Tenor
I. Der Bescheid des Beklagten vom 13. Juli 2016 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Aufhebung des Bescheids vom Landratsamt … vom 13. Juli 2016, mit dem ihr das Inverkehrbringen des Produkts „Lecithin Kapseln“ in der vorliegenden Form verboten wurde.
Die Klägerin stellt neben anderer Produkte Nahrungsergänzungsmittel her und vertreibt diese.
Am 6. November 2015 zog das Landratsamt … eine Planprobe des Produkts Lecithin Kapseln der Klägerin. Auf der Vorderseite des streitgegenständlichen Produkts befindet sich der Name Lecithin Kapseln mit einer grafischen Darstellung von Sojabohnen und drei Pfeilen, die nach oben zeigen. Auf einer Seite der Verpackung steht Nahrungsergänzungsmittel mit Lecithin, Verzehrsempfehlung: 2 x täglich eine Kapsel mit etwas Flüssigkeit verzehren. Auf der gegenüberliegenden Seite der Verpackung steht geschrieben: Zutaten: Sojaphospholipide 57%, (…) Zusammensetzung: Sojaphospholipide pro 2 Kapseln 1.000 mg.
Mit Gutachten vom 10. Februar 2016 beanstandete die …, dass das Produkt gegen Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a) der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 (LMIV) verstoße. Es liege eine Irreführung der Verbraucher dahingehend vor, dass das Produkt als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht werde, obwohl es entgegen § 1 Nahrungsergänzungsmittelverordnung (NemV) keinen signifikanten Beitrag zur Ergänzung der Ernährung leiste. Der Inhaltsstoff von Lecithin, dem eine besondere ernährungsphysiologische Bedeutung zukomme, sei Cholin. Es gebe zwar keine DACH Referenzwerte, jedoch eine aktuelle Empfehlung aus den USA in Höhe von 550 mg/Tag für Männer und 425 mg/Tag für Frauen. Ausgehend von einem in handelsüblichem Sojalecithin vorhandenen Phosphatidylcholingehalt von 22%, errechnet sich durch die Zuführung der empfohlenen 2 Kapseln des streitgegenständlichen Produkts eine aufgenommene Cholinmenge von lediglich 28,6 mg (entsprechend 5,2% bzw. 6,7% des Tagesbedarfs für Männer bzw. Frauen). Als signifikante Menge im Sinne des § 1 NemV gelte mindestens 15% der empfohlenen Tagesdosis. Auch unter Beachtung des Linolsäuregehalts von 432 mg sei kein signifikanter Beitrag zur Deckung des Tagesbedarfs gemäß der EFSA-Empfehlung anzunehmen.
Am 29. Februar 2016 wurde dem Landratsamt … vom Landratsamt … der Vorgang mitsamt dem Gutachten des … zuständigkeitshalber übersandt. Mit Schreiben vom 17. Mai 2016 nahm der Klägerbevollmächtigte gegenüber dem Landratsamt … Stellung zum Gutachten. Die Auffassung, dass als signifikante Menge 15% der empfohlenen Tagesdosis oder mehr gelte, werde von der Klägerin nicht geteilt. Sie widerspreche dem Wortlaut der einschlägigen Rechtsgrundlage sowie der Rechtsprechung. Aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 NemV sei nicht zu entnehmen, dass eine bestimmte Mindestdosierung von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen gefordert sei. Es gebe weder in der Verordnung 1925/2006/EG, noch in den Nahrungsergänzungsmittelrichtlinien oder in der Richtlinie 90/496/EG oder in der Verordnung 1169/2011/EG Empfehlungsvorgaben für eine Mindestdosierung eines sogenannten sonstigen Stoffes. Wenn der (EU)Gesetzgeber eine Mindestdosierung erreichen möchte, formuliere er dies explizit wie z.B. in dem hier nicht einschlägigen Art. 6 Abs. 6 der Verordnung 1925/2006/EG aus. Zudem handle es sich bei dem zugeführten sonstigen Stoff um ein komplexes Stoffgemisch, dessen Wirkung nicht in einzelnen Bestandteilen klar und deutlich zugeordnet werden könne. Von daher sei ein Abstellen auf den Cholin- und Linolsäuregehalt nicht möglich.
