Bundesgerichtshof Beschluss, 13. Juni 2002 - 5 StR 193/02

bei uns veröffentlicht am13.06.2002

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 193/02

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 13. Juni 2002
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 13. Juni 2002

beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 16. November 2001 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht hat den Angeklagten wegen – 1996 und später begangenen – sexuellen Mißbrauchs eines Kindes (§ 176 Abs. 1 a.F.) in 45 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und ihn im übrigen freigesprochen. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge zum Strafausspruch Erfolg; zum Schuldspruch ist sie aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Zu Recht beanstandet die Revision, das Landgericht habe entgegen § 261 StPO den Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen zugrunde gelegt, ohne diesen in der Hauptverhandlung gehört oder das Gutachten verlesen zu ha- ben. Die Verfahrensrüge genügt den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Einer Mitteilung des schriftlichen Vorgutachtens bedurfte es nicht, da nicht etwa Widersprüche zwischen schriftlichem Gutachten und entsprechenden Urteilsfeststellungen geltend gemacht worden sind, sondern allein gerügt worden ist, daß nicht in der Hauptverhandlung erzielte Beweisergebnisse bei Beurteilung der Schuldfrage berücksichtigt worden seien.
Das Landgericht führt diesbezüglich in den Urteilsgründen aus (UA S. 28): “Die Feststellungen der Kammer zur Schuldfähigkeit des Angeklagten beruhen auf dem nachvollziehbaren und überzeugenden Gutachten des Sachverständigen G , Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie , vom 4. Juli 2000 (Bl. 198 d. A.).” Dieser Sachverständige ist jedoch ± wie durch das Schweigen des Hauptverhandlungsprotokolls hierzu bewiesen wird (§ 274 StPO) ± weder in der Hauptverhandlung vernommen, noch ist sein schriftliches Gutachten dort verlesen worden.
Der Verfahrensverstoß führt allerdings nur zur Aufhebung des Strafausspruchs , weil angesichts der im übrigen rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zur Person des Angeklagten die Annahme der Voraussetzungen des § 20 StGB von vornherein nicht in Betracht kommt. Der Senat kann hingegen nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, daß Ausführungen des Sachverständigen zur Person und den Taten des Angeklagten für die Erörterung des § 21 StGB oder die Bemessung der Strafen von Bedeutung sein können.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin: Bei der Festsetzung der Strafen wird der Tatrichter die strafschärfende Berücksichtigung von Erwägungen zu vermeiden haben, daß der Angeklagte “als Großvater eine familiäre Vertrauensposition innehatte, die er zur Befriedigung seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse zum Nachteil des Kindeswohls mißbraucht hat” oder daß “das Erleben einer Mißbrauchssituation im eng- sten familiären Umfeld ... zu schweren psychischen Störungen in der Entwicklung des geschädigten Kindes führenº kann (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 3 Sexualdelikte 2, 3, 4).
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Referenzen - Gesetze

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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafprozeßordnung - StPO | § 344 Revisionsbegründung


(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen. (2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer R

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Strafgesetzbuch - StGB | § 46 Grundsätze der Strafzumessung


(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. (2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Um

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der

Strafprozeßordnung - StPO | § 274 Beweiskraft des Protokolls


Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Referenzen

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen.

(2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.

Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.