Urteils-Kommentar zu Bundesgerichtshof Beschluss, 22. Okt. 2025 - I ZB 47/25 von Dirk Streifler

published on 23.12.2025 22:41
Urteils-Kommentar zu Bundesgerichtshof Beschluss, 22. Okt. 2025 - I ZB 47/25 von Dirk Streifler
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Bundesgerichtshof Beschluss, 22. Okt. 2025 - I ZB 47/25

I. Einführung und Bedeutung der Entscheidung

Der Beschluss des BGH betrifft einen klassischen, aber bisher rechtlich unzureichend geklärten Konflikt der Zwangsvollstreckung gegen juristische Personen: Die formelle Geschäftsführung ist untätig oder unwissend, während ein „Hintermann“ die tatsächliche Leitung ausübt. Der Vollstreckungsanspruch des Gläubigers wird damit leerzulaufen drohen, weil die Vermögensauskunft einer funktionslosen Strohperson keinerlei Erkenntniswert besitzt. Der BGH schließt diese Lücke, indem er den faktischen Geschäftsführer in die Pflicht nimmt. Die Entscheidung hat erhebliche praktische Tragweite, denn sie betrifft nicht nur Pathologiefälle, sondern auch alltägliche Konstellationen schwacher Kontrollstrukturen in kleineren GmbHs. Zugleich greift sie dogmatisch tief in das Verständnis der Organpflichten nach § 802c ZPO ein und verschiebt die gewohnten Grenzen zwischen formalem Zivilverfahrensrecht und gesellschaftsrechtlicher Verantwortungszuordnung.

II. Sachverhalt und Prozessgeschichte

Dem Verfahren lag eine typische Strohmannkonstellation zugrunde: Die formelle Geschäftsführerin erschien zwar zum Vermögensauskunftstermin, gab jedoch offen zu, keinerlei Wissen über die Vermögensverhältnisse der GmbH zu besitzen und die Geschäftsführung faktisch nicht auszuüben. Stattdessen verwies sie auf den Gesellschafter und früheren Geschäftsführer als tatsächlichen Leiter der Geschäfte. Die Gläubiger beantragten daher dessen Heranziehung zur Vermögensauskunft. Amts- und Landgericht lehnten dies ab und verwiesen auf die formelle Organstellung. Erst der BGH korrigierte diese formalistisch geprägte Sichtweise und hob den ablehnenden Beschluss des Landgerichts auf. Die Entscheidung knüpft damit an eine Entwicklungslinie an, die bereits das Strafrecht (§ 14 StGB), das Haftungsrecht (§ 43 GmbHG analog), das Insolvenzrecht (§§ 64 GmbHG a.F., 15b InsO) und das Konzernrecht geprägt hatten: Die Durchgriffsfähigkeit der Figur des faktischen Geschäftsführers.

III. Rechtsdogmatischer Ausgangspunkt: Die Vermögensauskunft als Organpflicht

Die Vermögensauskunft nach § 802c ZPO soll dem Gläubiger ein vollständiges Bild über die Vermögenslage des Schuldners verschaffen. Bei juristischen Personen wird sie daher zurecht als höchstpersönliche Verpflichtung des gesetzlichen Vertreters verstanden. Der BGH bestätigt diese orthodoxe Sicht. Die Bindung an die formelle Organstellung beruht auf dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und der Wertung, dass nur die gesetzlich zur Vertretung berechtigten Personen eine hinreichend authentische Erklärung abgeben können. Die normative Fixierung auf die aktuelleGeschäftsführung verhindert zugleich eine uferlose Haftung früherer Geschäftsführer, die nur in Missbrauchsfällen fortwirkt. Bis zu diesem Punkt bewegt sich der BGH in der etablierten Rechtsprechungslinie und knüpft an seine Entscheidung I ZB 35/06 an.

IV. Die Heranziehung des faktischen Geschäftsführers als Bruch mit der reinen Organlogik

Neu und dogmatisch spannungsreich ist jedoch, dass der BGH den faktischen Geschäftsführer als möglichen Erklärungspflichtigen neben dem formellen Organ anerkennt. Die Figur des faktischen Geschäftsführers entstammt primär dem Haftungs- und Strafrecht, wo sie als Correctiv dient, um Verantwortung an den tatsächlichen Machthaber zu knüpfen. Die Übertragung in das Vollstreckungsrecht ist keineswegs selbstverständlich. Denn § 802c ZPO spricht ausdrücklich vom „gesetzlichen Vertreter“. Der BGH nutzt jedoch den allgemeinen Rechtsgedanken des Missbrauchsverbots (§ 242 BGB) sowie den verfassungsrechtlichen Justizgewährungsanspruch, um die Norm teleologisch zu erweitern. Seine Argumentation ist plausibel: Eine reine Orientierung an der formellen Organstellung würde die Vermögensauskunft in Strohmannkonstellationen entwerten und den Sinn der Zwangsvollstreckung konterkarieren. Dass der BGH hier zum Mittel richterlicher Normkorrektur greift, belegt den praktischen Regelungsbedarf, den der Gesetzgeber – trotz bekannter Missbrauchsfälle – bisher ignoriert hat. Kritisch bleibt jedoch, dass die Teleologie des § 802c ZPO nicht zwingend zu einer Pflichtnicht gesetzlicher Vertreter führen muss; ebenso denkbar wäre ein eigenständiger Auskunftstatbestand für faktische Organträger, der jedoch dem Gesetzgeber vorbehalten geblieben wäre.

