Sozialgericht München Urteil, 21. Jan. 2014 - S 4 BL 3/11

bei uns veröffentlicht am21.01.2014

Tenor

Der Bescheid vom 25.9.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.3.2011 wird aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 1.4.2008 Blindengeld zu gewähren.

Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG).

Der 1999 geborene Kläger beantragte, gesetzlich vertreten durch seine Mutter, am 3.4.2008 erstmalig die Gewährung von Blindengeld beim Beklagten. Der Beklagte holte einen Befundbericht des MVZ F-Stadt, ausgestellt am 29.4.2008, ein. Dort war in der Anamnese ausgeführt, dass das Kind auf nichts reagiere. Die Untersuchung ergab eine fehlende Fixation und keine Reaktion auf große Objekte noch auf Geräusche.

Die Augenärzte der LMU untersuchten den Kläger auf Anforderung des Beklagten am 26.3.2009 und 19.5.2009. Die Mutter gab an, dass der Kläger auf Ansprache nur fragliche Reaktionen zeige. Im Befund ergab sich keine Fixation, keine Folgebewegungen und keine Abwehrreaktion. Der optokinetische Nystagmus war nicht auslösbar. Der Kläger zeigte eine Schreckreaktion bei Blitzen, aber kaum Reaktionen auf sonstige Reize. In der Beurteilung schrieben die Ärzte, dass klare Medien mit regelrechtem Augenhintergrund vorliegen würden. Es stünde eine zerebrale Symptomatik im Vordergrund. Blindheit sei nicht sicher nachgewiesen.

Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 6.9.2009 ab. Im anschließenden Widerspruchsverfahren untersuchte die Diplom-Psychologin C. den Kläger am 5.1.2011. Sie stellte fest, dass kein Pupillenreflex vorhanden war, der Lidreflex erhalten war und der Kläger keine aktive Fixation vorgenommen hat. Eine Fixierung bei beleuchteten Gegenständen im schwarzen Raum links war möglich mit minimalen Augefolgebewegungen in der vertikalen Ebene. Der Kläger öffnete die Augen weit bei schwarz-weiß beleuchteten Mustern. Er runzelte die Stirn bei sehr hellen visuellen Reizen. Der optokinetische Nystagmus war nicht auslösbar. Sie erhob mit Schießscheibenmustern ein Visusäquivalent von 0,014. Eine Wiederholungsmessung zur Überprüfung war nicht möglich, weil der Kläger eingeschlafen ist. Als Reaktion auf Geräusche mit Glocke und Spieluhr öffnete der Kläger weit seine Augen. Weitere Aufgaben bei Hören und Sehen waren nicht durchführbar. Die Motorik fehlte komplett. Fr. C. diagnostizierte eine Stoffwechselerkrankung und hielt den Kläger in sehr begrenztem Maße in der Lage, visuelle Reize aufzunehmen und mit einfachem Verhalten zu reagieren. Vermutlich sei die Sehfähigkeit vergleichbar mit einem Neugeborenen. Die Verarbeitung der Wahrnehmung sei fraglich. Letzteres gelte auch für das Hören. Dort habe eine Aufmerksamkeitsreaktion stattgefunden, wie von einem ein- bis viermonatigen Säugling. Blindheit sei nicht nachgewiesen.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 8.3.2011 zurück. Hiergegen hat der Kläger, vertreten durch die Mutter, am 28.3.2011 Klage erhoben.

Das Gericht hat Befundberichte des behandelnden Kinderarztes und der Augenklinik F-Stadt eingeholt und anschließend den Neuropädiater Dr. H. gemäß § 106 SGG mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt.

