Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 537/08
vom
15. Januar 2009
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 15. Januar 2009 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 7. Juli 2008 aufgehoben, soweit eine Entscheidung über die Kompensation wegen einer der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerung unterblieben ist. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht Stralsund hatte den Angeklagten durch Urteil vom 10. März 2006 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in zwei Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in vier weiteren Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Auf seine Revision hob der Senat dieses Urteil durch Beschluss vom 26. September 2006 - 4 StR 353/06 (NStZ 2007, 352 = StV 2007, 22) wegen Vorliegens des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 5 StPO auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Stralsund zurück. Dieses verurteilte den Angeklagten sodann am 12. April 2007 erneut wegen aller sechs dem Angeklagten bereits im ersten Urteil zur Last gelegten Sexualstraftaten und verhängte dieselben Einzelstrafen und auch dieselbe Gesamtfreiheitsstrafe wie in dem ersten Urteil. Die hiergegen eingelegte Revision des Angeklagten hatte wiederum mit einer Verfahrensbeschwerde Erfolg. Gerügt war die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes des § 250 StPO. Der Senat stellte durch Beschluss vom 29. Januar 2008 - 4 StR 449/07 (BGHSt 52, 148 = NJW 2008, 1010 = StV 2008, 170) das Verfahren in drei der abgeurteilten Fälle ein (dadurch entfielen Einzelfreiheitsstrafen von zwei Jahren sechs Monaten und zweimal zwei Jahren), bestätigte die Verurteilung wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in zwei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in einem weiteren Fall sowie die zugehörigen Einzelfreiheitsstrafen von drei Jahren, zwei Jahren sechs Monaten und zwei Jahren und wies unter Verwerfung der weiter gehenden Revision die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über die Gesamtstrafe an das Landgericht Stralsund zurück. Dieses verurteilte den Angeklagten auf der Grundlage des rechtskräftigen Schuldspruchs und der rechtskräftig festgesetzten Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten. Hiergegen wendet sich der Angeklagte wiederum mit seiner Revision, mit der er insbesondere die fehlende Berücksichtigung einer der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerung durch das Landgericht beanstandet. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Soweit sich der Beschwerdeführer gegen den Gesamtstrafenausspruch wendet, ist das Rechtsmittel offensichtlich unbegründet. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts unter Ziff. 1. seiner Antragsschrift vom 18. Dezember 2008. Die Ausfüh- rungen in der Gegenerklärung des Verteidigers vom 13. Januar 2009 führen zu keinem anderen Ergebnis.
3
2. Dagegen macht der Beschwerdeführer zu Recht einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK geltend, der bei der Rechtsfolgenbemessung hätte berücksichtigt werden müssen. Dies lässt zwar den Gesamtstrafenausspruch unberührt, führt aber zur Aufhebung des Urteils, soweit das Landgericht unterlassen hat, nach den Grundsätzen des Beschlusses des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 (BGHSt 52, 124 = NJW 2008, 860; sog. Vollstreckungsmodell ) eine Kompensation vorzunehmen.
4
a) Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die durch Aufhebung eines Urteils im Rechtsmittelzug auf Grund eines Verfahrensfehlers erforderliche neue Verhandlung der Sache und die dadurch bedingte Dauer des Verfahrens generell als Konventionsverstoß zu werten und deshalb der in Folge der Durchführung des Rechtsmittelverfahrens verstrichene Zeitraum der Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen ist (vgl. die Nachweise bei Fischer StGB 56. Aufl. § 46 Rdn. 125). Hier sind jedoch im selben Verfahren mehrmals Urteile wegen allein von dem Gericht zu verantwortenden Verfahrensfehlern aufgehoben worden und musste die Sache deshalb wiederholt neu verhandelt werden. Die dadurch eingetretene Verzögerung des Abschlusses des Verfahrens und die damit für den Angeklagten verbundene besondere Belastung begründet daher einen Kompensationsanspruch aus Art. 13 EMRK. Das gilt hier umso mehr, als seit der Anklageerhebung mittlerweile über drei Jahre verstrichen sind und das Verfahren in Folge der zweifach notwendig gewordenen Neuverhandlung - gerechnet von der ersten in dieser Sache ergangenen Revisionsentscheidung - allein bis zu dem an- gefochtenen Urteil annähernd zwei Jahre gedauert hat. Dabei kommt es nicht mehr entscheidend darauf an, dass sich zuletzt das Verfahren noch einmal um über zwei Monate verzögert hat, weil die Verteidigung mit Erfolg den Besetzungseinwand nach § 222 b StPO erhoben hat.
5
b) Die im angefochtenen Urteil unterbliebene, wegen des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gebotene Kompensation für die der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung hat der neue Tatrichter im Wege des Vollstreckungsmodells (BGHSt - GS - 52, 124 = NJW 2008, 860) nachzuholen. Er wird zunächst festzustellen haben, welcher Zeitraum zwischen der Eröffnung des Tatvorwurfs und dem Urteil bei zeitlich angemessener Verfahrensgestaltung als erforderlich anzusehen ist; dieser Zeitraum ist bei der Berechnung der Dauer der in den Verantwortungsbereich der Justiz fallenden Verfahrensverzögerung nicht zu berücksichtigen. Sodann wird das Gericht – da angesichts des Ausmaßes der Verzögerung deren bloße ausdrückliche Feststellung in den Entscheidungsgründen zur Kompensation ersichtlich nicht genügt – festzulegen haben, welcher bezifferte Teil der Gesamtstrafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Bei der Bemessung sind vor allem das Gewicht der Verfahrensfehler , die zur wiederholten Aufhebung der Urteile in diesem Verfahren geführt haben, sowie die Auswirkungen der Verzögerungen auf den Angeklagten zu berücksichtigen (vgl. BGHSt - GS - aaO 146 = NJW aaO S. 866; BGH, Beschluss vom 26. November 2008 - 5 StR 450/08 - m.w.N.). Dagegen bleiben die mit der Verfahrensdauer als solcher verbundenen Belastungen bei der Kompensation außer Ansatz, da sie vom Landgericht in dem angefochtenen Urteil zu Recht bei der Gesamtstrafbemessung zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt worden sind (BGH - GS - aaO 147; BGH, Beschluss vom 14. Mai 2008 – 3 StR 75/08). Hingegen wird der neue Tatrichter bei dem Maß der Kompensa- tion auch die weitere Verzögerung zu bedenken haben, die nunmehr bis zur wiederholten Neuverhandlung der Sache eintritt.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Mutzbauer

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 353/06
vom
26. September 2006
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 26. September 2006 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 10. März 2006 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in vier weiteren Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision , mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
2
1. Der Beschwerdeführer macht mit Recht das Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 5 StPO geltend.
3
a) Der Rüge liegt folgender, von dem Beschwerdeführer vollständig vorgetragener Verfahrensgang zu Grunde: Am ersten Tag der Hauptverhandlung schloss die Strafkammer den Angeklagten gemäß § 247 Satz 1 StPO und die Öffentlichkeit gemäß § 171 b Abs. 1 GVG "während der Vernehmung der Zeugin Jaqueline B." von der Verhandlung aus. Nach Ausführung des Beschlusses erschien diese Zeugin, die in diesem Verfahren Nebenklägerin ist. Als Stieftochter des Angeklagten u.a. nach § 52 StPO belehrt, erklärte sie, nicht aussagen zu wollen. Weiter ist im Protokoll festgehalten: "Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Die Zeugin erklärte: 'Ich bin damit einverstanden, dass alles das verwertet wird, was ich in diesem Verfahren gegenüber der Kriminalpolizei, dem aussagepsychologischen Sachverständigen Dipl.-Psych. D. und der Richterin am AG R. gegenüber gesagt habe'. v.u.g. Die Öffentlichkeit wurde um 12.05 Uhr wieder hergestellt, die Zeugin wurde entlassen und der Angeklagte wieder vorgeführt. Dem Angeklagten wurde der wesentliche Inhalt der Aussage der Zeugin B. bekannt gegeben. Der Angeklagte äußerte sich dazu nicht".
4
b) Bei diesem Verfahrensgang beanstandet die Revision mit Erfolg, dass der Angeklagte bei der Verhandlung über die Entlassung der Zeugin B. nicht anwesend war. Der Ausschluss des Angeklagten von der Verhandlung gemäß § 247 StPO ließ die Entfernung des Angeklagten nur während der Vernehmung der Zeugin zu. Die Verhandlung über die Entlassung gehört aber nicht mehr zur Vernehmung, sondern ist ein selbständiger Verfahrensabschnitt und grundsätzlich auch ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung (st. Rspr.; vgl. MeyerGoßner StPO 49. Aufl. § 247 Rdn. 20 m. Rechtsprechungsnachweisen). Der Angeklagte, dessen Entfernung aus dem Sitzungssaal während der Vernehmung eines Zeugen durch das Gericht angeordnet worden ist, muss daher zur Verhandlung über die Entlassung des Zeugen wieder zugelassen werden. Das ist hier nicht geschehen.
5
c) Ein Ausnahmefall, in dem trotz vorschriftswidriger Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Entlassung der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht eingreift, liegt nicht vor (vgl. BGH StV 2000, 239 m.w.N.). Insbesondere kann unter den hier gegebenen Umständen auch nicht ausnahmsweise schon denkgesetzlich jegliches Beruhen des Urteils auf der bloßen Abwesenheit des Angeklagten während der Entscheidung über die Entlassung der Zeugin ausgeschlossen werden (vgl. dazu zuletzt Senatsbeschluss vom 11. Mai 2006 - 4 StR 131/06 m.w.N.). Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob ein solcher Ausnahmefall dann anzunehmen wäre, wenn die Zeugin unter Berufung auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht "schlicht" jegliche Angaben, die sich auf die Sache beziehen, unterlassen hätte. So liegt es hier im Hinblick darauf, dass die Zeugin trotz ihrer berechtigten Zeugnisverweigerung entsprechend der Senatsentscheidung BGHSt 45, 203 die Verwertung der bei ihren nicht richterlichen Vernehmungen gemachten Angaben gestattet und damit auf das in § 252 StPO enthaltene Verwertungsverbot verzichtet hat, nicht. Ob es sich anders verhielte, wenn die Zeugin diesen Verzicht von sich aus und ohne weitere Angaben erklärt hätte, kann dahin stehen. Denn die Gründe des angefochtenen Urteils weisen aus, dass die Zeugin - ersichtlich im Rahmen der im Protokoll der Hauptverhandlung vermerkten Erörterung der Sach- und Rechtslage - ihr prozessuales Verhalten näher erläutert und angegeben hat, "sie habe nicht im Hinblick und mit Rücksicht auf die Zwangslage, die Wahrheit zu sagen und dadurch dem Angeklagten zu schaden, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, sondern um nicht noch einmal eine emotional und für sie schmerzhafte Befragung durchzustehen" (UA 11). Damit hat sie sich inzidenter auch zum Wahrheitsgehalt ihrer früheren Angaben geäußert, die eine wesentliche Grundlage für die Überzeugungsbildung der Strafkammer darstellen.
