Übermittlung von Schriftstücken im europäischen Zustellungsrecht – Fehlende Übersetzung von Anlagen
published on 06/08/2010 15:49
Übermittlung von Schriftstücken im europäischen Zustellungsrecht – Fehlende Übersetzung von Anlagen
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EuGH (3. Kammer), Urteil vom 8.5.2008 – C-14/07 (Ingenieurbüro M. Weiss und Partner GbR/IHK Berlin)
Aus den Gründen:
1. Artikel 8 Absatz I der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates vom 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass der Empfänger eines zuzustellenden verfahrenseinleitenden Schriftstücks nicht berechtigt ist, dessen Annahme zu verweigern, sofern es diesen Empfänger in die Lage versetzt, im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens im Übermittlungsmitgliedstaat seine Rechte geltend zu machen, wenn diesem Schriftstück Anlagen beigefügt sind, die aus Beweisunterlagen bestehen, die nicht in der Sprache des Empfangsmitgliedstaats oder einer Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats, die der Empfänger versteht, abgefasst sind, aber lediglich Beweisfunktion haben und für das Verständnis von Gegenstand und Grund des Antrags nicht unerlässlich sind.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob der Inhalt des verfahrenseinleitenden Schriftstücks ausreicht, es dem Beklagten zu ermöglichen, seine Rechte geltend zu machen, oder ob es dem Absender obliegt, dem Fehlen einer Übersetzung einer unerlässlichen Anlage abzuhelfen.
2. Artikel 8 Absatz I lit. b der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass der Empfänger eines zugestellten Schriftstücks in Ausübung seiner gewerblichen Tätigkeit in einem Vertrag mit dem Antragsteller vereinbart hat, dass der Schriftverkehr in der Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats geführt wird, keine Vermutung für Sprachkenntnisse begründet, sondern ein Anhaltspunkt ist, den das Gericht berücksichtigen kann, wenn es prüft, ob der Empfänger die Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats versteht.
3. Artikel 8 Absatz I der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 ist dahin auszulegen, dass sich der Empfänger eines zugestellten Schriftstücks jedenfalls nicht auf diese Vorschrift berufen kann, um die Annahme von Anlagen eines Schriftstücks zu verweigern, die nicht in der Sprache des Empfangsmitgliedstaats oder einer Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats abgefasst sind, die der Empfänger versteht, wenn er in Ausübung seiner gewerblichen Tätigkeit einen Vertrag geschlossen und darin vereinbart hat, dass der Schriftverkehr in der Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats geführt wird, und die Anlagen sowohl diesen Schriftverkehr betreffen als auch in der vereinbarten Sprache abgefasst sind.
Zum Sachverhalt:
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft einen Rechtsstreit zwischen der Industrie- und Handelskammer Berlin und dem Architektenbüro Nicholas Grimshaw & Partners Ltd einer Gesellschaft englischen Rechts, wegen einer Schadensersatzklage wegen mangelhafter Planung eines Gebäudes; das Büro Grimshaw hat dem Ingenieurbüro Weiss und Partner-GbR mit Sitz in Aachen den Streit verkündet.
Die IHK Berlin nimmt das Büro Grimshaw aus einem Architektenvertrag wegen mangelhafter Planung auf Schadensersatz in Anspruch. Das Büro Grimshaw hatte sich in dem betreffenden Vertrag verpflichtet, Planungsleistungen für ein Bauvorhaben in Berlin zu erbringen. In dem Architektenvertrags ist vereinbart:
„Die Leistungen sind in deutscher Sprache zu erbringen. Der Schriftverkehr zwischen (der IHK Berlin) und (dem Büro Grimshaw) und den Behörden und öffentlichen Institutionen ist in deutscher Sprache abzufassen.”
