Arbeitsgericht Herford Urteil, 09. Okt. 2015 - 1 Ca 645/15
Gericht
Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 800,04 € brutto nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.05.2015 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 800,04 € festgesetzt.
1
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten um die Vergütung für die Zeit der Teilnahme des Klägers an einer Weiterbildungsveranstaltung der streitverkündeten Volkshochschule C im Zeitraum vom 20.04. bis zum 24.04.2015. Bei der Volkshochschule C handelt es sich um eine anerkannte Einrichtung der Weiterbildung. Die Volkshochschule C wurde mit Schreiben vom 19.09.2011 von der Bezirksregierung Detmold ab dem 01.01.2012 die Eigenschaft einer anerkannten Einrichtung der Arbeitnehmerweiterbildung erteilt (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung des Anerkennungsbescheides Anlage A1 Bl 57 f dA verwiesen). Die Stadt C ist im Verzeichnis der nach dem AWbG anerkannten Einrichtungen der Arbeitnehmerweiterbildung – Einrichtungen im Regierungsbezirk Detmold – Stand 10.06.2015 aufgeführt (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung dieses Verzeichnisses Anlage K2 Bl. 5 ff dA verwiesen). Die hier in Rede stehende Veranstaltung ist nach dem Niedersächsischen Bildungsurlaubsgesetz bei der Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung veranstaltungsbezogen anerkannt (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung des Bescheides vom 29.06.2015 Anlage A2 Bl 58 dA verwiesen).
3Der 1970 geborene Kläger ist seit dem 02.11.2000 bei der Beklagten, die Schokolade produziert, als Maschinen- bzw. Anlagenführer tätig. Nach dem Arbeitsvertrag vom 30.09.2002 ist der Kläger ab dem 02.11.2000 als „Facharbeiter“ eingestellt. In Ziffer 2 dieses Arbeitsvertrages sind die Tarifverträge der Süßwarenindustrie in Bezug genommen. Auf das Arbeitsverhältnis finden auch kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Bundesmanteltarifvertrag für die Angestellten, gewerblichen Arbeitnehmer und Auszubildenden in der Süßwarenindustrie und der Entgelttarifvertrag für die Süßwarenindustrie im Land NRW vom 05.06.2013 aufgrund eine Wechsels der Beklagten in die OT-Mitgliedschaft des Arbeitgeberverbandes I e.V. jedenfalls kraft Nachwirkung entsprechend Anwendung. Der Kläger arbeitet regelmäßig 40 Stunden pro Woche. Davon werden normalerweise 38 Stunden ausbezahlt und 2 Stunden in das Arbeitszeitkonto einbestellt. Im Kammertermin hat der Kläger für die in Rede stehende Woche 2 Stunden aus dem Arbeitszeitkonto beantragt. Die Beklagte hat sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt.
4Die Beklagte beschäftigt ca. 280 Arbeitnehmer. Diese haben einen Betriebsrat gewählt, dessen Mitglied der Kläger ist.
5Der Kläger ist an einer sogenannten „Eintafel-Anlage“ tätig. Die Eintafel-Anlage befindet sich in einem separaten Raum im Betrieb der Beklagten. Sie wird auf der einen Seite mit flüssiger Schokoladenmasse und anderen Ingredienzien befüllt. Je nach zu fertigendem Produkt arbeiten dem Kläger weitere Hilfsarbeiter zu, in der Regel Arbeitnehmer nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (sogenannte „Leasingkräfte“), denen gegenüber der Kläger auch weisungsbefugt ist (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Arbeitsplatzbeschreibung Facharbeiter / Eintafler Bl 103 dA verwiesen). In dieser wird als eines der Hauptaufgabengebiete des Klägers die „Kommunikation mit Facharbeitern der Schokoladenmasseproduktion“ angeführt.