In der Gegenstellungnahme des … … vom 9. Juni 2016 führt das … … aus, dass § 1 Abs. 1 NemV eine vergleichbare Definition von Nahrungsergänzungsmitteln wie Art. 2 Buchstabe a) der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie (Nem-RL) beinhalte. Im Erwägungsgrund 15 der Nem-RL wird ausgeführt, dass der Verbraucher Nahrungsergänzungsmittel zur Ergänzung der Zufuhr aus der Ernährung kaufe. Damit dieser Zweck tatsächlich erfüllt werde, sollen Vitamine und Mineralstoffe in signifikanter Menge im Erzeugnis enthalten sein. Nichts anderes könne daher für die sonstigen Stoffe gelten, wenn die Forderung zur Ergänzung der Ernährung nicht konterkariert werden solle. Auch nach Art. 5 Abs. 1 lit. d) der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 ergebe sich, dass bei allgemeinen Lebensmitteln signifikante Mengen des beworbenen Nährstoffes oder der anderen Substanzen vorhanden sein müssen. Was für Lebensmittel des allgemeinen Verzehrs gelte, müsse insbesondere für die spezielle Lebensmittelkategorie der Nahrungsergänzungsmittel gelten. Die 15%-Regel sei gängige Verwaltungspraxis. Nach dem Kommentar Kügel/Hahn/Delewski, Rn. 326 f, sei die Anlage 1 zur Nahrungsmittelkennzeichnungsverordnung auch für Nahrungsergänzungsmittelmindestmengen nach § 1 Abs. 1 NemV als Orientierungsmaßstab heranzuziehen. Nach Anlage 1 NKV solle zumindest ein Wert von 15% der angegebenen Tagesempfehlung für Vitamine und Mineralstoffe im Produkt erreicht werden, da andernfalls eine Irreführung der Verbraucher vorliege. Nach dem oben genannten Kommentar (Rn. 329) sei bei einer Abweichung von der 15%-Regel die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer zur Ergänzung der Ernährung geeigneten Menge beim Hersteller bzw. Inverkehrbringer anzusiedeln.
Mit Schreiben des Landratsamts … vom 22. Juni 2016 wurde die Klägerin zur beabsichtigten Untersagung des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Produkts angehört.
Der Klägerbevollmächtigte erklärte mit Schreiben vom 28. Juli 2016, dass der Erwägungsgrund 15 der Nem-RL schon vom Wortlaut her nur auf Vitamine und Mineralstoffe anwendbar sei und nicht auf einen wie hier unstreitig vorliegenden sonstigen Stoff im Sinne von § 1 Abs. 1 NemV. Des Weiteren werde auf den Erwägungsgrund 8 der Nem-RL hingewiesen, aus dem sich unzweideutig ergebe, dass die dem Erwägungsgrund 15 zu Grunde liegenden Erwägungen für Vitamine und Mineralstoffe nicht einfach auf sonstige Stoffe übertragen werden könne. Es gebe keine Rechtsgrundlage, die die sogenannte 15%-Regel im streitgegenständlichen Fall stützen würde. Genauso wenig gebe es eine fachlich allgemein anerkannte Empfehlung für eine Mindestmenge von Lecithin.
