Verfassungsrecht: "Honeywell-Fall" - Feststellung eines Ultra-Vires-Akts nur bei schwerer Kompetenzüberschreitung

erstmalig veröffentlicht: 28.05.2020, letzte Fassung: 19.10.2022

Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 06.07.2010 die Entscheidung des EuGH im sog. „Mangold“-Fall bestätigt und die, ihr zugrundeliegende, Verfassungsbeschwerde verworfen. Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG setzt einen hinreichend qualifizierten Kompetenzverstoß der europäischen Organe voraus. Dieser ist gegeben, wenn das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist. Weiterhin muss der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedsstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzgebung erheblich ins Gewicht fallen. Das BVerfG ist demnach nur berechtigt schwerwiegende Verstöße zu überprüfen. Es wird angehalten vor der Annahme eines Ultra-vires Akts den EuGH anzurufen. Das Schaffen eines Verbots der Altersdiskriminierung durch den EuGH stellt weiterhin keinen ausbrechenden Rechtsakt dar. Der EuGH habe mit seiner Entscheidung lediglich eine neue Fallgruppe geschaffen, wie Rechtsnormen behandelt werden, welche richtlinienwidrig erlassen wurden.

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Verfassungsbeschwerde aufgrund von Kompetenzüberschreitung im Mangold-Urteil 

Das BVerfG hatte über die sog. „Mangold“-Rechtssprechung des EuGH vom 22.11.2005 zu entscheiden. Ihr zugrunde lag die Verfassungsbeschwerde einer Automobilzulieferung, welche im Februar 2003 befristete Verträge mit mehreren Personen schloss, ohne einen sachlichen Grund hierfür zu haben.

Damals war dies aufgrund der Fassung vom § 14 Abs. 3 Satz 4 des Teizeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) uneingeschränkt möglich, sofern die Arbeitnehmer das 52.Lebensjahr vollendet haben.

Der, auf dieser Grundlage eingestellte Kläger begehrte die Unwirksamkeit der Befristung seines Arbeitsvertrages und hatte vor dem Bundesarbeitsgericht Erfolg. Dieses stellte sodann fest, dass es seit der „Mangold“-Entscheidung des EuGH den § 14 Absatz 3 Satz 4 TzBfG nicht anwenden dürfe, weil dieser mit der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG und dem allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung unvereinbar sei. Auch einer erneuten Vorlage bedürfe es nicht. Trotz der Tatsache, dass das befristete Arbeitsverhältnis vor dem Mangold-Urteil getroffen wurde, lehnte das Bundesarbeitsgericht es ab § 14 Absatz 3 Satz 4 TzBfG anzuwenden. 

Die Beschwerdeführerin machte geltend in ihrer Vertragsfreiheit verletzt worden zu sein. Zum einen, weil das BAG sich in seiner Entscheidung auf das kompetenzwidrig ergangene Mangold-Urteil des EuGH gestützt habe. Zum anderen hätte das BAG die Pflicht gehabt, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob nicht Grundsätze des gemeinschaftlichen oder nationalen Vertrauensschutzes eine zeitliche Einschränkung der Mangold-Rechtsprechung verlangen. Die Beschwerdeführerin machte somit geltend in Ihrem Recht auf einen gesetzlichen Richter verletzt worden zu sein.

Kritik an Mangold-Entscheidung

Das Urteil wurde mit Spannung erwartet. Viele Kritiker sahen in dem Urteil des EuGH tatsächlich eine Kompetenzüberschreitung. Die Schaffung eines primärrechtlichen Diskriminierungsverbotes im Hinblick auf das Merkmal des Alters sei nicht von den Verträgen gedeckt. Zudem sei es unzulässig, über die Teilzeit und Befristungsrichtlinie den Anwendungsbereich des, im Primärrecht beinhalteten, Gleichbehandlungsgebotes auf § 14 Abs.3 S.4 TzBfG zu erstrecken. Dieses gelte nämlich nur im Anwendungsbereich des Europarechts, nicht aber im gesamten nationalen Recht, so die Kritiker. Auch führe die Richtlinie ohne gesetzlichen Umsetzungsakt unmittelbar zur Anwendbarkeit primärrechtlicher Unionsgrundrechte, wodurch die Wertung des Art. 288 Abs. 3 AEUV umgegangen würde. Nach § 288 Abs.3 AEUV ist aber jede Richtlinie für Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Zielsetzung, jedoch nicht im Hinblick auf Wahl der Form und Mittel verbindlich.

Gerken, Rieble, Roth und Steinz sehen in dem Mangold-Urteil deshalb einen „ausbrechenden Rechtsakt“. Man sprach vom "Tugendterror aus Luxemburg" (Jahn, F.A.Z vom 03.12.2005). Der ehemalige Bundesverfassungrichter und Bundespräsident Roman Herzog sowie Lüder Gerken riefen 2008 dazu auf den EuGH zu stoppen ( Herzog/Gerken, F.A.Z vom 08.09.2008).

BVerfG: Mangold-Urteil ist kein ausbrechender Rechtsakt

Das mit Spannung erwartete Urteil enttäuschte jedoch die Kritiker.