6Die geformten und gekühlten Schokoladentafeln werden nach Verlassen der Eintafel-Anlage in der Verpackung verpackt. Dort sind überwiegend Packerinnen tätig, die bei der Beklagten in einem Arbeitsverhältnis stehen, gelegentlich aber ebenfalls auch Leasingkräfte. Der Kläger behauptet, er sei auch Ansprechpartner für auftretende Probleme im Bereich der Packerinnen, die die an der Eintafel-Anlage gefertigten Produkte verpacken (wegen der weiteren Einzelheiten des Arbeitsumfeldes des Klägers wird auf die Ausführungen im Schriftsatz des Klägers vom 08.10.2015 verwiesen).
7Unter dem 15.01.2015 beantragte der Kläger Bildungsurlaub gemäß § 5 Abs. 1 Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz (im Folgenden: AWbG) Nordrhein-Westfalen für den Kurs der Volkshochschule der Stadt C Kursnummer 1234C1, Thema: „Souveranität und Kampfrhetorik“ in C (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung dieses Antrags Bl. 42 dA verwiesen). Die Stadt C unterzeichnete den Antrag ebenfalls und fügte einen Ablaufplan bei (wegen der weiteren Einzelheiten des Ablaufplanes wird auf dessen Ablichtung Bl. 23 ff dA verwiesen). Unter dem 15.01.2015 teilte die Stadt C dem Kläger mit, er habe aufgrund seiner Anmeldung für das vorgenannte Seminar einen Platz erhalten. In dem Schreiben heißt es weiter:
8Als Anlage ist für den Arbeitgeber ein Mitteilungsbogen beigefügt. Dieser muss ihrem Arbeitgeber so früh wie möglich – spätestens 6 Wochen vor Beginn des Bildungsurlaubs – zugeleitet werden. Ihr Arbeitgeber darf die Freistellung nur ablehnen, wenn zwingende betriebliche oder dienstliche Belange oder Urlaubsanträge anderer ArbeitnehmerInnen der Teilnahme entgegenstehen (§ 5 Abs. 2 AWbG). Eine Ablehnung muss von Ihrem Arbeitgeber schriftlich begründet werden und Ihnen spätestens 3 Wochen nach Ihrem Antrag auf Bildungsurlaub vorliegen.
9Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung dieses Schreibens Anlage K3 Bl. 9 dA verwiesen.
10Diesen Antrag leitete der Kläger unter dem 29.01.2015 der Beklagten zu. Diese lehnte den Antrag mit Schreiben vom 30.01.2015 unter Hinweis darauf ab, dass die beabsichtigte Bildungsveranstaltung weder der beruflichen noch der politischen Weiterbildung diene. Hinzu komme, dass Veranstaltungen, die das Einüben psychologischer oder ähnlicher Fähigkeiten zum Inhalt haben, nicht genehmigungsfähig sind. Genau dieses beinhalte der Themenplan der Veranstaltung (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung dieses Schreibens Anlage K1 Bl. 4 dA verwiesen).
11Der Kläger reagierte auf diese Ablehnung der Beklagten mit Schreiben vom 03.02.2015 und teilte der Beklagten mit, dass er gemäß § 5 Abs. 4 AWbG gleichwohl an der Bildungsveranstaltung teilnehmen werde (Ablichtung dieses Schreiben Anlage K4 Bl. 10 dA).
12Die Volkshochschule C bestätigte dem Kläger unter dem 24.04.2015 die regelmäßige Teilnahme an dem Bildungsurlaub (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung dieser Teilnehmerbescheinigung Anlage K5 Bl. 11 dA verwiesen).
13Der Kläger hat die Unterlagen der Bildungsveranstaltung in Ablichtung zur Gerichtsakte gereicht (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtungen Bl 67 - 95 dA verwiesen). Im Internet-Auftritt des Referenten U heißt es unter Ausbildung: Großes Graecum, großes Latinum Studium: Psychologie, Soziologie, Deutsch, Englisch, Religion (Wegen der weiteren Einzelheiten des Internetauftritts wird auf die Ablichtung Bl 47 dA verwiesen).