Das Landratsamt … erließ am 13. Juli 2016 einen Bescheid, mit dem der Klägerin in Ziffer 1 untersagt wurde, das Produkt „Lecithin Kapseln“ in der vorliegenden Form weiterhin in den Verkehr zu bringen. Frist 1 Tag nach Bestandskraft dieses Bescheides. Die Klägerin wurde in Ziffer 2 verpflichtet, das Produkt spätestens 1 Tag nach Bestandskraft dieses Bescheides vom Markt zurückzunehmen und dem Landratsamt … … … zur Ermöglichung der Rücknahmeüberwachung zu diesem Zeitpunkt die Lieferlisten und das Rücknahmeschreiben vorzulegen. Gemäß Ziffer 3 des Bescheides wird ein Zwangsgeld in Höhe von jeweils 1.000,- € zur Zahlung fällig, falls gegen die Verpflichtungen aus Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheides zuwidergehandelt werde. Die Klägerin habe laut Ziffer 4 die Kosten des Verfahrens zu tragen. Laut Ziffer 5 beträgt die Bescheidsgebühr 250,- € und die Auslagen 1,40 €.
In der Bescheidsbegründung wird als Rechtsgrundlage für die Verpflichtungen aus Ziffer 1 und Ziffer 2 Art. 54 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a) LMIV i.V.m. § 1 NemV angegeben. Es liege eine Irreführung des Verbrauchers darin, dass das streitgegenständliche Produkt als Nahrungsergänzungsmittel verkauft werde. Eine Nahrungsergänzung könne nur vorliegen, wenn eine signifikante Menge des ernährungsphysiologisch relevanten Stoffes zugeführt werde. Dies ergebe sich aus dem Erwägungsgrund 15 der Nem-RL. Diese Erwägung müsse auch für sonstige Stoffe gelten. Es wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Gutachten des … … sowie die dort zitierten Kommentarstellen verwiesen. Es müssen mindestens 15% der empfohlenen Tagesdosis des ernährungsphysiologischen Wirkstoffes auch bei sonstigen Stoffen zugeführt werden. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Es liege an der Klägerin, nachzuweisen, dass weniger als 15% ausreichend für eine Nahrungsergänzung seien. Dies sei nicht geschehen. Es würden lediglich 5,2 bzw. 6,7% des Tagesbedarfs für Männer bzw. Frauen an Cholin und noch geringere Prozentsätze des Tagesbedarfs an Linolsäure zugeführt, so dass das streitgegenständliche Produkt nicht zur Nahrungsergänzung geeignet sei.
Der Klägerbevollmächtigte erhob per Telefax am 15. August 2016 zum Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage mit den Anträgen, den Bescheid des Landratsamtes … vom 13. Juli 2016 aufzuheben.
Mit Schriftsatz vom 22. September 2016 beantragte der Beklagtenvertreter
Klageabweisung.
In der Klagebegründung des Klägerbevollmächtigten vom 15. November 2016 wurde neben den bereits in den Stellungnahmen vom 17. Mai 2016 und 8. Juli 2016 vorgebrachten Argumenten im Wesentlichen weiter vorgebracht, dass Nahrungsergänzungsmittel nicht dazu bestimmt seien, die allgemeine Ernährung zu ersetzen, sondern lediglich zu ergänzen. Da das Produkt unstreitig einen sonstigen Stoff enthalte, der ernährungsspezifische physiologische Wirkung entfalte, sei eine Ergänzung der Ernährung gegeben. In der den Angaben der Verpackung des streitgegenständlichen Produkts sei lediglich eine objektive Beschaffenheitsangabe zu sehen und nicht eine Werbeaussage, die unter Art. 5 und weitere Artikel der HCV falle (LG Würzburgvom 11.7.2014, Az.: 1 HKO 882/14 und OLG Bamberg, U.v. 19.11.2014, Az.: 3 U 159/14). Weiter wurde eine Stellungnahme von Frau Dr. …, einer Mitarbeiterin der Klägerin vom 3. August 2016 vorgelegt, in der auf die Zusammensetzung des Komplexwirkstoffes Lecithin und insbesondere auf die physiologische Wirkung von Phospholipiden, die mit einem viel höheren Anteil im Produkt enthalten seien, eingegangen wird. Des Weiteren ergebe sich laut dem Gutachten eine Vielzahl von Aufgaben der Phospholipiden im Körper, so dass nicht auf den Wirkstoff Cholin und Linolsäure alleine abgestellt werden könne.