6
Bei dieser Sachlage musste dem Angeklagten Gelegenheit gegeben werden, die Erläuterung der Zeugin B. in ihrer Anwesenheit, jedenfalls aber vor ihrer Entlassung, zu hinterfragen, um möglicherweise auf eine Änderung ihrer Entscheidung hinzuwirken. Deshalb kann ein denkgesetzlicher Aufschluss des Beruhens auch nicht damit begründet werden, dass der Angeklagte nach Entlassung der Zeugin und seiner Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO sich nicht geäußert hat.
7
2. Für die neuerliche Hauptverhandlung bemerkt der Senat mit Blick auf die weitere im Zusammenhang mit der Vernehmung der Zeugin B. auf die Verletzung des § 252 StPO gestützte Verfahrensrüge, dass ein Zeuge, der - wie die Zeugin B. - trotz Zeugnisverweigerung die Verwertung seiner bei nicht richterlichen Vernehmungen gemachten Angaben gestattet, über die Folgen seines Verzichts auf das sonst bestehende Verwertungsverbot ausdrücklich zu belehren ist (BGHSt 45, 203, 208; Meyer-Goßner aaO § 252 Rdn. 16 a). Diese "qualifizierte" Belehrung ist - nicht anders als die "qualifizierte" Rechtsmittelbelehrung nach einer Urteilsabsprache (BGHSt - GSS - 50, 40) - eine wesentliche Förmlichkeit und deshalb nach den allgemeinen Grundsätzen (vgl. Engelhardt in KK 5. Aufl. § 273 Rdn. 4) zu protokollieren (§ 273 Abs. 1 StPO).
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen. Die Vernehmung darf nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer Erklärung ersetzt werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 449/07
vom
29. Januar 2008
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: nein
BGHR: ja
Die Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts verbunden mit der
Erklärung, die Verwertung der bei einer früheren Vernehmung gemachten
Aussage zu gestatten (BGHSt 45, 203), schränkt den Unmittelbarkeitsgrundsatz
nicht ein und erlaubt deshalb grundsätzlich nicht die
unmittelbare Verwertung einer Aufzeichnung über die frühere
Vernehmung.
BGH, Beschluss vom 29. Januar 2008 – 4 StR 449/07 – LG Stralsund
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung, teils auf Antrag
des Generalbundesanwalts sowie nach Anhörung des Beschwerdeführers am
29. Januar 2008 gemäß §§ 154 Abs. 2, 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Angeklagte in den Fällen II. 2., 3. und 4. der Gründe des Urteils des Landgerichts Stralsund vom 12. April 2007 verurteilt worden ist; insoweit trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten. 2. Auf die Revision des Angeklagten wird das genannte Urteil
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in zwei Fällen und des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in einem weiteren Fall schuldig ist,
b) im Gesamtstrafenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben. 3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die übrigen Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 4. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht Stralsund hatte den Angeklagten am 10. März 2006 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in zwei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in vier weiteren Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Senat mit Beschluss vom 26. September 2006 (4 StR 353/06) das Urteil aufgrund einer Verfahrensrüge aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Das Landgericht hat den Angeklagten nunmehr wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in drei Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in drei weiteren Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung, verurteilt und abermals eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verhängt. Der Verurteilung liegen Taten zu Grunde, die der Angeklagte nach den Feststellungen im Zeitraum von Dezember 2004 bis zum 4. Februar 2005 zum Nachteil der Nebenklägerin, seiner am 22. Juli 1989 geborenen Stieftochter Jacqueline B. , begangen hat. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel führt zu einer Teileinstellung des Verfahrens und hat im Übrigen den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; darüber hinausgehend ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Zu Recht macht der Angeklagte eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes des § 250 StPO geltend. Der Rüge liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:
3
Die Nebenklägerin verweigerte in der Hauptverhandlung das Zeugnis gemäß § 52 StPO. Zugleich ließ sie zunächst durch ihre Rechtsanwältin erklären, dass ihre Angaben, die sie im Ermittlungsverfahren vor der Kriminalbeamtin T. , vor der Ermittlungsrichterin R. und vor dem Sachverständigen D. zum Tatgeschehen gemacht hatte, verwertet werden dürften. Nach Belehrung über die Folgen der Zeugnisverweigerung gemäß § 252 StPO und über die Folgen einer „Freigabe“ nach den Grundsätzen der Senatsentscheidung BGHSt 45, 203 erklärte sie, sie sei damit einverstanden, dass ihre Angaben gegenüber den Vernehmungspersonen eingeführt und verwertet würden.
4
Das Landgericht vernahm daraufhin die Kriminalbeamtin T. als Zeugin zu den Angaben der Nebenklägerin bei ihren fünf im Ermittlungsverfahren durchgeführten polizeilichen Vernehmungen. Im Rahmen der Vernehmung wurde die Videoaufzeichnung von der dritten polizeilichen Vernehmung der Nebenklägerin “im Wege des Vorhalts an die Zeugin durch Abspielen in Augenschein genommen“. Das Abspielen wurde immer wieder unterbrochen und die Zeugin T. mit weiteren Angaben zu der aufgezeichneten Vernehmung gehört. Nach zwanzig Minuten beantragte der Verteidiger, das Abspielen der Videoaufzeichnung wegen deren Länge abzubrechen. Der Antrag wurde durch Kammerbeschluss unter Berufung auf § 255 a Abs. 1 StPO zurückgewiesen: Die Sachaufklärung gebiete den Vorhalt, “um die Entstehung der Aussage und deren Verlauf beurteilen zu können bzw. dessen vollständigen Inhalt zu erfassen“. Die Videoaufzeichnung wurde im weiteren Verlauf in voller Länge abgespielt, auch insoweit immer wieder unterbrochen durch Aussagen der Zeugin T. .
5
Das Landgericht vernahm sodann die Ermittlungsrichterin R. als Zeugin zum Inhalt der Angaben der Nebenklägerin bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung vom 20. September 2005. Auch in diesem Zusammenhang wurde die Videoaufzeichnung dieser Vernehmung “zum Zwecke des Vorhalts durch Abspielen in Augenschein genommen“, und zwar in voller Länge und immer wieder unterbrochen durch Aussagen der Zeugin R. . Den Antrag des Verteidigers, auch die Vorführung dieser Videoaufzeichnung zu beenden, wies die Kammer zurück: “Nur die Erfassung der Gesamtheit der Tatsachen“, so die Jugendschutzkammer, “wird es den Beteiligten ermöglichen, sich einen erschöpfenden Eindruck von der richterlichen Aussage der J. B. zu verschaffen.“
6
Schließlich vernahm das Landgericht den Sachverständigen D. dazu, was die Nebenklägerin ihm gegenüber im Explorationsgespräch vom 6. September 2005 über die Taten berichtet hatte. Seine über dieses Gespräch gefertigte Tonbandaufzeichnung wurde abgespielt. Der Verteidiger beantragte, die Wiedergabe abzubrechen, da der Vorhalt zu lang sei. Die Kammer wies auch diesen Antrag zurück. Die Aufklärungspflicht gebiete die Einführung des Mitschnitts in gesamter Länge; der Mitschnitt sei eine “wertvoll-weitere Grundlage“ für die kritische Prüfung des Gutachtens; die Kammer sei gehalten, “zum Tatgeschehen verfügbare Erkenntnismöglichkeiten, die sie in den Stand setzen, die Glaubwürdigkeit der Zeugin zu überprüfen, auszuschöpfen“. Das Abspielen wurde sodann bis zum Ende fortgesetzt. Anschließend sagte der Sachverständige weiter als Zeuge aus und erstattete sein Gutachten. Der Verteidiger widersprach der Verwertung der Erkenntnisse aus der Inaugenscheinnahme der polizeilichen Videovernehmung sowie der richterlichen Videovernehmung durch den Sachverständigen und beantragte, den Sachverständigen anzuweisen, diese Erkenntnisse in seinem Gutachten nicht zu verwerten. Zur Begründung machte er geltend, dass die Videoaufzeichnungen lediglich als Vorhalt eingeführt worden seien; verwertbar sei jedoch nur, was die Zeugen T. und R. auf die Vorhalte erklärt hätten, nicht hingegen der Vorhalt selbst. Durch Beschluss der Kammer wurde auch dieser Antrag zurückgewiesen. Der Sachverständige habe “sämtliche verfügbaren Erkenntnisse in seine Begutachtung mit einzubeziehen“.
7
2. Die Verfahrensweise des Landgerichts war rechtsfehlerhaft. Das Landgericht hat damit gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO verstoßen.
8
a) Allerdings durfte das Landgericht die Video- und Tonbandaufzeichnungen zum Zwecke des Vorhalts an die Verhörspersonen abspielen (vgl. BGHSt 1, 4, 8; 11, 338; 14, 310 f). Dagegen war es der Jugendschutzkammer auf Grund von § 250 Satz 2 StPO verwehrt, die Vernehmung der Nebenklägerin durch die Vorführung der Aufzeichnungen „zu ersetzen“. Denn der Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO wird durch die ausdrückliche Regelung der Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer Zeugenvernehmung in der durch das Zeugenschutzgesetz vom 30. April 1998 (BGBl I 820) eingeführten Vorschrift des § 255 a StPO nicht eingeschränkt. Deshalb ist – wie der Verweis auf §§ 251 bis 253 StPO in § 255 a Abs. 1 StPO ergibt – die Vorführung auch nur insoweit zulässig, wie dies bei der Verlesung eines Vernehmungsprotokolls der Fall wäre. Daran änderte hier insbesondere auch die “Freigabeerklärung“ der Nebenklägerin nichts. Sie überwand nur das Verwertungsverbot, das sich im Falle der Zeugnisverweigerung nach ständiger Rechtsprechung aus § 252 StPO ergibt (BGHSt 45, 203). Eine weitergehende Gestaltungsmacht verschaffte sie der Nebenklägerin nicht. Insbesondere vermochte sie nicht die gesetzlichen Regelungen über die Einführung der früheren Angaben der Nebenklägerin in die Hauptverhandlung außer Kraft zu setzen.
9
b) Diese Beschränkung der Verwertung hat das Landgericht nicht beachtet. Denn das Abspielen erfolgte hier nicht lediglich als bloßer Vernehmungsbehelf im Wege eines zulässigen Vorhalts.