14In der Entgeltbescheinigung des Klägers für April 2015 vom 08.05.2015 heißt es unter „Weitere Informationen für den Arbeitnehmer“: „Fehlzeiten 20.04. – 24.04.2015 unbezahlter Urlaub“ (Ablichtung der Entgeltbescheinigung Bl. 50 f dA. In einer korrigierten Entgeltbescheinigung wird der der vorgenannte Zeitraum ebenfalls als unbezahlter Urlaub aufgeführt Bl. 52 f dA).
15Mit Schreiben vom 21.05.2015 machte die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten für den Kläger 748,55 € geltend. In dem Schreiben heißt es unter anderem:
16…
17Sie haben nicht dargelegt und nicht begründet, warum Herr T nicht an der Veranstaltung teilnehmen sollte. Sie haben lediglich pauschal vorgetragen, die Veranstaltung diene nicht der beruflichen bzw. politischen Weiterbildung. Herr T ist ordentlich gewähltes Betriebsratsmitglied. Im Zusammenhang mit diesem Ehrenamt, das zweifellos zur Arbeit bei Ihnen gehört, lassen sich schon einige Punkte aus dem Schulungsplan ableiten, die dem beruflichen Weiterkommen dienen bzw. dem Weiterkommen in der Arbeit als Betriebsrat dienlich sein können. Ferner reicht es aus, dass Herr T die Kenntnisse in seiner Arbeit einmal gebrauchen könnte, auch wenn dies kurzfristig nicht der Fall ist.
18…
19Als Anlagenführer hat Herr T eine Führungsposition inne, die es als Voraussetzung hat, im Umgang mit Mitarbeitern und Vorgesetzten angemessene Reden, reagieren oder auf einmal unangenehme Gespräche führen zu müssen – und als Betriebsratsmitglied verhandlungstechnisch auf Augenhöhe reden zu können. Im Übrigen ist Herr T Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Eine Schulung, die genau diesen Themenkern aufgreift und ihren Mitarbeiter dahingehend schult und auch dabei behilflich ist, Kompetenzen zu schaffen, zu verbessern oder auch aufzufrischen, kann wohl kaum kausal aus dem Zusammenhang mit der Weiterbildung des AWbG gerissen werden.
20…
21Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung des Schreibens Bl. 43 f dA verwiesen.
22Der Arbeitgeberverband I e.V. reagierte mit Schreiben vom 09.06.2015 und entgegnete:
23…
24Eine berufliche Weiterbildung würde voraussetzen, dass Herr T die in dem Seminar vermittelten Kenntnisse für seine arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit benötigt.
25…
26Jedenfalls im Hinblick auf die arbeitsvertraglich geschuldete Leistung sehen wir keinen Zusammenhang zur „Kampfhetorik“.
27Im Übrigen verwies der Verband auf § 9 Abs. 2 Ziffer 2 AWbG NW. (Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung dieses Schreibens Bl. 45 f dA verwiesen).
28Mit seiner vom 24.06.2015 und am darauffolgenden Tag beim erkennenden Gericht eingegangenen Klage verfolgt der Kläger seinen Anspruch weiter.
29Berufliche Arbeitnehmerweiterbildung liege vor, wenn die berufsbezogene Handlungskompetenz der Beschäftigten gefördert und deren berufliche Mobilität durch das Seminar verbessert werde. Bildungsveranstaltungen seien auch dann akzeptiert, wenn sie in der beruflichen Tätigkeit zumindest zu einem mittelbar wirkenden Vorteil des Arbeitgebers verwendet werden könnten. Dieses sei hier gegeben. Die weite Versetzungsklausel im Arbeitsvertrag des Klägers bedinge die Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von möglichen Mitarbeitern und wechselnden Vorgesetzten bei gleichzeitig völlig veränderten Arbeitsbedingungen und neu zu erlernenden Strukturen. Der Kläger verweist zur Begründung seines Anspruchs weiter auf den Artikel „Mitreden können: Die Bedeutung der politischen Beredsamkeit in der Demokratie“ von Joachim Detchen in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung vom 06.11.2012.