Dr. H. hat den Kläger am 27.9.2011 untersucht. Er hat bei der Befunderhebung festgestellt, dass der Kläger bei der Untersuchung der Motorik „jammrig“ geworden sei. Er habe dann durch sanfte taktile Reize beruhigt werden können. Sicher nachvollziehbare Reaktionen auf unterschiedliche akustische Reize haben nicht erhoben werden können. Es hat auch keine Reaktion beim Abdunkeln des Raumes und bei rasch nähernden Objekten gegeben. Bei der Manipulation an den Augenlidern ist der Kläger unruhig geworden. Beim Blitzlicht-VEP sind keine Potenziale auslösbar gewesen. Der Gutachter hat ausgeführt, dass aufgrund der Nichtauslösung der Potenziale eine Störung der Sehbahn beziehungsweise Sehrinde anzunehmen sei, die aber nicht nachgewiesen werden könne. Bei Energiestoffwechselerkrankungen, wie eine beim Kläger vorliegen würde, könnte auch die Sehrinde betroffen sein. Deshalb sei ein neues MRT erforderlich. Der Sachverständige hat das Vorliegen von faktischer Blindheit bejaht. Seiner Ansicht nach liege sicher keine reine Benennungsstörung bei der schweren zerebralen Schädigung vor. Nach der Anamnese und dem erhobenen Befund zeige der Kläger Reaktionen auf taktile Reize, vestibuläre Reize und thermische Reize. Nach der Anamnese gelte dies auch für akustische Reize, diese seien aber bei der Untersuchung nicht nachweisbar gewesen. Sämtliche Reizwahrnehmung befände sich auf niedrigem Niveau. Ob die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die sonstigen Sinneswahrnehmungen, sei Ermessenssache.

Letzteres hat die behandelnde Neuropädiaterin des Klägers, Dr. D., gegenüber dem Vorsitzenden bestätigt. Auch sie hat eine zwischenzeitlich eingetretene sichtbare Schädigung des visuellen Systems in der Bildgebung für möglich gehalten.

Das Gericht hat daraufhin ein neues MRT des Schädels und dessen Auswertung beim gerichtlich bestellten Gutachter in Auftrag gegeben. Dieses ist am 14.1.2013 angefertigt worden. Dr. H. hat bei der Beurteilung des MRT ausgeführt, dass sich daraus Zeichen einer zunehmenden globalen Hirnatrophie ergeben würden. Zusätzlich seien die Sehnerven besonders betroffen. Der Durchmesser der Sehnerven wie auch der Opticusscheide liege signifikant unterhalb der veröffentlichten Referenzwerte. Die Mitbeteiligung der Sehbahn führe für sich alleine zu faktischer Blindheit.

Der Beklagte hat eine Stellungnahme zum MRT-Befund von Dr. E. übersandt, der darauf hingewiesen hat, dass eine generelle schwere Hirnatrophie vorliege.

In der mündlichen Verhandlung am 21.1.2014, an der auch Frau C. als ärztliche Beraterin des Beklagten teilgenommen hat, hat der Sachverständige Dr. H. sein Gutachten dem Gericht erläutert.

Die Klägerbevollmächtigte und die gesetzliche Vertreterin des Klägers sind der Ansicht, dass bei dem Kläger faktische Blindheit im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vorliege.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 25.9.2009 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 8.3.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm ab Antragstellung Blindengeld zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Ansicht, dass mit dem Kläger keine Kommunikation möglich sei. Alle Sinneswahrnehmungen seien aufs schwerste beeinträchtigt. Auch Sehen und Hören sei nur rudimentär vorhanden. Der Beklagte verweist auf die Stellungnahme der Bayerischen Blindengeldkommission vom 28.6.2006 zur Feststellung von Blindheit bei zerebral geschädigten Kindern. Danach könne eine spezifische Störung des Sehvermögens im Sinne des Urteils des BSG vom 20.7.2005 nur dann bejaht werden, wenn bei ausreichender Kognition (d. h. bei ausreichend vorhandener Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnisleistungen) die Wahrnehmung in einer anderen Sinnesmodalität als der visuellen nachweislich besser sei mit der Möglichkeit einer reproduzierbaren Kontaktaufnahme. Auch aus dem MRT-Befund von Januar 2013 lasse sich keine Blindheit entnehmen, da allein vom morphologischen Befund einer Verschmächtigung nicht auf ein funktionelles Defizit geschlossen werden könne.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Blindengeldakte des Beklagten verwiesen.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.

Gegenstand der Klage ist der Bescheid vom 25.9.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.3.2011, mit dem der Antrag des Klägers auf Gewährung von Blindengeld abgelehnt worden ist.

Dieser Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat einen Anspruch auf Blindengeld ab dem Antragsmonat.

Die Voraussetzungen zur Gewährung von Blindengeld sind in Art. 1 BayBlindG in der aktuellen Fassung wie folgt festgelegt:

(1) Blinde und taubblinde Menschen erhalten auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166 S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen ein monatliches Blindengeld.

(2) Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind gelten auch Personen,

1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,

2. bei denen durch Nummer 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nummer 1 gleich zu achten sind.

(3) Taubblind ist ein blinder Mensch im Sinn von Abs. 2 mit vollständigem Hörverlust oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit. Eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit liegt bei einem Hörverlust von mindestens 80 v. H. vor.