Mit Schriftsatz vom 26. Juni 2017 erwiderte der Beklagtenvertreter unter Eingehen auf verschiedene Rechtsprechungsurteile, die in der Klagebegründung zitiert wurden. Vorgelegt wurde eine Stellungnahme des … und des … … zum Thema „Produktaufmachung – Lauterkeit der Informationspraxis nach LMIV“. Das Phospholipid Lecithin könne auf seine Funktion als Cholin- und Linolsäurelieferant reduziert werden, da nur für nur Cholin und Linolsäure zugelassene Health-Claims existieren und damit die EFSA davon ausgehe, dass die Wirkung auf diese Bestandteile herunterbrechbar sei. Zu Phopholipiden sei kein zugelassener Health-Claim aufgeführt.
Am 3. Juli 2017 wurde per Fax ein weiteres Gutachten des … … vom 28 Juni 2017 übersandt. Darin wird genauer die Frage behandelt, warum Cholin und Linolsäure als essentieller Nährstoff des Sojalecithin anzusehen sei.
Im Schriftsatz des Klägervertreters vom 11. Juli 2017 vertiefte dieser seinen Rechtsstandpunkt weiter.
Das Verfahren wurde am 12. Juli 2017 mündlich verhandelt. Die Parteien stellten die schriftsätzlich angekündigten Anträge.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Behörden- und Gerichtsakte Bezug genommen.
Gründe
Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingereichte Klage ist begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 13. Juli 2016 ist rechtswidrig und daher aufzuheben.
Rechtsgrundlage des Bescheides war Art. 54 Abs. 1 und Abs. 2 Buchstabe b) der Verordnung (EG) 882/2004. Danach kann die Behörde, wenn sie einen Verstoß gegen Lebensmittelrecht feststellt, die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass der Unternehmer Abhilfe schafft. Eine mögliche Maßnahme nach Art. 54 Abs. 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) 882/2004 ist u.a. die Untersagung des Inverkehrbringens von Lebensmitteln und nach Buchstabe c) die Überwachung und Anordnung der Rücknahme des Lebensmittels.
Ein Verstoß gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften durch die Klägerin liegt jedoch nicht vor.
Der Beklagtenvertreter sah einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 a LMIV i.V.m. § 1 Abs. 1 NemV. Nach Art. 7 Abs. 1 a LMIV dürfen Informationen über Lebensmittel nicht irreführend sein, insbesondere in Bezug auf die Eigenschaften des Lebensmittels, insbesondere in Bezug auf Art, Identität, Eigenschaft, Zusammensetzung, Menge (…). Der Beklagtenvertreter sieht im Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Produkts eine solche Irreführung des Verbrauchers über Eigenschaften des Produktes, da diese nicht als Nahrungsergänzungsmittel nach § 1 Abs. 1 NemV in Verkehr gebracht werden dürften.
Das streitgegenständliche Produkt stellt jedoch ein Nahrungsergänzungsmittel nach § 1 Abs. 1 NemV dar.
§ 1 Abs. 1 NemV lautet wie folgt: Nahrungsergänzungsmittel im Sinne dieser Verordnung ist ein Lebensmittel, das Nr. 1 dazu bestimmt ist, die allgemeine Ernährung zu ergänzen, Nr. 2 ein Konzentrat von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung alleine oder in Zusammensetzung darstellt und Nr. 3 in dosierter Form, (…) in abgemessenen kleinen Mengen in den Verkehr gebracht wird. Nach § 1 Abs. 2 sind Nährstoffe im Sinne dieser Verordnung Vitamine und Mineralstoffe, einschließlich Spurenelemente.
