Verwaltungsgericht Würzburg Beschluss, 07. Jan. 2015 - W 1 S 14.50193
Gericht
Tenor
I.
Der Antrag wird mit der Maßgabe abgelehnt, dass die Antragsgegnerin vor der Überstellung der Antragsteller nach B. Kontakt mit den zuständigen belgischen Behörden aufnimmt und diese über den Gesundheitszustand der Antragsteller zu 1) und 4) sowie über deren besondere Bedürfnisse informiert.
II.
Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die Antragsteller sind serbische Staatsangehörige und stammen aus dem K. Sie gehören dem Volk der Roma an. Nach Ablehnung ihrer Asylgesuche in B. sowie Asylantragstellung in Frankreich reisten sie nach eigenen Angaben am 26. September 2014 in das Bundesgebiet ein und beantragten hier am 14. Oktober 2014 Asyl.
Der Antragsteller zu 1) ist nach den Feststellungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) taubstumm (vgl. auch Bl. 49, 55, 79 der Bundesamtsakte).
Aufgrund der Angaben der Antragsteller zu ihrem Asylverfahren in B. und der von ihnen vorgelegten Unterlagen richtete das Bundesamt am
Mit Bescheid vom
Hiergegen erhoben die Antragsteller mit am
Gleichzeitig beantragen sie,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Standards des Asylverfahrens in B. nicht den Vorgaben des Art. 3 EMRK entsprächen und daher bedenklich seien. Folglich sei eine vorrangige Zuständigkeit B.s nicht zu erkennen. Insbesondere im Hinblick auf die Familienstruktur der Antragsteller mit zwei kleinen Kindern sei eine aktuelle Abschiebung und Durchführung des Asylverfahrens in B. nicht zumutbar. Zur Glaubhaftmachung der Asylgründe werde auf die Anhörungen und den insoweit eindeutigen Akteninhalt verwiesen. Der Antragsteller zu 1) sei nach einer Prügelei am Kopf operiert worden und bedürfe weiterer Behandlung. Auch der Antragsteller zu 4) solle in Deutschland operiert werden und bedürfe weiterer, hochwertiger ärztlicher Betreuung. Unterlagen zur Operation des Antragstellers zu 4) wurden vorgelegt.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige, insbesondere innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG gestellte Antrag, die gemäß § 75 AsylVfG ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, ist in der Sache nicht begründet. Das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt das private Interesse der Antragsteller, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, weil die im angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 9. Dezember 2014 enthaltene Abschiebungsanordnung bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) rechtmäßig ist und die Antragsteller nicht in ihren Rechten verletzt.
1. Ein Verfahrensfehler, der zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung führen würde, liegt nicht deshalb vor, weil die Durchführung des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach Art. 5 Dublin III-VO mit dem Antragsteller zu 1) aufgrund dessen Taubstummheit (vgl. Bl. 49 der Bundesamtsakte) nicht möglich war. Denn dieses Gespräch wurde am 14. Oktober 2014 mit den Antragstellern gemeinsam geführt, so dass die Antragstellerin zu 2) die insoweit relevanten Umstände auch für den Antragsteller zu 1) vortragen konnte (Bl. 46 ff. der Bundesamtsakte). Die Zuständigkeit B.s zur Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller steht aufgrund der Angaben der Antragstellerin zu 2) sowie der vorgelegten Unterlagen fest. Des Weiteren hat die Antragstellerin zu 2) auch auf den Gesundheitszustand des Antragstellers zu 1) hingewiesen. Weitere im Rahmen des Dublin-Verfahrens relevante Umstände, die der Antragsteller zu 1) hätte vortragen können, wenn ein Dolmetscher für die Gebärdensprache zu dem Gespräch nach Art. 5 Dublin III-VO beigezogen worden wäre, sind nicht ersichtlich, so dass nicht auf die Frage einzugehen ist, ob und inwieweit diese Verfahrensvorschrift den Betroffenen überhaupt subjektive Rechte vermittelt.
2. Außergewöhnliche Umstände, die möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht bzw. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht.