30Der Kläger errechnet seine Klageforderung wie folgt: 17,70 € Stundenlohn x 40 Wochenstunden zzgl. einer betrieblichen Prämie von 13 %.
31Mit Klageerweiterung mit Schriftsatz vom 30.06.2015 hat der Kläger zuletzt beantragt:
32Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 800,04 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.05.2015 zu zahlen.
33Die Beklagte bittet darum,
34die Klage abzuweisen.
35Die Beklagte meint, eine politische Weiterbildung scheide von vornherein aus.
36Darlegungsbelastet dafür, dass die Weiterbildungsmaßnahme der beruflichen Weiterbildung als Anlagenführer diene, sei der Kläger. Der Klageschrift sei ein Sachvortrag hierzu jedoch nicht zu entnehmen. Die Beklagtenseite verweist darauf, dass für die Verpackung die Schichtleitung Verpackung zuständig ist. Der Kläger sei allein für seine Maschine zuständig.
37Der Anspruch sei aber auch gemäß § 9 Abs. 3 Ziffer 2 AWbG NW ausgeschlossen. Denn danach seien Veranstaltungen, die das Einüben psychologischer oder ähnlicher Fähigkeiten zum Inhalt haben, grundsätzlich nicht genehmigungsfähig. Die streitige Veranstaltung falle genau in diese Rubrik. Der Dozent sei im Übrigen selbst studierter Psychologe.
38Mit Schriftsatz vom 31.07.2015 hat der Kläger der Stadt C den Streit verkündet, verbunden mit der Aufforderung, dem Rechtsstreit auf Seiten des Klägers beizutreten (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen im Schriftsatz vom 31.07.2015 Bl. 37 ff dA verwiesen).
39Die Streitverkündete meint, die Bildungsveranstaltung entspreche den Grundsätzen des § 1 Abs. 2 bis 4 AWbG NW. Der Bildungsurlaub beinhalte kompetenzbildende Inhalte zur Fachkompetenz (Methodenkompetenz, kommunikative Kompetenz und Lernkompetenz) sowie zur Sozial- und Selbstkompetenz. Insbesondere fördere sie die berufsbezogene Handlungskompetenz der Beschäftigten. Bei dem hier in Rede stehenden Bildungsurlaub handele es sich um einen Bildungsurlaub nach dem AWbG NW aus dem Bereich der Schlüsselqualifikationen, dass heißt der überfachlichen Qualifikation „Kommunikationskompetenz“ und zwar im Hinblick auf die rhetorischen Fähigkeiten. Schlüsselqualifikationen sollten und könnten das Fachwissen nicht ersetzen, sondern sie zielten darauf, in Anbetracht der sich ständig wandelnden beruflichen Anforderungen sich Fachwissen besser erschließen zu können. Sie seien daher zunächst inhaltsneutral und fänden im täglichen Berufsleben und in den zwischenmenschlichen Beziehungen Anwendung. Im Berufsleben helfe Rhetorik im Umgang mit Vorgesetzten, Kunden und Kollegen. Jede Gesprächssituation, vom Telefonat über das Vorstellungsgespräch bis hin zu Verhandlungen und Präsentationen profitiere von gekonnter Rhetorik. Rhetorische Fähigkeiten seien erlernbar, denn die Rhetorik unterliege klaren Regeln, für die passende Instrumente entwickelt wurden (Frage- und Antworttechniken sowie Techniken des Zuhörens). Der Aus- und Aufbau dieser berufsbezogenen Handlungskompetenz helfe dem Beschäftigten, steigende berufliche Anforderungen besser bewältigen zu können. Der Bildungsurlaub „Souveränität und Kampfrhetorik“ aus dem Handlungsfeld Kommunikation ziele darauf, Kommunikationsfähigkeit, Argumentationsfähigkeit, Moderations-/Präsentationsfähigkeit, Schlagfertigkeit, sprachliche Ausdrucksfähigkeit und Verhandlungsstärke von Beschäftigten zu fördern. Er ziele auf die Steigerung der beruflichen Handlungskompetenz für Kommunikationsprozesse.