Das streitgegenständliche Produkt erfüllt alle Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 NemV. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 2 und 3 NemV sind unstreitig. Entgegen der Ansicht des Beklagtenvertreters sind jedoch auch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 NemV gegeben.
Das streitgegenständliche Produkt ist nach der Angabe der Klägerin auf der Verpackung dazu bestimmt, die allgemeine Ernährung zu ergänzen. Eine qualitative Ergänzungsfunktion des streitgegenständlichen Produktes stellt der Beklagtenvertreter nicht in Abrede. In seinen Schriftsätzen erklärte dieser ausdrücklich, dass man von einer ernährungsphysiologischen Wirkung der Cholin und Linolsäure ausgehe, die im streitgegenständlichen Produkt enthalten seien. Ob auf den Komplexwirkstoff Sojalecithin, auf das im Gutachten von Dr. … näher beleuchtete Phophatidylcholin oder auf den vom Beklagten angeführten Wirkstoff Cholin und Linolsäure abstellen muss, kann jedoch dahinstehen. Entgegen der vom Beklagten zitierten Kommentarliteratur sieht das Gericht keine Anwendungsmöglichkeit der sogenannten 15%-Regel. Somit kommt es selbst bei Annahme, dass lediglich Cholin und Linolsäure mit ca.7% der empfohlenen Tagesdosis zugeführt werden, nicht auf die Bestimmung des maßgeblichen ernährungsphysiologisch tätig werdenden Wirkstoffes an.
Die Annahme des Beklagtenvertreters, dass der ernährungsphysiologische Wirkstoff in signifikanter Menge im streitgegenständlichen Produkt enthalten sein muss, beruht auf einer entsprechenden Anwendung der Erwägungen, im Erwägungsgrund 15 der Nem-RL. Erwägungsgrund 15 der Nem-RL lautet wie folgt: Nahrungsergänzungsmittel werden von den Verbrauchern zur Ergänzung der Zufuhr aus der Ernährung gekauft. Damit dieser Zweck tatsächlich erfüllt wird, sollten Vitamine und Mineralstoffe (…) in signifikanter Menge im Erzeugnis enthalten sein. Die Heranziehung des Erwägungsgrundes 15 der Nem-RL für die Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 NemV ist vorliegend nicht sachgerecht. Sowohl Art. 2 Buchstabe a) der Nem-RL als auch § 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 NemV unterscheidet zwischen sogenannten Nährstoffen (Vitamine und Mineralstoffe mit Spurenelementen) und sogenannten sonstigen Stoffen. In den Erwägungsgründen 7 und 7 der Nem-RL wird jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Nem-RL zunächst spezifische Vorschriften für Vitamine und Mineralstoffe festlegt. Spezifische Vorschriften über andere Nährstoffe oder über andere Stoffe sollten zu einem späteren Zeitpunkt festgelegt werden, sofern ausreichende und sachgerechte wissenschaftliche Daten über diese Stoffe vorliegen. Bis zum Erlass derartiger spezieller Gemeinschaftsvorschriften können die nationalen Bestimmungen über Nährstoffe oder andere Stoffe mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung (…) angewandt werden. Eine entsprechende Anwendung eines Artikels oder eines Erwägungsgrundes in der Nem-RL, die sich auf Vitamine und Mineralstoffe bezieht, ist mithin auf sonstige Stoffe nicht möglich. Als spezifische Vorschrift ist Art. 5 Abs. 3 Nem-RL anzusehen. Laut dieser sind ggf. Mindestmengen, bezogen auf die vom Hersteller empfohlene Tagesdosis, festzusetzen, um zu gewährleisten, dass Nahrungsergänzungsmittel Vitamine und Mineralstoffe in ausreichenden Mengen enthalten. Angesichts des Erwägungsgrundes 7 und 8 ist eine Mindestmenge bzw. ein signifikanter Beitrag des ernährungsphysiologischen Wirkstoffes zur empfohlenen Tagesdosis bei sonstigen Stoffen nicht in der Nem-RL und der darauf beruhenden NemV zu entnehmen.