10
Zwar wurden die Videoaufzeichnungen ausweislich des Protokolls “zum Zwecke des Vorhalts“ abgespielt. Das Abspielen erfolgte auch nicht etwa in einem Stück, vielmehr wurde es immer wieder unterbrochen, um die Zeugen T. und R. jeweils zum Inhalt der Aufzeichnungen zu befragen. Auch der Verteidiger ging hiervon aus, als er beantragte, dass der Sachverständige sein Gutachten unter Ausblendung der Videoaufzeichnungen neu zu erstatten habe, da der Inhalt der Vorhalte als solcher nicht verwertet werden dürfe. Die Beschlüsse der Kammer, mit denen die Unterbrechungsanträge des Verteidigers abgelehnt wurden, machen jedoch deutlich, dass es dem Landgericht darum ging, auf die Videoaufzeichnungen nicht nur als Vernehmungsbehelf zurückzugreifen, sondern unmittelbar Zugriff zu nehmen. Das Abspielen der Videoaufzeichnungen erfolgte, “um die Entstehung der Aussage und deren Verlauf beurteilen zu können bzw. dessen vollständigen Inhalt zu erfassen“. Dementsprechend wurden nicht nur einzelne Passagen abgespielt. Vielmehr wurden die Videoaufzeichnungen in voller Länge in Augenschein genommen.
11
Gleiches gilt im Ergebnis für den Tonbandmitschnitt über das Explorationsgespräch des Sachverständigen. Das Protokoll schweigt sich zum Zweck der Wiedergabe des Tonbandmitschnitts aus. Von einem Vorhalt ist nicht die Rede. Das Abspielen erfolgte - anders als die Vorführung der Videoaufzeichnungen bei den Zeugen T. und R. – auch nicht etwa abschnittsweise und unterbrochen durch Aussagen des Zeugen D. . Auch der Beschluss der Kammer, mit dem der Antrag des Verteidigers auf Beenden des Abspielens abgelehnt wurde, beruft sich nicht auf einen Vorhalt; vielmehr sollte danach der Mitschnitt zum Zwecke der besseren Aufklärung in gesamter Länge eingeführt werden; die Vorführung als solche diente dem Landgericht ausdrücklich als weitere Grundlage für die kritische Prüfung des Gutachtens und als zum Tatgeschehen verfügbare Erkenntnismöglichkeit, die es ermöglichen sollte, die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin zu überprüfen.
12
c) Das Abspielen der Videoaufzeichnungen “ersetzte“ die Vernehmung der Nebenklägerin i.S. d. § 250 StPO zumindest teilweise. Die Voraussetzungen, unter denen das Abspielen der Videoaufzeichnungen zum Zwecke des Augenscheinsbeweises ausnahmsweise erlaubt wäre, lagen nicht vor. § 251 Abs. 1 Nr 2 StPO greift bei der Ausübung von Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechten nicht (vgl. BGH NJW 2007, 2195 für schriftliche Erklärungen eines Zeugen, der die Aussage nach § 55 StPO vollständig verweigert hatte). Das Abspielen der Videoaufzeichnungen konnte auch nicht auf § 255 a Abs. 1 StPO i.V.m. § 253 StPO gestützt werden. Diese Vorschrift regelt den Fall, dass ein Zeuge in der Hauptverhandlung vernommen wird und ergänzend hierzu eine Videoaufzeichnung über “seine“ frühere Vernehmung abgespielt wird. Hier jedoch wurden lediglich die Verhörspersonen als Zeugen zur Sache vernommen, nicht hingegen die Auskunftsperson (die Nebenklägerin) selbst. Schließlich waren auch nicht die Voraussetzungen des § 255 a Abs. 2 StPO gegeben.
13
Den gleichen Beschränkungen unterlag auch die Vorführung der Tonbandaufzeichnung über das Explorationsgespräch des Sachverständigen D. , das dieser im Auftrag der Ermittlungsbehörden mit der Nebenklägerin geführt hatte. Für die Verwertung dieses Tonbandmitschnitts galt der Unmittelbarkeitsgrundsatz entsprechend. Zwar handelte es sich nicht um die Aufzeichnung einer “Zeugenvernehmung“ eines Strafverfolgungsorgans. Jedoch diente die Exploration der Nebenklägerin von vornherein Beweiszwecken, denn die Staatsanwaltschaft hatte den Sachverständigen beauftragt, die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin gutachterlich zu prüfen. Die Nebenklägerin wusste um den Zweck des Explorationsgesprächs. Durch ihre Angaben trug sie bewusst zur Sachverhaltsaufklärung bei. Unter diesen Umständen stand die Befragung der Nebenklägerin durch den Sachverständigen im Zusammenhang mit ihrer Exploration – anders als die „Vernehmung“ eines Zeugen durch den Verteidiger wie in der der Senatsentscheidung BGHSt 46, 1 zu Grunde liegenden Fallgestaltung – einer amtlichen Vernehmung gleich (vgl. BGHSt 40, 211, 213; 45, 203, 205 f). Was der Sachverständige zu den Angaben der Nebenklägerin zum Tatgeschehen festgehalten hatte, unterlag deshalb hinsichtlich der Einführung in die Hauptverhandlung und der Verwertung auch den gleichen Beschränkungen wie eine Zeugenvernehmung. Es kann keinen Unterschied machen, ob der Sachverständige diese Angaben schriftlich protokolliert, auf Video aufgezeichnet oder – wie hier – lediglich einen Tonbandmitschnitt gefertigt hat.
14
3. Auf der unzulässigen Vorführung der Video- und Tonbandaufzeichungen beruht das Urteil in den Fällen II. 1., 5. und 6. der Urteilsgründe allerdings nicht.
15
Der Senat kann angesichts der Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil ausschließen, dass das Landgericht zu diesen Fällen ohne die Vorführung der Video- und Tonbandaufzeichungen zu einem abweichenden Ergebnis gelangt wäre. Die Inaugenscheinnahme der Aufzeichnungen hatte für die Beweiswürdigung in diesen Fällen eine allenfalls untergeordnete Bedeutung. Die Feststellungen zu diesen Taten beruhen entscheidend unmittelbar auf der Aussage der Zeugin T. in der Hauptverhandlung. Wie die Urteilsgründe belegen, wusste die Zeugin umfassend noch aus eigener Erinnerung über die mehrfache Vernehmung der Nebenklägerin zu berichten. Die Wiedergabe der Schilderungen der Nebenklägerin in der Aussage der Kriminalbeamtin enthielt bereits alle wesentlichen und charakteristischen Einzelheiten dieser drei Taten, wie sie das Landgericht festgestellt hat. Zudem fand die Aussage der Zeugin T. zu den Angaben der Nebenklägerin zu diesen drei Taten auch eine Bestätigung in den auf die eigene Erinnerung gestützten Aussagen der Zeugen R. und D. . Auf die Videoaufzeichnung einer von insgesamt fünf polizeilichen Vernehmungen hat das Landgericht insoweit nach den Urteilsgründen nicht abgestellt.
16
Dem fehlenden Beruhen der Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II. 1, 5 und 6 der Urteilsgründe auf dem aufgezeigten Verfahrensverstoß steht auch nicht entgegen, dass das Urteil im Rahmen der Darstellung des Sachverständigengutachtens zur Glaubhaftigkeit auch auf die Tonbandaufzeichnung über das Explorationsgespräch zurückgreift. Denn das Landgericht hatte sich rechtsfehlerfrei bereits aus eigener Sachkunde auf Grund sowohl einer eingehenden Aussageanalyse als auch weiterer objektiver Indizien außerhalb der Aussage der Nebenklägerin ein positives Urteil über deren Glaubhaftigkeit gebildet und die Überzeugung gewonnen, dass der Angeklagte die Taten begangen hat, von denen die Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren berichtet hat. Angesichts dessen bestätigte das aussagepsychologische Gutachten des Sachverständigen D. mit dem Ergebnis, dass die Nebenklägerin “mit großer Wahrscheinlichkeit“ nicht in der Lage gewesen wäre, ihre Aussage ohne Erlebnishintergrund hervorzubringen, lediglich die rechtsfehlerfreie eigene Beurteilung durch das Landgericht.
17
4. In den Fällen II. 2., 3. und 4. der Urteilsgründe war demgegenüber nicht auszuschließen, dass sich der Verfahrensfehler auf das Urteil ausgewirkt hat. Zu diesen Taten finden sich in der im Urteil wiedergegebenen Aussage der Kriminalbeamtin T. keinerlei Angaben der Nebenklägerin (Fälle II. 3. und 4.) bzw. keine ausreichenden Details (Fall II. 2.). Insoweit legen aber die umfangreichen wörtlichen Zitate aus der ermittlungsrichterlichen Vernehmung und dem Explorationsgespräch im Urteil nahe, dass das Landgericht in diesen Fällen zu seiner Überzeugungsbildung nicht nur auf die Aussagen der Zeugen R. und D. zurückgegriffen, sondern maßgeblich auch unmittelbar die in der Hauptverhandlung vorgeführten Aufzeichnungen herangezogen hat. Aus den Gründen des § 154 Abs. 1 StPO erscheint eine erneute Aufhebung und Zurückverweisung der Sache zu einer nochmaligen Verhandlung der Fälle II. 2., 3. und 4. untunlich, zumal nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich die Nebenklägerin nunmehr in einer neuerlichen Hauptverhandlung zu einer Aussage entschließen würde. Der Senat hat deshalb das Verfahren insoweit auf Antrag des Generalbundesanwalts gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.
18
5. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils unter Berücksichtigung der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insbesondere enthält die Beweiswürdigung nicht den von der Revision zu Fall II. 6. der Urteilsgründe geltend gemachten Widerspruch. Dass die Nebenklägerin zur genauen Reihenfolge des Eintreffens der Gäste am 4. Februar 2005 konkrete Angaben gemacht hätte, die im Widerspruch zu den Urteilsfeststellungen stünden, ergibt sich aus dem Urteil nicht und ist auch sonst nicht erkennbar.
19
6. Die Teileinstellung in den Fällen II. 2. bis 4. der Urteilsgründe führt zur Änderung des Schuldspruchs und zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs nach sich, über den der Tatrichter neu zu entscheiden haben wird.
Tepperwien Maatz Kuckein
Athing Sost-Scheible

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/07
vom
17. Januar 2008
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
___________________________________
MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert
worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter
näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle
der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen,
dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil
der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 - Landgericht Oldenburg
wegen besonders schwerer Brandstiftung u. a.
Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof
Basdorf, die Richter am Bundesgerichtshof Maatz, Dr. Miebach,
Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Gerhardt sowie die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Kolz und Becker am
17. Januar 2008 beschlossen:
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.

Gründe:


I.

1
Die Vorlage des 3. Strafsenats betrifft die Frage, in welcher Weise es im Rechtsfolgenausspruch zu berücksichtigen ist, wenn Strafverfolgungsbehörden das Verfahren gegen den Angeklagten in rechtsstaatswidriger Weise verzögert haben.
