Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR427/14
vom
19. November 2014
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 19. November 2014 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 23. Juni 2014 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Gegen seine Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Sachrüge und eine Verfahrensrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.


2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern vorbestrafte Angeklagte an einem Tag zwi- schen dem 1. Februar 2013 und dem 30. Juni 2013 den sechsjährigen M. D. und die fünfjährige L. D. im Badezimmer auf den heruntergeklappten Toilettendeckel gestellt, beiden Kindern Hose und Unterhose heruntergezogen und sie mit den nackten Unterleibern zusammengedrückt, so dass sie im Bereich der Geschlechtsteile aneinander rieben (Fall 4 der Anklage).
3
Zur Aufdeckung dieser Tat kam es am Morgen des 6. Dezember 2013, als sich die älteren Kinder T. S. und A. D. in Gegenwart der Mutter der Geschwister D. über das Verhalten des Angeklagten unterhielten. T. S. , der Neffe des Angeklagten, äußerte, dieser mache Sachen mit M. . Auf Nachfrage der Mutter berichtete M. , derAngeklagte habe verlangt, dass er seinen Penis anfasse und habe den Penis in seinen Po gesteckt. Auch habe der Angeklagte ihn und L. im Bad zusammengedrückt. Die Mutter holte daraufhin L. aus dem Kindergarten und befragte sie. L. er- zählte, dass der Angeklagte ihr den Penis in die „Mumu“ und in den Po gesteckt habe. Auf der Rückfahrt äußerte sie spontan, dass der Angeklagte M. und sie im Bad zusammengedrückt habe.
4
2. Die zugelassene Anklage warf dem Angeklagten darüber hinaus vor, an unterschiedlichen Tagen zwischen dem 1. Februar 2013 und dem 22. November 2013 in fünf weiteren Fällen sexuelle Übergriffe gegen M. undL. D. und T. S. begangen zu haben. Der Angeklagte soll zweimal im Wohnzimmer bis zum Samenerguss onaniert haben, davon einmal vor den Augen von M. D. und das andere Mal in Gegenwart des neunoder zehnjährigen T. S. (Fälle 1 und 3 der Anklage). Er soll weiterhin L. s Hand genommen und sie in Richtung seines Penis geführt haben, das Mädchen habe die Hand immer wieder weggezogen (Fall 2 der Anklage). Schließlich soll der Angeklagte in zwei Fällen Analverkehr bis zum Samen- erguss durchgeführt haben, einmal mit L. nach Manipulation an deren Scheide (Fall 5 der Anklage) und einmal mit M. (Fall 6 der Anklage). Von diesen Vorwürfen hat die Strafkammer den Angeklagten freigesprochen, weil die Zeugen T. S. , M. , L. und A. D. , die bei einer ersten Ver- nehmung in der Hauptverhandlung entsprechende Taten „im Ansatz“ bekundet hatten, bei einer weiteren Vernehmung eingeräumt haben, insoweit die Unwahrheit gesagt zu haben. Zu derartigen Taten des Angeklagten sei es nicht gekommen. Diese hätten sich A. D. und T. S. ausgedacht und M. und L. D. überredet, entsprechende unwahre Angaben zu machen.
5
3. Hinsichtlich der ausgeurteilten Tat hält das Landgericht die Aussage von M. D. trotz der eingeräumten Lügen für glaubhaft. Es sei kein Grund ersichtlich, warum der Zeuge wahrheitswidrig einen Tatvorwurf aufrecht erhalten haben sollte. L. D. habe den Vorfall in der Hauptverhandlung zwar nicht bestätigt, sie habe ihn aber ihrer Mutter unmittelbar vor der Anzeigeerstattung spontan geschildert. T. S. und A. D. hätten ausgesagt, L. und M. nicht zu dieser Schilderung überredet zu haben. Über den Vorfall im Badezimmer sei nicht gesprochen worden.

II.