Laut der vom Beklagtenvertreter zitierten Kommentarstellen beruht die 15%-Regel auf Anlage 1 der NKV. Auch diese Vorschrift kann nicht entsprechend zu einer Auslegung der Nahrungsergänzungsmitteleigenschaft nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 NemV herangezogen werden. Die laut Kommentarliteratur und Beklagtenvertreter entsprechend anwendbare Passage in Anlage 1 der NKV lautet wie folgt: In der Regel sollte eine Menge von 15% der in dieser Anlage angegebenen empfohlenen Tagesdosis in 100 g oder 100 ml oder in einer Packung, sofern die Packung nur eine einzige Portion enthält, bei der Festsetzung der signifikanten Menge berücksichtigt werden. Anlage 1 legt hierbei Vitamine und Mineralstoffe in Listenform vor, die in der Nahrungsmittelkennzeichnungsangabe enthalten sein können und ihre empfohlene Tagesdosis.
Bereits aus § 1 Abs. 3 der NKV gelten die Vorschriften dieser Verordnung mit Ausnahme des § 6, der hier nicht einschlägig ist, nicht für Nahrungsergänzungen. Nach Erwägungsgrund 18 der Nem-RL gilt die Richtlinie 90/496/EWG über die Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln nicht für Nahrungsergänzungsmittel. Mit Erlass der LMIV am 25. Oktober 2011 wurde die Richtlinie 90/496/EWG aufgehoben. Diese ist jedoch die Rechtsgrundlage für die NKV. Weiter ergibt sich eine Unmöglichkeit der entsprechenden Anwendung der 15%-Grenze aus Anlage 1 der NKV auf die Auslegung der Tatbestandsmerkmale für das Vorliegen eines Nahrungsergänzungsmittels aus der unterschiedlichen Zielsetzung der benannten Vorschriften. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei Anlage 1 der NKV um eine Positivliste von Vitaminen und Mineralstoffen handelt, bei denen eine empfohlene Tagesdosis gesetzlich aufgrund von wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen festgelegt worden ist. Eine auch nur entsprechende Anwendbarkeit auf sonstige Stoffe im Sinne der NemV bzw. Nem-RL ist schon vom Wortlaut nicht möglich. Es handelt sich nach der Gesetzessystematik vorliegend um Eingriffsverwaltung. Jedenfalls ist es bei fehlender gesetzlicher Festlegung von Mindestdosen für sonstige Stoffe aufgrund einer fehlenden wissenschaftlichen Basis nicht möglich, der Klägerin das Inverkehrbringen solcher Produkte deswegen zu verweigern, weil diese die wissenschaftlichen Nachweise für eine empfohlene Tagesdosis an Sojalecithin, Phosphatidylcholin oder Cholin bzw. Linolsäure schuldig bleibt. Es steht der Klägerin aus ihren Grundrechten zu, Produkte als Nahrungsergänzungsmittel zu veräußern. Vorliegend ist kein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt in der NemV vorgesehen. Dies ergibt sich aus § 5 NemV, mit dem geregelt ist, dass keine Genehmigung mit strengen Genehmigungsverfahren (wie im Arzneimittelrecht) durchzuführen ist, sondern lediglich eine Anzeige des Inverkehrbringens eines Nahrungsergänzungsmittels bei der zuständigen Behörde vorgenommen werden muss. Ein Verbot des Inverkehrbringens kann daher nur bei Verstoß gegen eine lebensmittelrechtliche Vorschrift vorgenommen werden. Hierfür braucht es jedoch eindeutiger Rechtsgrundlagen. Eine überdehnte Auslegung des § 1 Nr. 1 NemV durch das entsprechende Einbeziehen von bestimmten Erwägungsgründen der Nem-RL bzw. der NKV, ist nicht möglich. Solange der Gesetzgeber mangels ausreichender wissenschaftlich fundierter Kenntnisse über empfohlene Tagesdosen und ernährungsphysiologischer Wirkungen bestimmter Wirkstoffkomplexe im menschlichen Körper …, kann der Verkauf von Nahrungsergänzungsmitteln mit dem Argument, dass zu wenig Wirkstoffe enthalten seien, nicht verboten werden. Lediglich in qualitativer Hinsicht (Unschädlichkeit der sonstigen Stoffe, Bioverfügbarkeit der Stoffe) sowie in quantitativer Hinsicht bei offensichtlichen Missbrauchsfällen (völlige Ungeeignetheit der Nahrungsergänzung) ist ein Ausschluss des Tatbestandsmerkmals des § 1 Abs. 1 Nr. 1 NemV mangels Ergänzungsfunktion des Produkts möglich.