2
1. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen F. (3 StR 50/07) über die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Re- vision der Staatsanwaltschaft zu entscheiden. Mit ihrem Rechtsmittel beanstandet es die Revisionsführerin als sachlichrechtlichen Mangel, dass das Landgericht zum Ausgleich für eine von ihm zu verantwortende Verzögerung des Verfahrens gegen den Angeklagten auf eine Strafe erkannt hat, die das gesetzliche Mindestmaß unterschreitet.
3
Der Angeklagte hatte einen im Eigentum seiner Mutter stehenden, aber maßgeblich von ihm geleiteten Landgasthof in Brand gesetzt, um Leistungen aus der von seiner Mutter für den Betrieb abgeschlossenen Gebäude-, Inventar - und Ertragsausfallversicherung zu erlangen. Er hatte den Schadensfall der Versicherung gemeldet, diese hatte jedoch keine Zahlungen geleistet.
4
Wegen dieses Sachverhalts hat das Landgericht Oldenburg den Angeklagten der besonders schweren Brandstiftung (§ 306 b Abs. 2 Nr. 2 StGB) und des versuchten Betruges (§ 263 Abs. 1 und 2, §§ 22, 23 StGB) schuldig gesprochen und auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannt. Im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs hat das Landgericht zunächst festgestellt, dass das Verfahren in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Weise verzögert worden sei, weil zwischen dem Eingang der Anklageschrift am 5. Oktober 2004 und dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses am 24. Mai 2006 ein unvertretbar langer Zeitraum gelegen habe. Es hat sodann dargelegt, dass ohne Berücksichtigung dieser Verfahrensverzögerung zur Ahndung der besonders schweren Brandstiftung die in § 306 b Abs. 2 StGB vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe angemessen sei. Da § 306 b StGB keinen Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle vorsehe, sei ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens nicht möglich. Daher sei, um dem Angeklagten die verfassungsrechtlich gebotene Kompensation für die Verletzung des Beschleunigungsgebots zu gewähren, eine Strafrahmenverschiebung in entsprechender Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen. Das Landgericht hat demgemäß den Strafrahmen des § 306 b Abs. 2 StGB nach den Maßstäben des § 49 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 StGB gemildert und sodann zur Kompensation der Verfahrensverzögerung statt der an sich verwirkten Einzelfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine solche von drei Jahren und zehn Monaten festgesetzt.
5
Für den versuchten Betrug hat es an sich eine Freiheitsstrafe von einem Jahr für angemessen erachtet, wegen der überlangen Verfahrensdauer jedoch auf eine solche von sechs Monaten erkannt. Unter Erhöhung der Einsatzstrafe von drei Jahren und zehn Monaten hat es sodann eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verhängt; ohne die jeweiligen Strafabschläge hätte es eine solche von fünf Jahren und sechs Monaten gebildet.
6
2. Diese Strafzumessung hält der 3. Strafsenat für rechtsfehlerhaft. Er beabsichtigt, auf die Revision der Staatsanwaltschaft das angefochtene Urteil im gesamten Strafausspruch aufzuheben.
7
a) Hierbei will er es allerdings im Ausgangspunkt nicht beanstanden, dass das Landgericht im Hinblick auf die zwischen der Anklageerhebung und dem Eröffnungsbeschluss verstrichene Zeit einen von der Justiz zu verantwortenden Verstoß gegen das Gebot der Verfahrensbeschleunigung angenommen und die sich hieraus ergebende Verzögerung des Verfahrens - wenn auch nicht ausdrücklich ziffernmäßig, so doch nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen - auf etwa ein Jahr und sechs Monate bemessen hat. Auch sieht er keinen Verstoß gegen Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung dadurch begründet, dass das Landgericht als Ausgleich für diese Verfahrensverzögerung die für den versuchten Betrug eigentlich als angemessen erachtete Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr um die Hälfte reduziert und auf sechs Monate festgesetzt hat. Ebensowenig liege ein revisibler Bewertungsfehler des Landge- richts darin, dass dieses für das Brandstiftungsdelikt ohne Berücksichtigung der Verzögerung auf die Mindeststrafe von fünf Jahren erkannt hätte.
8
Als berechtigt erachtet der 3. Strafsenat dagegen die Rüge der Revision, das Landgericht habe zur Gewährleistung eines Ausgleichs für die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht das gesetzliche Mindestmaß der für das Brandstiftungsdelikt angedrohten Freiheitsstrafe unterschreiten dürfen. Die vom Landgericht vorgenommene entsprechende Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB hält er für rechtlich nicht zulässig. Er vertritt die Auffassung, die gebotene Kompensation für den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei insoweit vielmehr in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in der Weise vorzunehmen , dass auf die Mindeststrafe als angemessene Strafe zu erkennen und in der Urteilsformel gleichzeitig auszusprechen sei, dass ein bestimmter Teil der Strafe, der dem gebotenen Ausmaß der Kompensation entspricht, als vollstreckt gilt (Vollstreckungslösung).
9
b) Hinsichtlich der Einzelstrafe für die besonders schwere Brandstiftung in dieser Weise zu entscheiden, sieht sich der 3. Strafsenat weder durch Rechtsprechung anderer Strafsenate des Bundesgerichtshofs noch durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gehindert. Ob es möglich wäre, aus der reduzierten Einzelstrafe für den versuchten Betrug und einer teilweise für vollstreckt erklärten Einzelstrafe für das Brandstiftungsdelikt in stimmiger Weise eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden, hat der 3. Strafsenat offen gelassen. Denn er ist der Auffassung, dass die durch vorliegende Sonderkonstellation aufgeworfenen Rechtsfragen und das von ihm zu deren Lösung befürwortete Modell Anlass zu einer generellen Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung geben. Diese Prüfung ergebe, dass sich die Vollstreckungslösung allgemein stimmiger in das Rechtsfolgensystem des Strafgesetzbuchs einfüge und der an sich angemessenen Strafe die Funktion belasse, die ihr in daran anknüpfenden Folge- regelungen inner- und außerhalb des Strafrechts zukomme. Er möchte daher dieses Modell generell anwenden und demgemäß auch den Einzelstrafausspruch wegen des versuchten Betruges aufheben. Daher beabsichtigt er zu entscheiden: Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist der Angeklagte gleichwohl zu der nach § 46 StGB angemessenen Strafe zu verurteilen; zugleich ist in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
10
Da hiermit eine Abkehr von einer bisher einhelligen Rechtsprechung verbunden wäre, hat er dem Großen Senat für Strafsachen die Rechtsfrage wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Fortbildung des Rechts zur Entscheidung vorgelegt (BGH NJW 2007, 3294).
11
3. Der Generalbundesanwalt hat sich der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats angeschlossen.

II.

12
Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 4 GVG sind gegeben.
13
Die vorgelegte Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Die Ansicht des 3. Strafsenats, es sei rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht es für erforderlich erachtet habe, die Verzögerung des Verfahrens zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss auf der Rechtsfolgenseite zugunsten des Angeklagten auszugleichen, und hierfür hinsichtlich des Brandstiftungsdelikts innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens keine hinreichende Möglichkeit gesehen habe, ist vertretbar. Auf dieser Grundlage hängt die Revisionsentscheidung davon ab, wie die vorgelegte Rechtsfrage zu beantworten ist. Diese hat auch grundsätzliche Bedeutung. Verstöße der Strafverfolgungsorgane gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung sind in zunehmendem Maße festzustellen ; die Gründe hierfür hat der Große Senat an dieser Stelle nicht zu erörtern. Die Frage, welche Folgen aus derartigen Verstößen zu ziehen sind, ist regelmäßig Gegenstand tatrichterlicher und revisionsgerichtlicher Entscheidungen. Eine einheitliche Handhabung durch entsprechende Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist daher geboten. Vor diesem Hintergrund erstrebt die Vorlage eine Fortbildung des Rechts; denn sie zielt auf die Festlegung neuer Auslegungsgrundsätze, als deren Folge sich ein von der bisherigen Handhabung abweichendes rechtliches Modell für die Kompensation von Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs ergäbe.

III.

14
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die ihm unterbreitete Rechtsfrage im Ergebnis im Sinne des Vorlegungsbeschlusses.
15
Zwar führt das bisher in der Rechtsprechung praktizierte Modell, dem Angeklagten als Ausgleich für einen rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung einen bezifferten Abschlag auf die an sich verwirkte Strafe zu gewähren, im Regelfall zu einer Kompensation dieses Verstoßes , die nicht nur mit den Vorgaben des Grundgesetzes und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (MRK), sondern auch mit dem nationalen deutschen Straf- und Strafprozess- recht in Einklang steht. Jedoch stößt dieses Modell in besonders gelagerten Fällen an gesetzliche Grenzen. Wie der vorliegende Fall zeigt, kann die Gewährung der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Kompensation durch Strafabschlag zu Ergebnissen führen, die den einfachgesetzlichen Rahmen des Strafzumessungsrechts sprengen. Hierdurch wird jedoch die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) berührt, die durch das StGB vorgegebene Grenzen der Strafenfindung zu achten haben. Deren Überschreitung könnte aus übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkten nur dann gerechtfertigt werden, wenn keine andere Möglichkeit der Kompensation zur Verfügung stünde , die die Grundsätze des Strafzumessungsrechts des StGB unberührt lässt. Eine solche liegt mit der Vollstreckungslösung indes vor. Der Große Senat hält daher einen Wechsel zu diesem Modell für geboten. Dies gilt auch deshalb, weil diese Form der Entschädigung gemäß den Vorgaben der MRK, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) präzisiert worden sind, im Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise in allen Fällen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eine Kompensation ermöglicht. Die Vollstreckungslösung genügt auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
16
Unabhängig hiervon hat die Vollstreckungslösung gegenüber dem Strafabschlagsmodell weitere Vorzüge, die für die Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen einen Systemwechsel angezeigt erscheinen lassen. Durch die Trennung von Strafzumessung und Entschädigung belässt sie der unrechts- und schuldangemessenen Strafe die ihr in strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Folgebestimmungen beigelegte Funktion. Darüber hinaus vereinfacht sie die Rechtsfolgenbestimmung.
17
Im Einzelnen:
18
1. Weder die Strafprozessordnung noch das Strafgesetzbuch enthalten Regelungen dazu, welche Rechtsfolgen es nach sich zieht, wenn ein Strafverfahren aus Gründen verzögert wird, die im Verantwortungsbereich des Staates liegen. Dies beruht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Nach dessen Auffassung war eine gesetzliche Verankerung des Beschleunigungsgebots in der Strafprozessordnung entbehrlich, weil bereits Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK die Strafverfolgungsorgane hinreichend zu einer zügigen Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren verpflichte. Der Beschleunigungsgrundsatz sei daher dem deutschen Strafverfahrensrecht auch ohne ausdrückliche Regelung immanent. Das in Art. 20 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip sowie die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde ließen es ebenfalls nicht zu, den Beschuldigten länger als unvermeidbar in der Drucksituation des Strafverfahrens zu belassen. Wie der Grundsatz zügiger Verfahrenserledigung inhaltlich näher zu präzisieren sei und welche Folgen an seine Verletzung anzuknüpfen seien, müsse der Klärung durch Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen werden (vgl. den Entwurf der Bundesregierung vom 2. Mai 1973 für das 1. StVRG, BT-Drucks. 7/551 S. 36 f.).