40Es handele sich bei dem angebotenen Bildungsurlaub auch nicht um eine Bildungsveranstaltung, die auf das Einüben psychologischer oder ähnlicher Fähigkeiten gerichtet ist, § 9 Abs. 2 Ziffer 2 AWbG NW. Keinesfalls stehe das Einüben psychologischer Fähigkeiten im Vordergrund. Wenn Hinweise zum psychologischen Hintergrund gegeben würden, so dienten diese hier allenfalls der Veranschaulichung und Erklärung bestimmter Erkenntnisse. Kommunikationstechniken, wie Techniken gekonnter Konfliktkommunikation oder der Gesprächsführung basierten auf erlernbaren Strukturen der Kommunikation, wie beispielsweise der Kunst des Fragens oder des Umgangs mit nonverbalen Signalen. Diese Techniken würden erklärt und eingeübt für berufliche Kommunikationsprozesse. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernten unterschiedliche Kommunikationskanäle kennen und anzuwenden, einschließlich Wortwahl und Gestikulation. Bestandteile und Prinzipien seien durchaus auch auf die schriftliche Kommunikation zu übertragen. Schließlich lasse sich auch aus der Person des Dozenten kein Rückschluss auf eine Zielrichtung des angebotenen Bildungsurlaubs im Sinne von § 9 Abs. 2 Ziffer 2 AWbG herleiten. Der Dozent sei ausgebildeter Lehrer für Deutsch und Englisch mit einem 1. und 2. Staatsexamen. Nach mehrjähriger Tätigkeit an Grundschulen in Niedersachsen, NRW und Frankreich habe er sich im Bereich Rhetorik und Kommunikation spezialisiert und sei seit 1983 als Kommunikationstrainer und Rhetorikdozent freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen im Schriftsatz vom 17.09.2015 verwiesen).
41Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Protokollerklärungen im Güte- und im Kammertermin verwiesen.
42E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
43Die zulässige Klage ist in vollem Umfang begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf bezahlte Freistellung von der Arbeit für die Zeit vom 20. bis 24.04.2015. Denn die rechtzeitig angemeldete Veranstaltung dient der beruflichen Weiterbildung des Klägers im Sinne von § 1 Abs. 2 AWbG NW. Das ergibt die verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes.
441.
45Bei der Subsumtion des Inhalts der hier in Rede stehenden Veranstaltung unter den unbestimmten Rechtsbegriff „berufliche Weiterbildung“ bedarf es ebenso wie bei der Auslegung des hessischen Bildungsurlaubsgesetzes (vgl. dazu nur BAG vom 09.02.1993 – 9 AZR 658/90) neben der Berücksichtigung von Wortlaut und Zweck des Gesetzes der Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 15. Dezember 1987 – 1 BvR 563/85 – herausgestellten verfassungsrechtlichen Prüfungsmerkmale (so bspw. auch Clausen, „Zum Begriff der beruflichen und politischen Weiterbildung nach dem AWbG-NRW“ in: AuR 1990, 342ff.). Danach sind die den Arbeitgebern auferlegten Freistellungs- und Entgeltfortzahlungspflichten für Arbeitnehmer, die an Bildungsveranstaltungen teilnehmen, durch Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt. Unter den Bedingungen fortwährenden und sich beschleunigenden technischen und sozialen Wandels wird lebenslanges Lernen zur Voraussetzung individueller Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Anpassungsfähigkeit im Wechsel der Verhältnisse. Im Einzelnen hilft die Weiterbildung, die Folgen des Wandels beruflich und sozial besser zu bewältigen. Es liegt im Gemeinwohl, neben dem erforderlichen Sachwissen für die Berufsausübung auch das Verständnis des Arbeitnehmers für gesellschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge zu verbessern, um damit die in einem demokratischen Gemeinwesen anzustrebende Mitsprache und Mitverantwortung in Staat, Gesellschaft und Beruf zu fördern. Bei der Auferlegung der Lasten durfte der Gesetzgeber auch berücksichtigen, dass die Weiterbildung der Arbeitnehmer nicht nur diesen, sondern ebenso der Innovationsfähigkeit der Wirtschaft zugutekommt. Weiter durfte er in Erwägung ziehen, dass der Arbeitnehmer zur Wertschöpfung und zur Erreichung des Unternehmenszwecks regelmäßig der Mitwirkung der Arbeitnehmer bedarf (Bundesarbeitsgericht vom 15.06.1993 – 9 AZR 261/90 Rdnr. 12 unter Verweis auf die bereits zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1987). Danach dient die Arbeitnehmerweiterbildung nach dem AWbG NW dem Ziel, die soziale Entwicklung und Handlungskompetenz des Arbeitnehmers zu fördern (so Clausen a.a.O. 342ff. (349)).