6
Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge im Umfang der Anfechtung Erfolg, so dass es auf die vom Angeklagten erhobene Verfahrensrüge nicht ankommt. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält aus sachlichrechtlichen Gründen der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
7
In einer Konstellation, in der „Aussage gegen Aussage“ steht und außer der Aussage des einzigen Belastungszeugen keine weiteren belastenden Indizien vorliegen, muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände , die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 6. Februar 2014 – 1 StR 700/13 Rn. 3; Beschluss vom 12. September 2012 – 5 StR 401/12 Rn. 8; Beschluss vom 19. August 2008 – 5 StR 259/08, NStZ-RR 2008, 349 f. jeweils mwN). Allein auf Angaben des einzigen Belastungszeugen, dessen Aussage in einem wesentlichen Detail als b e w u s s t falsch anzusehen ist, kann eine Verurteilung nicht gestützt werden (BGH, Urteil vom 19. April 2007 – 4 StR 23/07 Rn. 11; Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158; Urteil vom 17. November 1998 – 1 StR 450/98, BGHSt 44, 256, 257 jeweils mwN). Dann muss der Tatrichter jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben.
8
1. Der Zeuge M. D. hat eingeräumt, bei der Polizei und im ersten Hauptverhandlungstermin „gelogen“ zu haben und „Sachen erzählt“ zu haben , „die der Angeklagte nicht gemacht habe“. Das Landgericht hat seine Angaben zu der ausgeurteilten Tat dennoch als glaubhaft bewertet. Es hat dabei die Glaubhaftigkeit der auf das Tatgeschehen bezogenen Angaben des Zeugen nicht grundlegend von der Nullhypothese ausgehend bewertet, sondern nur unter wenigen Aspekten, was bereits Bedenken begegnet. Aber auch die vom Landgericht herangezogenen Gesichtspunkte vermögen seine Wertung der Aussage als glaubhaft nicht zu tragen.
9
Das Landgericht hat im Wesentlichen darauf abgestellt, dass der Zeuge den ausgeurteilten Vorfall konstant gegenüber seiner Mutter, bei der Polizei und in beiden Hauptverhandlungsterminen geschildert habe. Dies greift bereits deshalb zu kurz, weil der Zeuge auch die übrigen Vorfälle, die nicht der Wahrheit entsprachen, zuvor konstant geschildert hat. Soweit das Landgericht insoweit bei der Vernehmung im ersten Hauptverhandlungstermin bei den erlogenen Vorfällen „auffällige Unsicherheiten“ bemerkt haben will, sind diese in den Urteilsgründen nicht belegt. Darüber hinaus hat der Zeuge hinsichtlich des ausgeurteilten Vorfalls nunmehr eine Mehrbelastung des Angeklagten zum Kerngeschehen nicht aufrecht erhalten. Die Erklärung des Landgerichts, dass nicht jederzeit jede Einzelheit im Gedächtnis abrufbar sei, begegnet Bedenken, wenn der Zeuge – wie offenbar hier – die Mehrbelastung früher mehrfach geäußert hat. Auch dass kein Grund ersichtlich sei, der den Zeugen veranlasst haben sollte, bei seiner nunmehr den Angeklagten entlastenden Aussage wahrheitswidrig doch einen Vorfall aufrecht zu erhalten, kann die Glaubhaftigkeit der Angaben nicht belegen. Denn das Landgericht hat auch kein Motiv für die umfassende Falschbeschuldigung des Angeklagten durch alle vier Kinder aufzudecken vermocht.
10
Die Strafkammer hat zwar erkannt, dass eine suggestive Beeinflussung durch die älteren Kinder T. S. und A. D. vorgelegen haben könnte, schließt dies aber für die ausgeurteilte Tat unter Hinweis auf die zeugenschaftlichen Angaben der beiden älteren Kinder aus. Über den Vorfall im Badezimmer sei nicht gesprochen worden. Da die Zeugen ansonsten im zweiten Hauptverhandlungstermin eingeräumt hätten, die Unwahrheit gesagt zu haben , sei kein Grund ersichtlich, warum sie nicht auch einräumen sollten,M. und L. den Vorfall im Badezimmer eingeredet zu haben, wenn es denn so gewesen wäre. Diese Bewertung der Angaben der beiden älteren Kinder lässt sich ohne nähere Darstellung ihrer früheren Angaben nicht nachvollziehen. Sollten sich die beiden älteren Kinder bereits bei der Polizei oder gegenüber ihrer Mutter zu dem Vorfall im Bad geäußert haben, könnte dies ein Beleg dafür sein, dass doch mit den beiden jüngeren Kindern darüber gesprochen worden ist.