19
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Hinzu tritt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 MRK, wonach jede Person, die aus Anlass eines gegen sie geführten Strafverfahrens von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist hat; wird dieser Anspruch verletzt, so kann sie verlangen, während des Verfahrens (aus der Haft) entlassen zu werden. Regelungen darüber , welche sonstigen Konsequenzen aus einer Verletzung des Rechts auf Verhandlung und Urteil innerhalb angemessener Frist zu ziehen sind, enthält die MRK nicht. Jedoch bestimmt Art. 13 MRK, dass jede Person, die in ihren in der Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben , auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
20
2. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof zunächst die Auffassung vertreten, die Verletzung des Anspruchs des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf zügige Durchführung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens begründe zwar kein Verfahrenshindernis, sei jedoch bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Der Spielraum, den das Gesetz insoweit gewähre , reiche aus, um den Belastungen, denen der Angeklagte durch das unangemessen zögerlich geführte Verfahren ausgesetzt gewesen sei, in hinreichender Weise Rechnung zu tragen (BGHSt 24, 239, 242; 27, 274, 275 f.; BGH NStZ 1982, 291, 292 m. w. N.). Dies könne in den gesetzlich vorgesehenen Fällen bis zum Absehen von Strafe, bei Verfahren wegen Vergehen aber auch zur deren Einstellung gemäß § 153 StPO führen; auch ein Gnadenerweis sei in Betracht zu ziehen (BGHSt 24, 239, 242 f.).
21
Danach war es ausreichend, den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK als bestimmenden Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) bei der Abwägung der sonstigen strafmildernden und -schärfenden Aspekte selbständig , auch neben dem schon für sich mildernden Umstand eines langen Zeitraums zwischen Tat und Urteil, zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 1983, 167; 1986, 217, 218; 1987, 232 f.; 1988, 552; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2).
22
Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof später im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts modifiziert.
23
a) Der EGMR hat in seinem Urteil vom 15. Juli 1982 (E. ./. Bundesrepublik Deutschland - EuGRZ 1983, 371 ff. m. Anm. Kühne) in zwei gegen die dortigen Beschwerdeführer durchgeführten Strafverfahren eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK durch die deutschen Strafverfolgungsbehörden festgestellt. Hieran anknüpfend hat er es in dem einen der beanstandeten Verfahren nicht als hinreichenden Ausgleich zugunsten der Beschwerdeführer erachtet , dass diesen die Verzögerungen bei der Strafzumessung des landgerichtlichen Urteils ausdrücklich strafmildernd zugute gehalten worden waren; dies sei nicht geeignet, den Beschwerdeführern ihre Opfereigenschaft im Sinne des Art. 25 MRK aF (= Art. 34 MRK nF) zu nehmen, da das Urteil keine hinreichenden Hinweise enthalte, die eine Überprüfung der Berücksichtigung der Verfahrensdauer unter dem Gesichtspunkt der Konvention erlaubten (EGMR EuGRZ 1983, 371, 381). In dem anderen Verfahren gelte das Gleiche, soweit dieses schließlich gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei; denn der Einstellungsbeschluss enthalte keinen Hinweis auf eine Berücksichtigung der Verfahrensverzögerungen (aaO S. 382). Zu der Frage, wie die vermissten "Hinweise" hätten ausgestaltet sein müssen und welche inhaltlichen Anforderungen an die den Beschwerdeführern zu gewährende Kompensation zu stellen gewesen wären, um den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK noch im Rahmen des nationalen Rechts auszugleichen, äußert sich die Entscheidung nicht.
24
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens den Beschuldigten auch in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie - wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet - in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Ein Strafverfahren von überlanger Dauer könne den Beschuldigten - insbesondere dann, wenn die Dauer durch vermeidbare Verzögerungen seitens der Justizorgane bedingt sei - zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleich kämen. Mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens gerieten sie in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, dass die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen müsse (BVerfG - Kammer - NJW 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; NStZ 2006, 680, 681 = JR 2007, 251 m. Anm. Gaede; vgl. auch BVerfG - Kammer - NJW 1992, 2472, 2473 für das Ordnungswidrigkeitenverfahren). So, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhalte, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen, verpflichte er im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens zur Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann (BVerfG - Kammer - NJW 2003, 2225; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247; vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2005, 3485 zum weiteren Vollzug der Untersuchungshaft).
25
Solange es an einer gesetzlichen Regelung fehle, seien die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zunächst in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen. Komme eine angemessene Reaktion auf solche Verfahrensverzögerungen mit vorhandenen prozessualen Mitteln (§§ 153, 153 a, 154, 154 a StPO) nicht in Frage, so sei eine sachgerechte, angemessene Berücksichtigung im Rechtsfolgenausspruch, in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglicherweise durch Absehen von Strafe oder Verwarnung mit Strafvorbehalt, jenseits davon bei der Strafzumessung wie auch gegebenenfalls bei der Strafaussetzung zur Bewährung und bei der Frage der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung regelmäßig verfassungsrechtlich gefordert , aber auch ausreichend (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967). Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung müsse sich bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht im Extrembereich zum Vorliegen eines unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot herzuleitenden Verfahrenshindernisses führe. Dabei liege es schon im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und dessen Auslegung durch den EGMR nahe, erscheine aber auch mit Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung angezeigt, dass die Fachgerichte der Strafgerichtsbarkeit, wenn sie die gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher bestimmen (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; 2003, 2225 f.; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247 f.).
26
Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht dahin präzisiert , dass es nicht genüge, die Verletzung des Beschleunigungsgebots als eigenständigen Strafmilderungsgrund festzustellen und zu berücksichtigen. Vielmehr sei das Ausmaß der vorgenommenen Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne Berücksichtigung der Verzögerung angemessenen Strafe exakt zu bestimmen (BVerfG - Kammer - NStZ 1997, 591).
27
c) An diese Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts anknüpfend haben die Strafsenate des Bundesgerichtshofs ihre ursprüngliche Spruchpraxis geändert: Ist ein Strafverfahren unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und rechtsstaatliche Grundsätze durch die Strafverfolgungsorgane verzögert worden, so hat der Tatrichter nach der neueren Rechtsprechung zunächst stets Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursache konkret festzustellen und - falls dies zum Ausgleich der vom Beschuldigten erlittenen Belastungen nicht ausreichend ist und andere rechtliche Folgen (Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen oder wegen eines Verfahrenshindernisses ) nicht in Betracht kommen - in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (s. etwa BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7, 12; BGH NJW 1999, 1198, 1199; NStZ-RR 2000, 343; StV 1998, 377; 2002, 598; wistra 1997, 347; 2001, 177; 2002, 420; StraFo 2003, 247). Dies gilt bei der Bildung einer Gesamtstrafe (§ 54 Abs. 1 StGB) nicht nur für diese, sondern auch für alle zugrunde liegenden Einzelstrafen, soweit das Verfahren hinsichtlich der entsprechenden Taten verzögert worden ist (vgl. BGH NStZ 2002, 589). Der Tatrichter hat somit in den Urteilsgründen für jede Einzeltat zwei Strafen auszuweisen, was sich aus Gründen der Klarheit auch für die Gesamtstrafe empfiehlt (vgl. BGH NStZ 2003, 601). In die Urteilsformel ist allein die reduzierte Strafe aufzunehmen. In welchem Umfang sich dabei der Konventionsverstoß auf das Verfahrensergebnis auswirken muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich auch nach dem - durch die Belastungen des verzögerten Verfahrens geminderten - Maß der Schuld des Angeklagten (vgl. BGHSt 46, 159, 174; s. auch BGH NStZ 1996, 506; 1997, 543, 544; StV 2002, 598).
28
3. An dieser Rechtsprechung wird nicht festgehalten.
29
a) Der Bundesgerichtshof hat im Hinblick auf die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) stets - ausdrücklich oder jedenfalls der Sache nach - daran festgehalten, dass die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den Mitteln vorzunehmen ist, die das Straf- oder Strafverfahrensrecht dem Rechtsanwender zur Verfügung stellen. So kommt beispielsweise die Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153 a StPO nur in Betracht , wenn sich der Angeklagte keines Verbrechens schuldig gemacht hat (vgl. BGHSt 24, 239, 242). Ebenso ist ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung durch Strafreduzierung, Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder Absehen von Strafe (§ 60 StGB) nur in den Grenzen zulässig, die das Strafgesetzbuch insoweit jeweils setzt (s. BGHSt 27, 274 zu § 59 StGB). Von der ge- setzlich vorgeschriebenen Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe kann aus Kompensationsgründen nicht abgesehen werden (BGH NJW 2006, 1529, 1535; ob hiervon in extremen Fällen Ausnahmen denkbar sind, ist dort offen gelassen worden). All dies begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3256; 2003, 2897, 2899; NStZ 2006, 680, 681).
30
In Fällen, in denen eine Kompensation nur durch eine Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen möglich wäre, gerät die bisher von der Rechtsprechung angewandte Strafabschlagslösung jedoch an ihre Grenzen und läuft Gefahr, das Rechtsfolgensystem des StGB in Frage zu stellen. Dieser Konflikt zwischen Straf- und Strafprozessrecht auf der einen und verfassungs- sowie konventionsrechtlichen Vorgaben auf der anderen Seite muss in einer Weise aufgelöst werden, welche die Bindung der Gerichte an die einfachgesetzlichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung so weit wie möglich respektiert. Im Bereich der Strafzumessung bedeutet dies, dass die gesetzliche Untergrenze der angedrohten Strafe nur dann unterschritten werden darf, wenn keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht, das vom Angeklagten erlittene Verfahrensunrecht in einer nach den Maßstäben des Grundgesetzes und der MRK hinreichenden Weise auszugleichen.