Zunächst wies das BVerfG daraufhin, dass die Auslegung des Unionsrechts grundsätzlich Aufgabe des EuGH ist. Diesen steht ein gewisser Spielraum zur Verfügung. Das BVerfG ist nicht befugt dem EuGH vorzuschreiben, welche Auslegung die vorzugswürdige ist, sofern seine Ansicht vertretbar ist. Für die mögliche Ultra-vires-Kontrolle bedeutet dies, dass Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts Beachtung finden müssen. Deshalb ist, vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts, dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach § 267 AEUV die Gelegenheit zur Entscheidung über Gültigkeit sowie Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange dies nicht geschehen ist, darf für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts festgestellt werden.

Um das supranationale Integrationsprinzip zu wahren muss die ultra-vires-Kontrolle zurückhaltend und europarechtsfreundlich ausgeübt werden. Dies setze der Anwendungsvorrang des Unionsrechts zwingend voraus. Die Richter des BVerfG stellen klar, dass ein ausbrechender Rechtsakt nur dann anzunehmen ist, wenn die Union nicht nur offensichtlich, sondern auch in einer ausreichenden Schwere ihre Kompetenzen überschritten hat.

Prüfungsmaßstab der Ultra-vires-Kontrolle verschärft

So hat das BVerfG bereits im Lassabon-Urteil vom 30.06.2009 entschieden, dass die Feststellung eines Ultra-vires-Akts nur bei „ersichtlicher“ Kompetenzüberschreitung möglich ist. Nun wird aber ein ausreichend qualifizierter Kompetenzverstoß gefordert. Dies mag für einige verwirrend sein, zumal das BVerfG in seiner ständigen Rechtssprechung betonte, immer berechtigt zu sein festzustellen, ob EU-Organe und Einrichtungen im Rahmen der ihnen erteilten Kompetenzen handeln und eben nicht gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verstoßen. Eine Verschärfung der Kriterien und der damit einhergehender möglicher Kontrollverlust, ausgesprochen durch das BVerfG selbst ist deshalb für manch einen schwer begreiflich.

BVerfG macht Ernst

Was viele damals angezweifelt hatten ist am 05.05.2020 zur Realität geworden: Das Bundesverfassungsgericht hat zum ersten Mal in der Gechichte ein Urteil des EuGH sowie das damit zusammenhängende Staatsanleihenkaufprogramm der EZB zum Ultra-vires-Akt erklärt. Für weitere Informationen zu diesem Urteil, siehe hier

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Gesetze

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3 Gesetze werden in diesem Text zitiert

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Teilzeit- und Befristungsgesetz - TzBfG | § 14 Zulässigkeit der Befristung


(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Ein sachlicher Grund liegt insbesondere vor, wenn 1. der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung nur vorübergehend besteht,2. die Bef

Referenzen

(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Ein sachlicher Grund liegt insbesondere vor, wenn

1.
der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung nur vorübergehend besteht,
2.
die Befristung im Anschluss an eine Ausbildung oder ein Studium erfolgt, um den Übergang des Arbeitnehmers in eine Anschlussbeschäftigung zu erleichtern,
3.
der Arbeitnehmer zur Vertretung eines anderen Arbeitnehmers beschäftigt wird,
4.
die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung rechtfertigt,
5.
die Befristung zur Erprobung erfolgt,
6.
in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe die Befristung rechtfertigen,
7.
der Arbeitnehmer aus Haushaltsmitteln vergütet wird, die haushaltsrechtlich für eine befristete Beschäftigung bestimmt sind, und er entsprechend beschäftigt wird oder
8.
die Befristung auf einem gerichtlichen Vergleich beruht.

(2) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig; bis zu dieser Gesamtdauer von zwei Jahren ist auch die höchstens dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrages zulässig. Eine Befristung nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. Durch Tarifvertrag kann die Anzahl der Verlängerungen oder die Höchstdauer der Befristung abweichend von Satz 1 festgelegt werden. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren.

(2a) In den ersten vier Jahren nach der Gründung eines Unternehmens ist die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes bis zur Dauer von vier Jahren zulässig; bis zu dieser Gesamtdauer von vier Jahren ist auch die mehrfache Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrages zulässig. Dies gilt nicht für Neugründungen im Zusammenhang mit der rechtlichen Umstrukturierung von Unternehmen und Konzernen. Maßgebend für den Zeitpunkt der Gründung des Unternehmens ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, die nach § 138 der Abgabenordnung der Gemeinde oder dem Finanzamt mitzuteilen ist. Auf die Befristung eines Arbeitsvertrages nach Satz 1 findet Absatz 2 Satz 2 bis 4 entsprechende Anwendung.

(3) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist bis zu einer Dauer von fünf Jahren zulässig, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr vollendet hat und unmittelbar vor Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses mindestens vier Monate beschäftigungslos im Sinne des § 138 Absatz 1 Nummer 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch gewesen ist, Transferkurzarbeitergeld bezogen oder an einer öffentlich geförderten Beschäftigungsmaßnahme nach dem Zweiten oder Dritten Buch Sozialgesetzbuch teilgenommen hat. Bis zu der Gesamtdauer von fünf Jahren ist auch die mehrfache Verlängerung des Arbeitsvertrages zulässig.

(4) Die Befristung eines Arbeitsvertrages bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform.