassenden Behandlung gestellten Diagnosen und jeden einzelnen Behandlungsschritt zu informieren. Das Erfordernis einer substantiierten Behauptung, den Agenten zutreffend mündlich unterrichtet zu haben, bedeutet nicht, dass der Versicherungsnehmer darlegen muss, dem Agenten eine medizinisch exakte Schilderung von Krankheitsbild, Diagnose und Behandlung gegeben zu haben. Vielmehr ist der prozessuale Vortrag auch dann hinreichend substantiiert, wenn der Versicherungsnehmer nicht nur pauschal behauptet, den Versicherungsagenten richtig informiert zu haben, sondern wenn er laienhaft schildert, welche Beschwerden und Krankheitsbilder er dem Agenten genannt habe.
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- Gemessen daran ist das Vorbringen der Klägerin hinreichend substantiiert. Sie hat vorgetragen, sie habe den Agenten der Beklagten auf die fehlerhafte kieferorthopädische Behandlung, die infolgedessen eingetretene bakterielle Vergiftung und ihren dadurch bedingten schlechten gesundheitlichen Allgemeinzustand hingewiesen. Dass die weiteren Behandlungen letztlich auf die Belastung durch die langwierige Zahnbehandlung zurückzuführen waren, haben alle Ärzte bestätigt, die von der Beklagten vor ihrer Rücktrittserklärung um ärztliche Atteste ersucht wurden. Im Übrigen hat die Klägerin behauptet, ihrem Hausarzt seien die fehlerhafte Implantatversorgung, die daraus resultierenden Kieferhöhlenentzündungen und sonstigen Beschwerden sowie die Kieferoperationen bekannt gewesen. Das Wissen ihres Hausarztes brauchte die Klägerin nicht weiter zu konkretisieren, zumal sie darauf vertrauen durfte, dass er auf die Anfrage der Beklagten umfassend Auskunft über ihren Gesundheitszustand geben würde.
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- Mehr brauchte die Klägerin nicht vorzutragen. Das Berufungsgericht wird daher den von der Beklagten als Zeugen benannten Agenten dazu vernehmen müssen, ob ihm die Klägerin ihre weiteren Beschwerden nicht mitgeteilt hat.
Dr. Karczewski Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
LG München I, Entscheidung vom 12.12.2008 - 26 O 7996/07 -
OLG München, Entscheidung vom 19.05.2009 - 25 U 1646/09 -
Annotations
(1) Die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht unterliegt der Beschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde).
(2) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nur zulässig, wenn
- 1.
der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20 000 Euro übersteigt oder - 2.
das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat.
(3) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils bei dem Revisionsgericht einzulegen. Mit der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, vorgelegt werden.
(4) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sieben Monaten nach der Verkündung des Urteils zu begründen. § 551 Abs. 2 Satz 5 und 6 gilt entsprechend. In der Begründung müssen die Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2) dargelegt werden.
(5) Das Revisionsgericht gibt dem Gegner des Beschwerdeführers Gelegenheit zur Stellungnahme.
(6) Das Revisionsgericht entscheidet über die Beschwerde durch Beschluss. Der Beschluss soll kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist, oder wenn der Beschwerde stattgegeben wird. Die Entscheidung über die Beschwerde ist den Parteien zuzustellen.
(7) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils. § 719 Abs. 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Revisionsgericht wird das Urteil rechtskräftig.
(8) Wird der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stattgegeben, so wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt. In diesem Fall gilt die form- und fristgerechte Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde als Einlegung der Revision. Mit der Zustellung der Entscheidung beginnt die Revisionsbegründungsfrist.
(9) Hat das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, so kann das Revisionsgericht abweichend von Absatz 8 in dem der Beschwerde stattgebenden Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.