11
2. Wird die Aussage des einzigen Belastungszeugen hinsichtlich einzelner Taten und Tatmodalitäten widerlegt, so ist damit seine Glaubwürdigkeit in schwerwiegender Weise in Frage gestellt. Seinen übrigen Angaben kann dann nur gefolgt werden, wenn außerhalb der Aussage Gründe von Gewicht für ihre Glaubhaftigkeit vorliegen. Solche zeigt das Landgericht nicht auf.
12
Der Aussage der vermeintlich ebenfalls bei dem ausgeurteilten Vorfall Geschädigten L. im zweiten Hauptverhandlungstermin misst dieStrafkammer keinerlei Bedeutung bei, allerdings sieht sie in ihrer „Spontanäußerung“ gegen- über ihrer Mutter am 6. Dezember 2013 eine Bestätigung der Aussage des M. D. . Dass Abstellen auf die Spontaneität der Äußerung greift jedoch zu kurz, denn ihre Mutter ist zum Kindergarten gefahren, um L. abzuholen und zu den Vorwürfen zu befragen. Danach hat L. dann auf der Fahrt den weiteren Vorfall erzählt. Es liegt nahe, dass ursächlich auch hierfür die voran- gegangene Befragung war. Da die Strafkammer auf die „Spontanäußerung“ der Zeugin abstellt, während sie in beiden Hauptverhandlungsterminen widersprüchliche Angaben gemacht hat, hätte in den Urteilsgründen auch dargelegt werden müssen, was im Einzelnen die Zeugin ihrer Mutter und bei der Polizei zu dem Vorfall im Bad erzählt hat. Auffällig ist insoweit jedenfalls, dass die „Spontanäußerung“ frühestens fünf Monate nach dem Vorfall erfolgte, als auch die Falschbelastungen durch T. S. und A. D. initiiert wurden. Bei der Vernehmung im zweiten Hauptverhandlungstermin hatte L. zunächst bekundet, sie – die Kinder – hätten bei ihren Aussagen gelogen.
T. und A. hätten ihnen alles vorgesagt. Auf Nachfrage hat sie dann den Vorfall im Bad bestätigt, wobei sie nach Überzeugung der Strafkammer allerdings nahezu jede Frage ohne Nachdenken zustimmend beantwortet hat. Auch dies lässt den Beweiswert ihrer „Spontanäußerung“ fraglich erscheinen.
13
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
14
Das sehr junge Alter der beiden Opferzeugen der ausgeurteilten Tat und die bewussten Falschbelastungen legen es nahe, die Glaubhaftigkeit der Angaben beider Zeugen durch ein aussagepsychologisches Gutachten näher zu untersuchen.
15
Der neue Tatrichter wird auch eingehender als bisher zu belegen haben, dass bei der Tat eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit sicher vorgelegen hat. Bei den beiden einschlägigen Vorverurteilungen des Angeklagten war eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit lediglich nicht auszuschließen.
Sost-Scheible Roggenbuck Franke
Mutzbauer Quentin

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BESCHLUSS
1 S t R 7 0 0 / 1 3
vom
6. Februar 2014
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Februar 2014 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 10. Juli 2013 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
1. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die erhobenen Verfahrensrügen nicht ankommt.
2
2. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
3
a) Wenn Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Das gilt besonders, wenn sich sogar die Unwahrheit eines Aussage- teils des Belastungszeugen herausstellt (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Oktober 2000 – 1 StR 439/00, NStZ 2001, 161, 162).