Insbesondere ist nach derzeitigem Erkenntnisstand und unter Berücksichtigung der hierzu einschlägigen Rechtsprechung nicht davon auszugehen, dass das belgische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer die dorthin rücküberstellten Asylsuchenden einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) bzw. des zur Auslegung nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GR-Charta heranzuziehenden Art. 3 EMRK ausgesetzt wären.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist eine Überstellung eines Asylbewerbers an einen anderen Mitgliedstaat nur dann zu unterlassen, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der (rück-)überstellten Asylsuchenden i. S. v. Art. 4 GR-Charta zur Folge hätten (EuGH, U. v. 21.12.2011 - C-411/10 u. a. - NVwZ 2012, 417/419 f., juris). Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass jeder Verstoß eines zuständigen Mitgliedstaates gegen einzelne unionsrechtliche Bestimmungen zur Folge hätte, dass der Mitgliedstaat, in dem ein (weiterer) Asylantrag eingereicht wurde, daran gehindert wäre, den Asylsuchenden an den zuständigen Staat zu überstellen (EuGH, U. v. 21.12.2011 - C-411/10 u. a. - NVwZ 2012, 417/419, juris). Denn eine solche Sichtweise würde den Kern und die Verwirklichung des Ziels der Dublin-Verordnungen gefährden, rasch denjenigen Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Entscheidung über einen Asylantrag zuständig ist (EuGH a. a. O.).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass derartige systemische Mängel bezüglich der Asylpraxis in B. vorliegen. Das Gericht teilt vielmehr insoweit aufgrund im Folgenden noch darzulegender eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage die Einschätzung einiger anderer deutscher Verwaltungsgerichte, wonach das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in B. keine systemischen Mängel aufweisen (VG Würzburg, B. v. 11.1.2014 - W 1 S 14.30152 - UA S. 8 ff.; VG Düsseldorf, U. v. 23.10.2014 - 13 K 471/14.A - juris Rn. 55 ff.;
Mit ihrer Befürchtung, dass ihnen in B. die Obdachlosigkeit drohe, machen die Antragsteller keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen im oben geschilderten Sinne geltend. Denn es geht hierbei nicht um Leistungen und Aufnahmebedingungen während der Durchführung des Asylverfahrens. Anders als vom hauptsächlichen Anwendungsbereich der Dublin-Verordnungen erfasst, ist das Asylverfahren der Antragsteller in B. bereits für sie negativ abgeschlossen. Daraus folgt für sie ggf. die Ausreisepflicht (vgl. Generalkommissariat für Flüchtlinge und Staatenlose, Asyl in B., 2010, S. 11). Der Verlust des Anspruchs auf staatliche Leistungen stellt sich jedenfalls in einem solchen Fall nicht als eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar (vgl. VG Düsseldorf, B. v. 24.2.2014 - 13 L 2685/13.A - juris;
3. Schließlich können die Antragsteller eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Selbsteintritt bzw. zur ermessensfehlerfreien Entscheidung hierüber auch nicht im Hinblick auf die geltend gemachten Erkrankungen beanspruchen. Das Bundesverwaltungsgericht sowie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof folgern aus der - insoweit auch auf die Rechtslage nach der Dublin III-VO übertragbaren - Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Dublin II-VO, dass ein Asylbewerber der Überstellung in den für ihn zuständigen Mitgliedstaat mit Blick auf unzureichende Aufnahmebedingungen nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegentreten könne und es nicht darauf ankomme, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK kommen kann und ob ein Antragsteller dem in der Vergangenheit schon einmal ausgesetzt war (vgl. BVerwG, U. v. 6.6.2014 - 10 B 35.14 - juris Rn. 6;
Ob angesichts dessen unterhalb der Schwelle der systemischen Mängel im Rahmen des Selbsteintrittsrechtes nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO überhaupt noch Raum für eine individuelle Prüfung einer Grundrechtsverletzung verbleibt, die nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta ausschließlich am Maßstab der europäischen Grundrechte - etwa anhand des Rechts auf Leben und Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GR-Charta - erfolgen könnte, kann im vorliegenden Fall offen bleiben. Denn die Antragsteller haben nicht glaubhaft gemacht, dass ihnen für den Fall ihrer Überstellung nach B. aufgrund der geltend gemachten Erkrankungen eine Grundrechtsverletzung droht, weil die erforderliche medizinische Versorgung nicht gewährleistet wäre. Denn nach den Feststellungen des erkennenden Gerichts in anderen Fällen (vgl. VG Würzburg, B. v. 11.12.2014 - W 1 S 14.30152 - UA S. 12) sowie nach den einschlägigen Erkenntnismitteln (vgl. aida-Report v. 1.6.2014, S. 67) umfassen die Asylbewerbern in B. gewährten Leistungen eine zur menschenwürdigen Existenz notwendige medizinische Grundversorgung. Zum anderen ist nicht ersichtlich, dass den Antragstellern wegen der geltend gemachten Erkrankungen der Antragsteller zu 1) und 4) insbesondere (Taubstummheit bzw. Hodenhochstand, Phimose) im Falle der Überstellung nach B. erhebliche und konkrete Gesundheitsgefahren drohen. Solche Gefahren gehen auch nicht aus den über die für den 23. Dezember 2014 terminierte Operation des Antragstellers zu 4) vorgelegten ärztlichen Unterlagen hervor. Im Übrigen dürfte die Taubstummheit des Antragstellers zu 1) den belgischen Behörden bekannt sein, denn er besitzt einen in B. ausgestellten „Dovenpas“, d. h. einen Auswies über seine Behinderung (Bl. 55 der Bundesamtsakte).
Sofern entsprechend der im Tenor (Ziffer I.) enthaltenen Maßgabe vor der Überstellung der Antragsteller Kontakt mit den belgischen Behörden aufgenommen wird und diese über die individuellen Bedürfnisse der Antragsteller - auch im Hinblick auf eine ggf. noch erforderliche Nachsorge des Antragstellers zu 4) nach durchgeführter Operation - informiert werden, ist daher eine ausreichende medizinische Versorgung in B. sichergestellt. Soweit dieser Informationsaustausch erfolgt, genügt der überstellende Staat auch grundsätzlich den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, so dass selbst bei Überstellung von besonders schutzbedürftigen Personen - etwa psychisch Kranken - nach B. keine grundlegenden Einwände bestehen (vgl. VG Würzburg, GB. v. 30.4.2014 - W 6 K 13.30525 - juris Rn. 23 m. w. N.;
4. Ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis in der Form einer Reiseunfähigkeit aufgrund der geltend gemachten Erkrankungen bzw. der für den
5. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylVfG).
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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.