(4) Vorübergehende Seh- oder Hörstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.

Das Gericht muss sich grundsätzlich die volle Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen der Tatsachen verschaffen (dazu u. a. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 9. Auflage, § 128 Rn. 3b). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG SozR 3-3900 § 15 Nr. 4). Ausreichend, aber auch notwendig für den Vollbeweis ist, dass nach der Überzeugung des Gerichts die für einen Anspruch relevanten Tatsachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen.

Unter Zugrundelegung dieses Beweismaßstabes und unter Berücksichtigung sämtlicher ärztlicher Befunde und insbesondere der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. H. auch in der mündlichen Verhandlung ist für das Gericht nachgewiesen, dass beim Kläger Blindheit i. S.v. Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG vorliegt. Der schwerstbehinderte Kläger ist faktisch blind.

Beim Kläger liegen im Rahmen eines kombinierten Atmungskettendefekts folgende hier maßgeblichen Befunde mindestens seit 2008 vor:

Schwere kombinierte Entwicklungsstörung der motorischen, geistigen und sprachlichen Funktionen.

Schluckstörung mit der Notwendigkeit eines Gastrostomas zur Ernährung.

Fehlende Spontanmotorik mit ausgeprägter Kontrakturenbildung in multiplen Gelenken.

Strukturell-metabolische Epilepsie mit fehlender Anfallsfreiheit auch unter einer Kombinationstherapie aus drei Antikonvulsiva.

Hochgradige Störung des Sehvermögens.

Zumindest in geringem Umfang erhaltener Reaktion auf nicht visuelle Reize.

Für das Gericht besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass beim Kläger mindestens auch eine Störung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit von einem solchen Ausmaß vorliegt, dass sie einer nicht nur vorübergehenden Störung des Sehvermögens im Sinne einer Sehschärfeminderung auf 1/50 oder weniger gleichzusetzen ist.

Dies lässt sich jedoch nicht aus dem MRT-Befund von Januar 2013 entnehmen. Der ärztliche Dienst des Beklagten, Dr. E. wie auch Dr. H. haben überzeugend ausgeführt, dass aus dem bildgebenden Befund zwar auf eine Funktionsbeeinträchtigung der Sehbahn geschlossen werden könne, aber nicht auf dessen Ausmaß.

Jedoch folgt die Annahme einer gleichzusetzenden Sehstörung für das Gericht aus sämtlichen Untersuchungsbefunden im Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren. Eine aktive Fixation war niemals möglich. Auch der optokinetische Nystagmus war niemals auslösbar. Auch Dr. H. hat bei seiner Untersuchung keinerlei Reaktion auf optische Reize festgestellt. Beim Blitzlicht-VEP waren keine Potentiale auslösbar. Zwar konnte Fr. C. bei ihrer Untersuchung mit anderen Untersuchungsmethoden und einer längeren visuellen Beobachtung minimale Augenfolgebewegungen in vertikaler Ebene bei hell beleuchteten Gegenständen im dunklen Raum erkennen. Auch ein Runzeln der Stirn bei sehr hellen visuellen Reizen war erkennbar. Letzteres entspricht auch dem Befund der LMU aus 2009, bei der Schreckreaktionen bei Blitzen festgestellt wurden. Auch die Angabe der Mutter, dass bei extremen Veränderungen der Lichtfolge eine Reaktion des Klägers wahrnehmbar sei, passt zu diesen Befunden. Diese minimale visuelle Wahrnehmung erreicht jedoch mit Sicherheit nicht die Grenze zu 1/50 (oder 0,02) Sehschärfe, sondern liegt noch unter dem Erkennen von reinen Handbewegungen. Auch die Erhebung des Visusäquivalents von 0,014 durch die Vorlage von Schießscheibenmuster spricht eindeutig für eine für faktische Blindheit ausreichende Reduzierung des Sehvermögens. Der Umstand, dass eine Wiederholungsmessung, die zur Überprüfung des Visusäquivalents notwendig gewesen wäre, nicht durchgeführt werden konnte, kann nicht zulasten des Klägers ausgelegt werden. Für das Gericht steht demnach eindeutig fest, dass der Kläger auf einer sehr frühen Stufe des Prozesses visueller Wahrnehmung Objekte schon nicht erkennen kann. Eine bloße Benennungsstörung perzeptuell repräsentierter Objekte kann ausgeschlossen werden.