4
b) Diesen besonderen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung nicht.
5
aa) Vorliegend handelt es sich um einen Fall, in dem zu der entscheidenden Frage, ob der Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin einvernehmlich erfolgte (wie der Angeklagte behauptet) oder vom Angeklagten erzwungen wurde (wie die Nebenklägerin behauptet), letztlich Aussage gegen Aussage steht (vgl. insoweit auch BGH, Beschluss vom 3. April 2002 – 3 StR 33/02, NStZ 2002, 494). Zudem hat die Nebenklägerin mehrfach nachweislich die Unwahrheit gesagt (beim Notruf, hinsichtlich ihres in der Wohnung aufhältlichen Bruders, zum Nachtatgeschehen) und dabei nicht nur wiederholt die Polizei, sondern auch das Gericht angelogen.
6
bb) Nicht einbezogen in die bei dieser Lage notwendige besonders sorgfältige Gesamtwürdigung hat die Kammer den Inhalt eines vom Angeklagten aufgezeichneten Streitgesprächs zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin , das nach den Feststellungen der Kammer nach dem anklagegegenständlichen Vorfall stattgefunden hat. In diesem Gespräch wirft die Nebenklägerin dem Angeklagten im Kern vor, er nutze sie aus, weil er das Geld, das er verdiene, seinen Verwandten schicke. Er solle seine Sachen holen und die Wohnung verlassen, sonst werde die Nebenklägerin ihn erstechen und dafür ins Gefängnis gehen. Wörtlich sagte die Nebenklägerin in diesem Zusammen- hang: „Ich bin so dumm, weil ich jedesMal, wenn du Sex haben willst, es dir auch gebe.“ Vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte kurz zuvor die Neben- klägerin vergewaltigt haben soll, war dieser Inhalt des Streitgesprächs für die Beweiswürdigung ersichtlich von besonderem Belang und hätte deshalb in die Gesamtwürdigung einbezogen werden müssen.
7
cc) Soweit die Kammer meint, das Verletzungsbild bei dem Angeklagten lasse sich mit den Angaben der Nebenklägerin besser in Einklang bringen als mit der Einlassung des Angeklagten, ist dies nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Die Kammer findet es näherliegend, dass die Nebenklägerin – wie sie angibt – dem Angeklagten eine größere Kratzverletzung an der Brust unter seinem T-Shirt zugefügt hat, indem sie, als er zur Ausübung des Geschlechtsverkehrs auf ihr lag, den Halsausschnitt seines T-Shirts nach unten gezogen und über den Halsausschnitt unter sein T-Shirt gefasst und ihn gekratzt habe. Demgegenüber sei fernerliegend, dass diese Verletzung – wie der Angeklagte behauptet – erst später entstanden sei, als sich beide in der Wohnung gegenüber gestanden hätten, denn dann hätte die Nebenklägerin dem ihr körperlich überlegenen Angeklagten unter das T-Shirt fassen müssen. Dabei erörtert die Kammer indes nicht die Einlassung des Angeklagten, der angegeben hat, sein Unterhemd sei kaputt gegangen, als ihn die Nebenklägerin aus dem Bett gezogen habe, und erst anschließend sei die Verletzung an seiner Brust erfolgt. Träfe die Einlassung des Angeklagten zu, hätte die Nebenklägerin zur Verursachung des Kratzers womöglich nicht unter ein T-Shirt des Angeklagten fassen müssen.
8
dd) Zu weiten Teilen der Einlassung des Angeklagten, eben auch zu der Frage, ob er – wie er behauptet – ein Unterhemd anhatte, das die Nebenklägerin kaputt gemacht hat, verhält sich das Urteil nicht. In den Urteilsgründen heißt es insoweit, dass die Kammer die Einlassung des Angeklagten zum Nachtatgeschehen zum Teil als unwiderleglich erachtet. Welche Teile der umfangreichen Einlassung des Angeklagten (mit Ausnahme des aufgezeichneten Telefonge- sprächs) dies sind, wird aus dem Urteil nicht hinreichend deutlich. Die Kammer teilt auch nicht für das Revisionsgericht nachvollziehbar mit, welchen Teilen der Einlassung des Angeklagten (mit Ausnahme des unmittelbaren Tatgeschehens) sie aus welchen Gründen keinen Glauben schenkt und sie für widerlegt erachtet.