462.
47Danach genügt eine Bildungsveranstaltung den gesetzlichen Voraussetzungen der beruflichen Weiterbildung im Sinne des § 1 Abs. 2 AWbG nicht nur, wenn sie Kenntnisse zum ausgeübten Beruf vermittelt, sondern auch, wenn das erlernte Wissen im Beruf verwendet werden kann und so im weitesten Sinne für den Arbeitgeber von Vorteil ist, wie zum Beispiel der Erfahrungsgewinn im Umgang mit Menschen und der Erwerb von Eigeninitiative und Verantwortungsbereitschaft (BAG a.a.O. Rdnr. 13 unter Verweis auf Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 11.02.1992 – 1 BvR 890/84). Deshalb werden die gesetzlichen Voraussetzungen auch dann erfüllt, wenn Kenntnisse vermittelt werden, die zwar nur zunächst den Bereich der personenbezogenen Bildung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 7 Weiterbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen (WbG NW) zuzuordnen und von der Arbeitnehmerweiterbildung ausgeschlossen sind, die der Arbeitnehmer aber zum auch nur mittelbar wirkenden Vorteil des Arbeitgebers in seinem Beruf verwenden kann.
483.
49Dazu zählt nach Ansicht der Kammer auch ein Bildungsurlaub nach dem AWbG NW aus dem Bereich der Schlüsselqualifikationen für berufliche und/oder politische Bildung.
50Der Begriff wurde zunächst in den 1970-er Jahren von Dieter Mertens geprägt. Er verstand unter Schlüsselqualifikationen die Qualifikationen, die als „Schlüssel“ zur Erschließung von sich schnell änderndem Fachwissen dienen können. Nach der Definition der Bildungskommission NRW (1995) sind Schlüsselqualifikationen „…erwerbbare allgemeine Fähigkeiten, Einstellungen und Wissenselemente, die bei der Lösung von Problemen und beim Erwerb neuer Kompetenzen in möglichst vielen Inhaltsbereichen von Nutzen sind, so dass eine Handlungsfähigkeit entsteht, die es ermöglicht, sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.“ (in: Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft, Luchterhand, Neuwied, 1995). Als Schlüsselqualifikationen bezeichnet man heute überfachliche Qualifikationen, die zum Handeln befähigen sollen. Innerhalb der Personalwirtschaft sind sie neben der Fachkompetenz der zweite zentrale Bereich der Personalentwicklung. Sie sind daher kein Fachwissen, sondern ermöglichen den kompetenten Umgang mit fachlichem Wissen. Dabei setzen sich Schlüsselqualifikationen aus einem breiten Spektrum übergreifender Fähigkeiten zusammen, die sowohl aus dem kognitiven, als auch aus dem affektiven Bereich stammen. Diese Kompetenzen können in verschiedenen Situationen und Funktionen flexibel und innovatorisch eingesetzt und übertragen werden.
51Vorliegend handelt es sich um die überfachliche Qualifikation „Kommunikationskompetenz mit dem Schwerpunkt auf rhetorische Fähigkeiten“. Die Kammer teilt die Auffassung der Streitverkündeten, dass jede Gesprächssituation vom Telefonat über das Vorstellungsgespräch bis hin zu Verhandlungen und Präsentationen von gekonnter Rhetorik profitiert. Daher hilft Rhetorik im Berufsleben im Umgang mit Vorgesetzten, Kunden und Kollegen.