Dies bedeutet, dass soweit gesichert ist, dass die beigefügten Wirkstoffe von Nahrungsergänzungsmitteln unschädlich sind und eine ernährungsphysiologische Wirkung entfalten, auch bei Fehlen einer ausreichend gesicherten Ursache-Wirkungs-Beziehung durch die Wissenschaft und vor allem einer wissenschaftlich ausreichend gesicherten Tagesdosisempfehlung der Verbraucher grundsätzlich selbst dafür verantwortlich ist, zu prüfen, ob er den Wirkstoff als Nahrungsergänzungsmittel nötig hat und wie viel des Wirkstoffes im konkreten Nahrungsergänzungsmittel verfügbar ist.
Dass lediglich Cholin und Linolsäure für Health-Claims von der IFSA zugelassen wurden, ist somit unerheblich (Vermerk BE: oben einfügen).
Der vom Beklagtenvertreter und dem … … angeführte Erst-recht-Schluss aus Art. 5, der für einen Nährstoff oder für eine andere Substanz für die eine Angabe nach HCV gemacht wird, eine signifikante Menge im Endprodukt vorschreibt, die nach allgemein anerkannten wissenschaftlichen Nachweisen geeignet ist, die behauptete ernährungsbezogene Wirkung oder physiologische Wirkung zu erzielen, geht fehl. Zweck der HCV ist es, Werbeaussagen zu bestimmten Inhaltsstoffen von Lebensmitteln allgemeiner Art nur mit gesundheitlichen Vorteilen verquicken zu dürfen, wenn diese Vorteile auch wirklich wissenschaftlich fundiert belegt seien. Bei Annahme dieses Erst-recht-Schlusses dürfte eine Vielzahl von sonstigen Stoffen, die ernährungsphysiologische Wirkung zwar besitzen, für die jedoch noch nicht wissenschaftlich fundiert dargelegt ist, aus welchem Grund, aus welchem Wirkstoffbestandteil und für welche Personengruppe in welcher Tagesdosis der sonstige Stoff nicht als Nahrungsergänzungsmittel verkauft werden. Dies geht – auch angesichts des Erwägungsgrund 8 der Nem-RL – weit über eine gesetzlich geregelte Eingriffsnorm hinaus. Ein aktives Bewerben der gesundheitlichen Wirkung von Sojalecithin findet im streitgegenständlichen Produkt nicht statt, so dass mangels Anwendbarkeit der HCV lediglich auf § 1 NemV abgestellt werden kann. Eine getrennte Betrachtung beider Verordnungen ist vonnöten.
Die sehr verengende Auslegung des Beklagtenvertreters des § 1 Abs. 1 NemV wird daher vom Gericht nicht geteilt. Das streitgegenständliche Produkt stellt ein Nahrungsergänzungsmittel dar, so dass keine Verbrauchertäuschung im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a) der LMIV vorliegt. Mangels Verstoßes gegen eine lebensmittelrechtliche Vorschrift ist daher der Bescheid aufzuheben.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.