31
Diese Möglichkeit ist mit dem Vollstreckungsmodell jedoch vorhanden, das seine rechtlichen Grundlagen in den Bestimmungen der MRK und deren Entschädigungsprinzip findet sowie den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB fruchtbar macht (s. unten). Indem es die Kompensation für die von staatlichen Stellen verursachten Verfahrensverzögerungen in einem gesonderten Schritt nach der eigentlichen Strafzumessung vornimmt, respektiert es im Ausgangspunkt die im Gesetz vorgegebenen Mindeststrafen, die nach der Bewertung des Gesetzgebers auch im denkbar mildesten Fall noch einen angemessenen Schuldausgleich gewährleisten (vgl. Kutzner StV 2002, 277, 278). Gleichzeitig eröffnet es die Möglichkeit, die gebotene Entschädigung des Angeklagten für das von ihm erlittene Verfahrensunrecht dennoch zu leisten. Dies gilt selbst im Falle einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Sollte hier ausnahmsweise eine Kompensation einmal geboten sein (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1535), so könnte sie durch Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgenommen werden. Die Vollstreckungslösung erübrigt damit von vornherein Überlegungen, ob für besondere Ausnahmefälle ein Unterschreiten der gesetzlichen Mindeststrafe oder gar ein Absehen von der gesetzlich vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl. BGH StV 2002, 598; NJW 2006, 1529, 1535) in Betracht gezogen werden muss, sei es in der Form eines „Härteausgleichs“ (s. für den Fall der nicht - mehr - möglichen Gesamtstrafenbildung BGHSt 31, 102, 104 m. Anm. Loos NStZ 1983, 260; vgl. auch BGHSt 36, 270, 275 f.), sei es durch eine Strafrahmenverschiebung in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 oder 2 StGB (s. Krehl ZIS 2006, 168, 178 f.; StV 2006, 408, 412; Hoffmann-Holland ZIS 2006, 539 f.), wie dies der Bundesgerichtshof in Ausnahmefällen für zulässig erachtet hat, wenn die Verhängung der von § 211 StGB vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe aus anderen Gründen mit dem Übermaßverbot in Widerstreit gerät (vgl. BGHSt 30, 105).
32
b) Die bisher praktizierte Strafabschlagslösung ist aber auch deshalb durch das Vollstreckungsmodell zu ersetzen, weil dieses sich inhaltlich in vollem Umfang an den Kriterien ausrichtet, die nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 13, 34 MRK für den Ausgleich rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen maßgeblich sind.
33
aa) Die MRK ist durch das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) vom 7. August 1952 (BGBl II 685; ber. 953) unmittelbar geltendes nationales Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes geworden (vgl. etwa BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 323 f.; BGHSt 45, 321, 329; 46, 178, 186). Ihre Gewährleistungen sind daher durch die deutschen Gerichte wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 323). Hierbei ist auch das Verständnis zu berücksichtigen , das sie in der Rechtsprechung des EGMR gefunden haben. Auf dieser Grundlage ist das nationale Recht unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit der MRK zu interpretieren (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 324).
34
Nach welchen Kriterien, in welcher Weise und in welchem Umfang eine Verletzung des Anspruchs auf zügige Verfahrenserledigung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zu kompensieren ist, um dem Betroffenen seine Opferstellung im Sinne des Art. 34 MRK zu nehmen und damit den jeweiligen Vertragsstaat vor einer Verurteilung zu bewahren, ist in der MRK nicht geregelt und daher vom EGMR den nationalen Fachgerichten nach Maßgabe der jeweiligen Rechtsordnung zur Entscheidung überlassen worden (vgl. EGMR EuGRZ 1983, 371, 382 m. Anm. Kühne; NJW 2001, 2694, 2700, Zf. 159; Pfeiffer in Festschrift Baumann S. 329, 338; Trurnit/Schroth StraFo 2005, 358, 361). Jedoch hat die Rechtsprechung des EGMR hierzu konkretisierende Maßstäbe entwickelt; ihr lassen sich auch deutliche Hinweise dazu entnehmen, welche Formen der Kompensation im Einzelfall eine hinreichende Wiedergutmachung des Konventionsverstoßes bewirken können.
35
Nach dem Konzept der MRK - in der Auslegung des EGMR - dient die Kompensation für eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung allein dem Ausgleich eines durch die Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven Verfahrensunrechts (Demko HRRS 2005, 283, 295; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. Gaede wistra 2004, 166, 168; JR 2007, 254 f.). Sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung des jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verhindern (Krehl ZIS 2006, 168, 178; s. auch BGH NStZ 1988, 552). Auf diese Wiedergutmachung hat der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch, wenn die Konventionsverletzung nicht präventiv hat verhindert werden können (vgl. EGMR NJW 2001, 2694, 2698 ff., insbes. Zf. 159; Demko HRRS 2005, 403 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 171; JR 2007, 254; Meyer-Ladewig MRK 2. Aufl. Art. 13 Rdn. 10, 22). Ist sie geleistet, so entfällt die Opfereigenschaft des Betroffenen im Sinne des Art. 34 MRK (vgl. EGMR StV 2006, 474, 477 f., Zf. 83). Das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld sind dabei als solche weder für die Frage relevant, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist (zu den maßgeblichen Kriterien in der Rechtsprechung des EGMR s. Kühne StV 2001, 529, 530 f. m. Nachw.; Demko HRRS 2005, 283, 289 ff.), noch spielen diese Umstände für Art und Umfang der zu gewährenden Kompensation eine Rolle (Demko HRRS 2005, 283, 294 f.; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. auch Kutzner StV 2002, 277, 283). Diese ist vielmehr allein an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auszurichten. Durch die Kompensation wird danach eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, der dem von einem überlangen Strafverfahren betroffenen Angeklagten in gleicher Weise erwachsen kann wie der Partei eines vom Gericht schleppend geführten Zivilprozesses oder einem Bürger , der an einem verzögerten Verwaltungsrechtsstreit beteiligt ist. Dieser Anspruch entsteht auch dann, wenn der Angeklagte freigesprochen wird. Ein unmittelbarer Bezug zu dem vom Angeklagten schuldhaft verwirklichten Unrecht oder sonstigen Strafzumessungskriterien besteht daher nicht.
36
Die Kompensation durch Gewährung eines bezifferten Abschlags auf die an sich verwirkte Strafe knüpft somit nach den Maßstäben der MRK im Ausgangspunkt an ein eher sachfernes Bewertungskriterium an, mag sie auch im Großteil der Fälle dazu führen, dass der gebotene Ausgleich geschaffen wird und damit die Opferstellung des Angeklagten entfällt. Demgegenüber koppelt das Vollstreckungsmodell den Ausgleich für das erlittene Verfahrensunrecht von vornherein von Fragen des Unrechts, der Schuld und der Strafhöhe ab. Damit entspricht es nicht nur den Vorgaben der MRK, sondern es vermeidet gleichzeitig die Komplikationen, die sich für die Strafabschlagslösung aus der Bindung des Gerichts an die gesetzlich vorgegebenen Strafuntergrenzen ergeben (s. oben a).
37
bb) Die Vollstreckungslösung genügt auch den inhaltlichen und formellen Anforderungen, die die Art. 13, 34 MRK an eine hinreichende Kompensation stellen.
38
Nach der Rechtsprechung des EGMR verlangt ein angemessener Ausgleich zumindest die ausdrückliche oder jedenfalls sinngemäße Anerkennung des Konventionsverstoßes. Diese kann je nach den Umständen als Kompensation hinreichen; denn der EGMR hat in etlichen Fällen, in denen erst er selbst den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ausdrücklich festgestellt hat, diese Feststellung als Ausgleich genügen lassen und dem Betroffenen keine Geldentschädigung nach Art. 41 MRK für immaterielle Einbußen zugesprochen (vgl. EGMR NJW 1984, 2749, 2751 - Ver-waltungsrechtsstreit; 2001, 213, 214 - Zivilrechtsstreit; StV 2005, 475, 477 m. Anm. Pauly - Strafverfahren ). Dies legt es nahe, dass aus der Sicht des EGMR insoweit - das heißt ohne Berücksichtigung etwaiger materieller Schäden - die Opferstellung des Betroffenen bereits durch die nationalen Gerichte aufgehoben worden wäre, wenn sie die entsprechende Feststellung selbst getroffen hätten.
39
Der EGMR hat weiterhin deutlich gemacht, dass die "innerstaatlichen Behörden" durch eine eindeutige und messbare Minderung der Strafe angemessene Wiedergutmachung leisten können (s. - je m. w. Nachw. - EGMR StV 2006, 474, 479 m. Anm. Pauly; Urteil vom 26. Oktober 2006 - Nr. 65655/01, Zf. 24, juris). Dies gelte auch, soweit eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 MRK auszugleichen sei; jedoch müsse dieser Verstoß gesondert anerkannt werden und zu einer selbständigen messbaren Strafmilderung führen (vgl. EGMR StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly).
40
Zu Weiterem verhält sich der EGMR nicht näher. Nach den in seinen Entscheidungen entwickelten Maßstäben sind aber auch die in der deutschen Rechtsprechung neben der Strafreduktion in Betracht gezogenen Konsequenzen (Annahme eines Verfahrenshindernisses, Strafaussetzung zur Bewährung, Absehen von Maßregeln der Besserung und Sicherung, völlige oder teilweise Verfahrenseinstellung nach strafprozessualen Opportunitätsgrundsätzen) je nach den Umständen erkennbar als hinreichende Wiedergutmachung tauglich. Notwendig ist lediglich der ausdrückliche Hinweis, dass die jeweilige Maßnahme des materiellen oder prozessualen Rechts gerade zur Kompensation des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot getroffen worden ist (vgl. zu § 154 StPO: EGMR EuGRZ 1983, 371, 382).
41
Nicht ausgeschlossen ist nach den Vorgaben des EGMR auch eine Wiedergutmachung durch Zahlung einer Geldentschädigung (s. dazu etwa Kühne EuGRZ 1983, 392, 383; Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren S. 267 ff.; Wohlers JR 1994, 138, 142 f.; Kraatz JR 2006, 403, 407 ff.). Die Rechtsordnungen anderer Vertragsstaaten der MRK enthalten hierzu ausdrückliche Regelungen (etwa Spanien: s. näher Paeffgen StV 2007, 487, 494; Italien: s. näher Ress in Festschrift Müller-Dietz S. 627, 628; Frankreich: s. Kraatz JR 2006, 2003, 2006). Mit den einschlägigen Vorschriften des französischen Rechts hat der EGMR sich bereits mit Blick auf Art. 13 MRK befasst. Er hat dabei eine derartige Form der Wiedergutmachung nicht generell für unzureichend erachtet. Er hat es vielmehr nur nicht für hinreichend belegt angesehen, dass die Bestimmungen nach ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und ihrer konkreten Handhabung in dem zu beurteilenden Fall ein wirksames innerstaatliches Rechtsmittel im Sinne des Art. 13 MRK zur Erlangung einer angemessenen Entschädigung darstellen (Entscheidung vom 26. März 2002, Nr. 48215/99, Zf. 20; s. Kraatz aaO). Das deutsche Recht enthält demgegenüber keine Regelungen , die es den Strafgerichten ermöglichten, eine Geldentschädigung zuzuerkennen. Die Bestimmungen des StrEG können nicht entsprechend herangezogen werden; sie haben abschließenden Charakter. Eine entsprechende Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO gäbe keinen ausreichenden Entscheidungsspielraum. Es wäre Sache des Gesetzgebers, eine eindeutige rechtliche Grundlage zu schaffen.