Beim Kläger sind zudem die weiteren Voraussetzungen für das Vorliegen von faktischer Blindheit bei schweren zerebralen Störungen erfüllt. Die Rechtsprechung des BSG, der sich die Kammer anschließt, hat bereits geklärt, dass auch faktische Blindheit zu einem Blindengeldanspruch führt und „für faktische Blindheit nicht nur die Beeinträchtigung der Sehschärfe und die Einschränkung des Gesichtsfeldes, sondern vielmehr alle Störungen des Sehvermögens zu berücksichtigen sind, soweit sie in ihrem Schweregrad einer Beeinträchtigung der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger gleich zu achten sind. Schon nach dem Wortlaut der Bestimmung ist es nicht maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruht und ob das Sehorgan (Auge, Sehbahn) selbst geschädigt ist. Auch zerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Allerdings ist in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zu differenzieren, ob das Sehvermögen, d. h. das Sehen- bzw. Erkennen-Können beeinträchtigt ist, oder ob - bei vorhandener Sehfunktion - (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann, die also nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betrifft. Ausfälle allein des Benennen-Könnens erfüllen mithin die Voraussetzungen faktischer Blindheit nicht.

Bei Vorliegen umfangreicher zerebraler Schäden ist darüber hinaus eine weitere Differenzierung erforderlich: Es muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer zu faktischer Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens genügt es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Das ist […] bei einem vollständigen apallischen Syndrom nicht der Fall.“ (BSG, Urteil vom 20.7.2005, B 9a BL 1/05 R).

Beim Kläger liegt eine spezifische Sehstörung vor. Dr. H. hat aufgrund seiner klinischen Untersuchung eindeutige - wenn auch auf sehr niedrigem Niveau - Reaktionen des Klägers auf taktile (z. B. Berührung), vestibuläre (z. B. Lageänderung) und thermische Reize festgestellt. So hat sich der Kläger zum Beispiel mittels sanfter Berührung wieder beruhigt, nachdem er bei der Untersuchung der Motorik gejammert hat. Die Mutter hat darüber hinaus für das Gericht sehr glaubwürdig auch Reaktionen auf akustische Reize beschrieben. Die Glaubwürdigkeit der Aussagen der Mutter wurde auch von Dr. H. und Frau C.in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend bestätigt. Zwar konnten Reaktionen auf Geräusche von Dr. H. nicht bestätigt werden, sie waren jedoch bei der Untersuchung durch Frau C. erkennbar vorhanden. Der Kläger öffnete beim Hören von Glocke und Spieluhr weit seine Augen. Bei diesen Reaktionen handelt es sich nicht um unterbewusste Schreckreaktionen, sondern um bewusste Reaktionen, wenn auch auf niedrigem Niveau. Auch diesbezüglich waren sich beide Sachverständige einig.

Bislang in der Rechtsprechung nahezu offen geblieben ist, wann von einer deutlich stärkeren Betroffenheit ausgegangen werden kann. Es spricht viel dafür, dann von einer deutlich stärkeren Betroffenheit auszugehen, wenn die auf anderen Feldern der Sinneswahrnehmung verbliebenen Fähigkeiten danach nicht ihrerseits so weit herabgesetzt sind, dass der Leistungsunterschied zur fehlenden visuellen Modalität unbeachtlich wäre (so wohl auch BSG a. a. O.). Die Richter des BSG haben im veröffentlichten Leitsatz zur Entscheidung vom 20.7.2005 (BSG a. a. O., juris), die Entscheidung nicht tragend, den Begriff versucht, noch weiter zu definieren. Danach soll als blind auch der gelten, der aufgrund schwerer Hirnschädigung visuell nichts wahrnimmt, sofern andere Sinnesmodalitäten wenigstens teilweise noch erhalten sind. Das BSG scheint darauf abzustellen, ob eine gleichmäßige und „allgemeine“ Herabsetzung der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten vorliegt oder Differenzen zwischen den Sinneswahrnehmungen ermittelbar sind.

Die Blindengeldkommission des Beklagten befürwortet höhere Hürden. Danach kann eine spezifische Störung des Sehvermögens nur dann bejaht werden, wenn bei ausreichender Kognition (d. h. bei ausreichend vorhandener Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnisleistungen) die Wahrnehmung in einer anderen Sinnesmodalität als der visuellen nachweislich besser sei mit der Möglichkeit einer reproduzierbaren Kontaktaufnahme.