V. Verfassungsrechtliche Erwägungen und ihre Reichweite

Die Entscheidung stützt sich erkennbar auf den Justizgewährungsanspruch, der eine wirksame Rechtsschutzverwirklichung garantiert. Der BGH betont, dass der Staat dem Gläubiger keine bloß formale Vollstreckung schuldet. Gleichwohl bleibt zu diskutieren, ob diese Erwägung die Überschreitung des gesetzlichen Wortlauts rechtfertigt. Der Einbezug faktischer Geschäftsführer verschiebt die Akteursrolle erheblich und berührt zugleich das Selbstbelastungsverbot und datenschutzrechtliche Fragen, da der faktische Geschäftsführer keine organschaftliche Stellung innehat und daher in besonderem Maße wie ein Dritter behandelt wird. Das Spannungsfeld zwischen prozessualer Wahrheitspflicht, Selbstbelastungsverbot und Eigentumsschutz des Gläubigers wird im Beschluss nicht umfassend austariert. Gerade hier sind verfassungsrechtliche Folgefragen zu erwarten: Ist eine auf richterlicher Rechtsfortbildung beruhende Offenbarungspflicht eines faktischen Geschäftsführers mit Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG und Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar? Die Entscheidung bleibt insoweit erkennbar pragmatisch, aber dogmatisch offen.

VI. Praktische Implikationen und Risiken der Entscheidung

Für die Praxis schafft der Beschluss klare Vorteile für Gläubiger. Vollstreckung gegen „leere Hüllen“ wird erheblich erschwert, und die strategische Bestellung ahnungsloser Geschäftsführer verliert ihre Wirksamkeit. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an Gerichtsvollzieher und Vollstreckungsgerichte, denn sie müssen anhand der Äußerungen im Termin und anhand tatsächlicher Einflussverhältnisse prüfen, ob ein faktischer Geschäftsführer existiert. Dies erfordert nicht nur Sensibilität, sondern auch Feststellungen, die über das reine Registerwissen hinausgehen. Auch für die GmbH-Praxis entsteht Unsicherheit: Der Kreis der Offenbarungspflichtigen wird unklarer, weil die Abgrenzung zwischen starkem Gesellschaftereinfluss und faktischer Geschäftsführung ohnehin schwierig ist. Die Gefahr einer ungewollten Eingruppierung steigt, insbesondere in inhabergeführten Familiengesellschaften, Sanierungsfällen oder bei arbeitsteiligen Geschäftsführerstrukturen.

VII. Verhältnis zu Literatur und Rechtsprechung

Während die Figur des faktischen Geschäftsführers in der Haftungsrechtsprechung des BGH seit Jahren etabliert ist (BGH, BGHZ 109, 55; NJW 2017, 351), blieb ihre Rolle im Vollstreckungsrecht ungeklärt. Die Literatur äußerte verschiedentlich Zweifel daran, ob eine solche Erweiterung ohne gesetzliche Grundlage zulässig sei (vgl. Bitter, ZIP 2010, 2189; Fleischer in MünchKomm GmbHG, § 43 Rn. 96 ff.). Der Beschluss widerspricht tendenziell diesen kritischen Stimmen und bekräftigt eine funktionsorientierte Betrachtung. Gleichzeitig zeigt er aber auch die Grenzen der Analogie: Der Ausschluss früherer Geschäftsführer wird weiterhin eng auf Missbrauchsfälle begrenzt, um eine unkontrollierbare Ausweitung der organbezogenen Pflichten zu verhindern. Insgesamt schließt sich der Beschluss inhaltlich an die Tendenz an, wirtschaftliche Machtverhältnisse stärker zu berücksichtigen als formal-juristische Rollenbilder. Dies entspricht der internationalen Entwicklung etwa im US corporate veil piercing, ist aber im deutschen Recht nach wie vor von Zurückhaltung geprägt.

VIII. Ausblick und offene Fragen

Die Entscheidung liefert mehr Antworten als Fragen, schafft zugleich aber neue Baustellen. Ungeklärt bleibt insbesondere, wie intensiv der Einfluss sein muss, um als faktische Geschäftsführung zu gelten. Ob eine bloße Entscheidungsmacht genügt oder ein kontinuierliches Handeln nach außen erforderlich ist, wird die Instanzrechtsprechung differenzieren müssen. Auch der Umgang mit Selbstbelastungsrisiken und mit dem Schutz personenbezogener Daten der faktischen Organträger verlangt eine vertiefte Diskussion. Schließlich stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber angesichts der vom BGH offen angesprochenen Missbrauchsrisiken eine positivrechtliche Regelung schaffen sollte, die die Vermögensauskunft an die tatsächlichen Machtverhältnisse koppelt und damit die Rechtslage klarer strukturiert.

IX. Fazit

Der Beschluss des BGH vom 22.10.2025 ist im Ergebnis überzeugend, weil er verhindert, dass die Vermögensauskunft als zentrales Vollstreckungsinstrument durch Strohmannkonstruktionen entwertet wird. Dogmatisch ist die Entscheidung jedoch nicht unproblematisch, da sie den Wortlaut des § 802c ZPO erweitert und die Figur des faktischen Geschäftsführers in einen Anwendungsbereich einführt, der traditionell von formaler Organlogik geprägt ist. Sie steht zugleich in einer Linie mit der Tendenz, materielle Verantwortlichkeit stärker an tatsächliche Machtverhältnisse zu knüpfen. Die Entscheidung stärkt den Gläubigerschutz erheblich, verlangt aber eine sorgfältige begriffliche und verfassungsrechtliche Ausarbeitung. Für die Praxis bedeutet sie eine effektivere Durchsetzungsmöglichkeit gegenüber missbräuchlich organisierten GmbHs; für die Rechtswissenschaft ist sie Anlass, die Rolle des faktischen Geschäftsführers im Prozessrecht neu zu durchdenken.

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