52Auf der politischen Ebene dient die „Kommunikationskompetenz“ der Partizipation des Einzelnen in der persönlichen, der betrieblichen, der überbetrieblichen und der politischen Interessenvertretung. Partizipation heißt generell, sich in der politischen Öffentlichkeit zu beteiligen und um Durchsetzung eigener Positionen und Interessen zu streiten. Der demokratische Diskurs erfordert intensive Aushandlungsprozesse in einer heterogenen Gesellschaft. Dies erfordert, mit anderen zu sprechen, in öffentlichen Debatten etwas zu klären und sich mit Standpunkten von Opponenten auseinander zu setzen. Der Kläger hat zutreffend darauf verwiesen, dass aus der Sicht der Demokratie das Ensemble kommunikativer Fähigkeiten wichtig ist, weil sie von Menschen lebt, die bereit und in der Lage sind, ihre Meinung zu artikulieren und für ihre Positionen einzutreten.
53Schließlich gibt es noch ein weiteres Element der kommunikativen Handlungsfähigkeit, das leicht übersehen wird. Gemeint ist die Fähigkeit, politische Reden angemessen analysieren zu können und damit zu einem vertieften Verständnis dieser Reden zu gelangen. Diese Fähigkeit vermag die Ungleichheit „der verbalen Waffen“ zu mindern, die darin besteht, dass viele Bürger mangels Beherrschung rhetorischer Techniken die Absichten professioneller Redner nicht kritisch beurteilen können. Umgekehrt kann die Fähigkeit auch vor einer kurzschlüssigen Rezeption von Politikerreden bewahren.
544.
55Die Beklagte kann nicht damit gehört werden, dass es bei dem angebotenen Bildungsurlaub um eine Bildungsveranstaltung handelt, die auf das Einüben psychologischer oder ähnlicher Fertigkeiten gerichtet ist, § 9 Abs. 2 Ziffer 2 AWbG NW. Die Kammer vermag dem Ablaufplan und den vom Kläger eingereichten Seminarunterlagen nicht zu entnehmen, dass das Einüben psychologischer Fähigkeiten im Vordergrund steht. Kommunikationstechniken, wie Techniken gekonnter Konfliktkommunikation oder der Gesprächsführung basieren auf erlernbaren Strukturen der Kommunikation, wie beispielsweise der Kunst des Fragens oder des Umgangs mit nonverbalen Signalen. Diese Kommunikationstechniken werden erklärt und eingeübt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen unterschiedlich Kommunikationskanäle kennen und anzuwenden, einschließlich Wortwahl und Gestikulation. Wenn im Seminar Hinweise zum psychologischen Hintergrund gegeben werden, was wahrscheinlich häufig geschieht, so dienen diese Hinweise der Veranschaulichung und Erklärung bestimmter Erkenntnisse, aber nicht dem Einüben psychologischer Fähigkeiten. Der Inhalt des hier in Rede stehenden Bildungsurlaubs zielt vielmehr auf eine Erweiterung der beruflichen und politischen Handlungskompetenz, das heißt der Erweiterung der Fähigkeit, in beruflichen und politischen Situationen angemessen kommunizieren zu können, Kommunikation verstehen und Kritik angemessen äußern zu können.
565.
57Die Klageforderung ist der Höhe nach zwischen den Parteien unstreitig. Die Beklagte hat sich mit der Entnahme von zwei Stunden aus dem Arbeitszeitkonto für die hier in Rede stehende Woche einverstanden erklärt, so dass der Kläger insgesamt die Vergütung von 40 Wochenstunden (die er ansonsten auch im Betrieb der Beklagten in der fraglichen Woche gearbeitet hätte) reklamieren kann.
58Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 288 i.V.m. § 286 Abs. 2 Ziff. 1 BGB.
59Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 46 Abs. 1 ArbGG i.V.m. §§ 495 und 91 Abs. 1 ZPO. Nach der letztgenannten Vorschrift trägt derjenige die Kosten des Rechtsstreits, der unterlegen ist. Dies ist im vorliegenden Fall die Beklagte.
60Der Streitwert ist gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen. Die Höhe des Streitwertes entspricht im vorliegenden Fall aus der Klageforderung.
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Annotations
(1) Das Urteilsverfahren findet in den in § 2 Abs. 1 bis 4 bezeichneten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten Anwendung.
(2) Für das Urteilsverfahren des ersten Rechtszugs gelten die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über das Verfahren vor den Amtsgerichten entsprechend, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt. Die Vorschriften über den frühen ersten Termin zur mündlichen Verhandlung und das schriftliche Vorverfahren (§§ 275 bis 277 der Zivilprozeßordnung), über das vereinfachte Verfahren (§ 495a der Zivilprozeßordnung), über den Urkunden- und Wechselprozeß (§§ 592 bis 605a der Zivilprozeßordnung), über die Musterfeststellungsklage (§§ 606 bis 613 der Zivilprozessordnung), über die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 128 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung) und über die Verlegung von Terminen in der Zeit vom 1. Juli bis 31. August (§ 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung) finden keine Anwendung. § 127 Abs. 2 der Zivilprozessordnung findet mit der Maßgabe Anwendung, dass die sofortige Beschwerde bei Bestandsschutzstreitigkeiten unabhängig von dem Streitwert zulässig ist.
(1) Die unterliegende Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insbesondere die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren. Die Kostenerstattung umfasst auch die Entschädigung des Gegners für die durch notwendige Reisen oder durch die notwendige Wahrnehmung von Terminen entstandene Zeitversäumnis; die für die Entschädigung von Zeugen geltenden Vorschriften sind entsprechend anzuwenden.
(2) Die gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei sind in allen Prozessen zu erstatten, Reisekosten eines Rechtsanwalts, der nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt, jedoch nur insoweit, als die Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war. Die Kosten mehrerer Rechtsanwälte sind nur insoweit zu erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder als in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. In eigener Sache sind dem Rechtsanwalt die Gebühren und Auslagen zu erstatten, die er als Gebühren und Auslagen eines bevollmächtigten Rechtsanwalts erstattet verlangen könnte.
(3) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne der Absätze 1, 2 gehören auch die Gebühren, die durch ein Güteverfahren vor einer durch die Landesjustizverwaltung eingerichteten oder anerkannten Gütestelle entstanden sind; dies gilt nicht, wenn zwischen der Beendigung des Güteverfahrens und der Klageerhebung mehr als ein Jahr verstrichen ist.
(4) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne von Absatz 1 gehören auch Kosten, die die obsiegende Partei der unterlegenen Partei im Verlaufe des Rechtsstreits gezahlt hat.
(5) Wurde in einem Rechtsstreit über einen Anspruch nach Absatz 1 Satz 1 entschieden, so ist die Verjährung des Anspruchs gehemmt, bis die Entscheidung rechtskräftig geworden ist oder der Rechtsstreit auf andere Weise beendet wird.
(1) Den Wert des Streitgegenstands setzt das Arbeitsgericht im Urteil fest.
(2) Spricht das Urteil die Verpflichtung zur Vornahme einer Handlung aus, so ist der Beklagte auf Antrag des Klägers zugleich für den Fall, daß die Handlung nicht binnen einer bestimmten Frist vorgenommen ist, zur Zahlung einer vom Arbeitsgericht nach freiem Ermessen festzusetzenden Entschädigung zu verurteilen. Die Zwangsvollstreckung nach §§ 887 und 888 der Zivilprozeßordnung ist in diesem Fall ausgeschlossen.
(3) Ein über den Grund des Anspruchs vorab entscheidendes Zwischenurteil ist wegen der Rechtsmittel nicht als Endurteil anzusehen.