Die Kammer geht auch unter Berücksichtigung des Sinn und Zwecks des BayBlindG, nämlich einen Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen zu schaffen, dann von einer deutlich stärkeren Betroffenheit der visuellen Wahrnehmung aus, wenn über visuelle Reize (fast) keinerlei bewusste Reaktion erkennbar ist, über mindestens einen anderen Reiz aber ein Mehr an bewusster von außen wahrnehmbarer Reaktion nachweisbar ist und so eine reproduzierbare Kontaktaufnahme möglich ist. Dies muss ausreichen, denn dann sind auch theoretisch blindheitsbedingte Mehraufwendungen denkbar. Konkret müssen diese nach allgemeiner Meinung nicht vorliegen.

Im vorliegenden Fall hält das Gericht es unter Würdigung des gesamten Streitstoffs für nachgewiesen, dass beim Kläger die Wahrnehmung von taktilen, vestibulären, thermischen und akustischen Reizen stärker ausgeprägt ist, als die fast nicht vorhandene visuelle Wahrnehmung. Somit unterscheidet sich der Sachverhalt in dieser Hinsicht eindeutig von demjenigen bei einem apallischen Syndrom und bei Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderungen.

Ergänzend weist das Gericht die Gründe nicht tragend darauf hin, dass es dringend die Entwicklung von einheitlichen Untersuchungsstandards und Untersuchungsmethoden von zerebral schwer geschädigten Kindern für notwendig hält, wie dies auf augenärztlichen Gebiet sonst üblich ist. Zudem liegt der bei der zur Prüfung von faktischer Blindheit bei umfangreichen zerebralen Schäden erforderliche Begutachtungsaufwand im Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren nahe an der Grenze der Unzumutbarkeit, insbesondere für betroffene Antragsteller. Hier wäre der Gesetzgeber oder auch mittelbar der Verordnungsgeber im Rahmen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze dringend aufgerufen, klare Standards für die Anerkennung oder Nichtanerkennung von Blindheit bei schweren zerebralen Schädigungen aufzustellen.

Gem. Art. 5 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG entsteht der Anspruch auf Blindengeld mit dem ersten Tag des Monats, in dem die Voraussetzungen nach diesem Gesetz vorliegen, frühestens mit dem ersten Tag des Antragsmonats. Da beim Kläger Blindheit im Sinne des Gesetzes mindestens seit 2008 bestand, hat er Anspruch auf Blindengeld ab dem Antragsmonat, also April 2008.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klage vollen Erfolg hatte.

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Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 183


Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist für Versicherte, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, behinderte Menschen oder deren Sonderrechtsnachfolger nach § 56 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch kos

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(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlich

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(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(2) Der Vorsitzende hat bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen.

(3) Zu diesem Zweck kann er insbesondere

1.
um Mitteilung von Urkunden sowie um Übermittlung elektronischer Dokumente ersuchen,
2.
Krankenpapiere, Aufzeichnungen, Krankengeschichten, Sektions- und Untersuchungsbefunde sowie Röntgenbilder beiziehen,
3.
Auskünfte jeder Art einholen,
4.
Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen oder, auch eidlich, durch den ersuchten Richter vernehmen lassen,
5.
die Einnahme des Augenscheins sowie die Begutachtung durch Sachverständige anordnen und ausführen,
6.
andere beiladen,
7.
einen Termin anberaumen, das persönliche Erscheinen der Beteiligten hierzu anordnen und den Sachverhalt mit diesen erörtern.

(4) Für die Beweisaufnahme gelten die §§ 116, 118 und 119 entsprechend.

Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist für Versicherte, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, behinderte Menschen oder deren Sonderrechtsnachfolger nach § 56 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch kostenfrei, soweit sie in dieser jeweiligen Eigenschaft als Kläger oder Beklagte beteiligt sind. Nimmt ein sonstiger Rechtsnachfolger das Verfahren auf, bleibt das Verfahren in dem Rechtszug kostenfrei. Den in Satz 1 und 2 genannten Personen steht gleich, wer im Falle des Obsiegens zu diesen Personen gehören würde. Leistungsempfängern nach Satz 1 stehen Antragsteller nach § 55a Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 93 Satz 3, § 109 Abs. 1 Satz 2, § 120 Absatz 1 Satz 2 und § 192 bleiben unberührt. Die Kostenfreiheit nach dieser Vorschrift gilt nicht in einem Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2).

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.