Aus den Akten geht weiterhin hervor, dass auf den Vertrag deutsches Recht anwendbar war und dass im Streitfall die Berliner Gerichte zuständig waren. Das Büro Grimshaw verkündete dem Büro Weiss den Streit. In der Klageschrift der IHK Berlin, die zu den dem Gerichtshof vorgelegten Akten gehört, werden die verschiedenen Beweisunterlagen angeführt, auf die das Vorbringen gestützt wird. Diese sind der Klageschrift als Anlagen in einem etwa 150 Seiten umfassenden Konvolut beigefügt. Der Inhalt der Anlagen ist außerdem teilweise in der Klageschrift wiedergegeben. Diese Anlagen umfassen den zwischen den Parteien geschlossenen Architektenvertrag, eine Nachtragsvereinbarung zu diesem Vertrag sowie deren Entwurf, einen Auszug aus dem Leistungsverzeichnis, zahlreiche Unterlagen oder Auszüge aus Unterlagen wie technische Berichte oder Abrechnungen sowie mehrere Schreiben, unter anderem auch des Büros Grimshaw, die den Schriftverkehr mit den mit der Feststellung und Beseitigung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mängel beauftragten Firmen betreffen. Nachdem das Büro Grimshaw zunächst die Annahme der Klageschrift wegen Fehlens einer englischen Übersetzung verweigert hatte, wurden ihm die Klageschrift in englischer Übersetzung und die unübersetzten Anlagen in deutscher Sprache am 23. 5. 2003 in London ausgehändigt. Mit Schriftsatz vom 13. 6. 2003 beanstandete es die Zustellung als fehlerhaft, weil die Anlagen nicht ins Englische übersetzt worden seien. Aus diesem Grund verweigerte es unter Berufung auf Artikel 8 Absatz I der Verordnung Nr. 1348/2000 die Annahme der Klageschrift und hielt deren Zustellung für unwirksam. Das Büro Grimshaw erhob die Einrede der Verjährung. Das LG Berlin stellte fest, dass die Klage am 23. 5. 2003 ordnungsgemäß zugestellt worden sei. Die Berufung des Büros Grimshaw wurde vom KG zurückgewiesen. Gegen das Berufungsurteil hat das Büro Weiss Revision beim BGH eingelegt.
Der BGH hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, die wie dargestellt oben geantwortet wurden.
Aus den Gründen:
1. Artikel 8 Absatz I der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates vom 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass der Empfänger eines zuzustellenden verfahrenseinleitenden Schriftstücks nicht berechtigt ist, dessen Annahme zu verweigern, sofern es diesen Empfänger in die Lage versetzt, im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens im Übermittlungsmitgliedstaat seine Rechte geltend zu machen, wenn diesem Schriftstück Anlagen beigefügt sind, die aus Beweisunterlagen bestehen, die nicht in der Sprache des Empfangsmitgliedstaats oder einer Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats, die der Empfänger versteht, abgefasst sind, aber lediglich Beweisfunktion haben und für das Verständnis von Gegenstand und Grund des Antrags nicht unerlässlich sind.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob der Inhalt des verfahrenseinleitenden Schriftstücks ausreicht, es dem Beklagten zu ermöglichen, seine Rechte geltend zu machen, oder ob es dem Absender obliegt, dem Fehlen einer Übersetzung einer unerlässlichen Anlage abzuhelfen.
2. Artikel 8 Absatz I lit. b der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass der Empfänger eines zugestellten Schriftstücks in Ausübung seiner gewerblichen Tätigkeit in einem Vertrag mit dem Antragsteller vereinbart hat, dass der Schriftverkehr in der Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats geführt wird, keine Vermutung für Sprachkenntnisse begründet, sondern ein Anhaltspunkt ist, den das Gericht berücksichtigen kann, wenn es prüft, ob der Empfänger die Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats versteht.
