OnlineKommentar zu Insolvenzordnung - InsO | § 119 Unwirksamkeit abweichender Vereinbarungen von Dirk Streifler


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Insolvenzordnung - InsO | § 119 Unwirksamkeit abweichender Vereinbarungen
Vereinbarungen, durch die im voraus die Anwendung der §§ 103 bis 118 ausgeschlossen oder beschränkt wird, sind unwirksam.
Normzweck und Systematik
Normzweck
Der § 119 InsO steht im Dienste der Gläubigergesamtheit. Ziel ist es, die Insolvenzmasse vor Einflüssen zu schützen, die durch vorinsolvenzliche Vereinbarungen entstehen könnten. Dies beinhaltet:
- Sicherung der Massemehrung: Günstige Verträge sollen zur Masse gezogen werden können.
- Vermeidung von Massebelastung: Nachteilige Verträge sollen beendet werden können.
- Stärkung der Sanierungsmöglichkeiten: Durch die Begrenzung der Vertragsfreiheit des Schuldners soll das Unternehmen stabilisiert werden können.
Dabei erfolgt eine gesetzgeberische Abwägung zwischen der Interessenwahrung der Gläubiger und dem Schutzbedürfnis des Vertragspartners. Die zwingende Natur der §§ 103–118 InsO stellt sicher, dass diese Abwägung nicht durch vertragliche Gestaltungen unterlaufen wird.
Systematik
§ 119 InsO ergänzt die Regelungen der §§ 103–118 InsO und dient als übergreifende Schutzvorschrift:
- Er sichert die Entscheidungsfreiheit des Verwalters, indem er Vereinbarungen ausschließt, die den Anwendungsbereich oder die Rechtsfolgen der §§ 103–118 einschränken.
- Die Norm deckt sowohl unmittelbare Einschränkungen (z. B. Ausschluss des Wahlrechts nach § 103 InsO) als auch mittelbare Beeinträchtigungen (z. B. wirtschaftlich unattraktive Klauseln) ab.
Tatbestand
Voraussetzungen des § 119 InsO
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Vertragliche Vereinbarung vor Verfahrenseröffnung:
- Die Regelung muss vor der Insolvenzeröffnung zwischen Schuldner und Vertragspartner getroffen worden sein. Gesetzliche Regelungen sind nicht erfasst.
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Einschränkung oder Ausschluss der §§ 103–118 InsO:
- Dazu zählen sowohl unmittelbare Eingriffe (z. B. Ausschluss des Wahlrechts) als auch mittelbare Beschränkungen, etwa durch insolvenzabhängige Lösungsklauseln, die die wirtschaftliche Grundlage eines Vertrags entziehen.
-
Keine Rechtfertigung durch berechtigte Interessen:
- Nach der neueren Rechtsprechung des BGH können insolvenzabhängige Klauseln wirksam sein, wenn sie objektiv durch berechtigte Interessen gerechtfertigt sind. Dies gilt etwa für Klauseln, die dem Schutz des Vertragspartners bei Dienst- oder Sachleistungen dienen.
Praktische Problemfelder
- Lösungsklauseln:
- Diese sind von besonderer Bedeutung im Kontext des § 103 InsO. Klauseln, die bei Insolvenz automatisch eine Vertragsauflösung vorsehen, können das Wahlrecht des Verwalters faktisch leerlaufen lassen.
- Wirtschaftliche Beeinträchtigung:
- Vereinbarungen, die die Fortführung eines Vertrags unwirtschaftlich machen, können ebenfalls unter § 119 InsO fallen.
Rechtsfolge
Unwirksamkeit der vertraglichen Regelung
- Vereinbarungen, die gegen § 119 InsO verstoßen, sind nichtig.
- Nach den allgemeinen Grundsätzen des § 139 BGB bleibt der Vertrag im Übrigen wirksam, es sei denn, die unwirksame Klausel ist wesentlicher Bestandteil des Vertrags.
- Eine geltungserhaltende Reduktion der unwirksamen Klausel ist ausgeschlossen.
Ex post Ausübungskontrolle
- Selbst bei einer wirksamen Klausel kann nach § 242 BGB eine Ausübungskontrolle greifen.
- Dies ist der Fall, wenn der Vertragspartner kein schutzwürdiges Interesse an der Klauselausübung hat oder wenn die Interessen des Schuldners überwiegen.
Abweichende Meinungen und offene Problemkreise
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Umfang der Einschränkungen durch § 119 InsO:
- Die Reichweite der Norm, insbesondere bei mittelbaren Beeinträchtigungen des Wahlrechts, ist umstritten. Kritiker sehen eine potenzielle Überdehnung des Schutzbereichs zulasten der Vertragsfreiheit.
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Wirksamkeit insolvenzabhängiger Lösungsklauseln:
- Während frühere Entscheidungen des BGH solche Klauseln regelmäßig für unwirksam erklärten, lässt die neuere Rechtsprechung sie bei objektiver Rechtfertigung zu. Die Abgrenzung zwischen zulässigen und unzulässigen Klauseln bleibt jedoch unscharf.
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Differenzierung zwischen Vertragsarten:
- Es bleibt unklar, ob der BGH eine einheitliche Linie für alle Vertragsarten anstrebt oder ob weiterhin eine kasuistische Betrachtung vorherrschen wird.
Erkenntnisse aus der Anwendung des § 119 InsO
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Stärkung der Masse und Gläubigergleichbehandlung:
- § 119 InsO ist ein zentraler Baustein für die Sicherung der Insolvenzmasse und die Gleichbehandlung der Gläubiger.
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Einschränkung der Vertragsfreiheit:
- Die Norm stellt die Interessen der Gläubigergesamtheit über die Vertragsfreiheit einzelner.
-
Fortentwicklung durch Rechtsprechung:
- Die Entscheidungen des BGH zeigen eine zunehmende Ausdifferenzierung bei der Beurteilung der Wirksamkeit insolvenzabhängiger Klauseln.
Fazit
§ 119 InsO ist eine fundamentale Norm des Insolvenzrechts, die den Handlungsspielraum des Verwalters sichert und die Gläubigergesamtheit schützt. Gleichzeitig bringt die Norm Herausforderungen für die Vertragsfreiheit und die Rechtssicherheit mit sich, insbesondere im Umgang mit insolvenzabhängigen Klauseln. Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung eine klarere Linie zur Abgrenzung zwischen zulässigen und unzulässigen Gestaltungen entwickeln wird.

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Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.