9
ee) Nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind für den Senat in diesem Zusammenhang auch die Schlussfolgerungen, welche die Kammer aus dem Spurenbild an der Unterhose der Nebenklägerin gezogen hat. Einige der Spuren , die sich aus den im Urteil in Bezug genommenen Lichtbildern (§ 267 Abs. 1 Satz 3 StPO) ergeben, scheinen jedenfalls auf den ersten Blick nicht ohne weiteres mehr für die Schilderung der Nebenklägerin als für diejenige des Angeklagten zu sprechen.
10
ff) Hinzu kommt, dass das Landgericht die gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin sprechenden Indizien jeweils eher isoliert in den Blick genommen hat. Bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Tatopfers sowie der Glaubhaftigkeit seiner Angaben darf sich der Tatrichter indes nicht darauf beschränken, Umstände, die gegen die Zuverlässigkeit der Aussage sprechen können, gesondert und einzeln zu erörtern sowie getrennt voneinander zu prüfen, um festzustellen, dass sie jeweils nicht geeignet seien, die Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Selbst wenn nämlich jedes einzelne Glaubwürdigkeit oder Glaubhaftigkeit möglicherweise in Frage stellende Indiz noch keine Bedenken gegen die den Angeklagten belastende Aussage aufkommen ließe, so kann doch eine Häufung von – jeweils für sich erklärbaren – Fragwürdigkeiten bei einer Gesamtschau zu durchgreifenden Zweifeln an der Richtigkeit eines Tatvorwurfs führen (vgl. BGH, Urteil vom 19. November 2008 – 2 StR 394/08).
11
3. Die Gesamtwürdigung der Beweise, die für und gegen die Glaubhaftigkeit der Tatschilderungen der einzigen Belastungszeugin sprechen, erscheint daher insgesamt unvollständig und leidet unter Darstellungsmängeln. Die Sache bedarf deshalb neuer tatrichterlicher Prüfung. Angesichts der besonderen Umstände des Falls (mehrfache Falschangaben der Hauptbelastungszeugin) kann sich für das neue Tatgericht ausnahmsweise auch die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens anbieten (vgl. BGH, Urteil vom 12. November 2003 – 2 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 87 f.).
Wahl Rothfuß Graf
Jäger Mosbacher
11
Das Landgericht hat sich bei der Würdigung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin erkennbar davon leiten lassen, dass diese im Zusammenhang mit den gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfen sowohl in zurückliegender Zeit als auch in der Hauptverhandlung bewusst unwahre Angaben gemacht hat. Sie hat nicht nur ihre Angaben, die zur Einleitung des früheren Ermittlungsverfahrens gegen den Angeklagten im Jahre 2000/2001 führten, wieder zurückgenommen und sich selbst der Lüge bezichtigt, sondern sie hat auch in der Hauptverhandlung wahrheitswidrig behauptet, sich auf Empfehlung ihrer Therapeutin nach ihrem Auszug aus der väterlichen Wohnung nochmals zum Angeklagten ins Bett gelegt zu haben, um "zu testen, ob er immer noch etwas von ihr wolle". Ferner hat sie falsche Angaben zu ihren Kontakten mit der Lebensgefährtin ihres Vaters und zu einem angeblichen sexuellen Übergriff durch einen Bekannten gemacht. Stellt sich jedoch in einem Fall, in welchem - wie hier - Aussage gegen Aussage steht, heraus, dass die Hauptbelastungszeugin bewusst unwahre Angaben gemacht hat, sind strenge Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen und der Tatrichter muss außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Umstände feststellen, die es ihm ermöglichen , der Zeugenaussage dennoch zu glauben (BGHSt 44, 153, 159; 44, 256, 257).