3. Artikel 8 Absatz I der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 ist dahin auszulegen, dass sich der Empfänger eines zugestellten Schriftstücks jedenfalls nicht auf diese Vorschrift berufen kann, um die Annahme von Anlagen eines Schriftstücks zu verweigern, die nicht in der Sprache des Empfangsmitgliedstaats oder einer Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats abgefasst sind, die der Empfänger versteht, wenn er in Ausübung seiner gewerblichen Tätigkeit einen Vertrag geschlossen und darin vereinbart hat, dass der Schriftverkehr in der Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats geführt wird, und die Anlagen sowohl diesen Schriftverkehr betreffen als auch in der vereinbarten Sprache abgefasst sind.
Zum Sachverhalt:
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft einen Rechtsstreit zwischen der Industrie- und Handelskammer Berlin und dem Architektenbüro Nicholas Grimshaw & Partners Ltd einer Gesellschaft englischen Rechts, wegen einer Schadensersatzklage wegen mangelhafter Planung eines Gebäudes; das Büro Grimshaw hat dem Ingenieurbüro Weiss und Partner-GbR mit Sitz in Aachen den Streit verkündet.
Die IHK Berlin nimmt das Büro Grimshaw aus einem Architektenvertrag wegen mangelhafter Planung auf Schadensersatz in Anspruch. Das Büro Grimshaw hatte sich in dem betreffenden Vertrag verpflichtet, Planungsleistungen für ein Bauvorhaben in Berlin zu erbringen. In dem Architektenvertrags ist vereinbart:
„Die Leistungen sind in deutscher Sprache zu erbringen. Der Schriftverkehr zwischen (der IHK Berlin) und (dem Büro Grimshaw) und den Behörden und öffentlichen Institutionen ist in deutscher Sprache abzufassen.”
Aus den Akten geht weiterhin hervor, dass auf den Vertrag deutsches Recht anwendbar war und dass im Streitfall die Berliner Gerichte zuständig waren. Das Büro Grimshaw verkündete dem Büro Weiss den Streit. In der Klageschrift der IHK Berlin, die zu den dem Gerichtshof vorgelegten Akten gehört, werden die verschiedenen Beweisunterlagen angeführt, auf die das Vorbringen gestützt wird. Diese sind der Klageschrift als Anlagen in einem etwa 150 Seiten umfassenden Konvolut beigefügt. Der Inhalt der Anlagen ist außerdem teilweise in der Klageschrift wiedergegeben. Diese Anlagen umfassen den zwischen den Parteien geschlossenen Architektenvertrag, eine Nachtragsvereinbarung zu diesem Vertrag sowie deren Entwurf, einen Auszug aus dem Leistungsverzeichnis, zahlreiche Unterlagen oder Auszüge aus Unterlagen wie technische Berichte oder Abrechnungen sowie mehrere Schreiben, unter anderem auch des Büros Grimshaw, die den Schriftverkehr mit den mit der Feststellung und Beseitigung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mängel beauftragten Firmen betreffen. Nachdem das Büro Grimshaw zunächst die Annahme der Klageschrift wegen Fehlens einer englischen Übersetzung verweigert hatte, wurden ihm die Klageschrift in englischer Übersetzung und die unübersetzten Anlagen in deutscher Sprache am 23. 5. 2003 in London ausgehändigt. Mit Schriftsatz vom 13. 6. 2003 beanstandete es die Zustellung als fehlerhaft, weil die Anlagen nicht ins Englische übersetzt worden seien. Aus diesem Grund verweigerte es unter Berufung auf Artikel 8 Absatz I der Verordnung Nr. 1348/2000 die Annahme der Klageschrift und hielt deren Zustellung für unwirksam. Das Büro Grimshaw erhob die Einrede der Verjährung. Das LG Berlin stellte fest, dass die Klage am 23. 5. 2003 ordnungsgemäß zugestellt worden sei. Die Berufung des Büros Grimshaw wurde vom KG zurückgewiesen. Gegen das Berufungsurteil hat das Büro Weiss Revision beim BGH eingelegt.
Der BGH hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, die wie dargestellt oben geantwortet wurden.
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