42
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass nach den genannten Kriterien auch das Modell, einen angemessenen Teil der Strafe als vollstreckt anzurechnen, den Anforderungen an eine ausreichende Entschädigung gerecht wird. Es zieht neben dem Entschädigungsprinzip der MRK auch den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB heran; denn ähnlich wie bei der Untersuchungshaft handelt es sich bei den Belastungen, denen der Angeklagte durch die rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens ausgesetzt ist, in erster Linie um immaterielle Nachteile, die allein in der Durchführung des Verfahrens wurzeln. Dies rechtfertigt es, diese Nachteile ähnlich wie die Auswirkungen der Untersuchungshaft durch Anrechnung auf die Strafe auszugleichen (vgl. Kraatz JR 2006, 204, 206; s. auch Theune in LK 12. Aufl. § 46 Rdn. 244; zu § 60 StGB: Jeschek/Weigend, StGB AT 5. Aufl. S. 863; dazu auch Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, S. 224 ff.). Die Kompensation ist jedoch auch nach dem Vollstreckungsmodell bereits im Erkenntnisverfahren vorzu- nehmen. Sie kann nicht den Strafvollstreckungsbehörden überlassen werden; denn da die Entschädigung nicht durch schematische Anrechnung der jeweiligen Verzögerungsdauer auf die Strafe vorzunehmen, sondern aufgrund einer wertenden Betrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu bemessen ist (s. unten IV. 1.), muss sie dem Tatrichter vorbehalten bleiben, dem schon die Feststellung dieser Umstände obliegt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB).
43
4. Neben all dem sprechen weitere gewichtige Gründe für einen Übergang vom Strafabschlags- auf das Vollstreckungsmodell.
44
a) Da die im Wege der Anrechnung vorgenommene Kompensation einen an dem Entschädigungsgedanken orientierten eigenen rechtlichen Weg neben der Strafzumessung im engeren Sinn darstellt, behält die nach den Maßstäben des § 46 StGB zugemessene und im Urteilstenor auszusprechende Strafe die Funktion, die ihr in anderen strafrechtlichen Bestimmungen, aber auch in außerstrafrechtlichen Regelungen zugewiesen ist. So bleibt - wie nach der gesetzlichen Konzeption des StGB vorgesehen - die dem Unrecht und der Schuld angemessene und nicht eine aus Entschädigungsgründen reduzierte Strafe maßgeblich etwa für die Fragen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (§ 56 Abs. 1 bis 3 StGB), ob die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 bis 3 StGB), deren Vorbehalt (§ 66 a Abs. 1 StGB) oder deren nachträgliche Anordnung (§ 66 b StGB) erfüllt sind, ob der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts eintritt (§ 45 StGB), ob Führungsaufsicht angeordnet werden kann (§ 68 Abs. 1 StGB), ob Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommt (§ 59 Abs. 1 StGB) oder ob von Strafe abgesehen werden kann (§ 60 StGB) und wann Vollstreckungsverjährung eintritt (§ 79 StGB). Darüber hinaus behält sie die Bedeutung, die ihr in beamtenrechtlichen (§ 24 BRRG; für Richter s. § 24 DRiG) und ausländerrechtlichen (§§ 53, 54 AufenthG) Folgeregelungen beigelegt wird, sowie auch für die Tilgungsfristen nach dem BZRG (s. etwa § 46 BZRG) oder die Eintragungsvoraussetzungen in das Gewerbezentralregister (§ 149 Abs. 2 Nr. 4 GewO).
45
Hierdurch wird der überlangen Verfahrensdauer andererseits jedoch nicht ihre Bedeutung als Strafzumessungsgrund genommen. Sie bleibt als solcher zunächst bedeutsam deswegen, weil allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, das Strafbedürfnis allgemein abnimmt. Sie behält - unbeschadet der insoweit zutreffenden dogmatischen Einordnung (zum Meinungsstreit s. Paeffgen StV 2007, 487, 490 Fn. 27) - ihre Relevanz aber gerade auch wegen der konkreten Belastungen, die für den Angeklagten mit dem gegen ihn geführten Verfahren verbunden sind und die sich generell um so stärker mildernd auswirken, je mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem er von den gegen ihn laufenden Ermittlungen erfährt, und dem Verfahrensabschluss verstreicht; diese sind bei der Straffindung unabhängig davon zu berücksichtigen, ob die Verfahrensdauer durch eine rechtsstaatswidrige Verzögerung mitbedingt ist (vgl. BGH NJW 1999, 1198; NStZ 1988, 552; 1992, 229, 230; NStZ-RR 1998, 108). Lediglich der hiermit zwar faktisch eng verschränkte, rechtlich jedoch gesondert zu bewertende und zu entschädigende Gesichtspunkt, dass eine überlange Verfahrensdauer (teilweise) auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruht, wird aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd ist, herausgelöst und durch die bezifferte Anrechnung auf die im Sinne des § 46 StGB angemessene Strafe gesondert ausgeglichen.
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b) Durch den Übergang zur Vollstreckungslösung wird die Strafenbildung von der Notwendigkeit befreit, einen einzelnen Zumessungsaspekt in mathematisierender Weise durch bezifferten Strafabschlag - gegebenenfalls gesondert für Einzelstrafen und Gesamtstrafe - auszuweisen. Gerade diese rechnerische Vorgehensweise ist zu Recht kritisiert worden (Schäfer, Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdn. 443; ders. in Festschrift Tondorf S. 351, 357 f.; s. auch Gaede JR 2007, 254, 256). Selbst in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ist sie als Fremdkörper in der Strafzumessung (BGH NStZ-RR 2006, 201, 202) sowie systemwidrig (BGH NStZ 2005, 465, 466) bezeichnet und es ist für wünschenswert erachtet worden, diese - ansonsten als rechtlich verfehlt erachtete (BGH NStZ-RR 1999, 101, 102; 2000, 43; 2006, 270, 271; NStZ 2007, 28) - Mathematisierung der Strafenfindung zu überdenken (BGH, Beschl. v. 23. Juni 2006 - 1 ARs 5/04; BGH wistra 2004, 470).
47
Zwar kann die durch Anrechung vorgenommene Kompensation den Rechtsfolgenausspruch - schon wegen der entsprechenden Vorgaben des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts - nicht von jeder Mathematisierung freihalten. Jedoch verlagert sie durch ihre Anlehnung an § 51 StGB die Bezifferung der Entschädigung zumindest in einen Bereich, der schon nach der gesetzlichen Konzeption derartigen Berechnungen offen steht und in diesem Rahmen auch eine zahlenmäßige Bewertung verfahrensbedingt erlittener Nachteile kennt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB). Die eigentliche Strafzumessung wird demgegenüber nicht mehr mit ihr wesensfremden Anforderungen belastet. Dies ist insbesondere auch deswegen bedeutsam, weil es nach der neueren Rechtsprechung des EGMR (StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly) notwendig werden kann, künftig den durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkten Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 MRK neben demjenigen gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gesondert zu kompensieren; dies würde nach dem Strafabschlagsmodell in letzter Konsequenz dazu führen, dass die Strafzumessung mit zwei Rechenwerken befrachtet werden müßte, im Falle einer Gesamtstrafenbildung auch noch gesondert für jede Einzelstrafe und - unter Vermeidung einer Doppelkompensation - für die Gesamtstrafe.
48
Demgegenüber knüpft das Vollstreckungsmodell die Kompensation ausschließlich an die - für die Vollstreckung allein relevante - Gesamtstrafe an und vereinfacht hierdurch die Rechtsfolgenentscheidung erheblich.
49
5. Die Kompensation durch Anrechnung steht nicht in Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Vorgaben. Allerdings findet sich auch in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Aussage, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausgesetzt ist, den aus der Verwirklichung des Straftatbestandes abzuleitenden Unrechtsgehalt abmilderten, der dem Angeklagten als Tatschuld angelastet werde, und daher „grundsätzlich“ als Strafmilderungsgrund bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien (s. insb. BVerfG - Kammer - NStZ 2006, 680, 681; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 247). Dem kann jedoch nicht entnommen werden, dass die nach der Rechtsprechung des EGMR gebotene Entschädigung des Angeklagten nach den Vorgaben des Grundgesetzes ausschließlich in der Form einer - zusätzlichen - bezifferten Strafmilderung zulässig wäre (vgl. dagegen I. Roxin StV 2008, 14, 16). Anliegen des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht, eine bestimmte dogmatische Sichtweise des einfachgesetzlichen Rechts über die unrechts- und schuldmildernde Wirkung rechtsstaatswidrig verursachter Verfahrenshärten als verfassungsrechtlich allein zulässige festzuschreiben. Ebensowenig will es ersichtlich ein bestimmtes Modell der konventionsrechtlich geforderten Kompensation zum verfassungsrechtlich allein statthaften erklären. Vielmehr geht es dem Bundesverfassungsgericht, wie sich seinen einschlägigen Entscheidungen deutlich entnehmen lässt, allein um die Beachtung des in der Verfassung verankerten Übermaßverbots. In welcher Form die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs durch die Fachgerichte in Anwendung des Straf- oder Strafprozessrechts gewährleistet wird, ist demgegenüber in der Verfassung nicht vorgegeben. Anders wäre es auch kaum erklärbar, dass das Bundesverfassungs- gericht eine kompensierende Berücksichtigung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung oder die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung für möglich erachtet. Wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in der Weise Rechnung getragen, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch das überlange Verfahren ausgesetzt war, zunächst allgemein mildernd in die Strafzumessung einfließen und sodann der besondere Aspekt, dass sie (teilweise) auf rechtsstaatswidrige Verzögerungen seitens der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen sind, im Urteil dadurch Berücksichtigung findet, dass als Entschädigung hierfür ein Teil der Strafe als bereits vollstreckt gilt, so ist damit in gleicher Weise dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot Genüge getan wie durch die bezifferte Reduzierung der Strafe.
50
6. Die Vollstreckungslösung kann nicht nur - sachgerechte - gesetzliche Folgen haben, die sich im Vergleich zur Strafabschlagslösung zum Nachteil des Angeklagten auswirken (s. 4. a), sondern auch solche, die ihm zum Vorteil gereichen ; denn durch die Anrechnung werden bei der Strafzeitberechnung die Halbstrafe und der Zwei-Drittel-Zeitpunkt regelmäßig schneller erreicht, so dass es früher als bisher möglich ist, einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen (§ 57 Abs. 1, 2 und 4 StGB). Auch dies ist eine systemgerechte Konsequenz des neuen Modells.
51
Wird die Freiheitsstrafe, die zur Wiedergutmachung teilweise als vollstreckt erklärt wird, von vornherein zur Bewährung ausgesetzt, so ergeben sich keine grundsätzlichen Unterschiede zur bisherigen Rechtslage. Nach beiden Kompensationsmodellen wird die Entschädigung faktisch erst dann wirksam, wenn die Strafe nach einem Bewährungswiderruf vollstreckt werden muss. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzö- gerung neben der Anrechnung auf die Strafe aktuell wirksam auch dadurch auszugleichen, dass im Bewährungsbeschluss ausdrücklich auf Auflagen im Sinne des § 56b Abs. 2 Nr. 2 bis 4 StGB verzichtet wird.
52
Auch sonst ergeben sich durch die Vollstreckungslösung keine bedeutsamen Unterschiede: Kommt nur die Verhängung einer Geldstrafe in Betracht, so ist diese wegen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht mehr um einen bezifferten Abschlag zu ermäßigen, sondern die schuldangemessene Geldstrafe in der Urteilsformel auszusprechen und zugleich festzusetzen, dass ein bezifferter Teil der zugemessenen Tagessätze als bereits vollstreckt gilt. In Fällen, in denen das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene (Einzel-)Strafe erreicht oder übersteigt, ist - wie bisher - die Anwendung der §§ 59, 60 StGB oder die (teilweise) Einstellung des Verfahrens nach Opportunitätsgrundsätzen zu erwägen (§§ 153, 153a, 154, 154a StPO); gegebenenfalls ist zu prüfen, ob ein aus der Verfassung abzuleitendes Verfahrenshindernis der Fortsetzung des Verfahrens entgegensteht.
53
Die im Bereich des Jugendstrafrechts bestehenden besonderen Probleme werden durch das Vollstreckungsmodell weder beseitigt noch verstärkt. Während sich bisher die Frage stellte, ob von der aus Erziehungsgründen erforderlichen Strafe zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ein bezifferter Abschlag vorgenommen werden darf (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 15), ist nunmehr danach zu fragen, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreitet, einen Teil der Strafe als Entschädigung für vollstreckt zu erklären (s. § 52a JGG, ferner § 88 JGG mit größerer Flexibilität für die Reststrafenaussetzung).

IV.

54
Die Strafgerichte haben die erforderliche Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach dem Vollstreckungsmodell somit an folgenden Grundsätzen auszurichten:
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1. Wie bisher sind zunächst Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Diese Feststellung dient zunächst als Grundlage für die Strafzumessung. Der Tatrichter hat insofern in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den Grenzen des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
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Hieran anschließend ist zu prüfen, ob vor diesem Hintergrund zur Kompensation die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung genügt; ist dies der Fall, so muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar hervortreten. Reicht sie dagegen als Entschädigung nicht aus, so hat das Gericht festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Allgemeine Kriterien für diese Festlegung lassen sich nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Jedoch muss es stets im Auge behalten werden, wenn die Verfahrensdauer als solche sowie die hiermit verbundenen Belastun- gen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es daher in diesem Punkt der Rechtsfolgenbestimmung nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände geht. Dies schließt es aus, etwa den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben.
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In die Urteilsformel ist die nach den Kriterien des § 46 StGB zugemessene Strafe aufzunehmen; gleichzeitig ist dort auszusprechen, welcher bezifferte Teil dieser Strafe als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt gilt.
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2. Stehen mehrere Straftaten des Angeklagten zur Aburteilung an, so ist - wie bisher - zunächst zu prüfen, ob und in welchem Umfang das Verfahren bei der Verfolgung aller dieser Delikte rechtsstaatswidrig verzögert worden ist; gegebenenfalls sind insoweit differenzierte Feststellungen zu treffen und der Abstand zwischen Tatzeitpunkt und Urteil sowie die Belastungen des Angeklagten durch die Verfahrensdauer nur bei einigen der festzusetzenden Einzelstrafen mildernd zu berücksichtigen. Allein auf die durch Zusammenfassung der Einzelstrafen gebildete und in der Urteilsformel ausgesprochene Gesamtstrafe ist die Anrechnung vorzunehmen, indem ein bezifferter Teil hiervon im Wege der Kompensation für vollstreckt erklärt wird; denn allein die Gesamtstrafe ist Grundlage der Vollstreckung.
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Wird die Gesamtstrafe nachträglich aufgelöst, so hat das Gericht, das unter Einbeziehung der dieser zugrunde liegenden Einzelstrafen eine neue Gesamtstrafe zu bilden hat, auch festzusetzen, welcher bezifferte Teil dieser neuen Gesamtstrafe aus Kompensationsgründen als vollstreckt anzurechnen ist.
Hierdurch darf der, wie rechtskräftig festgestellt, von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung betroffene Verurteilte nicht nachträglich schlechter gestellt werden (vgl. § 51 Abs. 2 StGB). Dies gilt entsprechend, wenn die Einzelstrafen des ursprünglichen Urteils in mehrere neu zu bildende Gesamtstrafen einzubeziehen sind. Das zur Entscheidung berufene Gericht hat dann festzulegen , in welchem Umfang die neu auszusprechenden Gesamtstrafen anteilig als vollstreckt gelten. Dabei hat es sich daran zu orientieren, in welchem Umfang in die jeweilige neue Gesamtstrafe Einzelstrafen einfließen, die ursprünglich nach einem rechtsstaatswidrig verzögerten Verfahren festgesetzt worden waren. In der Summe dürfen die für vollstreckt erklärten Teile der neuen Gesamtstrafen nicht hinter der ursprünglich ausgesprochenen Anrechnung zurückbleiben. Hirsch Rissing-vanSaan Basdorf Maatz Miebach Wahl Bode Kuckein Gerhardt Kolz Becker

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 75/08
vom
14. Mai 2008
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 14. Mai 2008 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 29. Oktober 2007 im Strafausspruch mit den Feststellungen zur Verfahrensverzögerung aufgehoben; die übrigen Feststellungen bleiben aufrechterhalten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete, auf Verfahrensbeschwerden und sachlichrechtliche Beanstandungen gestützte Revision führt zur Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Das Landgericht hat eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von 18 Monaten angenommen, weil nach Eingang des aussagepsychologischen Gutachtens bei der Staatsanwaltschaft am 8. August 2005 erst am 21. Juni 2007 Anklage erhoben worden war, ohne dass in der Zwischenzeit weitere verfahrensfördernde Ermittlungen stattgefunden hatten. Nach Auffassung des Landgerichts hätte spätestens zum Ende des Jahres 2005 Anklage erhoben werden können. Es hat diese Verzögerung dadurch kompensiert, dass es zunächst die an sich verwirkten Einzelstrafen benannt, sodann niedrigere Einzelstrafen festgesetzt und aus diesen eine verminderte Gesamtstrafe gebildet hat.
3
2. Der Strafausspruch kann schon deshalb nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht, wie sich teilweise schon aus dem Urteil und im Übrigen aus dem Revisionsvortrag ergibt, bei der Feststellung des Umfangs der Verfahrensverzögerung außer Betracht gelassen hat, dass die Beauftragung der Sachverständigen bereits am 17. September 2004 erfolgt war und die Erstattung des aussagepsychologischen Gutachtens somit nahezu elf Monate gedauert hatte. Hieraus folgt eine weitere Verfahrensverzögerung, deren genauen Umfang der neue Tatrichter feststellen muss.
4
Die vom Landgericht bei der Kompensation gewählte Verfahrensweise ("Strafabschlagslösung") entspricht im Übrigen nicht der - nach dem Erlass der angefochtenen Entscheidung - geänderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Kompensation des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ("Vollstreckungsmodell"; vgl. BGH - GS - NJW 2008, 860). Dadurch ist der Angeklagte beschwert, weil sich durch das Vollstreckungsmodell der Zeitpunkt, zu dem ein Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden kann, nach vorne verlagert. Der Angeklagte könnte deshalb - bei Vorliegen der übrigen, hier nicht von vornherein ausgeschlossenen Voraussetzungen des § 57 StGB - früher als nach dem Strafabschlagsmodell aus dem Strafvollzug entlassen werden.
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3. Bei der nunmehr gebotenen Durchführung der Kompensation im Wege des Vollstreckungsmodells wird der neue Tatrichter Folgendes zu beachten haben (s. im Einzelnen BGH aaO S. 866 f.):
6
a) Auch bei der jetzt gebotenen Anwendung des Vollstreckungsmodells sind Art und Ausmaß der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung konkret zu ermitteln und im Urteil darzustellen. Es wird deshalb festzustellen sein, welcher Zeitraum zwischen Anzeigeerstattung und Urteil als bei zeitlich angemessener Verfahrensgestaltung erforderlich anzusehen ist. Dieser ist bei der Berechnung der Dauer der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht zu berücksichtigen.
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b) Der neue Tatrichter wird sodann zunächst nach den Kriterien des § 46 StGB schuldangemessene, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung außer Acht lassende Einzelstrafen festzusetzen und aus diesen sowie den einzubeziehenden Vorstrafen eine Gesamtstrafe zu bilden haben. Dabei wird zu prüfen sein, inwieweit der zeitliche Abstand zwischen den begangenen Taten und dem Urteil sowie die Verfahrensdauer als solche bei der Straffestsetzung mildernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
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c) Für den - hier zweifelsfrei gegebenen - Fall, dass allein die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als Kompensation nicht ausreichen wird (vgl. dazu BGH aaO S. 864, 866), ist daran anschließend im Urteilstenor festzulegen, welcher bezifferte Teil der Gesamtstrafe zur Kompensa- tion der Verzögerung als vollstreckt gilt. Entscheidend für diese Festlegung sind die Umstände des Einzelfalls wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Dabei muss im Auge behalten werden, dass die mit der Verfahrensdauer als solcher verbundenen Belastungen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände geht. Dies schließt es regelmäßig aus, etwa den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben. Hinsichtlich der Möglichkeit, ohne Verstoß gegen § 358 Abs. 2 StPO höhere Einzelstrafen als die bisher erkannten zu verhängen und auch eine höhere Gesamtstrafe auszusprechen, verweist der Senat auf seine bisherige Rechtsprechung (vgl. zuletzt BGH, Beschl. vom 9. April 2008 - 3 StR 71/08).
9
4. Die ungenügenden Feststellungen zur rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung waren aufzuheben, um dem neuen Tatrichter die Gelegenheit zu geben, insoweit einheitlich neue, ausreichend konkrete Feststellungen zu treffen. Die übrigen Strafzumessungstatsachen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben; der neue Tatrichter ist nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen, die indes zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen dürfen. Sost-Scheible Miebach Pfister Hubert Schäfer